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Bangemachen gilt nicht

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Katrin sollte recht behalten.

Ruth mußte die Mathematikarbeit tatsächlich nachschreiben, noch dazu in der Freistunde am Donnerstag, die alle anderen dazu benutzten, sich im Milchstübchen schräg gegenüber der Parkschule an einem Eis zu erquicken. Es war zwar noch reichlich kalt draußen, aber den Mädchen der 6 a schmeckte das Eis zu jeder Jahreszeit, und außerdem lag schon so etwas wie Frühling in der Luft. Der Himmel war blau, und an den Bäumen des Stadtwaldes konnte man schon ein erstes zaghaftes Grün entdecken.

So hatte Ruth durch ihr tolldreistes Kunststück also nichts gewonnen, im Gegenteil, sie hatte sich eine Menge Schwierigkeiten eingehandelt. Ihre Eltern, die sehr, sehr besorgt um ihr einziges Töchterchen waren, hatten sich schrecklich aufgeregt und einen ganzen Schwall Vorwürfe und Ermahnungen auf sie niederprasseln lassen, als sie erfuhren, was geschehen war.

Dann hatte die Mutter ihr das Haar gewaschen, die Strähnen auf unzählige Wickler und Klammern gedreht und Ruth für eine gute Stunde unter die Haube gesetzt, eine Prozedur, die sie zwar in Kauf nahm, weil sie ihrer Schönheit diente, der sie aber beim besten Willen kein Vergnügen abgewinnen konnte.

Zudem taten ihr Bauch, Brust, Beine und Arme von ihrem gewaltigen Platsch auf das Wasser weh und begannen sich in den nächsten Tagen blau und grün zu verfärben, als wenn sie es nicht zulassen wollten, daß Ruth das unangenehme Ereignis so bald wieder vergaß.

Ja, Ruth kam sich sehr bemitleidenswert vor und fragte sich selber und ihre Freundinnen immer wieder: „Warum muß bloß immer mir so etwas passieren!?“

Aber sie konnte von niemand eine befriedigende Antwort darauf erhalten.

Natürlich bekam auch Frau Dr. Mohrmann, die Klassenlehrerin, von der Geschichte Wind, und sie ließ sich davon zu einem Thema für einen Klassenaufsatz anregen. Sie schrieb in ihrer hübschen, flüssigen Schrift an die Wandtafel: „Wie ich mich einmal sehr gefürchtet habe! “

Die Mädchen riefen: „Ach!“ und: „Oh!“ und: „Nicht schon wieder!“

Aber Frau Dr. Mohrmann blieb, wie immer, unerbittlich. „Das ist ein sehr interessantes Thema“, sagte sie, „ich bin sicher, es wird euch eine Menge dazu einfallen.“

„Mir nicht“, behauptete Silvy und hob ihr spitzes Näschen noch ein paar Zentimeter höher, „ich habe mich nämlich noch nie gefürchtet!“

„Ich auch nicht!“ – „Ich auch nicht!“ riefen schnell ein paar andere.

Frau Dr. Mohrmann trat auf die vorderste Tischreihe zu und blickte einer der vorwitzigen Schülerinnen nach der anderen fest in die Augen. „Seid ihr ganz sicher?“

Silvy wurde ein bißchen rot. „Na, schon möglich, daß ich irgendwann mal Angst gehabt habe“, räumte sie ein, „als ich noch ganz klein war. Aber daran erinnern kann ich mich bestimmt nicht mehr.“

„Schade“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „aber vielleicht kann eine andere mir sagen, wovor sie als kleines Kind Angst gehabt hat.“

Olga meldete sich. „Ich habe mich im Dunklen gefürchtet“, sagte sie, „ich wollte, immer daß meine Mutter ein Licht brennen ließ, sonst konnte ich nicht einschlafen. “

Silvy fuhr stracks in die Höhe. „Jetzt weiß ich auch etwas!“

„Ja?“

„Ich wollte nie allein in der Wohnung bleiben. Ich habe ein Mordstheater aufgeführt, wenn meine Eltern mal abends ausgehen wollten.“

„Fein, daß dir doch noch etwas eingefallen ist“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „die Angst vor der Dunkelheit und die Angst vor dem Alleinsein sind zwei gute Beispiele für den Begriff Angst. Kann mir eine von euch vielleicht sagen, wo der Unterschied zwischen Furcht und Angst liegt?“

„Da gibt es überhaupt keinen“, behauptete Katrin prompt.

„Irrtum“, sagte Frau Dr. Mohrmann und sah sich erwartungsvoll in der Klasse um.

„Fragen Sie doch mal Ruth“, rief Silvy übermütig, „die ist Expertin in diesen Problemen!“

Einige Schülerinnen lachten beifällig, aber Frau Dr. Mchrmann war über diesen Zwischenruf nicht erfreut. „Nicht so vorlaut, Silvy“, tadelte sie, „es würde dir sicher auch nicht gefallen, wenn wir dich als Expertin für Naseweisheit bezeichnen würden, nicht wahr?“

„Aber ich habe doch bloß einen Spaß machen wollen“, verteidigte sich Silvy.

„Mach deine Späße in Zukunft nicht auf Kosten anderer“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „dann werde ich mitlachen.“ Sie sah sich in der Klasse um. „Na, weiß niemand, auf was ich hinauswill? Nun, dann werde ich es euch erklären. Angst ist ein unbegründetes Gefühl. Denkt nur an die Angst im Dunkeln, die bei vielen Kindern auftritt. Ein Raum, in dem man sich eben noch behaglich und geborgen gefühlt hat, wirkt plötzlich bedrohlich, nur weil das Licht ausgegangen ist … “

„Ja, das verstehe ich“, sagte Silvy, „genauso war es ja auch mit meiner Angst vor dem Alleinsein. In unserer Wohnung im dritten Stock konnte mir ja nicht wirklich etwas Schlimmes passieren.“

Katrin meldete sich. „Ich habe mal einen Mann gekannt, der hatte Platzangst … also, der hatte Angst, einen offenen Platz zu überqueren, und nachher wollte er überhaupt nicht mehr auf die Straße gehen.“

„Ja“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „auch das ist ein gutes Beispiel, wenn auch in diesem Fall die Angst schon krankhaft war. Es gibt viele solche Ängste. Angst vor dem Eingesperrtsein, Angst vor großer Höhe … oder auch viel allgemeinere Ängste, Lebensangst, also Angst vor dem Leben überhaupt, Existenzangst, das ist Angst, die Grundlage der Existenz zu verlieren, und noch viele andere mehr.“

„Aber man könnte doch genauso gut sagen, daß die Leute sich vor diesen Dingen fürchten“, sagte Hanne, ein Mädchen aus den hinteren Reihen, „wo ist denn da der Unterschied zwischen Angst und Furcht?“

„Das werde ich euch jetzt gleich erklären. Nehmen wir einmal an, ein Kind ist allein in der Wohnung zurückgeblieben, die Eltern sind ausgegangen. Das Kind hat gar keine Angst, es ist sicher, daß ihm in den vertrauten Räumen nichts passieren kann. Plötzlich riecht es nach Rauch. Da beginnt das Kind sich zu fürchten.“

„Es hat Angst, daß es brennen könnte“, sagte Katrin.

„Richtig. Diese Angst vor einer wirklichen oder möglichen Gefahr nennt man Furcht.“

Leonore sprang auf. „Darf ich mal ein Beispiel nennen? Ein Mädchen geht abends nach Hause. Es ist schon stockdunkel, aber sie hat gar keine Angst. Plötzlich hört sie Schritte hinter sich, da beginnt sie sich zu fürchten. Denn sie hat gemerkt, daß ein Mensch hinter ihr herkommt. Sie weiß nicht, wer es ist und was er im Schilde führt.“

„Sehr richtig, Leonore, du hast es genau erfaßt. Die Angst ist etwas Lähmendes, Überflüssiges, was den Menschen bedrückt, Furcht ist aber genau das Gegenteil. Sie wirkt alarmierend. Sobald man sich fürchtet, wird man hellwach, das Herz klopft schneller, der Verstand arbeitet auf Hochtouren, und alle Sinne sind gespannt, so daß man der Gefahr nach bestem Vermögen begegnen kann.“

Silvy hatte schon seit einiger Zeit ihren Finger wie wild nach vorn geschleudert. Jetzt, als Frau Dr. Mohrmann sie endlich zu Wort kommen ließ, erklärte sie ganz atemlos: „Ich habe es längst kapiert! Jemand, der Angst hat, fängt an zu zittern und zu weinen, und jemand, der sich fürchtet, unternimmt etwas gegen die Gefahr!“ Sehr stolz über ihren Gedankenblitz, blickte sie sich triumphierend in der Klasse um.

„Sehr richtig, Silvy“, lobte Frau Dr. Mohrmann, „komm her! Zur Belohnung darfst du die Aufsatzhefte austeilen!“

„Aber jetzt doch nicht mehr! Wir haben doch soviel Zeit verloren!“

„Nur keine Bange, Silvy. Ich habe mir die nächste Stunde dazugeben lassen. Ihr braucht euch also nicht zu beeilen.“

Die Mädchen murrten ein bißchen, denn wie immer, wenn Frau Dr. Mohrmann die Aufsatzhefte aus dem Klassenschrank holte, fühlten sie sich überrumpelt. Aber während der vorausgegangenen Diskussion über den Unterschied zwischen Furcht und Angst war den meisten etwas zum Thema eingefallen, und so flitzten die Federn schon wenige Minuten später eifrig über das Papier.

Nur Ruth, von der man hätte glauben sollen, daß ihr das Herz am vollsten gewesen wäre, saß da, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte verzweifelt ins Leere.

Als sie eine gute Viertelstunde später immer noch kein einziges Wort zu Papier gebracht hatte, trat Frau Dr. Mohrmann leise hinter sie. „Na, Ruth“, sagte sie, „will es denn gar nicht gehen?“

Die Kleine seufzte abgrundtief. „Wenn man nur immer wüßte“, flüsterte sie, „ob man Grund hat, sich zu fürchten, oder ob man einfach nur ängstlich ist.“

„Zerbrich dir darüber nur nicht den Kopf, sondern schreib einfach darauf los. Im täglichen Sprachgebrauch unterscheidet man gar nicht so genau zwischen den beiden Begriffen.“

Ruth sah aus weit offenen grasgrünen Augen zu Frau Dr. Mohrmann auf. „Das meine ich ja gar nicht“, sagte sie, „sondern überhaupt!“

Die Lehrerin lächelte ihr ermutigend zu. „Ich verstehe dich gut, Ruthchen, und es ist sicher sehr nützlich für dich, dir einmal Gedanken darüber zu machen. Nur nicht gerade jetzt. Jetzt wäre es besser, du würdest dich auf den Aufsatz konzentrieren. Sieh dich um, die anderen sind schon mitten drin.“

Ruth holte tief Luft, gab sich einen sichtbaren Ruck, setzte ihre altklügste Miene auf, die ihr möglich war, und schrieb den Beginn ihres Aufsatzes auf Schmierpapier: „Unser Leben ist voller Gefahren … “

Frau Dr. Mohrmann las es über ihre Schulter, lächelte in sich hinein und schritt wieder nach vorne.

Niemand außer Ruth selber hätte geglaubt, daß sie ein gefährliches Leben führte. Nach außen hin sah das ganz anders aus. Da war sie die einzige Tochter des Friseurmeisters Kleiber, eine Nachzüglerin noch dazu, denn ihr Bruder Günther war schon erwachsen und dachte nicht daran, wie Olgas Brüder es taten, seine kleine Schwester zu ärgern, sondern er wetteiferte mit den Eltern darin, sie zu verwöhnen.

Von klein auf war Ruth umhegt und gepflegt, umsorgt und verhätschelt worden, Vater, Mutter und Bruder hatten ständig darüber gewacht, daß ihr auch nur ja kein Härchen gekrümmt wurde. Solange Ruth klein gewesen war, war Frau Kleiber sogar ständig zu Hause geblieben, damit Ruth nie ohne Aufsicht blieb, und das war ein wirkliches Opfer für die sehr lebendige Frau gewesen, die ihren Beruf liebte und sich nur richtig wohl fühlte, wenn sie mit recht vielen Menschen zusammenkam.

Ruth konnte das nicht verstehen. Der elterliche Frisiersalon gefiel ihr zwar sehr gut mit seinen schimmernden Spiegeln, blanken Trockenhauben und den Haarwaschbecken in Rosa, Hellgrün und Blau.

Sie freute sich an den eleganten Formen der Tiegel und Flaschen und schnupperte gerne all die süßen und betäubenden Gerüche. Sie konnte stundenlang stillhalten, wenn die Mutter eine neue, hochmoderne Frisur an ihr ausprobierte.

Nur etwas störte sie ganz gewaltig, und zwar gerade das, was die Mutter so liebte: die vielen Menschen, die ein- und ausgingen, die Ladentüre klingeln ließen und ihre Sorgen und Wünsche vorbrachten.

Ja, an der Hand der Mutter fiel es nicht schwer, ihren Knicks zu machen, ein paar alberne Fragen zu beantworten und sich bewundern zu lassen, aber wenn sie allein einer fremden Dame gegenüberstand, dann verschlug es ihr die Sprache.

Die Mutter verstand das nicht und versuchte es immer wieder aufs neue, ihr Mut zu machen. „Bitte, geh doch mal zu Frau Neumann … sie ist die dritte von links … und frag sie, ob es ihr recht so ist unter der Haube oder ob du sie kühler stellen sollst!“ bat sie zum Beispiel.

Dann sagte Ruth: „Ach nein, Mutti, bitte nicht … “

„Aber warum denn nicht?“

„Ich trau mich nicht!“

„Da gehört doch kein Mut dazu, Liebling, versuch’s nur mal! Wir sind doch alle bei dir!“

„Aber ich kenne die Frau doch gar nicht.“

„Macht nichts. Sie kennt dich bestimmt.“

So ging es hin und her, und manchmal raffte Ruth sich sogar auf und lief zu der Dame unter der Trockenhaube. Doch das nützte nichts, sie brachte kein Wort heraus. Weil sie fühlte, daß alle, die die kleine Szene beobachtet hatten, sich im geheimen über sie lustig machten, brach sie in Tränen aus, und die Mutter mußte sie trösten.

Ruth wußte, daß sie die Mutter mit diesem Verhalten schrecklich enttäuschte. Aber was sollte sie machen?

Sie gewöhnte sich an, einen großen Bogen um den Frisiersalon zu schlagen, aber damit waren ihre Probleme noch längst nicht gelöst. Wenn sie einkaufen mußte, konnte sie sich nicht durchsetzen und war stets die letzte, die an die Reihe kam; oft wurden Kundinnen vor ihr bedient, die erst viel später gekommen waren.

Ruth hatte Angst vor der Dunkelheit, Angst vor der Einsamkeit, Angst aber auch vor fremden Kindern, vor Hunden und vor Katzen, Angst, eine Straße zu überqueren, Angst vor Jungen, ja, sie hatte sogar Angst vor Polizisten.

Ach, es war wirklich kein leichtes Leben, das die kleine Ruth führte, und das schlimmste war, daß niemand sie wirklich verstand und sie von allen wegen ihrer Überängstlichkeit immer nur gehänselt und ausgelacht wurde.

Wie gerne hätte sie sich geändert und wäre so tapfer und frech geworden wie ihre Freundinnen!

Nur Mut, liebe Ruth

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