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ОглавлениеGitte, Andreas und drei andere junge Leute arbeiteten als Lehrlinge im biologisch-chemischen Institut Professor Hamburgers. Ihre Aufgabe - oder vielmehr die der Angestellten, die sie vorläufig nur darin unterstützen durften - bestand darin, Abstriche, Blut- und Urinproben, die von Ärzten eingereicht wurden, zu untersuchen. Es musste festgestellt werden, welche Bakterien sie enthielten und ferner, auf welches Medikament diese Bakterien ansprachen.
Das war eine Arbeit, zu der man viel Geduld und auch Intelligenz brauchte, weil sehr viel organische Chemie gelernt werden musste. Gitte war nach dem Besuch der Volksschule zuerst in die Fabrik gegangen. Dort hatte es ihr nicht gefallen, und sie hatte in Abendkursen die mittlere Reife nachgemacht und war dann als Lehrling bei Professor Hamburger eingetreten.
Man konnte diesen Beruf aber auch, wie Andreas es getan hatte, mit Volksschulabschluss beginnen. Er war jetzt im dritten, sie im zweiten Lehrjahr.
Gitte war gern im Institut. Trotzdem wurde sie, als es auf den Spätnachmittag zuging, rechtschaffen müde: Die Bilder unter dem Mikroskop verschwammen ihr vor den Augen, und sie nahm sich vor, heute Abend nicht mehr so lange zu lesen.
Sie atmete auf, als Feierabend war. »Gott sei Dank! Das wäre wieder mal geschafft!«
»Du hast’s gerade nötig zu jammern!«
Andreas hatte schon begonnen, seinen Platz aufzuräumen.
»Was soll ich dann erst sagen?«
Gitte lachte. »Warum musst du auch jeden Abend bummeln gehen?«
Fräulein Schnell, eine der Büroangestellten, kam in das Labor, einen verschlossenen Umschlag in der Hand. »Gitte … Andreas«, sagte sie, »wer von Ihnen ist so nett, dieses Gutachten auf dem Heimweg bei Doktor Reinecker abzugeben? Er hat es wieder mal sehr dringend.«
»Das ist eher was für Gitte«, sagte Andreas rasch.
Gitte nahm den Umschlag entgegen. »Sieht dir wieder mal ähnlich, dich zu drücken.«
»Von Drücken kann gar keine Rede sein! Ich möchte bloß den guten Doktor nicht enttäuschen.«
»Jetzt spinnst du aber!«
Die jungen Leute standen auf, gingen in den Umkleideraum und zogen ihre weißen Kittel aus.
»Nicht die Bohne«, behauptete Andreas. »Der hat mich das letzte Mal ganz schön ausgeholt. Ehrlich.«
»Über mich etwa?« Gitte merkte, dass sie rot wurde, und ärgerte sich fürchterlich.
Andreas grinste. »Nur keine Bange. Ich hab’ ihm nichts verraten.«
»Quatschkopf.«
»Fest steht, dass der ganz schön scharf auf dich ist.«
Dr. Reineckes Praxis lag in der Amalienstraße. Ihm das Gutachten zu bringen, bedeutete für Gitte einen Umweg von einer Viertelstunde. Das machte ihr nichts aus. Aber das Gerede von Andreas hatte sie irritiert. Bisher war sie gar nicht auf die Idee gekommen, den Doktor als Mann zu betrachten. Er war schlank, trug eine Brille, hatte ein ruhiges, freundliches Wesen, war ein gewissenhafter Arzt und unverheiratet. Mehr wusste sie nicht von ihm. Zwar war er ihr nicht unsympathisch, aber er gehörte doch zu einer ganz anderen Kategorie von Menschen und war außerdem viel zu alt für sie, Ende zwanzig, vielleicht sogar schon dreißig, ganz davon abgesehen, dass sie nur ihren Peter liebte. Gitte konnte sich auch gar nicht vorstellen, dass Dr. Reinecke sich tatsächlich für sie interessierte. Wahrscheinlich hatte Andreas sich nur was zurechtgesponnen.
Dennoch war es ihr plötzlich unbehaglich, dem Arzt unter die Augen zu treten. Am liebsten hätte sie den Umschlag einfach in seinen Türbriefkasten geworfen und wäre davongelaufen. Aber ihr Pflichtgefühl siegte. Sie drückte auf die Klingel und hoffte, dass er auf einem Patientenbesuch wäre.
Aber wenige Augenblicke später öffnete er selber die Tür. »Hallo, Gitte! Kommen Sie doch rein!«
Sie folgte seiner Aufforderung zögernd. »Guten Tag, Herr Doktor.« Sie hielt ihm das Gutachten hin.
»Sie haben es wohl sehr eilig?«
»Immer«, behauptete sie.
Er riss den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und überflog es. »Tut mir leid, dass ich Sie bemühen musste, aber es handelt sich um einen kleinen Jungen, wissen Sie …«
»Na, so schlimm ist der Umweg für mich ja nun auch wieder nicht.«
»Aber Sie haben heute Abend was vor?« fragte er.
Er sah sie dabei nicht an, und das machte ihr das Lügen leichter.
»Ja.«
Jetzt ließ er das Blatt sinken, und der Blick seiner Augen hinter den blitzenden Brillengläsern wurde eindringlich. »Jeden Abend?«
»So ziemlich.«
»Kann ich mir vorstellen. Ein schönes Mädchen wie Sie … und allein in München!«
Sie schwieg und bemühte sich, vielsagend zu lächeln. Warum ihr das Herz mit einem Mal so weh tat, wusste sie selber nicht. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass sie es nicht gewohnt war zu lügen, und weil es ihr schrecklich war, dass sich der gute Doktor nun ein ganz falsches Bild von ihr machen musste.
»Na, dann will ich Sie nicht länger von Ihrem Vergnügen abhalten«, sagte er.
Gitte machte, dass sie davonkam.
Erst als sie ein Stück gelaufen war, wurde ihr besser. Sie hatte so und nicht anders handeln müssen. Das war sie ihrem Peter schuldig. Sie hätte ja nicht gut sagen können, dass sie sich nie verabredete, weil sie ihrem fernen Freund treu bleiben wollte. Und außerdem war er selber schuld, dass sie ihn belogen hatte. Warum musste er auch so blöde Fragen stellen. Sie hatte es für Peter getan, und darum war es richtig.
Angi hatte, als sie von der Schule heimgekommen war, das große Haus für sich allein gehabt, denn es gab nur wenige Gymnasiastinnen im Heim und einige Studentinnen, aber die meisten Bewohnerinnen waren Lehrlinge oder junge Angestellte.
Sie hatte zu Mittag gegessen, ihre Aufgaben erledigt und sich dann schöngemacht. Für das weiße Faltenröckchen, das gerade noch ihren Po bedeckte, war sie eigentlich zu mollig, aber sie war jung genug, dennoch reizend darin auszusehen. Mit sehr viel Mühe hatte sie ihre rotblonden Locken gebändigt und mit einem weißen Band geschmückt.
Jetzt trieb sie sich, seit fünf Uhr, unentwegt vor der Haustür herum. Die Mädchen kamen, müde oder unternehmungslustig, eine nach der anderen heim, und schon fanden sich auch die ersten Besucher ein.
»He, Angi, was ist los mit dir?« rief Lola. »Wartest du auf jemand Bestimmtes?«
»Du hast’s erraten.«
»Du kannst aber trotzdem ruhig mit reinkommen. Wenn man Besuch kriegt, wird man benachrichtigt.« Aber das wollte Angi nicht riskieren. Sie hatte eine Höllenangst, Tom van Wiek zu verpassen, denn tatsächlich hatte es seinetwegen bei ihr zu Hause dauernd Krach gegeben, der schließlich dazu geführt hatte, dass sie ins Heim kam. Er war ein stellungsloser Schauspieler, der von irgendwelchen »Geschäften« lebte. Mal hatte er viel Geld und mal keins. Angi war das egal, ihren Eltern aber nicht.
Sie hätte sich nicht gewundert, wenn die Eltern Frau Tyssen eingeschärft hätten, dass sie mit jedem anderen Jungen, nur nicht mit Thomas van Wiek Zusammenkommen dürfte.
Endlich tauchte er von der Leopoldstraße her auf, schlank und breitschultrig und elegant. Sie jagte ihm entgegen, obwohl sie wusste, dass es nicht klug war, ihm so deutlich zu zeigen, wie viel ihr an ihm lag.
Sein Lächeln wurde denn auch gleich ein bisschen überheblich. »Na, na, warum so aufgeregt?«
Sie flog ihm an die Brust. »Ich hatte solche Angst, du könntest nicht kommen!«
»Kleine Spinnerin du.« Er klopfte ihr auf den Rücken.
»Du hast so viel Schwierigkeiten meinetwegen.«
»Na, wenn schon. Aber genug jetzt. Bloß keine Szenen auf offener Straße.«
Sie löste sich von ihm und sah ihn erwartungsvoll an.
»Wohin gehen wir?«
»Ins Heim, denke ich. Soviel ich weiß, habt ihr dort einen Aufenthaltsraum …«
»Nein, nein … oh, bitte nicht!« rief Angi spontan.
Thomas van Wiek blickte sie mit hochgezogenen Brauen an. »He, was ist los mit dir?«
»Ich möchte nicht, dass du ins Heim kommst.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Wie sollte ich! Wenn du einen wirklichen Grund hast, warum ich nicht reinkommen soll, musst du schon deutlicher werden.«
»Frau Tyssen hat heute Dienst …«
»Wer ist das?«
»Die Leiterin! Und sie ist besonders genau, sagen alle. Meine Eltern haben ihr bestimmt beigebracht, dass ich nicht mit dir verkehren darf.«
»Hat sie so was durchblicken lassen?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Einen Grund mehr, dass ich dich begleite. Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind.« Er nahm ihren Arm und zog sie mit sich auf das Portal des Wohnheims zu. »Sei doch kein Angsthase, Angi. Was kann deine gestrenge Frau Tyssen uns schon wollen?«
»Sie kann dich rauswerfen!« Angi war den Tränen nahe.
»Na, und wenn schon! Dann sind wir doch auch nicht schlechter dran als jetzt. Komm, nimm dich zusammen.«
Sie sträubte sich immer noch. »Aber warum, Tom? Warum muss das sein? Und ausgerechnet heute?« »Erstens bin ich wieder mal blank und habe keine Lust, mit dir durch den Englischen Garten zu trotten … und zweitens möchte ich mir den Stall mal ansehen.«
Angi merkte, dass die hinein- und herausgehenden jungen Leute sie schon neugierig anstarrten und ergab sich in ihr Schicksal. »Auf deine Verantwortung«, sagte sie.
Er grinste. »Aber immer.«
Sie hielt ihn noch einmal zurück, als er schon die Tür aufgestoßen hatte. »Und wo erreiche ich dich, wenn’s schief geht?«
»Hm.« Er strich sich mit zwei Fingern rechts und links über die dunklen, dichten Koteletten. »Momentan habe ich keine feste Adresse. Schlafe so herum, weißt du. Aber frag doch mal von Zeit zu Zeit im ›Café Venezia‹. Da hinterlasse ich dir dann eine Nachricht.«
»Oh, Tom!« Jetzt hätte sie wirklich beinahe losgeheult, überwältigt von den Schwierigkeiten, die sich ihrer Liebe entgegenstellten.
Er gab ihr einen Stoß in den Rücken. »Kopf hoch und ran an den Feind!« Selbstbewusst und lässig, ganz Herr der Situation, schritt er durch den Windfang und betrat die Eingangshalle.
Angi folgte ihm, vorbei an dem offenen Fenster der Wachstube. Sie glaubte schon, die Gefahr überwunden zu haben, als Frau Tyssens Kopf wie ein Teufelchen aus dem Kasten hervorsprang.
»Darf ich bitten!« rief sie.
Angi drehte sich um, während Thomas gelassen weiterschritt.
»Das gilt auch für Sie, junger Mann!« rief Frau Tyssen. Thomas konnte sich nicht länger taub stellen; wohl oder übel musste er umkehren.
Frau Tyssen musterte ihn von Kopf bis Fuß aus ihren hellen, scharfen Augen und bildete sich ein Urteil. »Wir kennen uns noch nicht.«
Thomas verlor nichts von seiner Sicherheit. Mit einer schwungvollen Verbeugung stellte er sich vor, während Angi die Leiterin angstvoll anblickte.
»Thomas van Wiek also«, wiederholte Frau Tyssen, »darf ich Thomas zu Ihnen sagen? Wir pflegen die Freunde unserer Mädchen mit den Vornamen anzureden.«
»Oh, bitte, es wird mir eine Ehre sein.«
»Obwohl Sie eigentlich schon zu alt sind für diesen Kreis.«
»Ich Bin Vierundzwnzing«, behauptete Thomas, der tatsächlich schon zwei Jahre älter war, aber das gab er nicht gerne zu.
Frau Tyssen durchschaute ihn. Sie hatte schon vorher über ihn Bescheid gewusst, denn Angis Eltern hatten, wie das junge Mädchen ganz richtig vermutet hatte, von ihr verlangt, den Verkehr zwischen ihnen zu unterbinden. Doch Frau Tyssen hielt nicht viel von Verboten in Liebesangelegenheiten. Sie wusste aus Erfahrung, dass man mit ihnen fast immer das Gegenteil bewirkte, nämlich, dass die jungen Leute sich aus Trotz und um sich durchzusetzen nur noch enger aneinanderklammerten. So hatte sie es abgelehnt, mehr als die übliche Aufsichtspflicht zu übernehmen, und Angis Eltern hatten sich damit zufrieden geben müssen.
Jetzt sagte sie nur noch: »Sie wissen, Thomas, dass Angi um neun Uhr im Bett sein muss.«
»Es hat sich rumgesprochen.«
»Dann wünsche ich Ihnen beiden noch einen netten Abend.« Und damit waren sie entlassen.
Der Aufenthaltsraum war ein rechteckiger Saal, an dessen Längsseite hohe französische Fenster auf einen Garten hinausgingen, was ihm eine luftige, heitere Note gab. Jetzt waren die Abende noch zu kühl, um sie draußen zu verbringen; deshalb waren die Fenster geschlossen. Aber die Vorhänge waren nicht zugezogen, und das helle Frühlingsgrün von Bäumen und Büschen schimmerte im Schein des elektrischen Lichtes. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Schalter für die Essensausgabe und der Zugang zur Küche. Im Hintergrund des Raumes stand auf einem Podest ein Farbfernseher, der aber jetzt nicht angestellt war. Aus einer Stereoanlage flutete Unterhaltungsmusik.
Da die Mädchen, die keinen Besuch hatten, es meistens vorzogen, sich auf ihren Zimmern aufzuhalten, andere auch ausgegangen waren, war nur ein Drittel der kleinen Tische besetzt. Mädchen und Jungen saßen zu Paaren oder in Gruppen. Nur wenige spielten Karten, die meisten plauderten, einige rauchten, und alle hatten etwas zu trinken vor sich stehen.
Auch Angi und Thomas hatten sich aus dem Automaten vor der Tür jeder eine Flasche Cola gezogen.
Alle blickten auf, als sie eintraten. Thomas van Wiek war durch seine hohe Gestalt, sein herausfordernd sicheres Auftreten und seine gepflegten Koteletten eine auffallende Erscheinung, die sich von den anderen Jungen abhob. Angi war stolz und beunruhigt zugleich. Mit einer besitzergreifenden Gebärde legte sie ihre Hand auf seinen Arm und steuerte ihn an einen Tisch, der weit von den anderen besetzten Tischen entfernt war. Sie sah wohl, dass Lola, die mit Philip zusammensaß, sie heranwinkte, aber sie dachte nicht daran, der Aufforderung zu folgen. Es war ihr egal, ob Lola das übel nahm; sie wollte mit Thomas allein sein. Auch Thomas hatte es beobachtet. »Wer ist denn das?« fragte er, setzte sich und schlug die langen Beine übereinander.
Angi stellte sich dumm. »Wer?«
»Das Mädchen, das dir zugewinkt hat. Die mit dem dunklen Lockenkopf.«
»Ach«, sagte Angi wegwerfend, »das ist Lola. Die wohnt mit mir auf dem Zimmer.«
»Ihr haust also zu dritt?«
»Du weißt?«
»Liegt doch auf der Hand. Die kleine Schöne, die du mir gestern geschickt hast …«
»Gitte ist keine Schönheit«, erklärte Angi hitzig, »sie wirkt bloß so!«
Er lachte, wollte trinken, musste weiterlachen und verschluckte sich.
»Ich möchte bloß wissen, was daran so komisch ist«, sagte sie wütend.
»Du!« Er tätschelte ihre Hand. »Nun setz mal ein anderes Gesicht auf, ja? Vergiss nicht, dass ich zu meinem Vergnügen hier bin.«
»Ach, Tom«, sagte sie in verändertem Ton, »ein schönes Vergnügen! Gib zu … ist es nicht fürchterlich hier?«
»Kann ich nicht finden. Bisschen jugendfrei, ja, aber sonst doch ganz annehmbar.«
»Ich möchte so gern mit dir allein sein.«
»Mein liebes Kind, du weißt, dass wir uns genau das nicht erlauben können. Du bedeutest mir viel. Aber ins Kittchen möchte ich deinetwegen doch nicht wandern. Das fände ich entschieden übertrieben. Wir müssen warten, bis du nicht mehr unter Naturschutz stehst.«
»Als wenn ich darauf aus wäre!« Um ihre Verlegenheit zu überspielen, schüttelte sie ihre rotblonde Löwenmähne. »Ich möchte einfach mit dir wo sein, wo man sich gemütlich unterhalten kann. Hier sitzt man doch wie auf dem Präsentierteller.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als ein zierliches Mädchen auf ihren Tisch zukam. Mit ihren dunkelblauen Augen, dem schwarzen, glatten, in der Mitte gescheitelten Haar sah sie wie eine kleine Madonna aus. Aber der Schein trog; sie war ein ausgesprochen kesses Persönchen.
»Darf ich mich zu euch setzen?« fragte sie und schenkte Thomas einen koketten Blick unterlangen, seidigen Wimpern her.
»Nein«, sagte Angi.
Aber es war zu spät; die andere saß schon. »Ich heiße
Jane«, erklärte sie.
Thomas stellte sich vor. Angi blieb stumm und presste die Lippen zusammen. Das störte Jane durchaus nicht. Sie beachtete Angi gar nicht, sondern redete vergnügt auf Thomas ein, und er ließ sich auch bereitwillig in ein Gespräch hineinziehen. Etwas anderes hätte er auch gar nicht tun können, ohne ausgesprochen unhöflich zu wirken. Aber dazu sah er keinen Anlass.
»Es ist schon halb neun«, sagte Angi endlich.
Jane griff das Stichwort sofort auf. »Ach so, du gehörst zu den Kleinen, ja? Musst um neun im Bett sein! Lass dich nur nicht aufhalten. Wir plaudern noch ein bisschen, ja, Tom?«
»Tom!« sagte Angi beschwörend.
Jane lächelte. »Du brauchst keine Angst zu haben, Baby, ich gehe schonend mit ihm um.«
»Tom!«
»Wir könnten noch ein bisschen ausgehen, Tom«, schlug Jane vor, »wie wär’s?«
»Keine schlechte Idee«, sagte er heiter, »falls du mich einlädst. Ich bin nämlich gerade ein bisschen schwach auf der Brust.«
Jane krauste die Nase. »Ich fürchte, das kann ich mir nicht leisten.«
»Schade. Dann ein andermal.« Thomas stand auf und begleitete Angi in die Halle hinaus.
Sie kochte. Aber sie war klug genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Mit einem Lächeln zu Frau Tyssen zog sie ihn rasch auf die Straße hinaus.
»Wann sehen wir uns wieder?« fragte sie, dicht vor ihm stehend.
»Ich erwarte in den nächsten Tagen eine größere Summe. Dann können wir wieder mal auf die Pauke hauen. Falls überhaupt eine Möglichkeit besteht, dass du hier rauskannst. Bis neun geht nichts.«
»Oh doch, Tom, nur keine Sorge. Das mache ich schon.«
»Na dann.« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie.
»Ab ins Bettchen!«
Sie sah ihm nach, wie er sich, groß und schlank, mit wiegendem Gang zur Leopoldstraße hin entfernte.
Auf ihrem Zimmer kam dann der Zusammenbruch. Heulend vor Wut, berichtete Angi in abgerissenen Sätzen, was ihr unten passiert war. Gitte, die gerade einen langen Brief an ihren Peter schrieb, nahm sich die Zeit, ihr zuzuhören.
»Ach, das war Jane!« rief sie, als sie endlich die Zusammenhänge begriff. »Wegen der musst du dich nicht aufregen. Die ist ganz ungefährlich.«
»Aber du hättest nur erleben sollen …«
»Hab’ ich. Oft genug. Die macht das immer. Ist so ’ne Art Sport von ihr. Sie will nur ausprobieren, ob sie ein Pärchen auseinander bringen kann. Danach verliert sie sofort jedes Interesse, egal, ob sie’s geschafft hat oder nicht.«
»Und das lasst ihr zu?«
»Warum denn nicht? Ist doch ganz interessant, was dabei herauskommt. Wie hat denn dein Tom reagiert?« »Hat sie natürlich abgewimmelt. Was hast du denn gedacht?«
»Na, dann ist ja alles bestens.« Gitte wandte sich wieder ihrem Brief zu.
Die Aussprache hatte Angi ein bisschen beunruhigt. Dennoch war sie fest entschlossen, Tom nie mehr im Heim zu empfangen. Lieber wollte sie alles Mögliche auf sich nehmen.
Einige Tage später wurde Gitte wieder mit einem chemisch-biologischen Gutachten zu Dr. Reinecke geschickt. Sie übernahm den Auftrag mit gemischten Gefühlen. Aber Andreas war krank, und so sah sie keine Möglichkeit, sich mit Anstand zu drücken.
Dr. Reinecke war da und, wie immer, da er nachmittags keine Praxis hatte, ohne Sprechstundenhilfe. Er öffnete persönlich, bedankte sich, kürzer angebunden als sonst, und erst als sie schon wieder gehen wollte, fragte er, als fiele es ihm eben erst ein: »Hätten Sie Lust, mal in die Oper zu gehen, Gitte?«
Sie war überrascht.
»Ich habe nämlich von einem Patienten eine Karte geschenkt bekommen«, fuhr der junge Doktor fort, »für das Cuvilliéstheater. Sie geben ›Die Entführung aus dem Serail‹. Soll eine ausgezeichnete Aufführung sein. Aber ich selber habe keine Zeit.«
Gitte kämpfte mit sich. Sie war noch nie in der Oper gewesen, auch nicht im Theater, und hatte es sich doch schon manches Mal gewünscht. In München wurde ja auf diesem Gebiet so viel geboten. Aber die Mädchen, mit denen sie befreundet war, hatten für so etwas kein Interesse, und sie wollte nicht als Außenseiterin dastehen. Wenn sie aber eine Karte geschenkt bekam, sah die Sache natürlich ganz anders aus.
»Wann ist es denn?« fragte sie zögernd.
»Samstagabend. Es dauert höchstens bis halb elf. Sie können sich also nachher noch etwas anderes vornehmen.«
Es klang ein wenig spöttisch, aber Gitte hatte ihren Entschluss bereits gefasst und ging auf seinen Ton ein. »Um so besser«, erklärte sie strahlend, »dann sage ich, nicht Nein!«