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Rosa erweist sich als Retter in der Not

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In den nächsten Tagen schneite es weiter. Aber in der Innenstadt und auch im Vorort Haidhausen, wo Hortense wohnte, wurde der Schnee rasch von vielen Füßen zusammengetrampelt und von Autos und Bussen auf der Fahrbahn in einen häßlichen braun-grauen Matsch verwandelt, den die Räummaschinen zu kleinen Wällen aufschütteten.

Hortense bekam Sehnsucht nach richtigem Winter. Allein in der leeren Wohnung war es ihr zu langweilig, und zum Lernen hatte sie keine Lust. So zog sie ihren roten Anorak an, setzte die Pelzmütze auf, steckte Schlüssel und Geldbörse ein, verließ das Haus und lief zur Bushaltestelle. Doch heute fuhr sie nicht in die Stadt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Das hatte sie noch nie getan, aber sie wußte, an der Endstation begann das Land.

Während der Fahrt gab es nicht viel zu sehen; die Straßen wurden von gleichförmigen modernen Neubauten und von Baustellen gesäumt. Dann endlich zeigte sich eine richtige Schneelandschaft: Schrebergärten mit kleinen Holzhütten darin, die aussahen, als würden sie unter der Last des Schnees gleich zusammenbrechen. Auch die Latten und Pfosten der Zäune hatten lustige weiße Kappen.

Als der Bus an der Endhaltestelle hielt, begann es zu schneien. Reine, weiße, sehr große Flocken sanken langsam vom Himmel und legten sich zart und still auf die Schneedecke.

Vergnügt stieg Hortense aus, überquerte die Straße und bog in einen ziemlich breiten Weg ein. Es roch nach Schnee und Winterfrische. Die Hände in den Taschen ihres Anoraks, stapfte sie voran. Den Kopf hatte sie weit zurück in den Nacken gelegt und versuchte, mit offenem Mund Schneeflocken zu schnappen.

Der Schneefall dauerte nicht lange; er hörte so plötzlich auf wie er eingesetzt hatte. Ein Berg tauchte vor Hortense auf – nein, es war kein richtiger Berg, aber immerhin doch ein ganz ansehnlicher Hügel, auf dem Kinder auf Skiern und mit Schlitten herumkletterten und von oben hinunterrutschten.

Jetzt ärgerte sich Hortense, daß sie nicht daran gedacht hatte, die eigenen Skier mitzunehmen. Sie blieb am Fuß des Hügels stehen, guckte den anderen zu und überlegte, ob sie nicht eines der Mädchen bitten könnte, sie mitrodeln zu lassen.

Aber dann erkannte sie Rosa, die unmögliche Rosa, und sofort wandte sie sich ab und marschierte weiter.

Inständig hoffte sie, daß die Mitschülerin sie nicht erkannt haben möge. Rosa war zu allem fähig. Sie konnte auf sie zustürzen und sich bei ihr einhängen als wären sie die allerbesten Freundinnen. Sie konnte sie aber genausogut vor den anderen aufziehen und lächerlich machen. Hortense traute ihr sogar zu, daß sie ein paar Spielkameraden aufhetzte, sie zu fangen, mit Schnee zu waschen oder sie womöglich mit dem Kopf in den Schnee zu stecken.

Hortense zog die Schultern hoch und wäre am liebsten losgerannt. Es kostete sie Anstrengung, unbekümmert zu tun. Wenn Rosa sie gesehen hatte, so durfte sie auf keinen Fall etwas von ihrer Angst merken. Das hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht.

Erst nach ein paar Minuten, als nichts geschah, niemand ihr nachkam oder ihr zurief, fand Hortense ihr seelisches Gleichgewicht wieder. Sie kam an einen kleinen Teich – eigentlich war es wohl nur ein Baggerloch –, der zugefroren war.

Am Rand stand ein wackliges Schild, auf dem in schwarzen, Lettern zu lesen stand: „Lebensgefahr! Das Betreten der Eisfläche ist bei Strafe verboten!“

Aber das schien niemand so ernst zu nehmen. Jedenfalls liefen einige Kinder unbekümmert Schlittschuhe. Ein paar Jungen hatten sich am Rand eine lange Schlitterbahn geschaffen, auf der sie mit Schwung entlangrutschten.

Hortense blieb eine Weile am Ufer stehen. Aber die verschneite Eisfläche übte eine sonderbare Anziehungskraft auf sie aus. Schritt für Schritt trat sie vor. Die Eisdecke wirkte ganz fest. Man brauchte schon viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß darunter dunkles Wasser stand. Immer weiter zog es Hortense hinaus. Manchmal krachte das Eis unter ihren Füßen, und dann blieb sie jedesmal stehen.

Ein bißchen Angst hatte sie schon auf dem Eis. Aber es war aufregend und machte Spaß. Daß eine wirkliche Gefahr bestand, daran dachte sie keinen Augenblick. Das Baggerloch hatte ja nur einen Durchmesser von sicher nicht mehr als zweihundert Meter. Es war heller Tag, und ringsum waren Menschen.

Wenn sie das andere Ufer erreicht hatte, wollte sie am Rand entlang zurückkehren, einen großen Bogen um den Abhang schlagen und mit dem nächsten Bus nach Hause fahren. Dann würde ihre Abenteuerlust für heute gestillt sein.

Jetzt hatte sie schon die Mitte erreicht, noch ein paar Schritte und – da knarrte das Eis unter ihren Füßen. Es war ein anderes Geräusch als sonst, es klang bösartig, drohend.

Voll Entsetzen sah Hortense die Sprünge, die sich in Zickzacklinien von ihren Füßen her ausbreiteten. Sie erkannte die Gefahr; das Eis drohte zu bersten.

Mit einem Riesensatz sprang sie zurück; ihre Füße brachen ein.

„Hilfe!“ schrie sie aus Leibeskräften. „Hilfe!“

Schon reichte ihr das eisig kalte Wasser, in das sie versank, bis zu den Schultern. Vergebens tastete sie nach Halt.

Die Kinder, die eben noch unbekümmert auf dem Eis gespielt hatten, stoben auseinander und brachten sich am Ufer in Sicherheit.

„Hilfe!“ schrie Hortense noch einmal.

Ihre Füße stießen nicht auf Grund, und ihr Kopf geriet unter Wasser.

Verzweifelt kämpfte Hortense um ihr Leben. Ihr Schädel stieß von unten gegen die Eisdecke. Trotz ihrer Panik begriff sie: wenn sie sich unter Wasser von der Einbruchstelle entfernte, war es aus. Dann konnte sie nicht mehr auftauchen und würde frühestens gefunden werden, wenn sie schon tot war.

Verzweifelt strampelnd tastete sie das Eis über sich ab, spürte eine Kante, glaubte schon, einen Halt gefunden zu haben, aber sie zerbrach ihr unter den Fingern.

Dennoch kam sie wieder nach oben, schnappte Luft, versuchte etwas zu sehen, wollte um Hilfe rufen.

„Nicht schreien!“ rief ihr jemand zu. „Tief einatmen … keine Bange, Hortense, ich komme schon! Ich hol dir raus! Bloß keine Bange!“

Hortense erkannte Rosa, die sich bäuchlings wie eine Schlange auf sie zuschob. Nie zuvor war der Anblick eines Menschen ihr so beglückend wie in diesem Augenblick der ihrer unmöglichen Klassenkameradin.

Einige Sekunden gelang es ihr, oben zu bleiben, dann mußte sie ausatmen und drohte wieder zu versinken. Sie breitete die Arme weit über das Eis, aber es zerbrach.

Da spürte sie etwas Festes und griff zu; Rosa hatte ihr ihre Skier zugeschoben – sehr merkwürdige Skier, wie Hortense sogar in dieser Situation feststellte; sie hatten nämlich keinerlei Bindungen.

„Haste?“ rief Rosa. „Gut is’! Da is’ noch einer! Schnapp ihn dich! Halt dir fest, ganz fest! Es kann dich nichts mehr passieren!“ Sie rutschte vorsichtig, das andere Ende der Skier haltend, rückwärts.

Hortense gelang es nicht, auf die Eisdecke, die immer wieder vor ihr brach, hinaufzukommen. Aber sie hielt sich eisern fest. Rosa sprach unentwegt auf sie ein und endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, die tatsächlich nur wenige Minuten gedauert hatte, wurde das Eis wieder dicker. Es gab nicht mehr unter Hortenses Gewicht nach, und die unmögliche Rosa zog sie hoch.

Triefend und schwankend kam Hortense auf die Füße; sie zitterte am ganzen Leibe vor Kälte und Aufregung. „Menschenskind, Rosa …“ stammelte sie.

„Ja, das war knapp!“

Die anderen Kinder bildeten jetzt, nahe am Ufer, einen dichten Kreis um sie.

„Haut ab, ihr Scheißer!“ forderte Rosa energisch. „Is’ doch wahr. Erst laßt ihr ’nen Menschen glatt ersaufen, ohne ’nen Finger zu rühren, und denn kiekt ihr euch die Augen aus ’m Kopp!“ Sie drückte einem kleinen Mädchen mit straffen, braunen Zöpfen ihre Skier in die Hand. „Da haste, Klara! Brich dir nicht die Beene!“ Sie bahnte sich mit Fäusten und Ellbogen einen Weg, und Hortense folgte ihr benommen.

Dann zog sie ihren Parka aus, und darunter kam ein mausgrauer, grob gestrickter und vielfach gestopfter Pullover zum Vorschein, der ihr ebenfalls ein paar Nummern zu groß war.

„Da, zieh ihn über!“ forderte Rosa und hielt Hortense den Parka hin. „Los, mach schon! Oder willst du etwa erfrieren? Dafür hab ich dich nich’ rausgezogen. Los, renn! Laufen wir um die Wette!“

Gehorsam zog sich Hortense die große Uniformjacke über ihre nasse Kleidung, obwohl sie sich eigentlich nichts davon versprach, und versuchte, mit Rosa Schritt zu halten. Aber erstens war sie keine sehr gute Sportlerin und zweitens kam sie in ihrem augenblicklichen Zustand noch langsamer voran.

Rosa mußte immer wieder stehenbleiben und sie herankommen lassen.

„Da ist es!“ sagte sie und wies mit dem Daumen hinter sich.

„Was?“ fragte Hortense töricht.

„Da wohnen wir.“

Ein unmögliches Mädchen

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