Читать книгу Der Schatten des anderen - Marie Louise Fischer - Страница 4

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Daß ich Hans Ullrich Garden kennenlernte, war reiner Zufall — natürlich, man könnte es auch als seltsame Fügung des Schicksals bezeichnen, das kommt ganz darauf an, welchen Standpunkt man zu den Ereignissen dieser Welt einnimmt. Jedenfalls war es höchst ungewöhnlich, daß ich an jenem Samstagabend allein von der Universität nach Hause ging. Sonst war ich fast immer mit meiner Freundin Renate Römer zusammen, Peter, Bill, Pützchen und noch ein paar andere Figuren pflegten unseren Geleitzug zu ergänzen. Aber an jenem Abend war der ganze Haufen ins Kino gegangen. Es wurde ein französischer Film der »Neuen Welle« gegeben, auf den sie alle scharf waren. Natürlich hatte ich ursprünglich mit von der Partie sein wollen, aber nach dem soziologischen Seminar hatte Professor Gahlen mich zurückgehalten, um mich mit einem Referat zu betrauen. »Technisierung der Freizeitgestaltung.« Professor Gahlen hatte es sich nicht nehmen lassen, mich auf alle möglichen Gesichtspunkte, die ich berücksichtigen sollte, aufmerksam zu machen, und als er endlich glaubte, alle Unklarheiten beseitigt zu haben, waren die anderen längst fort. Den Film konnte ich mir morgen auch noch ansehen, und falls Renate mir berichtete, daß er eine Enttäuschung gewesen war, hatte ich sogar vier Mark und fünfzig Pfennig gespart. Ich empfand es als ausgesprochen angenehm, einmal allein zu sein und Zeit zu haben, und ich entschloß mich, nicht wie gewöhnlich durch die engen Gassen der alten Stadt nach Hause zu gehen, sondern einen Umweg durch den Park zu machen.

Es war ein milder Abend im April. Der Himmel war noch hell, aber die schmale Sichel des aufgehenden Mondes hing schon über den mächtigen alten Bäumen. Es roch verheißungsvoll nach Erde, feuchtem Laub und Frühling.

Als ich in die Nähe des Konzerthauses kam — ein ganz moderner Bau, erst nach dem Krieg errichtet, und eigentlich viel zu groß für unsere kleine Universitätsstadt —, sah ich eine Menschenmenge. Es waren vorwiegend junge Leute, das, was man heutzutage Teenager und Halbstarke nennt. Sie versuchten, die Kette der Polizisten, die eine Absperrung bildeten, zu zerreißen, und gerade als ich mich näherte, gelang es ihnen.

Im ersten Augenblick glaubte ich, daß sich die Menschen um eine Unglücksstelle drängten, aber dann fiel mir ein, daß heute nachmittag im Konzerthaus eine Fernsehveranstaltung stattgefunden hatte. Anscheinend war sie gerade zu Ende, denn während die Jugendlicher zum Konzerthaus stürmten, strömte das Publikum heraus. Es kam zu Zusammenstößen, Schimpfworte flogen hin und her, der Polizei gelang es offensichtlich nicht, Ordnung zu schaffen.

Eine Weile schaute ich mir den Tumult aus sicherer Entfernung an, überlegte mir, ob solche Zeiterscheinungen auch zur Technisierung der Freizeitgestaltung zu rechnen waren, dann wurde mir die Sache zu dumm, und ich beschloß, mich aus dem Staub zu machen. Das Hauptportal und der Künstlereingang waren von Menschen blockiert. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich an der stillen, fast unbeleuchteten Seite des Konzerthauses vorbeizuschlängeln.

Ich hatte fast die Rückseite des Gebäudes erreicht, als ich sah, wie wenige Schritte vor mir die Flügel eines Fensters im Hochparterre von innen aufgestoßen wurden. Ein junger Polizist sprang federnd heraus, richtete sich auf, streckte seine Hand nach oben und sagte: »Kommen Sie!«

Gleichzeitig näherte sich eine stattliche Limousine, die vorschriftswidrig an der linken Fahrbahnseite stoppte. Meine Neugier war geweckt. Ich blieb stehen und starrte hinauf.

Ein Herr im Wintermantel und Hut kletterte aus dem Fenster, sprang auf die Straße — nicht ganz so elastisch wie der junge Polizist. »Ach, verdammt!« sagte er und rieb sich seinen rechten Knöchel. Der Hut war ihm vom Kopf geflogen, der Polizist lief hinterher, hatte ihn nach wenigen Schritten eingeholt und brachte ihn zurück.

»Danke«, sagte der Herr und stülpte sich den Hut wieder auf das blonde, leicht zerzauste Haar. Dann plötzlich sah er mich, und ich errötete unwillkürlich unter seinem Blick — nicht, weil er mich als Mann beeindruckt hatte, sondern weil mir zu Bewußtsein kam, daß ich mit offenem Mund wie ein Schulmädchen dagestanden und ihn angestarrt hatte. Ich gab mir einen Ruck und setzte mich in Trab, um weiterzugehen.

Er deutete meine Reaktion offensichtlich falsch. »Na, Sie sind ja eine ganz Gerissene, mein Fräulein«, sagte er halb ärgerlich, halb geschmeichelt.

»Wieso?« fragte ich ahnungslos.

»Na, kommen Sie her, ich weiß schon, was Sie wollen!« Er holte eine Fotografie aus der Innentasche seiner Jacke, drückte sie mir in die Hand. »So — und nun verschwinden Sie, aber rasch.«

Ich starrte von der Fotografie auf den seltsamen Vogel, der sie mir zugesteckt hatte. »Was soll ich damit?« fragte ich hilflos.

Der Mann hatte sich schon zum Gehen gewandt. Er drehte sich plötzlich noch einmal um. »Haben Sie etwa kein Autogramm gewollt?«

»Natürlich nicht. Ich kenne Sie ja gar nicht.«

Seine Augen wurden groß vor Verblüffung. »Was? Wollen Sie allen Ernstes behaupten, Sie kennen Hans Ullrich Garden nicht?«

Als ich den Namen hörte, ging mir ein ganzer Kronleuchter auf. Natürlich wußte ich, wer Hans Ullrich Garden war — jeder weiß es. Hans Ullrich Garden galt als der Quizmaster des Fernsehens. Trotzdem sagte ich — und es entsprach der Wahrheit: »Ich habe Sie noch nie gesehen.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« sagte er voll ungläubigen Staunens.

Dann packte er mich beim Handgelenk und zerrte mich zum Auto. Als der Wagenschlag von innen geöffnet wurde, steckte er seinen Kopf hinein und sagte: »Stellen Sie sich vor, Lewin, was ich für einen Fang gemacht habe! Ein junges Mädchen«, er wandte sich mir zu, musterte mich prüfend und sagte dann, wieder in den Wagen hinein: »Etwa zwanzig Jahre alt, das noch nie etwas von Hans Ullrich Garden gehört hat! Was sagen Sie dazu?«

Aus dem Innern des Wagens ertönte ein boshaftes Kichern, und eine helle Stimme sagte: »Ein schwerer Schlag für Ihre Eitelkeit, wie?«

Hans Ullrich Garden lachte vergnügt. Entweder war sein Selbstbewußtsein so groß, daß man ihn nicht kränken konnte, oder er nahm sich doch nicht so ernst, wie es den Anschein hatte.

»Na, steigen Sie schon ein, Süße!« sagte er und wollte mir in den Wagen helfen.

Ich versuchte, mich seinem Griff zu entziehen. »Aber nein! Warum? Ich will doch nicht …«

Ohne auf meinen Protest und meine Abwehr zu achten, schob er mich auf den Rücksitz des Wagens, und wenige Sekunden später war ich ihm fast dankbar dafür, denn jetzt hatten die Fans den Quizmaster und das Auto entdeckt und rasten wie eine wilde Horde durch die dunkle schmale Straße auf uns zu, Bestimmt war jeder einzelne dieser jungen Leute für sich allein ziemlich harmlos, möglicherweise sogar liebenswert. Aber wie sie da grölend, mit aufgerissenen Mündern und funkelnden Augen auf uns zustürmten, eine wilde, fanatisierte Masse, erschrak ich bis ins Herz hinein. Ich schloß die Augen und preßte die Hände vor die Ohren, um nicht miterleben zu müssen, was jetzt kam. Tatsächlich geschah gar nichts. Der Motor heulte auf, der schwere Wagen setzte sich in Bewegung und brauste davon, und als ich wagte, durch das Rückfenster hinauszublicken, war alles schon vorüber.

»Das sind eben die Schattenseiten des Erfolges«, hörte ich Hans Ullrich Garden neben mir sagen, aber sein Tonfall verriet, daß er den Ansturm in vollen Zügen genossen hatte.

»Tja«, spottete die helle Stimme auf meiner linken Seite, »unser Hans Ullrich Garden ist fast so berühmt wie ein Fußballspieler der Nationalmannschaft!«

Ich saß ziemlich eingequetscht zwischen den beiden Männern, zwischen Hans Ullrich Garden, dem Quizmaster, und dem anderen Mann, den er vorhin mit Lewin angesprochen hatte. Die Situation war mir mehr als unbehaglich.

»Bitte, kann ich jetzt aussteigen?« fragte ich.

»Kommt gar nicht in Frage«, antwortete Hans Ullrich Garden sofort. »Natürlich bringen wir Sie nach Hause — das ist doch wohl Ehrensache.«

»Es ist gar nicht weit — ich kann ebenso gut …«

»Wo wohnen Sie?« unterbrach mich der Mann namens Lewin. Er hatte das Gesicht eines großäugigen, klugen Vogels.

»Burgstallergasse sieben«, antwortete ich.

»Ihr Name?«

»Sonja Horn. Was soll das? Weshalb fragen Sie mich aus?«

»Kommen Sie, mein Fräulein, regen Sie sich nicht auf!« Hans Ullrich Garden legte seinen Arm um meine Schulter, und ich fand in der Enge des Wagens keine Möglichkeit, ihn abzuschütteln. »Wir interessieren uns immer für Land und Leute. Ist es nicht so, Lewin?«

»Besonders für junge Damen, die dem sprichwörtlichen Charme unseres Quizmasters noch nicht verfallen sind!« sagte Lewin. »Sie sind Studentin?«

»Ja.«

»Und was wollen Sie werden?«

Jetzt wurde es mir wirklich zu dumm. »So fragt man die Leute aus, Herr Lewin«, sagte ich böse. »Was geht Sie das an, was ich bin und was ich werden will? Das ist wohl doch wirklich meine Privatsache.«

»Beim Fernsehen ist nichts privat.«

»Um so schlimmer für Sie! Bringen Sie mich jetzt nach Hause oder …«

»Ist sie nicht eine süße Kratzbürste, Lewin?« fragte Hans Ullrich Garden fast zärtlich und drückte mich fester an sich.

Herr Lewin beugte sich statt einer Antwort vor, klopfte dem Chauffeur auf die Schulter und sagte: »Bitte fahren Sie uns zur Burgstallergasse sieben.«

»Wo ist das?« fragte der Chauffeur, ohne sich umzusehen.

»Gleich an der Brücke«, erklärte ich ihm. »Es ist die Gasse hinter der Uferstraße!«

»Wollen wir die Kleine wirklich schon nach Hause bringen?« fragte Hans Ullrich Garden. »Wie wär’s, wenn wir …«

»Bitte nehmen Sie die Hand von meinem Arm«, sagte ich, denn sein Griff war ziemlich besitzergreifend geworden.

Er lachte nur und machte keine Anstalten, meinem Wunsch zu folgen. »Warum so spröde, Kleine?« fragte er. »Sind Sie etwa verlobt? Oder verliebt?«

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete ich, »und wenn’s mir mal passieren sollte, dann bestimmt nicht in einen aufgeblasenen Allerweltshelden!«

Lewin kicherte boshaft, und Hans Ullrich Garden wurde plötzlich stocksteif. »Finden Sie nicht auch, daß Sie reichlich vorlaut sind?« fragte er eingeschnappt.

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«, sagte ich, weil mir im Augenblick nichts Besseres einfiel.

Ich war froh, als der Wagen vor dem schmalbrüstigen alten Haus in der Burgstallergasse hielt. Der Chauffeur stieg aus, öffnete den Wagenschlag, und Hans Ullrich Garden mußte sich bequemen, mir Platz zu machen, damit ich herauskonnte.

Ich war erleichtert, als ich wieder auf sicherem Boden stand. »Gute Nacht«, sagte ich vergnügt, »eine angenehme Heimfahrt, und vielen Dank fürs Mitnehmen.« Ich wartete nicht mehr, bis der Wagen sich in Bewegung setzte, sondern ging sofort zum Haus und schloß die Tür auf. Während ich die steile Treppe hinaufkletterte, nahm ich mir fest vor, mit niemand über diesen dummen Zwischenfall zu sprechen.

Aber, ehrlich gestanden, ich hielt diesen Vorsatz kaum eine Stunde. Dann kam meine Freundin Renate nach Hause, und ich war froh darüber, das verwirrende Erlebnis auf sie abladen zu können.

Renate fand es so komisch, daß auch ich endlich befreit darüber lachen konnte. Aber ein Rest von Unbehagen und Verwirrung blieb in meiner Seele zurück und nistete sich dort ein, so sehr ich mich auch bemühte, es abzuschütteln.

Drei Wochen später — die Semesterferien waren schon in erreichbare Nähe gerückt — erhielt ich einen seltsamen Brief. Absender war ein Verkehrsbüro der nächsten Großstadt, der Umschlag enthielt eine Eintrittskarte für den 27. April.

»Sehr geehrtes Fräulein Horn«, lautete das Schreiben, »wir möchten uns erlauben, Ihnen heute im Auftrag eine Eintrittskarte für den öffentlichen Quizabend, Lachen ist gesund’ mit Hans Ullrich Garden zuzusenden. Hochachtungsvoll« und Unterschrift. Mehr nicht. Trotzdem war mir, als ich den Brief zum erstenmal las, völlig klar, daß der geheimnisvolle Auftraggeber nur Hans Ullrich Garden sein konnte. Leider äußerte ich mich auch dementsprechend zu Renate.

»Du spinnst wohl«, sagte sie mit herzlicher Grobheit, »also wirklich, Sonja, fast scheint mir, du bist noch eingebildeter als dieser Garden! Bildest du dir etwa im Ernst ein, du hättest einen solch unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht, daß er es nicht mehr abwarten kann, dich endlich wiederzusehen?!«

»Natürlich nicht«, sagte ich kleinlaut.

»Na also. Oder hast du mich etwa angeschwindelt? Du hast doch erzählt, daß du ihm eine gründliche Abfuhr erteilt hättest, wie?«

»Ja«, sagte ich.

»Menschenskind, Sonja, jetzt nimm doch mal deine fünf Sinne zusammen — wie sollte Hans Ullrich Garden wohl darauf verfallen, dir eine Einladungskarte zu seinem Quizabend zu schicken! Das wäre doch verrückt!«

Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in meine Kollegtasche. »Und wer, glaubst du, könnte sich sonst einen solchen Spaß erlaubt haben?«

»Na, da kämen eine ganze Menge in Frage — Pützchen zum Beispiel, oder Peter! Sie haben dich doch lange genug mit dieser Geschichte gefrotzelt — vielleicht wollen sie der Sache einen neuen Auftrieb geben.«

»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß die für so etwas Geld rauswerfen würden!«

»Warum nicht? Ein guter Witz ist ihnen schon was wert. Außerdem ist das immer noch wahrscheinlicher, als wenn Hans Ullrich Garden …«

»Hör schon auf damit. Vergiß es!« sagte ich. »Vielleicht war es wirklich eine dumme Idee von mir.«

»Gut, daß du das einsiehst!« Renate legte nachdenklich ihren Finger an die Nase. »Und wenn es gar kein Witz wäre?« fragte sie. »Paß auf, Professor Gahlen hat dir doch ein Referat über ‚Technisierung der Freizeitgestaltung’ gegeben, nicht wahr? Hat er dabei nicht besonders aufs Fernsehen hingewiesen?«

»Sogar ganz speziell.«

»Da haben wir’s. Dann war er es, der dir eine Eintrittskarte vermittelt hat, damit du auch weißt, worüber du schreibst. Ruf ihn gleich an, und du wirst es erfahren!«

Dieser Vorschlag war gut, aber nicht ausführbar. Professor Gahlen war vor zwei Tagen zu einem Soziologenkongreß nach London geflogen.

Im ersten Augenblick, als ich die Einladung in Händen hielt, war ich fest entschlossen gewesen, nicht zu der Quizsendung ins Funkhaus zu fahren, aber Renate war es gelungen, mich so zu verwirren, daß ich wirklich nicht mehr wußte, was ich tun sollte.

Wenn Peter oder Pützchen das Geld wirklich zusammengekratzt hätten, um einen Spaß zu finanzieren, dann wäre es doch direkt gemein gewesen, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sollte aber tatsächlich Professor Gahlen selbst mir die Eintrittskarte besorgt haben, so würde er es mir wahrscheinlich sehr übelnehmen, wenn ich nicht hinfuhr. Ich hörte geradezu seine belehrende Stimme in meinem inneren Ohr, wie er sagte: »Sie sind nicht unintelligent, Fräulein Horn, aber Sie lassen es an dem nötigen Wissensdurst fehlen. Um die soziologischen Zusammenhänge unseres Daseins zu erforschen, braucht man eine tüchtige Portion persönlicher Neugier — das ist es, was ich meinen Studenten immer wieder einzuprägen versuche.«

Das Einfachste wäre es natürlich gewesen, bei dem Eintrittskartenbüro rückzufragen, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Auftraggeber handle. Aber dazu blieb keine Zeit mehr. Die Quizsendung sollte am nächsten Sonntagabend, also in drei Tagen, stattfinden. Auf Renates Drängen hin entschloß ich mich, gegen mein erstes Gefühl, hinzufahren. Schließlich riskierte ich nichts. Ich rechnete mir aus, daß die Fernsehsendung um ungefähr zweiundzwanzig Uhr beendet sein würde, ich konnte also gut und gern mit dem Nachtzug um dreiundzwanzig Uhr vier zurückfahren.

Zwanzig Minuten vor Beginn der Fernsehsendung betrat ich das Funkhaus. Mein Zug war sechzehn Minuten nach sieben auf dem Südbahnhof eingelaufen, die wenigen Stationen bis zum Funkhaus hatte ich mit der Straßenbahn zurückgelegt. Jetzt blieb mir reichlich Zeit, mich in der Toilette zurechtzumachen.

Ich selbst wäre am liebsten in Hose und Pullover gefahren, aber Renate hatte darauf bestanden, daß ich mein flaschengrünes Wollkleid anzog, von dem ich immer behauptete, daß es mir am besten von allen meinen Sachen stünde. Es war gerade geschnitten, schmiegte sich eng an meinen Körper und brachte meine Formen — soweit man bei mir von so etwas überhaupt reden kann, denn ich bin sehr schlank — zur Geltung. Mein schwarzes Haar, das ich gewöhnlich mit einer leichten Innenrolle bis auf die Schultern herabfallend trage, hatte ich mir für den besonderen Anlaß aufgesteckt. Jetzt vor dem Spiegel im Toilettenraum des Funkhauses stellte ich fest, daß mich diese Frisur doch zu alt machte, und kämmte mir das Haar wieder herunter.

Ich hatte mir die Wimpern getuscht und nach oben gebürstet, die Augenbrauen leicht nachgezogen, jetzt tönte ich mir mit Renates apfelsinenfarbenem Lippenstift den Mund. Wie immer, wenn ich mich im Spiegel betrachtete, fand ich mich eigentlich recht hübsch — meine großen, weit auseinanderstehenden Augen liegen über hohen Backenknochen, die meinem Gesicht etwas Exotisches geben. Der Eindruck der leicht gewölbten breiten Stirn wird durch den spitzen Haaransatz gemildert, der mein Gesicht herzförmig erscheinen läßt, wie man in Romanen zu sagen pflegt. Meine Nase und mein Mund sind vielleicht etwas zu groß, aber gut geschnitten — kurzum, im großen und ganzen gesehen, kann ich mit mir zufrieden sein.

Ich weiß nicht, ob ich Charme habe — aber manchmal kommt es mir fast so vor —, aber Sex-Appeal habe ich bestimmt nicht. Für die Jungen, die ich kenne, bin ich ein »netter Kerl«. Ich bin allgemein beliebt, aber niemand würde sich für mich ein Bein ausreißen. Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich falsch erzogen worden bin. Wenn ich eine Schwester Zsa Zsa Gabors wäre, hätte mir meine Mutter wahrscheinlich Tips gegeben, wie man die Männer beeindrucken und an der Nase herumführen kann. Aber ich stammte aus einer gutbürgerlichen, dazu noch glücklichen Ehe und — was wahrscheinlich das Schlimmste ist — habe vier Brüder. Zwei davon sind älter als ich, zwei jünger. In Romanen pflegen Brüder ihr einziges Schwesterlein zu beschützen und zu verwöhnen, die rauhe Wirklichkeit sieht anders aus. Meine Brüder haben mich immer als ihresgleichen behandelt, sie rauften und boxten mit mir herum, und wahrscheinlich hat diese Behandlung von vornherein jeden Keim von Sex-Appeal in mir erstickt.

Ich wurde in meinen trüben Betrachtungen vor dem Spiegel von zwei schwatzenden Freundinnen gestört, die gleich mir in den Toilettenraum geeilt waren, um letzte Hand an ihre Schönheit zu legen. Ich hielt es für angebracht, meinen Platz freizumachen, und machte mich auf den Weg zum Funksaal.

Es war ein riesiger Raum, und ich blieb eine Weile in der Eingangstür stehen, um jede Einzelheit wahrzunehmen. Die Plätze waren amphitheatralisch ansteigend angeordnet. Riesige Scheinwerfer hingen jetzt noch glanzlos und tot an der Decke. Ich zählte fünf Kameras, an denen Männer in Overalls herummanipulierten. Durch den Mittelgang waren Schienen gelegt, auf denen die größte der Kameras vor und zurück fahren konnte.

Die ersten Zuschauer begannen in den Raum hineinzusickern, ich wurde von ihnen gepufft und hielt es für besser, mich nach meinem Platz umzuschauen. Ich hatte schon zu Hause festgestellt, daß ich in der vierten Reihe saß, jetzt zeigte mir die livrierte Platzanweiserin meinen Sitz — er lag direkt am Mittelgang. Mir war etwas unbehaglich zumute, als ich Platz nahm, denn ich hatte das Gefühl, wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Dann beruhigte ich mich bei dem Gedanken, daß die Aufgabe der Kameraleute ja nicht darin bestehen konnte, das Publikum zu filmen, und daß Hans Ullrich Garden oben im Scheinwerferlicht mich auf meinem exponierten Platz sicher gar nicht bemerken konnte. Meine Reihe war fast noch leer, und mit einiger Spannung wartete ich darauf, wer sich neben mich setzen würde. Falls die Idee, mir eine Eintrittskarte zu schicken, von Pützchen oder Peter ausgeheckt worden war, mußte einer der beiden Knaben bestimmt gleich erscheinen. Aber nichts dergleichen geschah. Statt dessen setzte sich ein rundliches Ehepaar mittleren Alters neben mich.

Meine Nervosität wuchs. Ich hatte plötzlich das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein. Verzweifelt klammerte ich mich an den Gedanken, daß Professor Gahlen mir die Eintrittskarte hatte zukommen lassen. Aber wenn er das wirklich getan hatte, warum hatte er mich nicht darauf vorbereitet? Mir war gar nicht wohl zumute.

Der Funksaal füllte sich sehr rasch, und mit dem Einströmen der Zuschauer wich meine Beklemmung. Ich duckte mich auf meinem Sitz zusammen, genoß das beruhigende Gefühl, in der Masse der Menschen unterzutauchen.

Links von der Bühne, auf einem erhöhten Podium, nahmen die Mannen des Tanzorchesters Bert Bünger Platz. Sie trugen alle die gleichen weißen Hosen und roten Jacketts. Der Name des Dirigenten war mit deutlich lesbaren weißen Buchstaben auf Schilder geprägt, die vor jedem der Musiker standen.

Als Bert Bünger persönlich erschien, geschah das mit solcher Fixigkeit, daß die wenigsten überhaupt begriffen, was vor sich ging. Mit wenigen Schritten stand er vor seinen Musikern, riß beide Arme hoch, und ein Begrüßungstusch erfüllte mit voller Lautstärke den großen Saal. Der Tusch ging in eine Art Kennmelodie über.

Dem Publikum blieb kaum Zeit zu klatschen, denn während die letzten Takte Musik noch nicht verklungen waren, trat schon die Fernsehansagerin — bescheiden strahlend wie jemand, der eine wunderbare Überraschung, diskret verpackt, überreichen darf — vor das Mikrofon und sagte die Veranstaltung an. Die große Kamera fuhr den Mittelgang näher und näher an sie heran, während sie mit geheimnisvollem Lächeln die mitwirkenden Sänger, Musiker und Artisten aufzählte. Dann hob sie die Stimme und sagte: »,Lachen ist gesund’ — von und mit …« Ihre Stimme hob sich fast zu einem Stakkato, gleichzeitig setzte ein gewaltiger Trommelwirbel ein wie vor einer Artistensensation, die Bühne verdunkelte sich bis auf ein grelles Spotlight neben dem Mikrofon.

»… Hans Ullrich Garden!«

Bei der Nennung dieses Namens, die wie ein Fanfarenstoß erfolgte, sprang in elegantem dunkelblauem Smoking mit einer Chrysantheme im Knopfloch der Quizmaster Hans Ullrich Garden ins Scheinwerferlicht und verbeugte sich mit glücklichem Lächeln nach allen Seiten.

Der Tusch des Orchesters wurde vom Begrüßungsapplaus übertönt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Beifall so weit gelegt hatte, daß Hans Ullrich Garden sprechen konnte. Er hob die Hände, wie um den Applaus zu dämpfen, dann rief er — die Lautsprecher sorgten dafür, daß seine tiefe sonore Stimme bis in den letzten Winkel des Raumes gut zu hören war: »Meine Damen und Herren, liebe Fernsehfreunde aus Nord und Süd, aus Ost und West, ich freue mich, ja ich freue mich aus ganzem Herzen, wieder bei Ihnen zu sein!«

Wieder brach Beifall los, und Hans Ullrich Garden verstummte, er verbeugte sich leicht, mit bescheidener Miene, als wenn er sagen wollte: Aber wirklich — das ist zuviel der Ehre! Viel zuviel der Ehre! Womit habe ich das verdient? Aber um seine Mundwinkel spielte ein eitles Lächeln, das verriet, wie wohl ihm die Anerkennung tat.

Endlich konnte er fortfahren. »Meine Damen und Herren, Sie sind wieder einmal — zum siebentenmal — in unserer Sendung ‚Lachen ist gesund’ bei uns im großen Sendesaal des Funkhauses erschienen, und ich hoffe von ganzem Herzen, daß wir auch heute wieder unser gestecktes Ziel erreichen! Was wollen wir denn? Nichts weiter als von ganzem Herzen lachen, lachen und noch einmal lachen! Das Leben ist ernst, und heiter die Kunst — das beliebte Orchester Bert Bünger beginnt jetzt mit dem Paso doble ‚Andalusische Nächte’!« Hans Ullrich Garden zog sich mit einer Verbeugung aus dem Scheinwerferlicht zurück, während noch der Beifall prasselte, der von den heißen Rhythmen des Tanzorchesters übertönt wurde.

Hans Ullrich Garden, so schien mir, wirkte auf der Bühne bei weitem attraktiver als im Privatleben. Mich stieß die Clownerie seines Auftretens ab. Was war das für ein Beruf für einen ausgewachsenen Mann, sich vor Millionen Zuschauern zum Narren zu machen!

Aber gleichzeitig mußte ich wider Willen anerkennen, daß er seine Aufgabe glänzend löste. Bestimmt war es alles andere als einfach, diese Menschenmassen zu verzaubern, ihnen ihre Individualität zu nehmen und sie zu einem riesigen Publikum zusammenzuschweißen.

Mir blieb keine Zeit, weiter über das Problem »Technisierung der Freizeitgestaltung« nachzudenken, denn schon klang der Paso doble aus, und Hans Ullrich Garden eilte mit elastischen Schritten auf den Vordergrund der jetzt von den riesigen Scheinwerfern völlig ausgeleuchteten Bühne.

»Und nun, meine Damen und Herren», trompetete er, »geht’s wieder einmal darum, die Kandidaten für unsere Sendung auszuwählen — wer von Ihnen, meine Herrschaften, hat Mut? Wer wagt sich hier herauf? Wer kann Spaß verstehen?«

Schon flogen die ersten Hände im Zuschauerraum in die Höhe — anscheinend war ein Teil des Publikums nur deshalb zur Sendung ins Funkhaus gekommen, um selbst einmal vor der Fernsehkamera auftreten zu dürfen.

Hans Ullrich Garden überflog den Zuschauerraum und begann mit souveräner Schnelligkeit auszuwählen. »Ja, dort hinten der Herr — wenn Sie bitte zu mir kommen würden, und die Dame in dem roten Kleid — ja, Sie, gnädige Frau — und der junge Herr ganz rechts — danke.«

Ich duckte mich in meinem Sitz zusammen und heftete meine Augen auf meine Schuhspitzen — ein alter Trick aus meiner Schulzeit: Wenn man der Aufmerksamkeit des Lehrers entgehen wollte, durfte man ihn um keinen Preis ansehen.

Hans Ullrich Gardens Worte prasselten förmlich auf mein Trommelfell. »Ja, der junge Mann dort — bitte, Sie, mein Herr — das wäre sehr nett von Ihnen — wenn ich die reizende junge Dame dort drüben bitten darf.« An seiner Stimme, die durch Mikrofon und Lautsprecher verstärkt wurde, war keine Veränderung wahrzunehmen, und doch hatte ich den Eindruck, daß er die Bühne verlassen hatte und sich jetzt im Zuschauerraum befand. Ich preßte die Hände gegeneinander und starrte unentwegt vor mich auf den Boden. Mein Gott, dachte ich, hat er denn immer noch nicht genug?

»So«, hörte ich Hans Ullrich Garden sagen, »jetzt brauchen wir noch eine Dame, ja, wie wäre es denn mit Ihnen — ja, Sie meine ich, die Dame mit dem moosgrünen Kleid!«

Im selben Augenblick spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Jetzt half kein Verstecken mehr. Ich hob die Augen und sah ihm gerade in das gleichmütig lächelnde Gesicht. Noch glaubte ich, entrinnen zu können — es war doch unmöglich, daß dieser Mensch mich vor Millionen Zuschauern zu etwas zwang, was ich selbst nicht wollte!

Ich holte tief Luft und machte schon den Mund auf, um zu protestieren, als ich sah, daß die große Kamera im Mittelgang gerade auf mich und den Quizmaster gerichtet war. Plötzlich verließ mich aller Mut und alle Kraft. Ich fühlte mich hypnotisiert wie ein Kaninchen, brachte kein Wort mehr hervor.

In Hans Ullrich Gardens Augen blitzte ein Triumph auf, für den ich ihn hätte ohrfeigen mögen. Aber ich tat nichts dergleichen, sondern stand verlegen auf, hatte das Gefühl, mit hängenden Armen oder einem törichten Gesichtsausdruck eine sehr alberne Figur zu machen.

Hans Ullrich Garden nahm mich bei der Hand und zog mich mit zur Bühne hinauf. »Bitte, mein Fräulein, rasch, damit wir beginnen können«, sagte er laut, dann verdeckte er das Mikrofon, das er in der Hand trug, und fügte leise, nur für mich hörbar, hinzu: »Ich wußte, daß Sie kommen würden.«

Die nächsten neunzig Minuten vergingen in einem rasanten Wirbel. Fünfzehn Mitspieler hatte der Quizmaster auf die Bühne geholt, die er rasch in fünf Gruppen aufteilte. Jede der Gruppen bestand aus einem älteren, einem jüngeren Herrn und einer Dame — diese Gruppen mußten nun gegeneinander kämpfen, manchmal alle zusammen, und manchmal wurde auch nur ein Vertreter jeder Gruppe herausgeholt.

Ich hatte befürchtet, daß Hans Ullrich Garden die Gelegenheit nutzen würde, um mich tüchtig zu zwiebeln. Aber in diesem Punkt hatte ich ihn, das muß ich ehrlich zugeben, völlig falsch eingeschätzt. Er behandelte jeden der Mitspieler ausgesprochen charmant — mich vielleicht noch ein wenig charmanter als die anderen. Schon als er mich dem Publikum vorstellte, hatte ich das Gefühl, daß er mir die Bälle zuwarf, und auch später, als es darum ging, die einzelnen Aufgaben zu lösen, hatte er eine Art zu sagen: »Und jetzt ist wieder einmal unsere kleine Studentin an der Reihe!«, die mir die Herzen des Publikums zufliegen ließ.

Die Aufgaben selbst waren nicht schwer. Wir Frauen mußten jede eine Scherzfrage beantworten, meine hieß: »Wer ist der größte Eisenfresser?«, und ich brauchte wirklich nicht zu überlegen, um auf die Lösung »Rost« zu kommen. Trotzdem tat ich dem Publikum den Gefallen, ein nachdenkliches Gesicht zu machen und mit der Lösung erst im letzten Augenblick herauszuplatzen — die Leute freuten sich, und das tat mir wohl. Ich schwamm sozusagen auf den Wogen der Publikumssympathie, die der Quizmaster für mich erweckt hatte — ein berauschendes und ein wenig unheimliches Gefühl.

Die jungen Herren mußten einen Wettkampf in einer Art kombinierten Sackhüpfens mit Eierlaufen ausüben, bei der nur ein einziger — der junge Herr meiner Gruppe — unbeschadet zum Ziel kam. Für jeden der älteren Herrn wurde eigens eine bombastische Bühnendekoration aufgebaut, und es galt zu raten, aus welchem Stück die stumme Szene, die in dieser Dekoration agiert wurde, stammte. Diese Aufgabe war die schwerste, und ich muß sagen, daß ich froh war, daß sie nicht mir gestellt wurde — ich fand nur drei der Lösungen heraus. Der Senior unserer Gruppe löste diese Aufgabe mit meisterhafter Fixigkeit.

Nachher mußten wir Damen noch jede einen Schlager zum besten geben. Text und Noten drückte uns Hans Ullrich Garden in die Hand. Wenn man mir vorher gesagt hätte, daß mir solch eine Aufgabe bevorstünde, wäre ich sicher vor Schreck fast gestorben. Meine Liebe zur Musik muß nämlich als eine sehr unglückliche bezeichnet werden. Ich singe zwar gern, aber — wie schon mein Musiklehrer mit Schaudern feststellte — leider völlig falsch. Zum Glück aber wurden unsere Darbietungen nicht etwa von Bert Bünger oder einer anderen musikalischen Kapazität beurteilt, sondern vom Publikum, das sich über meine falschen Töne vor Vergnügen förmlich kugelte. Gaby, die Assistentin des Quizmasters, maß bei meiner Darbietung siebenundneunzig Phon, und damit hatte ich drei Punkte, die höchstmögliche Zahl, errungen. Unsere Gruppe war eindeutig als Sieger aus den Wettkämpfen hervorgegangen. Alle anderen wurden mit Trostpreisen entlassen. Jetzt mußten nur noch wir drei um den Einzelsieg miteinander streiten.

Zwischen den einzelnen Wettkämpfen hatte es immer wieder artistische Darbietungen — einen wirklich phantastischen Zauberkünstler, radfahrende Braunbären, ein Tanzpaar, das ich langweilig fand, und noch einiges mehr — gegeben. Vor der Entscheidung erschien jetzt noch ein Bauchredner auf der Bühne, der meiner Meinung nach besser als alles andere war, was bisher geboten wurde. Trotzdem konnte ich kaum über die wirklich zauberhaften Späße lachen, die er mit seinen unbeschreiblich komischen und sehr beweglichen kleinen Stofftieren ausführte — mir war, wider alle Vernunft, vor der Entscheidung doch etwas mulmig zumute. Ich blamiere mich nicht gern, selbst im Seminar melde ich mich immer nur dann zu Wort, wenn ich sicher bin, daß meine Antwort richtig ist — und möglicherweise vor Millionen Zuschauern als Trottel dazustehen, war alles andere als eine angenehme Aussicht für mich. Auch unser Haufen — Renate, Peter, Bill und Pützchen — saß heute abend, dessen war ich sicher, im Wirtshaus »Zur krummen Ecke« vor dem Fernsehapparat, und meine Kommilitonen würden mich bis ans Ende meiner Studienzeit aufziehen, wenn ich mich blöd anstellte.

Hans Ullrich Garden bereitete uns drei auf unsere letzte Aufgabe vor und erklärte uns, daß es jetzt darauf ankäme, nicht nur die richtige Lösung zu finden, sondern auch unsere schauspielerischen Qualitäten zu beweisen. Für jede Aufgabe seien im besten Fall vier Punkte zu erreichen — zwei für die richtige Lösung und zwei weitere Punkte für die schauspielerische Leistung, deren Einstufung wieder durch den Beifall des Publikums bestimmt und nach Lautstärke gemessen werden sollte.

Dann warf Hans Ullrich Garden drei zusammengelegte Zettel mit Losnummern in einen Hut. Ich durfte als erste hineinfassen und zog die Nummer drei, kam also als letzte mit meiner Aufgabe dran und durfte erst mal zusehen, wie sich die anderen bewährten.

Der Quizmaster verschwand, seine Assistentin Gaby weihte den ersten Kandidaten, unseren jungen Mann, in seine Aufgabe ein. Er sollte sich in die Rolle eines abgewiesenen Freiers der Prinzessin Turandot versetzen, die ihm noch eine Frage stellen würde, mit der er, wenn er schlau war, sein Leben retten konnte.

Das Orchester Bert Bünger intonierte einige Takte aus Puccinis Oper »Turandot«, der Vorhang vor der Hinterbühne ging auseinander und gab einen prächtigen asiatischen Krönungssaal frei. Auf dem wunderbar vergoldeten Thronsessel in der Mitte saß die verschleierte Prinzessin Turandot, von schönen, wenig bekleideten Sklavinnen umgeben. Zwei athletische Männer in Pumphosen, Schnabelschuhen und kräftigen braungeschminkten Oberkörpern packten unseren jungen Mann und zerrten ihn vor den Thron der Prinzessin. Das Publikum brüllte vor Lachen, denn unter dem weitwallenden Gewand Prinzessin Turandots waren Herrenhosen und Lackschuhe zu sehen — offensichtlich hatte Hans Ullrich Garden es sich nicht nehmen lassen, diese Rolle selbst zu übernehmen nach dem Motto: »Laßt mich den Löwen auch spielen.« Beim Publikum kam diese Idee glänzend an, das Gelächter und Geschrei war so laut, daß es eine Weile dauerte, bevor die Prinzessin sprechen konnte. Sie — oder vielmehr Hans Ullrich Garden — tat es mit einer so komisch verstellten Fistelstimme, daß wieder lauter Jubel losbrach. Ich spürte förmlich, wie diese weitere Verzögerung und das Geschrei des Publikums an den Nerven des jungen Mannes, der sich im kombinierten Sackhüpfen und Eierlaufen hervorgetan hatte, riß.

Endlich hatte sich das Publikum soweit beruhigt, daß Prinzessin Turandot die Frage stellen konnte. »Du weißt, daß du deinen Kopf verwirkt hast, o Jüngling«, lispelte Hans Ullrich Garden in höchsten Tönen, »aber weil du mir gefällst, sollst du eine Chance haben. Rate, wie du sterben wirst. Überlege dir gut, was du sagst, o Jüngling, denn falls du dich irrst, wirst du gehängt, falls du aber die Wahrheit errätst, wirst du nur geköpft.«

Trotz der verwirrenden Fragestellung war die Lösung höchst einfach, und ich wußte sie, kaum daß Prinzessin Turandot ihre Frage ausgesprochen hatte. Der junge Mann mußte natürlich sagen, er würde gehängt, dann konnte man ihn nicht hängen, weil er sonst die Wahrheit gesagt hätte. Köpfen lassen konnte die Prinzessin ihn aber auch nicht, weil er dann die Unwahrheit gesagt hätte und gehängt werden mußte.

Dem jungen Mann fiel die Lösung nicht ein. Prinzessin Turandot stellte ihm noch zweimal dieselbe Frage, er stammelte und versuchte, Zeit zu gewinnen. Der Gong ertönte, unser junger hoffnungsvoller Mann war mit Glanz durchgefallen.

Hans Ullrich Garden sprang von seinem Thronsessel, riß sich den Schleier vom Gesicht, die wallenden Gewänder vom Leib, empfing den brausenden Beifall des Publikums und tröstete den jungen Mann mit ein paar netten Worten. Die Assistentin Gaby maß die Lautstärke des Beifalls, und es stellte sich heraus, daß der junge Mann immerhin noch zwei Punkte bekommen hatte, und zwar mit Recht, denn seine Darstellung hatte so verstört gewirkt, als wäre es wirklich um seinen Kopf gegangen.

Wieder verschwand der Quizmaster, der Vorhang von der Hinterbühne hatte sich geschlossen, die Assistentin Gaby weihte das Publikum in die Aufgabe ein, die dem Senior unserer Gruppe bevorstand. Er bekam einen Tropenhelm auf den Kopf gestülpt, und Gaby erklärte ihm, daß er sich in die Lage eines Mannes versetzen solle, der sich in der Wüste verirrt hätte. Gleich würde er zwei Beduinen begegnen, die ihm den Weg zur nächsten Oase weisen würden, wenn er imstande sei, ihnen den Gefallen zu tun, um den sie ihn bäten.

Der Kandidat schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Er zeigte keinerlei Besorgnis, sondern schmunzelte vergnügt in sich hinein, und als der Vorhang aufging und wahrhaftig zwei Männer als Beduinen verkleidet auf zwei lebenden Kamelen langsamen Schrittes in einer Wüstenlandschaft daherkamen, stimmte er in das Gelächter des Publikums ein. Der Auftritt, bei dem man wieder Hans Ullrich Gardens Hosen unter dem Burnus hervorblicken sah, war wirklich ungemein komisch. Das Publikum schien besonders über die lebendigen Kamele ehrlich begeistert, aber ich konnte nicht umhin, mir die Frage zu stellen, ob soviel Aufwand zur Illustrierung einer simplen Scherzfrage nicht doch übertrieben war. All die Spiele, die Hans Ullrich Garden heute abend mit uns Kandidaten für das Publikum angeregt hatte, waren mir noch aus meiner Kinderzeit in guter Erinnerung, als wir an dergleichen Kurzweil, besonders an Geburtstagen, viel Spaß gehabt hatten — ohne daß uns dabei Kamele oder kostbare Dekorationen vonnöten erschienen waren.

Die beiden Beduinen sprachen mit einem höchst albernen und belustigenden Kauderwelsch auf den Kandidaten ein, und es dauerte eine Weile, bis er die Frage, die sie ihm stellten, überhaupt verstand. Die Wüstensöhne gaben vor, miteinander gewettet zu haben, wer das langsamere Kamel besäße, aber bisher hatten sie diese Frage noch nicht lösen können, weil natürlich jeder dem anderen ständig den Vortritt ließ.

Kaum, daß der Kandidat die Frage verstanden hatte, platzte er auch schon wie aus der Pistole geschossen heraus: »Na, dann wechselt doch die Kamele!«

Hans Ullrich Garden sprang vom Kamel, pellte sich aus seiner Beduinentracht, nahm den Beifall des Publikums entgegen und gratulierte zu der richtigen Antwort. Auch der Beifall des Publikums war für unseren Senioren so groß, daß er zwei Punkte dazu, also im ganzen vier Punkte, bekam, obwohl meiner bescheidenen Ansicht nach seine darstellerische Leistung tatsächlich unter dem Nullpunkt gelegen hatte. Aber anscheinend hatte das niemand gestört.

Jetzt also kam ich selbst an die Reihe, und während der Vorhang wieder zufiel und Hans Ullrich Garden sich verzog, erklärte Gaby mir und dem Publikum, um was es ging. Ich sollte mich in die Lage einer jungen Dame versetzen, die mutterseelenallein auf einer Reise durch den Wilden Westen unterwegs wäre. Gaby stülpte mir eine Art Cowboyhut auf und band mir einen breiten Gürtel um die Taille — eine Verkleidung, in der ich, nach dem Gelächter des Publikums zu urteilen, sehr komisch aussehen mußte.

»Wir haben ein kleines Hotelzimmer für Sie aufgebaut«, erklärte Gaby, »Sie brauchen nichts zu tun, als sich auf das Bett zu setzen und in dem Schmöker zu lesen, der auf Ihrem Nachttisch liegt. Aber Sie müssen ständig auf der Hut sein, denn Billy Rock, der Mädchenkiller, treibt sein Unwesen in dieser Gegend. Leider läßt sich die Tür Ihres Zimmers nicht abschließen, davon können Sie sich selbst überzeugen. Falls jemand an die Tür klopft, dürfen Sie auf keinen Fall ‚herein’ rufen, denn jeder, den Sie nicht kennen, kann ja der Mädchenkiller sein. Dieser Bursche wird sich aber durch eine unglaubhafte Behauptung selbst entlarven. Sie brauchen also nur aufzupassen. Falls Sie sicher sind, Billy Rock vor sich zu haben, greifen Sie nach der Pistole — sie liegt in Ihrer Nachttischschublade — und schießen auf ihn. Übrigens brauchen Sie keine Angst zu haben, es handelt sich natürlich nicht um eine echte Pistole, sondern nur um eine ganz harmlose Attrappe aus Kunststoff… Haben Sie alles verstanden?«

»Danke«, sagte ich.

Der Vorhang auf der Hinterbühne ging auf, ich setzte mich auf das quietschende Bett in der anheimelnden, gemütlichen Hoteldekoration und begann, laut Regieanweisung, in dem Schmöker zu blättern. Ich brauchte nicht lange zu warten, da klopfte es an die Tür.

Natürlich hielt ich den Mund, und es klopfte gleich darauf lauter. Langsam, ganz langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit — es war wirklich fast gruselig —, und ein merkwürdiges Instrument schob sich ins Zimmer. Es zuckte mir in den Händen, nach der Pistole zu greifen, aber vorsichtshalber blieb ich ganz still sitzen, und wenige Sekunden später war ich sehr froh darüber. Das merkwürdige Instrument war nämlich nichts weiter als eine Flitspritze, und obwohl Hans Ullrich Garden alles getan hatte, um sich als verdächtiges Individuum zu maskieren — er trug eine schwarze Augenbinde und kaute unentwegt auf einem Kaugummi herum —, begriff ich, daß er nichts anderes darstellen sollte als einen Texas-Zimmerkellner.

»Ich komme nur, um ein bißchen zu töten«, sagte er mit schleppender Stimme und schiefverzogenem Mund — das Publikum brüllte vor Lachen, und unter brausendem Beifall zog Hans Ullrich Garden sich nach einer Weile zurück.

Wenige Sekunden später erschien er wieder, diesmal ohne anzuklopfen — er hatte sich in Windeseile in einen Sheriff verwandelt —, stieß die Tür mit sieghaftem Fußtritt auf und grölte: »Fremdenkontrolle!«

Er baute sich vor mir auf und begann, mir Fragen nach meinem Woher und Wohin zu stellen, auf die man bestimmt geistreichere und lustigere Antworten hätte finden können, als ich sie gab. Ich sagte gerade das, was mir einfiel, und das war wirklich nicht viel. Der Quizmaster-Sheriff setzte sich zu mir aufs Bett, faßte meine Hand, legte seinen anderen Arm um meine Schulter und begann einen unverschämten Flirt mit mir. Möglicherweise gehörte dieser plumpe Annäherungsversuch zu seiner Rolle, mir gefiel er jedenfalls nicht. Nachdem ich erst versucht hatte, mich mit sanftem Nachdruck aus seiner Umarmung freizumachen, riß mir die Geduld, und ich sagte wütend: »Verdammt nochmal, was fällt Ihnen denn ein? Hauen Sie gefälligst ab, Sie Angeber!«

Das Publikum amüsierte sich prächtig, und Hans Ullrich Garden zog sich mit übertriebener Bestürzung zurück. Das Publikum applaudierte heftig, aber ich tat so, als wenn ich es nicht bemerkte — ich konnte mich ja nicht gut für einen Beifall bedanken, der möglicherweise nur dem beliebten Quizmaster galt.

Der Applaus hatte sich noch nicht gelegt, als wieder an die Tür gepocht wurde. Dieses Klopfen, durch die Lautsprecher sehr verstärkt, brachte das Publikum zur Ruhe. Ich starrte gespannt auf die Tür und schwieg, wie die Assistentin mir geraten hatte. Es klopfte noch einmal. Ich hielt wieder den Mund und rührte mich nicht vom Fleck.

Vorsichtig wurde die Tür jetzt einen Spalt breit geöffnet, Hans Ullrich Garden steckte seinen Kopf herein und erschien dann in voller Lebensgröße in der Verkleidung eines vornehmen Reisenden im weiten eleganten Radmantel.

Er verbeugte sich höflich und stammelte: »Verzeihung, Gnädigste — ich dachte, es wäre mein Zimmer — ich bedaure sehr, anscheinend habe ich mich in der Nummer geirrt.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als mir klar wurde, wie unlogisch diese Ausrede war — niemand klopft an die Tür seines eigenen Zimmers. Der vornehme Fremde im Radmantel konnte nur Billy Rock, der Mädchenkiller sein. Mit einem Ruck öffnete ich die Nachttischschublade, zog den Revolver heraus, legte an und — ließ ihn fallen … Gerade noch im letzten Moment hatte ich bemerkt, daß dieser Revolver keine Kunststoffattrappe, sondern nur zu echt war.

Hans Ullrich Garden bückte sich sofort, hob die Waffe auf und lud sie durch. Ich hatte mich nicht geirrt. Richtige Munition fiel auf die Bühne. Eine Sekunde lang starrten Hans Ullrich Garden und ich uns entsetzt an. Ich begriff, daß dies kein Witz und kein vorausberechneter Effekt war. Hans Ullrich Garden war unter der braunen Schminke erbleicht, seine Augen waren schreckgeweitet.

Niemand aus dem Publikum konnte etwas von dem Zwischenfall bemerkt haben — oder doch? Jedenfalls tat Hans Ullrich Garden alles, um die gefährliche Situation, in der er für Sekunden geschwebt hatte, zu überspielen. Er ließ mit Fixigkeit die Waffe und die Munition in seinen Hosentaschen verschwinden, nahm mich bei der Hand und präsentierte mich strahlend den Zuschauern. »Meine Damen und Herren, bitte, sammeln Sie alle Kraft — wie hat Ihnen unsere kleine Studentin in der Rolle der verfolgten Unschuld gefallen?«

Der Beifall, der jetzt losprasselte, war beachtlich.

»Neunundneunzig Phon«, verkündete Gaby, die Assistentin des Quizmasters mit einem honigsüßen Lächeln, aber der Blick, der mich aus ihren katzengrünen Augen traf, war alles andere als freundlich.

»Gratuliere, Fräulein Horn«, sagte Hans Ullrich Garden und schüttelte mir enthusiastisch die Hand. »Sie sehen, Sie sind ein Liebling der Götter — will sagen des Publikums.« Er wartete das Verklingen des aufkommenden Gelächters ab und fuhr dann fort: »Also, ich glaube, das Ergebnis ist wohl eindeutig — Herr Erich Bürger ist als Sieger im siebenten Quiz ‚Lachen ist gesund’ hervorgegangen. Herr Bürger, darf ich …« Er sprach nicht weiter, denn eine seltsame Unruhe, ein unzufriedenes Gemurmel drang aus dem Zuschauerraum zu uns herauf.

»Aber, meine Damen, meine Herren, sind Sie mit dieser Entscheidung etwa nicht einverstanden?« rief Hans Ullrich Garden mit übertriebener Verblüffung.

»Nein!« rief ein junger Mann aus dem Publikum, andere Stimmen unterstützten ihn: »Nein!« — »Nein!«

Hans Ullrich Garden schaute prüfend auf die große Tafel, auf der die Ergebnisse unseres Bemühens mit Kreide festgehalten worden waren, dann sagte er stirnrunzelnd: »Aber diese Entscheidung ist doch völlig korrekt! Herr Bürger hat in der letzten Runde vier Punkte gewonnen, die höchstmögliche Zahl. Fräulein Horn habe ich einen Punkt gegeben, weil sie im richtigen Moment zur Pistole gegriffen hat. Aber statt zu schießen, hat sie die Waffe fallen lassen. Dafür kann ich beim besten Willen nicht mehr als einen Punkt geben. Dazu kommen zwei Punkte für die Darstellung — eins und zwei ist drei —, an diesem Ergebnis ist doch wirklich nicht zu rütteln!«

Hans Ullrich Garden hatte natürlich recht, trotzdem verstummte die Unruhe im Zuschauerraum nicht. Herr Bürger stand, die Hände in den Taschen, mit arrogantem Lächeln auf der Bühne, während mir die Situation von Sekunde zu Sekunde peinlicher wurde.

»Mir scheint, meine liebe kleine Studentin«, sagte Hans Ullrich Garden mit dem Versuch, das Publikum mit einem Witz zu beruhigen, »Sie haben Ihre sämtlichen Verehrer ins Funkhaus mitgebracht, wie?«

»Davon kann gar keine Rede sein, das wissen Sie genau!« sagte ich wütend, aber da ich einige Schritte vom Mikrofon entfernt stand, gingen meine Worte in dem Gelächter der Zuschauer unter.

»Der erste Preis muß geteilt werden!« schrie eine Frau aus dem Publikum mit sich überschlagender Stimme, und alles lachte. Die mollige Frau hatte einen roten Kopf bekommen, und man sah von der Bühne her, wie sie eifrig auf ihre Nachbarn einredete.

»Meine liebe Dame«, sagte Hans Ullrich Garden freundlich, »wir teilen prinzipiell keine Preise — niemals — und schon gar nicht, wenn das Spielergebnis so eindeutig ist. Falls die Entscheidung in dieser letzten Runde nicht gefallen wäre, hätten wir noch eine Extrarunde angehängt. Aber ich glaube, daß Herr Bürger sich durch eine solche Maßnahme mit Recht zurückgesetzt fühlen würde. Fragen wir also lieber mal unsere kleine Studentin …« Er nahm mich bei der Hand und zog mich direkt vor die Kamera. »Liebes Fräulein Horn, sind Sie mit Ihrem zweiten Platz zufrieden, ja oder nein?«

»Natürlich«, sagte ich rasch, »Herr Bürger war wirklich besser, und außerdem ist das Ganze ja nur ein Spiel!«

»Da haben wir’s!« rief Hans Ullrich Garden, Jubel in der Stimme. »Unsere kleine Studentin hat den springenden Punkt erfaßt. Das, was wir in unserer Sendung ‚Lachen ist gesund’ treiben, darf man nicht tierisch ernst nehmen, nein, ganz im Gegenteil, es ist nichts als ein Spiel und Spaß. In jedem Spiel muß es aber auch Verlierer geben. Herr Bürger — darf ich Ihnen zu Ihrem ersten Preis gratulieren? Was, glauben Sie wohl, haben Sie gewonnen?«

»Ich laß mich überraschen«, sagte Herr Bürger, noch immer die Hände in den Hosentaschen.

Die Zuschauer unten machten ihrer Unzufriedenheit laut Luft. Es war deutlich zu spüren, daß Hans Ullrich Garden sein Publikum aus der Hand geglitten war. Möglicherweise lag es daran, daß er nach dem überstandenen Schock nicht ganz so gut in Form war wie gewöhnlich. Die arrogante Haltung Herrn Bürgers — wahrscheinlich nur aus der Verlegenheit geboren — tat das Ihre dazu. Den ganzen Abend hatte Hans Ullrich Garden sich alle Mühe gegeben, mich zum Liebling der Massen zu machen, und jetzt, kurz vor Schluß der Sendung, war niemand mehr bereit umzuschalten.

Hans Ullrich Garden überschaute die Situation und meisterte sie mit bewundernswerter Routine. »Meine Damen und Herren«, trompetete er, »an dem Schiedsspruch ist leider nichts mehr zu ändern, bitte, bitte, bleiben Sie ruhig. Es ist so, wie ich sage — der Schiedsspruch ist gültig und bleibt bestehen. Aber ich möchte jetzt einmal eine ehrliche Antwort auf eine offene Frage haben — gefällt Ihnen unsere kleine Studentin?«

»Jaaa!« brüllten die Zuschauer im Chor.

»Das freut mich!« Hans Ullrich Garden rieb sich schmunzelnd die Hände. »Mir gefällt sie nämlich auch. Mit Ihrem Einverständnis möchte ich sie jetzt auf der Stelle zu meiner Assistentin ernennen! Ist das ein Vorschlag? Jaaa — ich habe es ja gewußt, diese Lösung spricht Ihnen aus dem Herzen!«

Das Publikum jubelte und applaudierte, Hans Ullrich Garden schüttelte mir wieder einmal die Hand. Ehe ich noch einen Ton äußern konnte, hatte er von irgendwoher einen riesigen Blumenstrauß herbeiholen lassen und legte ihn mir in die Arme — es war ein rührendes und berauschendes Happy-End.

Ich machte gute Miene zum bösen Spiel, knickste und verbeugte mich, lächelte nach allen Seiten, ließ dem Publikum die Freude, die geniale Lösung zu bejubeln.

Tatsächlich wurde ich keine Sekunde von der allgemeinen Begeisterung angesteckt. Erstens war ich Studentin, hatte ein festes Berufsziel und dachte auch jetzt nicht daran, mein Studium aufzugeben, um Hans Ullrich Garden auf der Bühne zu assistieren. Zweitens konnte ich nicht vergessen, was geschehen war, wenn es mir auch schon jetzt wie ein böser Traum erschien.

Hans Ullrich Garden, der beliebte und gefeierte Quizmaster, mußte einen Todfeind haben, einen Menschen, der ihn so sehr haßte, daß er es darauf anlegte, ihn vor Millionen Zuschauern sterben zu sehen. Kälte kroch mir bei diesem Gedanken über den Rücken, und ich spürte, wie unecht und verzerrt mein Lächeln war.

Nach der Preisverteilung — Herr Bürger erhielt eine Fernsehtruhe, ich einen Plattenspieler, und der junge Mann, der mit uns bis in die Endrunde vorgedrungen war, bekam einen Reisewecker — und dem anschließenden Schlußapplaus, bei dem ich mich wieder Hand in Hand mit Hans Ullrich Garden an der Rampe verneigen mußte, zog er mich mit sich von der Bühne in die Kulissen.

Er sah plötzlich verfallen aus, wischte sich mit seinem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und sagte mit einem kleinen gequälten Lächeln: »So, das hätten wir überstanden!«

Ich hörte, wie draußen auf der Bühne die Schlußansage gemacht wurde.

»Kann ich jetzt gehen?« fragte ich.

Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Gehen? Wohin denn?«

»Meinen Mantel holen. Ich möchte meinen Zug nicht versäumen.«

»Sollen Sie ja auch nicht, Mädchen. Ich werde Sie schon rechtzeitig zum Bahnhof bringen. Bitte geben Sie mir mal Ihre Garderobenmarke!«

Er winkte einen der Bühnenarbeiter herbei, drückte ihm meine Marke in die Hand und sagte: »Bitte, Karlchen, holen Sie das Zeug und bringen Sie es in mein Büro!«

»Natürlich werde ich meine Aussage machen«, sagte ich, als der Mann verschwunden war.

»Aussage! Was meinen Sie damit?«

»Na, ich denke, Sie wollen mich hier behalten, weil die Polizei …«

Er legte mir die Hand auf den Mund. »Still!« zischte er. »Kein Wort davon!«

Ich machte mich frei. »Aber warum denn nicht? Schließlich war es doch ein einwandfreier Mordanschlag!«

Er lächelte krampfhaft. »Muß man soviel Phantasie haben, um Soziologie zu studieren? Nein, klettern Sie nicht gleich wieder auf die Palme. Kommen Sie, gehen wir in mein Büro, dort können wir uns in aller Ruhe über die Geschichte unterhalten.« Er packte mich beim Oberarm und dirigierte mich durch die Kulissen zum Ausgang.

Ein kleiner Mann in grauem Kittel, mit Brille und zerrauftem Haar stürzte auf uns zu. »Herr Garden«, sagte er, »ich wollte nur sagen — ich wollte Sie bitten — Sie werden mir doch keinen Ärger machen wegen dieser Geschichte, wie?«

»Ich begreife nicht, wie das passieren konnte«, sagte der Quizmaster kühl.

Der kleine Mann rang verzweifelt die Hände. »Es ist nicht meine Schuld — weiß Gott, es ist nicht meine Schuld! Natürlich wird man jetzt wieder sagen, ich hätte mich vergewissern müssen — aber du lieber Himmel, man kann doch nicht überall sein. Siebzehn verschiedene Dekorationen heute abend, das ist wirklich zuviel. Ich bin doch auch nur ein Mensch, das müssen die Herren doch schließlich einsehen.«

Ich begriff, daß der aufgeregte Mann der Requisiteur sein mußte. »Wo ist die Plastikpistole?« fragte ich.

»Die Plas …«, sagte der Requisiteur, stockte mitten im Wort, sah mich wütend an und sagte: »Haben Sie hier auch schon mitzureden, Fräulein?«

»Die Frage von Fräulein Horn ist sehr berechtigt, Herr Mehlmann«, unterstützte Hans Ullrich Garden mich. »Was war mit der Plastikpistole?«

»Ich hatte sie besorgt — genau wie Sie mir gesagt hatten, Herr Garden, eigenhändig habe ich sie in die Nachttischschublade gelegt, so wahr mir Gott helfe — sie muß herausgefallen sein, als die Arbeiter den Nachttisch auf die Bühne geschleppt haben. Nachher habe ich sie am Eingang gefunden — hier ist sie!« Er fummelte in den Taschen seines Kittels herum, sagte dann: »Eben hatte ich sie noch; wenn Sie Wert darauf legen, werde ich …«

»Nein«, sagte Hans Ullrich Garden. »Jetzt brauchen wir die Pistole ja nicht mehr.«

»Ja, jetzt — ja, natürlich, was sollten Sie jetzt noch mit einer Pistole anfangen? Bitte, Herr Garden, Sie werden den Vorfall doch nicht melden? Ein armer Mann wie ich, Vater von vier Kindern.«

»Nein«, sagte Hans Ullrich Garden mit Nachdruck, »ich werde nichts melden. Sind Sie nun zufrieden?«

»Ja, danke, Herr Garden — vielen Dank auch, nur …«

»Was denn jetzt noch?«

»Ich möchte so gern wissen, wie Sie es geschafft haben, so schnell einen Ersatz zu bekommen — also, ich muß sagen, für mich hat das geradezu an Hexerei gegrenzt!«

»Alter Freund«, sagte der Quizmaster und klopfte dem Requisiteur gönnerhaft auf die Schulter. »Sie sollten doch eigentlich wissen — Hans Ullrich Garden schafft alles.«

Das Büro des Quizmasters lag im Fernsehflügel des Funkhauses. »Abteilung Unterhaltung« las ich auf der Glastür, die wir durchschritten. Wir mußten einen ziemlich langen Gang hinunter, die vorletzte Tür links führte in Hans Ullrich Gardens geheiligte Räume.

Ich wartete auf den Augenblick, wo ich dem Quizmaster endlich in aller Ruhe und unter vier Augen meinen Standpunkt erklären konnte, aber der modern eingerichtete Raum war nicht leer. Herr Lewin — Dr. Janos Lewin, wie ich später erfuhr — saß hinter dem Schreibtisch, hatte eine Flasche Kognak und ein Glas vor sich und prostete uns zu, als wir eintraten.

»’n Abend!« grüßte Hans Ullrich Garden kurz, wies mit der Hand zu den Stahlrohrsesseln, die um einen kleinen Tisch mit einer apfelsinenfarbenen Plastikplatte gruppiert waren. »Setzen Sie sich, Mädchen, geben Sie uns einen Kognak, Lewin!«

Lewin kicherte, holte zwei weitere Gläser aus dem Schreibtisch, stand auf und kam zu unserem Tisch. Jetzt erst sah ich, daß sein rechtes Bein verkürzt schien. Er humpelte stark.

»Sie werden eine Seelenstärkung brauchen können, Garden«, sagte er grinsend, »der hohe Chef hat angerufen. Sie sollen sich sofort mit ihm in Verbindung setzen, mein Lieber!« Lewins Augen funkelten vor Schadenfreude.

Hans Ullrich Garden goß mir und sich selbst einen Kognak ein, leerte sein Glas auf einen Zug und sagte böse: »Der kann mich mal!«

»Soll ich die Verbindung herstellen, damit Sie es ihm persönlich sagen können?« schlug Lewin mit falscher Freundlichkeit vor.

»Nichts sollen Sie! Den Mund halten sollen Sie — wenn es Ihnen auch schwer fällt.«

Lewin rieb sich die Hände, zog die eine Schulter hoch, eine Haltung, die ihm das Aussehen eines boshaften Vogels gab. »Schlecht gelaunt, großer Meister, wie?« fragte er mit funkelnden Augen.

Obwohl er sich alle Mühe gab, sich so widerwärtig wie nur möglich aufzuführen, hatte ich das Gefühl, daß er im Grund genommen eine gute Seele war. Deshalb sagte ich: »Herr Garden ist ziemlich erschöpft. Es ist etwas passiert.«

Dr. Lewins Gesicht wurde sofort ernst. »Passiert?« fragte er. »Ist die Sendung geplatzt? Nein, das kann ich mir doch nicht vorstellen, das würde man mir bestimmt schon berichtet haben …«

Hans Ullrich Garden zündete sich eine Zigarette an. »Weshalb will der Chef mich sprechen?«

»Weshalb schon? Weil Sie sich erlaubt haben, diese gewiß ungemein reizende junge Dame«, er sagte es mit einer kleinen Verbeugung zu mir hin, »eigenmächtig zu engagieren.«

»Na und? Ist etwas gegen Fräulein Horn einzuwenden?«

»Heilige Einfalt!« Dr. Janos Lewin setzte sich verkehrt herum, die Arme über der Lehne verschränkt, auf einen der federnden Stühle. »Wer, lieber Garden, glauben Sie, daß Sie sind? Nicht mal der Intendant persönlich darf sich ohne Rückfrage bei der Verwaltung erlauben, den Papst von Rom zu engagieren! Sie sollten doch wissen, der Dienstweg …«

»Wenn sich Fräulein Horn auf den Dienstweg verlassen hätte, wäre ich jetzt tot — ja, schauen Sie mich nicht so an, Lewin —, ich wäre tot, mausetot. Gestern noch auf hohen Rossen, heute durch die Brust geschossen. Was sagen Sie jetzt?«

»Machen Sie keine Witze.«

»Sie scheinen nicht sehr überrascht, Herr Lewin!«

Er sah mich mehr belustigt als beleidigt an. »Sie verdächtigen mich, gnädiges Fräulein?«

»Ich verdächtige jeden — ich meine, jeden, der regelmäßig in irgendeiner Form an den Quizsendungen Hans Ullrich Gardens beteiligt ist.«

»Wollt ihr mir jetzt nicht endlich erklären, was überhaupt passiert ist?« fragte Dr. Lewin.

»Sonja hat ganz recht — diese Frage kommt reichlich spät, mein Lieber!«

»Also, jetzt werdet doch bitte nicht komisch!« Janos Lewins Lachen klang unecht. »Ihr bildet euch doch wohl nicht im Ernst ein, daß ich etwas mit euren mysteriösen Geschichten zu tun habe? Ich habe seit heute abend sieben Uhr diesen Raum hier nicht verlassen.«

»Haben Sie Zeugen?« fragte ich.

»Jawohl. Die Arbeit, die ich geleistet habe!« Dr. Lewin schwang sich von seinem Sitz, humpelte zum Schreibtisch und warf dort mit wütenden und, wie mir schien, reichlich effektvollen Bewegungen die Papiere durcheinander. »Während ihr auf der Bühne euren Heckmeck gemacht habt, habe ich mir erlaubt, die übernächste Sendung mit und von Hans Ullrich Garden vorzubereiten — geistig vorzubereiten. Glauben Sie im Ernst, ich hätte das getan, wenn ich damit gerechnet hätte, daß er heute abend ins Gras beißt?«

»Ich bin der Meinung, daß man die Kriminalpolizei anrufen sollte«, sagte ich.

Auf einmal waren sich die beiden Männer einig. »Unsinn!« rief Hans Ullrich Garden sofort.

»Alberne Idee!« behauptete Dr. Lewin.

»War das heute abend der erste Mordanschlag?« fragte ich.

»Ja — das heißt — nein.«

»Ja oder nein?« fragte ich.

»Ich habe Drohbriefe bekommen. Lewin, Sie wissen ja davon.«

»Blödsinniges Geschreibsel. Wir haben es natürlich nicht ernst genommen«, sagte Dr. Lewin.

»Ich meine doch«, beharrte ich, »man sollte alles der Kriminalpolizei erzählen, und …«

Das Schrillen des Telefons unterbrach meinen Satz. Ich verstummte. Die beiden Männer sahen sich fast feindselig an, ohne sich von ihren Plätzen zu rühren.

Das Telefon klingelte noch einmal.

»Warum nehmen Sie nicht ab, Lewin?« fragte Hans Ullrich Garden böse.

Janos Lewin zuckte mit den Schultern. »Es ist bestimmt für Sie, Garden!«

»Glaube ich nicht.«

Das Telefon klingelte zum drittenmal.

»Das wird der Intendant sein. Oder haben Sie schon vergessen, daß er auf hundert ist?«

»Der Intendant soll mich …«

Janos Lewin stand auf, humpelte zum Schreibtisch, nahm den Hörer des elfenbeinfarbenen Apparates ab und reichte ihn, ohne sich zu melden, an Hans Ullrich Garden weiter. »Sagen Sie’s ihm selbst, Garden. Der Chef wird sich freuen, wenn er erfährt, was Sie von ihm denken!« zischelte er, während er die Sprechmuschel zuhielt.

Hans Ullrich Garden riß ihm den Hörer wütend aus der Hand. »Hier Garden«, meldete er sich kurz. Dann machte er ein Gesicht, als wenn er selbst nicht wüßte, ob er jetzt erleichtert oder verärgert sein sollte. »Ach, du bist es«, sagte er, »nein, Lilo, das ist völlig ausgeschlossen — nein, das geht wirklich nicht. Tut mir leid. Wir haben — wenn ich dir sage, daß ich nicht kann, dann mußt du mir schließlich glauben, wie? Bitte, mach mir jetzt keine Szene, ich bin abgespannt genug. Ja, ja, ja, natürlich tut es mir leid. Ich werde dich morgen früh anrufen, einverstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er Janos Lewin, der mit einem amüsierten Lächeln am Schreibtisch stand, und legte den Hörer auf.

»War diese Dame heute abend auch hinter der Bühne?« fragte ich nachdenklich.

Aber niemand beantwortete mir die Frage.

»Los, Lewin«, forderte Garden, »bringen Sie mir jetzt den Chef an die Leitung — aber dalli, wenn ich bitten darf. Wieviel Uhr ist es?« Er warf einen Blick auf seine schwere goldene Armbanduhr. »Wählen Sie die Privatnummer!«

»Wie der hohe Herr befiehlt!« sagte Janos Lewin mit boshaftem Spott. Er zog ein rotes Notizbuch aus der Tasche, blätterte darin herum, bis er die Nummer, die er suchte, gefunden hatte. Dann wählte er.

»Guten Abend, Herr Intendant«, sagte er mit einer kleinen albernen Verbeugung, »bitte, Herr Intendant — Hans Ullrich Garden möchte Sie gern — ja, bitte! Sofort!« Er winkte Hans Ullrich Garden zu.

Aber der Quizmaster dachte nicht daran, aufzustehen, sondern wartete, bis Janos Lewin ihm den Hörer brachte. »Danke!« sagte er kurz, dann in den Apparat hinein: »’n Abend, verehrter Meister. Habe hier gerade ein Dutzend Jungs von der Presse versammelt. Es würde die Herren brennend interessieren, was der Intendant des Hauses gegen die Verwendung von Fräulein Horn als Assistentin einzuwenden hat.« Dann hielt er, während er den anderen reden ließ, den Telefonhörer fünf Zentimeter vom Ohr entfernt. Das wütende Gepolter des Intendanten drang, zwar unverständlich, bis zu mir hin. Ich konnte mir sehr wohl vorstellen, was er Hans Ullrich Garden vorhielt. In dem Moment, als der Intendant eine kleine Verschnaufpause einlegen mußte, sprang Hans Ullrich Garden sofort wieder ein. »Angst vor dem Verwaltungsrat?« wiederholte er höhnisch. »Daß ich nicht kichere! Als ob es auf die paar Piepen noch ankäme! Sie sollen doch erst einmal in meine Sendung kommen, die Herren Rauschebärte — die Augen werden ihnen aufgehen, da können Sie sicher sein! Gut, gut, Herr Intendant, es steht mir nicht zu, Ihnen zu widersprechen — bitte, wiederholen Sie das Ganze von vorhin noch einmal schön langsam, damit ich es wörtlich für die Reporter wiederholen kann.«

Wieder hielt er den Hörer vom Ohr, aber diesmal war das Gepolter des Intendanten schon einige Grade leiser. Er schien sein bestes Pulver schon verschossen zu haben.

»Nein, nein, lange reden können wir darüber nicht!« warf Hans Ullrich Garden nach einer Weile ein. »Auch die nächste Verwaltungsratssitzung kann ich nicht abwarten. Wie stellen Sie sich das denn vor? Die Antwort, die ich von Ihnen erwarte, ist ja klar genug — entweder ja oder nein! Was? Wieso? Ich verstehe Sie gar nicht! Nein, gegen Fräulein Horn ist bestimmt nichts einzuwenden, ich kenne sie nicht erst seit heute. Nein, natürlich nicht. Aber ich habe keine Lust — nein, Herr Intendant. Entweder Sie sagen nein und blamieren mich vor zehn Millionen Zuschauern — dann ist die Sendung geplatzt. Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich — nein, auf keinen Fall. Ich bin nicht für Kompromisse. Ganz und gar nicht. Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie Ihre Zustimmung sofort geben. Ja, das ist mein letztes Wort.«

Er schwieg und ließ den Intendanten reden, der aber inzwischen anscheinend so leise geworden war, daß Hans Ullrich Garden den Hörer dicht ans Ohr pressen mußte. Sein Gesicht erhellte sich von Sekunde zu Sekunde mehr, dann endlich sagte er strahlend: »Danke, Herr Intendant — das ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Intendant. Ich wußte doch, daß ich ganz in Ihrem Sinn gehandelt habe. Ja, natürlich, wir beide haben uns doch immer glänzend verstanden. Ja, unkorrekt, da haben Sie recht, aber es gibt Situationen — was soll man machen!«

Hans Ullrich Garden warf Janos Lewin den Telefonhörer zu, streckte die Beine weit aus und zündete sich eine Zigarette an. »Alles in Ordnung«, triumphierte er, »was sagt ihr nun?«

Janos Lewin hatte den Hörer aufgelegt. »Daß Sie die Unverschämtheit in Person sind, Herr Garden. Wenn Sie glauben, daß Sie sich mit solchen Methoden beliebt machen werden …«

»Beliebt? Wer spricht denn davon? Die Burschen brauchen mich. Solange sie mich brauchen, werden sie mich auch noch vom Galgen abschneiden, wenn es nötig ist — wenn ich aber beim Publikum nicht mehr ankomme, ja, dann, mein lieber Lewin, dann kann ich so beliebt sein, wie ich will, sie lassen mich doch verrecken.«

Janos Lewin hatte ihm kopfschüttelnd zugehört. »Sie sind von einer Selbstüberschätzung, Garden, die ihresgleichen sucht. Aber warum soll ich mich mit Ihnen streiten. Ich hoffe nur, daß Sie sich nicht bei mir beschweren werden, wenn eines Tages die Kündigung auf Ihren Schreibtisch flattert.«

»Auf diesen Tag warten Sie, wie? Aber vergessen Sie bitte nicht, dann ist auch für Sie alles erledigt — tot und gestorben.«

»Das ist Ansichtssache. Schließlich habe ich Erfolge gehabt, bevor …«

Hans Ullrich Garden unterbrach ihn. »Jetzt flehe ich Sie an, Lewin, tun Sie mir den Gefallen und erzählen Sie nicht wieder Ihre schönen Geschichten aus Wien. Gut, unterstellen wir, Sie waren damals im Kommen — aber was nützt Ihnen denn das? Inzwischen ist doch einiges passiert! Was versprechen Sie sich eigentlich von solchen dunklen Andeutungen? Wahrscheinlich wollen Sie mich nur dazu zwingen, unfair zu werden, damit Sie einen Grund haben, mich ärgern zu können.«

»Meine Herren«, sagte ich, »darf ich auch mal ein Wort zu der ganzen Angelegenheit äußern?«

Hans Ullrich Garden fuhr zu mir herum. »Also, was die Kriminalpolizei betrifft, muß ich Sie bitten …«

»Aber darum handelt es sich doch jetzt gar nicht«, sagte ich. »Sie haben sich wirklich sehr charmant für mich eingesetzt, Herr Garden, beim Publikum und auch jetzt bei Ihrem Vorgesetzten — ich nehme doch an, daß der Intendant Ihr Vorgesetzter ist, nicht wahr? Das war wirklich alles zauberhaft von Ihnen, und ich erkenne es auch durchaus an. Aber wäre es nicht besser gewesen, mich vorher zu fragen, ob ich überhaupt Lust und Zeit zu solch einem Job habe?«

»Soll das heißen …«, brachte Hans Ullrich Garden gerade noch hervor, bevor es ihm die Sprache verschlug.

»Ja, sind Sie denn wahnsinnig geworden?« ereiferte sich Janos Lewin. »Halten Sie mich nicht für indiskret, aber beantworten Sie mir jetzt mal eine Frage: Wie hoch ist der Wechsel, den Sie allmonatlich von zu Hause bekommen?«

Ich sagte es ihm.

»Und wieviel Semester müssen Sie noch studieren?«

»Wenn alles gutgeht — fünf.«

»Nun hören Sie mich mal an, Mädchen. Ich glaube, Sie begreifen überhaupt nicht, was für eine Chance wir Ihnen bieten! Sie brauchen nur jetzt Ihre Ferien zu opfern, na ja, vielleicht noch das nächste Semester Ihr Studium zu unterbrechen, und Sie werden in dieser Zeit so viel Geld verdient haben, daß Sie bis zum Abschluß des Examens sorglos leben können.«

»Das ist mir klar«, sagte ich unentschlossen.

»Und da zögern Sie noch?«

»Die Entscheidung hängt ja nicht von mir ab«, erklärte ich. »Erst muß ich natürlich mit meinem Professor sprechen, und dann muß ich auch noch meine Eltern um Erlaubnis fragen. So mir nichts, dir nichts, wie Sie sich das vorzustellen scheinen, kann ich mein Studium nicht abbrechen.«

»Mein Gott«, sagte Hans Ullrich Garden, »und Ihretwegen habe ich …« Er schlug sich mit einer reichlich theatralischen Geste die Hand vor den Kopf.

»Ich habe es von Ihnen weder erwartet noch verlangt, Herr Garden, darüber wollen wir uns doch von vornherein klar sein, ja?« sagte ich. »Warum es Ihnen eingefallen ist, mich vor dem Publikum zu Ihrer Assistentin zu ernennen, weiß ich nicht, aber daß Sie die Sache Ihrem Intendanten gegenüber durchgeboxt haben, ist doch wohlkaum meinetwegen geschehen. Ich hatte eher den Eindruck, daß es sich um eine Prestigefrage gehandelt hat.«

»Kluges Kind«, sagte Janos Lewin mit spöttischem Ernst.

Ich stand auf. »Das Beste wird sein, ich schreibe Ihnen, wenn ich genau weiß, ob ich überhaupt bei Ihnen arbeiten kann. Jetzt habe ich nämlich keine Zeit mehr, in einer knappen Viertelstunde geht mein Zug.«

Hans Ullrich Garden war wie elektrisiert aufgesprungen. »Halt! Warten Sie doch!« rief er. »Natürlich bringe ich Sie mit dem Wagen zum Bahnhof.«

»Danke, nicht nötig. Ich brauche nur meinen Mantel. Sollte dieser Bühnenarbeiter ihn nicht heraufbringen?«

Janos Lewin humpelte zu einer Seitentür und kam wenige Augenblicke später mit meinem Mantel, meinem Schal und meiner Wollmütze zurück. »Hier, gnädiges Fräulein. Ich möchte annehmen, daß es sich um Ihre Sachen handelt!«

Er wollte mir in den Mantel helfen, aber Hans Ullrich Garden kam ihm zuvor. »Sie wollen doch nicht wirklich so Hals über Kopf davon?« raunte er mir ins Ohr.

»Von Hals über Kopf kann gar keine Rede sein«, sagte ich nüchtern, »ich habe mir von Anfang an vorgenommen, mit diesem Zug zurückzufahren, also …« Ich reichte Hans Ullrich Garden die Hand.

Er hatte sie gerade reichlich verwirrt ergriffen, als die Tür vom Gang her aufgerissen wurde und Gaby, die superblonde Assistentin, hereinstürmte.

»Ha!« rief sie, riß die katzengrünen Augen auf und starrte uns wütend an. »Das hätte ich mir denken können!«

Ich rechnete es Hans Ullrich Garden hoch an, daß er mich in diesem Augenblick nicht etwa losließ, sondern ganz im Gegenteil noch näher an sich zog und den linken Arm um meine Schultern legte.

»Im ganzen Haus hab ich dich gesucht!« rief Gaby außer sich. »Überall bin ich herumgerannt! Wie eine Verrückte habe ich mich benommen, und du, du …«, sie stürzte auf Hans Ullrich Garden los, »du hast nichts Besseres zu tun, als mit dieser Person da herumzuflirten.«

»Nun nimm mal Vernunft an, Mädchen«, sagte Hans Ullrich Garden seelenruhig. »Hast du dir wirklich nicht denken können, daß ich in meinem Büro bin? Wo soll ich denn sonst sein? Und was dieses Mädchen betrifft, so ist es keine Person, sondern eine neue Kollegin von dir. Bitte, Gaby, sei brav, gib Händchen!«

»Ich denke nicht daran«, schrie Gaby und versteckte ihre Hand hinter dem Rücken.

Hans Ullrich Garden ließ mich los und trat drohend auf sie zu. »Nicht?« fragte er. »Und warum nicht, wenn ich bitten darf?«

»Weil sie dich erschießen wollte!«

Hans Ullrich Garden stöhnte auf, ließ sich wieder auf einen der hochmodernen Stühle nieder, vergrub den Kopf in den Händen. »Menschenskind!« sagte er. »Das hat mir gerade noch gefehlt! Eine Verrückte mehr!«

»Erschießen? Wie kommen Sie darauf?« fragte Janos Lewin mit einer Höflichkeit, hinter der, wie immer, Spott zu liegen schien.

»Weil sie — sie hatte doch die Pistole in der Hand! Bestimmt hat sie diese mit auf die Bühne geschmuggelt! Daß ihr dann nachher der Mut gefehlt hat, abzudrücken — finden Sie, daß das für sie spricht? Wenn ich mir vorgenommen hätte, einen Mann zu töten …«

»Liebes Fräulein Gaby«, sagte ich so freundlich und gelassen, wie es mir irgend möglich war, »ich muß Sie leider darüber aufklären, daß Sie sich in einem grundlegenden Irrtum befinden. Ich hatte weder die Absicht, Hans Ullrich Garden zu töten — bitte, lassen Sie mich jetzt ausreden —, noch einen Grund dazu, weil ich ihn vor diesem Abend ja nur einmal, und da sehr flüchtig, gesehen habe. Ich hatte auch keine Gelegenheit, die Pistole mit auf die Bühne zu schmuggeln, denn wie Millionen Zuschauer werden bezeugen können, trug ich ein enganliegendes Kleid ohne Taschen. Außerdem hatte ich nicht die entfernteste Ahnung, daß es zu einer Schießerei auf der Bühne kommen würde. Ihr Verdacht gegen mich ist also völlig unbegründet und läßt sich nur aus einer gewissen Eifersucht heraus motivieren. Lieben Sie Hans Ullrich Garden?«

Der Quizmaster sprang auf und hob beschwörend die Hände. »Kinder! Kinder!« rief er. »Nun ist es doch wohl genug. Schließlich sind wir hier nicht auf der Bühne, kein Mensch bezahlt uns für unsere Darbietung. Macht doch Schluß damit! Hatten Sie nicht einen Zug zu versäumen, Fräulein Horn? Ist er schon weg? Nein? Kommen Sie mit, ich fahre Sie mit meinem Wagen zum Bahnhof! Vielleicht schaffen Sie es noch.« Er wandte sich mit einer unbestimmten Handbewegung den anderen zu. »Tschüs, zusammen!«

Der Ausgang, durch den wir die Straße erreichten, war mir unbekannt. Wenige Schritte weiter, unter einer Laterne, parkte Hans Ullrich Gardens Wagen — nicht die schwere Limousine, in der ich ihn kennengelernt hatte, sondern ein knallrotes, sehr schnittiges Sportkabriolett mit weißen Ledersitzen. Hans Ullrich Garden riß die Tür auf, wartete aber nicht, bis ich eingestiegen war, sondern lief zur anderen Seite des Autos, nahm am Steuer Platz, steckte, kaum daß ich meine Tür zugeknallt hatte, den Zündschlüssel ein und brauste los.

»Wissen Sie, daß Sie mich sehr glücklich gemacht haben, Sonja?« fragte er unvermittelt.

»Ich? Wieso?«

Er tastete nach meiner Hand. »Ich bin sehr, sehr froh, daß ich Sie kennengelernt habe, Sonja.«

»Ich muß immerzu an dieses merkwürdige Attentat denken«, sagte ich. »Wer kann diese Sache eingefädelt haben? Es muß jemand sein, der bei der Sendung mitgewirkt oder geholfen hat, sie vorzubereiten. Anders wäre die Sache zu kompliziert. Wer war diese Dame, die Sie vorhin angerufen hat? Diese Lilo?«

»Eifersüchtig?« fragte er.

»Ach wo. Nur eine Überlegung. War sie auf der Bühne?«

»Ja. Aber Lilo — das ist ganz ausgeschlossen! Lächerlich. Überhaupt, Sonja, bitte schlagen Sie sich doch diese blödsinnige Geschichte endlich aus dem Kopf. Es ist ja noch mal gutgegangen. Sehen Sie, für mich ist es ein Wink des Schicksals, daß gerade Sie mir das Leben gerettet haben.«

»Ich glaube kaum, daß irgendeine andere Frau — selbst die dümmste Gans nicht — diesen Revolver mit einem harmlosen Plastikkinderspielzeug verwechselt hätte, Herr Garden. Der Mörder konnte also eigentlich gar nicht damit gerechnet haben — hören Sie, Herr Garden, finden Sie das eigentlich nicht auch sehr merkwürdig?«

»Wahrscheinlich hat es sich überhaupt nur um einen dummen Witz gehandelt. Es war sicher einer dieser blöden Späße, wie sie unter Kollegen beim Theater üblich sind!«

»Ein ziemlich gefährlicher Spaß«, sagte ich, immer noch nicht überzeugt. »Was ist mit den Drohbriefen, von denen Sie vorhin gesprochen haben? Wird da auch schon auf einen Mord hingedeutet?«

»Sonja! Ich flehe Sie an, hören Sie endlich auf damit! Wozu zerbrechen Sie sich Ihren hübschen Kopf? Freuen Sie sich doch lieber, daß alles gutgegangen ist — freuen wir uns, daß wir auf der Welt sind!« Er faßte, den Blick immer geradeaus auf die Straße gerichtet, meine Hand und drückte sie. »Sie ahnen ja nicht, was Sie mir bedeuten, Sonja. Ich erinnere mich nicht, daß ich je so glücklich gewesen wäre wie in diesem Augenblick. Endlich habe ich einen Menschen gefunden, einen wirklichen Menschen, kein Püppchen, kein Lärvchen, sondern eine Persönlichkeit. Schon damals, als wir uns das erstemal begegneten, spürte ich ganz deutlich: Sie sind die Frau, auf die ich immer gewartet habe. Sonja, Sie lächeln, Sie glauben mir nicht! Ich weiß, meine Erfolge bei Frauen sind sprichwörtlich …«

Dieser eitle Satz riß mich fast schmerzhaft aus der Verzauberung, der ich wider Willen unter dem Einfluß seiner wohlklingenden Stimme verfallen war. Ich riß die Augen auf und sah zum Fenster hinaus, erkannte, daß wir durch einen Villenvorort fuhren.

»Halt!« rief ich aufgebracht. »Halten Sie oder kehren Sie um! Warum bringen Sie mich nicht zum Bahnhof?«

Hans Ullrich Garden stoppte den Wagen gehorsam, wandte sich mir zu, in seinen blauen Augen schimmerte Zärtlichkeit. »Hören Sie, Sonja …«

»Ich will jetzt nichts mehr hören!« rief ich wütend. »Ich will zurück! Sie haben mir doch versprochen, mich zum Bahnhof zu bringen — warum …«

»Darum!« sagte er und riß mich in seine Arme.

Sein Kuß war voll Leidenschaft.

Ich bin ehrlich genug, zuzugeben — Hans Ullrich Gardens leidenschaftliche Küsse überrumpelten mich nicht nur, sondern faszinierten mich beinahe. Es dauerte Sekunden, bis ich den Bann, dem ich wider Willen verfallen war, abschütteln konnte und mein Gehirn klar funktionierte.

Ich gab ihm mit beiden Händen einen Stoß vor die Brust, der um so wirkungsvoller war, als er ganz gewiß nicht damit gerechnet hatte. Er gab mich frei, und ich benutzte seine Schrecksekunde, um die Wagentür aufzureißen und auf die Straße zu springen. Ohne mich auch nur einmal nach dem parkenden Wagen umzusehen, lief ich wie gehetzt davon. Ich rannte die breite, schöngepflasterte Villenstraße hinunter, bog um die Ecke und lehnte mich atemlos gegen einen Zaun. Gerettet! schoß es mir durch den Kopf, aber gleichzeitig wurde mir bewußt, wie unsinnig und verfrüht mein Triumph war.

Schön und gut, ich war Hans Ullrich Garden entronnen — aber was weiter? Ich stand mitten in der Nacht in einer fremden Großstadt, von der ich nicht mehr als das Geschäftsviertel und auch das nur am hellen Tag kannte. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Gegend der Stadt ich mich befand und ob von hier aus Omnibusse oder Straßenbahnen fuhren. Nur eins war mir ziemlich klar, nämlich daß ich vom Bahnhof so weit wie irgend möglich entfernt war. Ein Taxi wäre jetzt die — wenn auch ziemlich teure — Rettung gewesen, aber ich hatte keinen Schimmer, ob und wo sich hier in der Gegend ein Taxistand befand.

So stand ich denn mehr vor Aufregung als vor Kälte zitternd mutterseelenallein auf der stillen Straße und stellte wieder einmal fest, daß ich mich wie eine dumme Gans benommen hatte. Um mich rauschten die Bäume in den Gärten der Villen, ein Käuzchen schrie — ich nahm jedenfalls an, daß es ein Käuzchen war —, aber sonst war kein Laut zu hören. Nur aus wenigen Fenstern schien noch Licht — und wenn es mehr gewesen wären, was hätte es mir geholfen? Ich konnte ja nicht einfach an irgendeiner Haustür klingeln und erklären: »Ich bin die Studentin Sonja Horn und durch einen lächerlichen Zufall in diesen Stadtteil geraten. Bitte sagen Sie mir, wie ich am schnellsten zum Bahnhof komme!«

Mein Herz schlug höher, als ich das sanfte Brummen eines Motors hörte. Ich blieb, immer noch an den Gartenzaun gepreßt, stehen, sah, wie die Lichter der Autoscheinwerfer sich immer tiefer in die Dunkelheit hineinfraßen. Ich gab mir einen Ruck, sprang auf die Hauptstraße zurück und winkte mit der Hand.

Das Auto, das sich im Schrittempo genähert hatte, hielt sofort. Ich lief darauf zu, öffnete den Wagenschlag und stieg ein. Jetzt erst sah ich, warum es so lange gedauert hatte, bis Hans Ullrich Garden mich eingeholt hatte — er hatte sich eine Zigarette angesteckt und inzwischen fast zu Ende geraucht.

Ich hatte das Gefühl, daß ich irgendwie mein Gesicht wahren müßte, und sagte: »Ach, Sie sind es! Ich hatte gehofft, ein Taxi zu erwischen.«

»Geben Sie lieber zu, daß Sie sich zwar tugendhaft, aber dumm benommen haben, Mädchen!«

»Mag sein. Aber schuld daran sind Sie. Ihr Benehmen gegenüber alleinreisenden jungen Damen läßt sehr zu wünschen übrig.«

»Danke.«

»Bitte«, sagte ich nicht weniger kurz. Ich ließ soviel Zwischenraum zwischen uns wie nur möglich.

Ich wußte, daß ich eine Schlacht verloren hatte, und ärgerte mich. Wieder einmal hatte ich Gelegenheit zu bereuen, daß ich nicht raffiniert genug bin. Eine Frau mit Sex-Appeal hätte sich bei einer ungelegenen Küsserei bestimmt effektvoller aus der Affäre gezogen, vor allen Dingen wäre sie niemals zu dem Auto des Verführers zurückgelaufen. Was man tun mußte, um den Männern zu imponieren, wußte ich ganz genau — nur wie man es tatsächlich anfing, dabei versagte ich. Es war zum Heulen.

»Sie sind mir doch nicht wirklich böse, Sonja, wie?« fragte Hans Ullrich Garden in meine Gedanken hinein.

»Doch«, sagte ich wütend.

»Hören Sie mal, Sonja, wenn es Ihnen nicht Spaß gemacht hätte …«

»Bitte, werden Sie jetzt nicht unverschämt!« schnitt ich ihm das Wort ab. »Ob es mir Spaß gemacht hat oder nicht, das steht doch jetzt gar nicht zur Debatte. Es handelt sich einzig und allein darum, daß Sie sich unkorrekt benommen haben, Herr Garden! Wenn Ihre berühmten Erfolge alle auf ähnlicher Basis beruhen, dann kann ich nur sagen …« Ich wußte nicht recht, was ich wirklich dazu sagen sollte, mußte eine kleine Pause einlegen und behauptete dann: »Primitiv! Ja, das ist das richtige Wort — primitiv. Zum Kuckuck, was müssen das für Frauen sein, die sich von solch einem Benehmen beeindrucken lassen! Ich gehe jede Wette ein, keine von Ihren Verehrerinnen ist über achtzehn, wie?«

Zu meiner Überraschung stimmte er ohne weiteres zu. »Na ja, die meisten nicht«, sagte er. »Ich habe nun mal was übrig für die Teenager.«

»Daß ich nicht lache!« sagte ich böse. »Ihre ganze Vorliebe beruht auf der Erfahrung — je jünger, desto anspruchsloser! Stimmt’s oder habe ich recht?«

Statt einer Antwort sagte er: »Wo darf ich Sie hinbringen, Sonja?«

»Wohin schon? Zum Bahnhof.«

»Ich fürchte aber, es geht heute kein Zug mehr.«

»Ah, das haben Sie also gewußt, und trotzdem …«

»Sonja, bitte regen Sie sich doch nicht auf — ich habe es wirklich nur gut mit Ihnen gemeint!«

»Wohin wollten Sie mich eigentlich entführen?« fragte ich sachlich.

»Na ja, ich wohne hier ganz in der Nähe.«

»In einer tollen Villa mit Swimming-pool und allem Komfort! Hätte ich mir denken können.«

»Genau. Nur daß sie nicht mir gehört. Ich habe sie gemietet, aus Repräsentationsgründen, verstehen Sie? Ich persönlich, als bescheidener Junggeselle, ich wäre mit ein, zwei Zimmern und einem Bad natürlich völlig zufrieden. Aber was soll man machen? Das Publikum verlangt gewisse Zugeständnisse.«

»Sie armer Mensch!« Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte an, daß es gleich ein Uhr sein würde. »Bringen Sie mich bitte zum Bahnhof«, sagte ich, »ich werde warten, bis der nächste Zug geht.«

»Warum wollen Sie nicht lieber hier übernachten, Sonja? In einem Hotel?«

»Haben Sie Begriffe! Die Reise hat mich sowieso mehr Geld gekostet, als ich verantworten kann …«

»Stimmt«, sagte er sofort. »Gut, daß Sie mich daran erinnern, bitte schreiben Sie alles auf, was Sie an Spesen gehabt haben — also, Hinfahrt, Rückfahrt, Hotel, Mittagessen, Abendessen, Frühstück —, und schicken Sie mir diesen Zettel mit Ihrer Unterschrift zu. Sie bekommen natürlich alle Auslagen ersetzt!«

»Aber — was fällt Ihnen ein?« wollte ich protestieren.

Hans Ullrich Garden grinste. »Nicht aus meiner Tasche, Mädchen. Für so etwas haben wir eine Verwaltung. Sie wird jede einzelne Ausgabe nachprüfen — also seien Sie auf keinen Fall zu kleinlich, gestrichen wird immer irgendwo etwas.«

»Aber ich — ich bin doch nur als Zuschauerin gekommen!«

»Na, wenn schon. Als was Sie gekommen sind, interessiert doch keinen Menschen. Jedenfalls haben Sie als meine Assistentin das Funkhaus verlassen. Ist das klar?«

»Wollen Sie mich denn überhaupt noch nehmen?«

»Warum nicht?« fragte er erstaunt. »Glauben Sie etwa, daß ich Ihnen böse bin?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls enttäuscht.«

»Na ja, da ist was Wahres dran. Aber Sie kennen mich schlecht, wenn Sie jetzt glauben, daß Sie mich kleingekriegt haben. Ein Hans Ullrich Garden läßt sich doch von so einer Enttäuschung nicht einfach umwerfen — nein, das ist bei mir nicht drin. Wenn’s heute nicht geklappt hat, klappt’s vielleicht ein andermal. Wollen wir es so halten, Mädchen?«

»Herr Garden«, sagte ich, »es tut mir leid, wenn ich Ihnen widersprechen muß. Es wäre schlimm, wenn Sie sich falsche Hoffnungen machen würden. Ich habe nämlich gewisse Prinzipien …«

Er lachte. »Wunderbar. Ich nämlich auch. Habe ich nicht immer gesagt, wir beide passen großartig zusammen?«

»Wenn Sie mich nur engagiert haben, weil Sie sich einbilden, daß Sie früher oder später…«

»Ach was, Unsinn«, unterbrach er mich. »Ich habe Sie engagiert, weil Sie mir das Leben gerettet haben. Jawohl, das haben Sie. Außerdem — wie oft soll ich es Ihnen noch sagen —, Sie sind eine Persönlichkeit. Für einen Mann wie mich, der von Heuchlern und Schmeichlern umgeben ist, ist es einfach unbezahlbar, eine Persönlichkeit in seiner Nähe zu wissen. Sie glauben wohl, alles, was ich Ihnen erzählt habe, war Schmus? Da irren Sie sich aber gewaltig, Sonja. Sie sind und bleiben die Frau meines Lebens, und eines Tages werden Sie es bestimmt noch einsehen.«

Renate war von meinem Bericht völlig erschlagen, aber als ich ihr meine Absicht, als Assistentin bei Hans Ullrich Garden zu arbeiten, bekannt gab, schüttelte sie denn doch bedenklich den Kopf. »Sonja«, sagte sie, »hör auf deine alte Freundin — du bist dabei, deine Tugend mutwillig zu gefährden!«

»Aber wieso denn? Niemand kann mich zwingen …«

»Wird auch niemand versuchen. Wer spricht denn hier von zwingen? Ich denke eher an Verführen. Dieser Hans Ullrich Garden scheint ein großer Verführer vor dem Herrn zu sein. Du bist ein harmloses Kind, und ich weiß nicht, ob ich dich diesem Don Juan anvertrauen kann.«

»Also hör mal, Renate, dich brauche ich bei dieser Sache ja wirklich nicht um Erlaubnis zu fragen!«

»Nicht?« fragte Renate und tat sehr erstaunt. »Warum fragst du mich denn?«

»Ich habe dich um einen Rat gebeten, weiter nichts.«

Renate schien zu merken, daß sie zuweit gegangen war. »Bravo, unschuldiges Lämmlein«, sagte sie salbungsvoll, »und wie lange gedenkst du diesen Zauber mitzumachen?«

»Na, höchstens ein Semester — das heißt, wenn Professor Gahlen überhaupt damit einverstanden ist, und dann muß ich meine Eltern natürlich noch einweihen, aber ich denke, die werden froh sein, wenn ich endlich mal selbst ein bißchen Geld verdiene.«

»Tja, das kennen wir«, sagte Renate geziert, »die materialistischen Ansichten der finanziell gesicherten Oberschicht!« Dann fiel sie unvermittelt wieder in ihre natürliche Umgangssprache zurück. »Sag mal, und an mich denkst du wohl überhaupt nicht, wie? Was soll denn jetzt mit unserem Zimmer werden? Bildest du dir ein, daß ich die Miete für uns beide allein tragen soll?«

»Natürlich behältst du es«, antwortete ich prompt. »Du wirst leicht einen Ersatz für mich kriegen — aber vergiß nicht, im Herbst will ich wieder einziehen.«

»Die Möglichkeit, daß ich mich an deinen Ersatz inzwischen gewöhnt haben könnte, ziehst du nicht in Betracht, wie?« fragte Renate.

»Kaum zu glauben«, sagte ich. »Es wird dir schwerfallen, ein Wesen zu finden, das es in Sachen Ordnungsliebe, Gutmütigkeit, Anpassungsfähigkeit, Kameradschaftlichkeit und so weiter mit mir aufnehmen kann.«

Renate äußerte kein Wort zu dieser Rede. Sie trat schweigend zum Fenster und öffnete es weit. Ich war viel zu vorsichtig und durch Erfahrung gewitzt, um sie nach dem Grund ihres Tuns zu fragen; ich wußte überdies, was diese Geste zu bedeuten hatte: Eigenlob stinkt!

»Für den Fall, daß du keine passende Zimmergenossin findest«, beeilte ich mich zu versichern, »bin ich natürlich bereit, meinen Anteil der Miete weiter zu zahlen — ich kann’s mir ja jetzt schließlich leisten.«

Renate setzte sich auf die Kante unseres einzigen Tisches und zündete sich eine Zigarette an. »Was reizt dich so an diesem Angebot, Sonja?« fragte sie. »Das Geld?«

»Ja und nein.«

»Nun erzähl mir bloß nicht, daß du die Stelle aus soziologischem Interesse annehmen willst!«

»Auch nicht — oder nicht in der Hauptsache! Hör gut zu, Renate, vor meinen Augen wäre um ein Haar ein Mord geschehen — was heißt, vor meinen Augen? Ich selbst hätte um ein Haar einen Mord begangen. Ist das nicht furchtbar?!«

»Jedenfalls sollte es Grund genug für dich sein, dich aus dem Fernsehmilieu zurückzuziehen.«

»Blödsinn!« sagte ich grob. »Wie kannst du so daherreden! Du weißt genausogut wie ich, daß die Leute vom Fernsehen an diesem Zwischenfall bestimmt nicht schuld sind!«

»Nicht die Leute im allgemeinen, Sonja, aber irgendeiner muß es doch gewesen sein, der den Revolver vertauscht hat, nicht wahr?«

»Eben, ganz meine Meinung. Und das will und werde ich herausfinden.«

»Warum?«

»Fragst du das im Ernst?«

»Na klar. Hast du vor, dich für die polizeiliche Laufbahn zu qualifizieren?«

»Renate! Jemand hat versucht, mich zur Mörderin zu machen!«

»Niemand hat das versucht«, unterbrach Renate mich. »Du wärst vor jedem Gericht glatt freigesprochen worden.«

Ich stöhnte. »Du willst mich nicht verstehen!«

»Ich verstehe dich vielleicht zu gut. Warum willst du diesen Fall aufklären? Warum willst du den Mörder finden? Es gibt dafür nur eine vernünftige Antwort — weil du Hans Ullrich Garden schützen willst. Und warum willst du ihn schützen? Weil du dich in ihn verliebt hast. Also, bitte, bleib jetzt ganz ruhig, es hat keinen Sinn, mir die Augen auszukratzen, damit änderst du nichts an den Tatsachen. Du hast dich in Hans Ullrich Garden verliebt, und gerade aus diesem Grund wäre es besser für dich, du würdest ein Zusammentreffen mit ihm von nun an vermeiden.«

Eine innere Stimme sagte mir, daß Renate mit ihrer Behauptung nicht ganz unrecht hatte, und gerade deshalb wehrte ich mich um so heftiger gegen ihre Warnung. Tatsächlich war es auch nicht nur Hans Ullrich Gardens Persönlichkeit gewesen, die mich verlockt hatte, das Fernsehangebot anzunehmen — es reizte mich, etwas zu erleben. Die Fernsehleute schienen mir in einer anderen Welt zu leben, in einer Welt, die interessanter, aufregender und spannender war als die, die ich bisher kannte. Mir war es fast, als könnte ich die behagliche Ruhe unserer kleinen Universitätsstadt nicht länger ertragen.

Professor Gahlen hatte nichts dagegen, daß ich ein Semester aussetzen wollte. Er war begeistert von dem Gedanken, daß eine seiner Schülerinnen so rasch in das praktische Leben hinaustreten sollte. »Das ist ja hochinteressant«, wiederholte er immer wieder, »hochinteressant. Spitzen Sie nur ja Ihre Ohren, Fräulein Horn, halten Sie Ihre Augen offen! Lassen Sie sich nicht die kleinste Einzelheit entgehen. Ich glaube, Sie sind geschult genug, um zu wissen, auf was es mir ankommt, nicht wahr? Ich werde Ihnen noch etwas Literatur aufschreiben — aber nein, damit sollten Sie sich in der nächsten Zeit gar nicht belasten. Wie wär’s, wenn Sie sich schon ein Thema für Ihre Dissertation ausdenken würden, sagen wir — das Fernsehen als soziologisches Phänomen, wie? Könnte Sie das reizen? Aber lassen Sie sich jetzt nicht den Kopf heiß machen, das hat alles Zeit bis später. Auf alle Fälle wünsche ich Ihnen viel Glück und — daß ich sehr gespannt auf das Material bin, das Sie bringen werden, können Sie sich denken!«

Von meinen Eltern bekam ich einen langen Brief, in dem sie mir ihre Zustimmung erklärten, allerdings unter Vorbehalt. »Du weißt, daß Enzio Ostern sein Abitur macht«, schrieb Mutter, »Vater hätte nie seine Einwilligung zu so einer merkwürdigen Stellung, wie Du sie annehmen willst, gegeben, aber natürlich ist es eine große Erleichterung für uns, wenn Du von nun an, wie Du behauptest, selbst Dein Studium finanzieren kannst. Vor allen Dingen gibt es Enzio die Möglichkeit, seine Pläne zu verwirklichen.«

So ungefähr hatte ich mir die Antwort meiner Eltern vorgestellt, aber ich ärgerte mich doch, daß Enzio, der allen Grund gehabt hätte, froh über diese Entwicklung zu sein, sich es nicht hatte verkneifen können, einige ironische Zeilen hinzuzufügen, in denen er mir vorschlug, doch bei der nächsten Miß-Germany-Konkurrenz mitzumachen, und mit falscher Bescheidenheit anfragte, wie es um meine Filmpläne stünde.

Aber immerhin, alles war geordnet, der Semesterschluß stand vor der Tür, ich brauchte nur noch die Unterschrift der Professoren in meinem Studienbuch zu sammeln, meinen Koffer zu packen und eine Fahrkarte zu kaufen. Dann konnte mein neues Leben beginnen.

Der Schatten des anderen

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