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Als Susanne Schäfer erwachte, lag sie in einem schmalen Krankenzimmer. Sie sah den Nachttisch, den Schrank, das Waschbecken, sah das Kreuz über der Tür und begriff nicht, wo sie war, noch wie sie hierhergekommen war.

Unsicher bewegte sie ihre Glieder unter der weiß bezogenen Decke. Ihr Kopf schmerzte, als wenn er von einem eisernen Ring zusammengepreßt würde. Sie hob die Hand, tastete an die Stirn — sie war nicht fieberheiß, wie sie erwartet hatte, sondern kühl, von leichtem Schweiß bedeckt.

Nein, sie war nicht krank. Aber dann — ein Unfall?

So jäh, daß es sie zurückwarf, war die Erinnerung wieder da: der Zehrastreifen, die Kinder, die zum jenseitigen Bürgersteig hinüberliefen, der Lastwagen, das Quietschen der Bremsen, die verrenkten, beschmutzten, blutenden kleinen Gestalten auf der Fahrbahn.

„Nein“, stöhnte Susanne Schäfer, „nein!“ Sie schlug die Hände vor die Augen, als ob sie so das Bild, das sich tief in ihrem Inneren eingeprägt hatte, auslöschen könnte.

Es wäre eine Erlösung gewesen, weinen zu können, aber ihre Augen blieben trocken, und das Schluchzen, das sie schüttelte, brachte ihrem Leid keine Linderung.

„Nein, oh, nein!“ stammelte sie immer wieder, warf sich zur Seite und barg ihr Gesicht in den Kissen.

Auch als sie hörte, daß die Tür aufging, leichte rasche Schritte sich näherten, brachte sie nicht die Kraft auf, sich umzudrehen.

Sie spürte warme, kräftige Hände auf ihren Schultern, hörte eine männliche Stimme, die ihr vertraut war, obwohl sie nicht wußte, woher sie sie kannte.

„Schauen Sie mich doch an, Fräulein Schäfer, bitte! Ich bin sehr froh, daß Sie aufgewacht sind … fühlen Sie sich besser?“

Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, sah das nicht schöne, aber ungemein sympathische Gesicht des jungen Arztes vor sich.

„Ich bin Dr. Herzog, Wendelin Herzog“, sagte er.

„Meine Kinder“, brachte sie mühsam hervor, „was ist mit meinen Kindern?“

Er wich dieser Frage aus. „Daran sollen Sie gar nicht denken!“

„Aber ich muß, Herr Doktor … ich muß es wissen! Rosel, Petra, Clärchen … was ist mit ihnen?“

Und als der Arzt schwieg, schrie sie auf: „Sind sie tot?!“

Dr. Herzog setzte sich auf den Rand des Bettes. „Gott hat sie zu sich genommen“, sagte er, „er wird wissen, warum er es getan hat. Es war nicht Ihre Schuld, Fräulein Schäfer.“

„Alle?“ fragte sie benommen. „Alle?“

„Zwei sind nur verletzt. Wir haben sie zusammenflicken können.“

„Die Eltern …“ Susanne Schäfer richtete sich auf. „Man muß die Eltern benachrichtigen …“

Dr. Herzog legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. „Das ist längst geschehen.“ Er drückte sie in die Kissen zurück. „Es ist Besuch für Sie da. Wenn Sie ihn sprechen möchten …“

„Oskar? Oskar Wünning?“

„Ja.“ Dr. Herzog stand auf, gab der Schwester, die sich bisher unbemerkt im Hintergrund gehalten hat, einen Wink, die Tür zu öffnen.

Ihr Verlobter trat ein.

Unwillkürlich streckte Susanne Schäfer beide Arme nach ihm aus, wie eine Ertrinkende, die auf Rettung hofft. Aber um seinen Mund lag ein fremder Zug, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.

Susanne Schäfers Arme sanken, ohne daß es ihr bewußt wurde, kraftlos herab. In ihrem schneeweißen, blutleeren Gesicht wirkten die grauen Augen übergroß und sehr dunkel.

„Guten Tag, Susanne!“ Die Stimme Oskar Wünnings klang heiser, er räusperte sich. „Na, wie fühlst du dich?“

Sie sah ihn nur an, ihre Lippen bewegten sich, aber sie war außerstande, auf diese unangebrachte Frage zu antworten.

Der junge Arzt mischte sich ein. „Fräulein Schäfer hat einen schweren Schock erlitten“, erklärt er.

Oskar Wünning fuhr herum. „Das haben wir wohl alle!“

„Einen Schock im medizinischen Sinn“, erklärte Dr. Herzog sehr beherrscht, „ich kann Ihnen nur wenige Minuten geben, Dr. Wünning, und, bitte, regen Sie die Patientin nicht auf.“

Von einer Sekunde zur anderen war eine feindselige Spannung zwischen den beiden Männern entstanden, für die sie selbst keine Erklärung hätten geben können.

„Darf ich Sie bitten, mich mit Fräulein Schäfer allein zu lassen?“ fragte der junge Rechtsanwalt eisig.

Dr. Herzog zögerte einige Augenblicke. „Wie Sie wünschen“, sagte er dann, verbeugte sich knapp, wandte sich ab. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Susanne Schäfer atmete tief durch. „Oskar …“, sagte sie, erleichtert, daß ihre Stimme ihr wieder gehorchte, wenn sie auch immer noch zittrig klang.

Oskar Wünning sah sich um, zog einen Stuhl heran, setzte sich. „So ein alberner Wichtigtuer!“

Susanne sah ihn an, zärtlich verfolgten ihre Augen jede Linie seines hübschen, ein wenig zu hübschen, jungenhaften Gesichtes. „Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Oskar.“

„Das war doch selbstverständlich“, sagte er. Seine Finger bewegten sich ruhelos, tasteten die Knöpfe seiner Jacke ab, fuhren über die Taschen.

Jetzt, dachte Susanne, jetzt wird er die Verlobungsringe herausziehen. Denn, so war es abgemacht, er hatte sie gerade an diesem Morgen besorgen sollen.

Aber Oskar Wünning tat nichts dergleichen. „Eine schreckliche Geschichte“, sagte er, ohne Susanne anzusehen, „mein Bruder und meine Schwägerin sind ganz außer sich …“

Eigentlich hatte sie etwas anderes von ihrem Verlobten erwartet. Trost, Ermutigung, Zuspruch. Aber sie zeigte ihre Enttäuschung nicht. „Ja, es ist entsetzlich“, sagte sie.

Oskar Wünning sah immer noch an ihr vorbei. „Wie konnte das bloß passieren?“

In Susanne Schäfers weißes Gesicht stieg eine jähe rote Welle. „Es war nicht meine Schuld, du mußt es mir glauben, ich …“

Er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. „Ich weiß, Susanne. Ich wollte dir keinen Vorwurf machen.“

„Es war ein Verhängnis, Oskar.“

„Ja“, sagte er, „man hat den Fahrer gestellt. Fünfzig Meter hinter der Unfallstelle. Der Kerl muß betrunken gewesen sein.“

„Wenn ich die Kinder bloß durch den Park zurückgeführt hätte!“ rief sie mit erstickter Stimme. „Wir hatten uns im Freibad verspätet, trotzdem … ich werde mir das niemals verzeihen.“

Wieder fand er kein gutes Wort für sie. „Daß es ausgerechnet Rosel erwischen mußte …“, sagte er nur. Er klemmte die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger, zerrte daran.

„Sie war immer so lebhaft“, sagte Susanne.

Er ließ die Hand sinken, setzte sich kerzengerade auf, starrte sie an — es war das erstemal, daß er ihr gerade in die Augen sah, seit er das Krankenzimmer betreten hatte. „Du willst doch wohl nicht etwa meiner Nichte die Schuld an dem Unglücksfall geben?“

„Aber nein, Oskar“, sagte sie erschrocken, „natürlich nicht, nur …“ sie stockte, wagte nicht, weiterzusprechen.

„Na, dafür bin ich dir immerhin noch dankbar“, sagte er mit einem Sarkasmus, der an ihm völlig ungewohnt war, „ich dachte schon …“

„Nein, nein! Die Kinder befanden sich ja auf dem Zebrastreifen, hatten den Gehsteig schon fast erreicht! Wer konnte ahnen, daß …“

„Du, als Lehrerin“, sagte er, sehr langsam, jede Silbe betonend, „hättest eine solche Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen müssen!“

Susanne Schäfer zuckte zusammen, als wenn sie einen Schlag bekommen hätte, starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, die fast schwarz vor Erregung waren.

„Verzeih“, sagte er sofort, „verzeih, Liebling! Ich bin so durcheinander. Diese Aufregung … und diese Szene zu Hause, du kannst dir das nicht vorstellen! Ich weiß schon nicht mehr, was ich rede.“

Sie glaubte ihm, weil sie ihm glauben wollte. „Ja, Oskar, ja … ich verstehe dich! Es ist … es ist alles so ungeheuerlich, daß man … man weiß einfach nicht, wie man sich dazu stellen soll.“

„Wir alle brauchen Zeit, um damit fertig zu werden.“

„Wann ist die Beerdigung?“

„Übermorgen“, sagte er.

„Bis dahin werde ich wieder auf sein.“

Er legte die Stirn in Falten. „Du hast doch nicht etwa vor, zur Beerdigung zu kommen?“

Sie sah ihn erstaunt an. „Warum denn nicht? Schließlich bin ich die Lehrerin …“

„Ja, schon“ gab er widerwillig zu.

„… und beinahe wäre ich Rosels Tante geworden!“

„Gerade deshalb solltest du nicht …“ Er brach ab. „Mein Gott, Susanne, warum machst du es mir denn so schwer! Versuch doch zu begreifen!“

„Was?“

„Man würde in deinem Erscheinen eine Taktlosigkeit … sehen.“

Ihre schmalen Hände verkrampften sich in das weiße Laken. „Das verstehe ich nicht“, sagte sie mühsam.

„Sag lieber, du willst es nicht verstehen.“

„Nein, wirklich …“

„Deine Anwesenheit, Susanne, würde in allen … jedenfalls in den Eltern und den Familienmitgliedern der verunglückten Kinder … die schreckliche Wunde neu aufreißen!“

Sie begriff immer noch nicht — alles in ihr sträubte sich dagegen zu begreifen. „Aber“, sagte sie mit zuckenden Lippen, „an meinen Anblick werden sie sich wohl oder übel wieder gewohnen müssen! Niemand kann von mir erwarten, daß ich mich in Luft auflöse oder in den Erdboden versinke!“

„Das sollst du ja auch nicht. Nur … du mußt den Leuten Zeit lassen.“ Er begleitete diese Erklärung mit fahrigen Handbewegungen. „Die großen Ferien beginnen in wenigen Tagen. Bis dahin kannst du dich krankmelden. Und dann … na, dann verreist du einfach irgendwohin. Bis zu Beginn des neuen Schuljahres ist ja vielleicht schon wieder Gras über die ganze Sache gewachsen.“

„Du willst mich los sein“, sagte sie tonlos.

Er verzog das Gesicht. „Unsinn! Ich versuche nur, dir zu helfen.“

„Indem du mich fortschickst!?“

„Es ist doch nur zu deinem Besten, Liebling.“

Noch nie hatte ihr das Kosewort „Liebling“ so verlogen geklungen wie in diesem Augenblick.

„Mach mir doch nichts vor“, sagte sie hart, „ich bin dir gleichgültig.“

„Susanne!“

„Sonst wäre es nicht möglich, daß du unsere Verlobung einfach unter den Tisch fallenlassen könntest!“

Er stand auf. „Du bringst es also tatsächlich fertig, in dieser Situation noch an eine Verlobungsfeier zu denken!“

„Ich will keine Feier“, sagte sie wild, „ich habe sie nie gewollt, und das weißt du ganz genau! Ich möchte nur wissen, ob das wahr war, was du mir gesagt hast … ob du mich liebst! Aber nein, es kann nicht wahr sein, denn sonst würdest du jetzt ja bedingungslos zu mir halten, gerade jetzt, und nicht versuchen, mich abzuschieben!“

„Solang du dich in diesem Zustand befindest“, erklärte er steif, „hat es wohl keinen Zweck, mich länger mit dir zu unterhalten!“ Er versuchte, seinen Zügen Würde und Überlegenheit zu geben, aber er konnte das unruhige Flackern seiner Augen nicht unter Kontrolle bringen.

„Oskar!“ rief sie.

„Bis bald, Susanne!“ Er näherte sich der Tür.

Bis zur letzten Sekunde hatte sie sich an die Illusion geklammert, daß alles ein Irrtum sein müßte. Sie hatte gehofft, so heiß gehofft, daß er sie in die Arme nehmen, ihre Zweifel ersticken, sie seiner Liebe versichern würde.

„Nein!“ schrie sie außer sich. „Geh nicht!“ Sie warf die Bettdecke ab, lief ihm nach — in einem knöchellangen gestreiften Krankenhausnachthemd, dessen Ärmel ihr über die Handgelenke rutschten.

Oskar Wünning hatte die Klinke schon in der Hand, jetzt aber blieb er unwillkürlich stehen, wandte sich zu ihr um.

Aber sie erreichte ihn nicht. Schon nach zwei Schritten taumelte sie, drehte sich um die eigene Achse und sank lautlos in sich zusammen.

Er wollte hinspringen, aber er reagierte zu langsam. Sie schlug auf dem Boden auf, ehe er sie erreichte.

„Susanne“, stammelte er entsetzt, „Liebling, Susanne …“

Er wurde beiseite gestoßen. Dr. Herzog hatte das Zimmer betreten, überschaute mit einem einzigen Blick die Situation, beugte sich über das ohnmächtige Mädchen. „Da haben Sie ja was Schönes angerichtet“, sagte er grimmig.

„Ich wußte ja nicht … ich wollte nicht …“

Dr. Herzog beugte sich über Susanne, hob sie mit beiden Armen hoch, trug sie zum Bett, ließ sie sanft nieder. Dann wandte er sich zum Nachttisch, klingelte nach einer Schwester. Sein Blick fiel auf Dr. Wünning.

„Was machen Sie denn noch hier?“ fragte er schroff. „Nein, erklären Sie mir nichts. Es ist besser, Sie verschwinden jetzt, bevor Sie noch mehr Unheil anrichten.“

Und Dr. Wünning ging. Er ging mit gesenktem Kopf und zusammengebissenen Zähnen. Es ist überstanden, wiederholte er sich immer wieder, ich habe es geschafft.

Aber die Erleichterung, die er erwartet hatte, wollte sich nicht einstellen.

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