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Die kleine Wasserprinzessin

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Die ganze Nacht hatte es geregnet.

An jedem Grashalm schimmerten Regentropfen. Auch die Spinnweben glänzten feucht. Die hohen Schafgarben mit ihren weißen und rosa Blütendächern hatten sich zur Seite geneigt.

Nun bemühte sich die Sonne, so rasch wie möglich alles zu trocknen, was eine dicke schwarze Wolke mit ihrer Wasserflut so tüchtig geputzt hatte. Ein leichter Dunst stieg aus den Wiesen.

Elga blinzelte in all den Glanz, der ihr tausendfältig aus jedem Tropfen entgegenleuchtete. Sie ging der Sonne entgegen. Deshalb sah sie den wunderschönen Regenbogen gar nicht, der mit seinen bunten Farben hinter ihrem Rücken den Himmel mit der Erde verband.

Nein, Elga drehte sich nicht um. Sie war ganz erfüllt von einem Gedanken. Immerzu mußte sie an den Gartenzaun der fremden Frau denken, durch dessen Latten man den steinernen Brunnen sehen konnte. Dort wuchsen herrliche gelbe Blumen. Sie sahen wie kleine Prinzessinnen aus, mit einem wehenden Röckchen und einer kleinen Krone auf dem Kopf.

Zu diesen Blumen wollte Elga heute gehen. Aber sie beeilte sich gar nicht auf dem Wege. Es gab unterwegs vieles zu sehen, woran man nicht einfach vorüberhasten durfte. Da war der kleine Vogel, der mit hellem Gezwitscher aufflog. Über den Weg kroch wahrhaftig ein nasser glänzender Regenwurm. Elga mußte stehenbleiben und aufpassen, ob er gut auf die andere Seite kam.

Dann hatte sie den Bach mit den vielen Vergißmeinnichten erreicht. Elga bückte sich, um sie aus der Nähe zu beschauen. »Nein, nein, ihr Vergißmeinnichte, euch will ich heute nicht pflücken«, flüsterte sie den Blümchen zu.

Dann richtete sie sich auf und wanderte weiter. Sie beguckte sich den Himmel, der wieder blank und blau war, und ein anderes Mal ihre Füße, an denen heute fest und sicher ihre Schuhe saßen.

»Ein bißchen wart ihr auch schuld«, schalt sie leise vor sich hin, »warum seid ihr einfach auf dem Weg stehengeblieben? Wenn ich euch nun nicht wieder gefunden hätte!« Da fiel Elga ein, was der Grashüpfer gesagt hatte: Sicherlich war es besser, nachzudenken, statt zu schimpfen. Elga dachte nach. Sie mußte zugeben, daß die Schuhe gar nichts für die Geschichte konnten. Nur einer war schuld, und das war sie selber. Ein dummer Gedanke, fand Elga, gar nicht angenehm, aber leider: er stimmte.

»Bitte, liebe Schuhe, verzeiht mir«, bat sie laut, »ich weiß, ich habe euch unrecht getan. Ihr könnt gar nichts dafür. Ich verspreche euch ganz fest, ich will euch nie mehr verlieren! Bestimmt habt ihr Angst gehabt, als ihr allein auf der Wiese standet. Vielleicht habt ihr gedacht, ich käme nie mehr wieder! Es tut mir leid, ehrlich!«

Nach diesen Worten fühlte sich Elga auf einmal viel, viel besser. Sie war froh, daß sie sich mit ihren Schuhen versöhnt hatte. Fröhlich schritt sie schneller aus.

Als sie um die Biegung des Weges kam, sah sie den Gartenzaun. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie ihr Näschen durch die Latten steckte. Sie starrte zu den zauberhaften Blumen hin, die um den Brunnen tanzten.

Hin und her wiegten sie sich im Wind, feierlich und voller Anmut.

Ob sie eine lange Zeit am Zaun gestanden hatte oder nur eine kurze Weile, das wußte Elga nachher nicht mehr.

Sie wußte nur noch, daß die fremde Frau unerwartet aus dem Haus gekommen war.

Dann war das Wunder geschehen. Die fremde Frau war zu den tanzenden Blumen am Brunnen getreten, hatte eine abgepflückt und sie der kleinen Elga über den Zaun hinweg gereicht.

»Danke«, war alles, was Elga hervorbringen konnte. Ihr Herz war voll von Glück, als sie den festen schlanken Stengel in den Händen fühlte. Schnell drehte sie sich um und lief den Weg zurück, die seltsame schöne Blume dicht vor den Augen.

Eine Weile lief sie, beglückt und zufrieden. Aber dann kam ihr plötzlich der Gedanke, daß die Sonne viel zu heiß auf ihre zarte Blume schien.

»Du sollst trinken, meine Blume, du siehst ja schon ganz durstig aus!« Unbekümmert stapfte Elga durch das Wiesenkraut. Sie hockte sich an dem kleinen Bächlein nieder und tauchte den langen Stengel ins Wasser.

Dabei sah sie sich selber, ein wenig verwischt zwar, weil das Bächlein nicht still stand. Aber die braunen Zöpfchen zu beiden Seiten ihres Gesichtes waren deutlich zu erkennen. Elga lachte und nickte ihrem Spiegelbild vergnügt zu: »Guten Tag! Guten Tag!«

Dann nahm sie die Blume wieder aus dem Wasser und schaute sie zärtlich an. »Nun hast du genug getrunken, Blume, nicht wahr? Wie schade, daß ich gar nicht weiß, wie du heißt! Ich hätte die fremde Frau fragen sollen. So schade!«

Da raschelte es neben ihr im Gras. Eine vertraute Stimme schnarrte: »Soll ich dir die Geschichte deiner Blume erzählen, kleine Elga?«

»Ach, Grashüpfer«, rief Elga, »wie schön, daß du da bist!«

»Ich bin die ganze Zeit über hier gewesen, du hast mich nur nicht gesehen!«

»Bitte, Grashüpfer, sag mir doch, wie die Blume heißt!«

»Lilie … Wasserlilie, genauer gesagt!«

»Lilie! Das ist ein hübscher Name!«

»Ja, deine Blume ist auch eine Prinzessin!«

»Das habe ich mir gleich gedacht«, rief Elga begeistert. »Schau her, sie hat ein Krönchen auf dem Kopf und ein feines goldenes Kleidchen an! Aber wenn sie eine Prinzessin ist … wieso ist sie dann eine Blume geworden?!«

»Hör gut zu!« mahnte der Grashüpfer mit knarrender Stimme. Er tat einen großen Sprung und landete auf Elgas Knie. »Lilie war die Tochter des Wasserkönigs. Sie war eine Wasserprinzessin, verstehst du? Wasserprinzessinnen leben immer nur im Wasser wie die Fische … Wenn sie ans Land kommen, müssen sie sterben!«

»Ja«, sagte Elga atemlos vor Spannung. Sie wagte sich nicht zu rühren, denn sie wußte wohl, es war eine große Ehre, daß der Grashüpfer sich auf ihr Knie gesetzt hatte.

»Nur einmal im Monat, wenn der Mond ganz dick und rund am Himmel stand, durfte die kleine Prinzessin Lilie den See verlassen — oder den Bach, in dem sie gerade schwamm — und für eine Stunde an Land gehen, von elf bis Mitternacht. Sobald die Kirchturmuhr den ersten Schlag zur zwölften Stunde tat, hüpfte Lilie schnell zurück in ihr Wasser!«

»Wie sah sie denn aus, die Prinzessin Lilie?« Elga tauchte behutsam ihre schöne Blume wieder ins Wasser.

»Wie diese Blume, die du in der Hand hast! Sie trug ein goldenes, wehendes Gewand und ein Krönchen auf dem Kopf!«

»Und warum mußte sie Punkt zwölf wieder im Wasser sein?«

»Ja, das hat die Prinzessin ihren Vater auch oft gefragt. Der Wasserkönig hat es ihr immer wieder erklärt: wenn eine Wasserprinzessin beim zwölften Glockenschlag nicht zurück im Wasser ist, löst sie sich auf in Nebel und steigt empor zum Himmel und wird eine Wolke …«

»Und aus der Wolke regnet es dann, nicht wahr?« fragte Elga.

»Ja, es regnet. Das Wasser kommt in die Bäche und Seen zurück. Aber eine Wasserprinzessin, die sich in Nebel aufgelöst hat, kann nie wieder eine Prinzessin werden. Sie wird einfach zu Wasser, und das ist natürlich schlimm.«

»Ja«, stimmte Elga zu, »sehr schlimm! Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, wie Lilie zu einer Blume geworden ist?«

»Wart es ab!« mahnte der Grashüpfer und sprang von Elgas linkem Knie auf das rechte. »Lilie war eine junge und lustige Prinzessin. Es machte ihr Spaß, das ganze Reich ihres Vaters kennenzulernen. So plätscherte sie eines Tages vergnügt in einem Brunnen, als sich ein kleiner Junge über den Rand beugte. Es war ein netter kleiner Junge. Lilie fand, daß er das Hübscheste war, das sie je gesehen hatte. Der Junge setzte sein Segelschiffchen in das Wasser des Brunnens und ließ es schwimmen. Lilie, die unten im Wasser tauchte, spielte mit. Sie machte kleine und große Wellen. Auf und ab tanzte das Schifflein. Der Junge blies mit vollen Backen Wind in die Segel. Das Schifflein drehte und wendete sich, schwamm hin und her. Lilie unten im Wasser paßte auf, daß es nicht kentern konnte, so heftig der Wind auch blies und so kräftig die Wellen schaukelten. Noch nie im Leben hatte sie soviel Spaß gehabt. Plötzlich kam die Mutter des Jungen aus dem Hause gelaufen. Was denkst du, was jetzt geschah, Elga?«

»Sie schimpfte mit dem kleinen Jungen!«

»Ja, das tat sie. Sie schimpfte mit ihm und zog ihn fort. Sie holte das Segelschiffchen aus dem Wasser und verbot dem kleinen Jungen, am Brunnen zu spielen. Denn der Brunnen war tief und gefährlich. Die Mutter hatte Angst, daß ihr Junge hineinfallen und ertrinken könnte!«

»Ja, das kenne ich«, seufzte Elga. Sie wußte, daß immer grade die schönsten Spiele verboten wurden, weil sie zu gefährlich waren. »Haben Lilie und der kleine Junge dann nie mehr zusammen gespielt?«

»Doch, das haben sie. In der Nacht darauf war Vollmond. Der kleine Junge konnte nicht schlafen. Immer wieder dachte er an den Brunnen und das schöne Spiel, das ihm verboten war. Er stand auf, nahm sein Segelboot und lief im Nachthemd in den Garten hinaus. Lilie war im Brunnen. Sie hatte den ganzen Tag gewartet, ob der kleine Junge nicht wiederkommen würde. Als es Nacht wurde, war sie dort geblieben, denn Wasserprinzessinnen brauchen nie zu schlafen.«

»Die haben’s schön«, sagte Elga.

»Als Lilie den kleinen Jungen kommen sah«, fuhr der Grashüpfer fort, »war sie sehr glücklich. Die beiden begannen sofort ihr altes Spiel mit dem Segelschiff. Jetzt in der Nacht bei hellem Mondschein machte es noch viel mehr Spaß als am Tage. Es hatte längst elf Uhr geschlagen, Lilie hätte eigentlich aus dem Wasser steigen können. Aber sie vergaß es ganz über ihrem wunderschönen Spiel. Immer wilder und ausgelassener spielten die beiden miteinander, der kleine Junge und Lilie, die Wasserprinzessin, und plötzlich — da geschah es!«

»Was?!« fragte Elga atemlos.

»Kopfüber stürzte der kleine Junge in den tiefen Brunnen hinab!«

»Oh!«

»In diesem Augenblick begann die Kirchturmuhr die zwölfte Stunde zu schlagen. Was sollte Lilie tun? Entweder sie selber würde zu Wasser werden oder der kleine Junge mußte ertrinken! Was hättest du getan, Elga?«

»Ich weiß es nicht!«

»Die kleine Wasserprinzessin besann sich keinen Augenblick. Sie nahm den zappelnden Jungen in ihre Arme, tauchte auf, kletterte aus dem Brunnen und setzte ihren Freund behutsam ins Gras. Der traute seinen Augen nicht und starrte die schöne Prinzessin ganz verwundert an. In diesem Augenblick tat die Kirchturmuhr ihren zwölften Schlag …«

»Und da …?«

»Ja, da verwandelte sich die Wasserprinzessin vor den Augen des staunenden kleinen Jungen in eine goldene Blume, in die Blume Lilie!«

’»Aber … warum ist sie denn kein Nebel geworden?« wollte Elga wissen.

»Weil sie nur aus dem Wasser gestiegen war, um ihren Freund zu retten. Für eine gute Tat darf man doch nicht hart bestraft werden. Sie wurde zu einer wunderschönen Blume. Aber weil sie doch früher eine Wasserprinzessin war, hat sie auch heute noch Sehnsucht nach dem Wasser.«

»Deshalb ist sie auch ganz nahe beim Brunnen gewachsen, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte der Grashüpfer, »du wirst eine Lilie immer nur da finden, wo es auch Wasser gibt — an Teichen oder Bächen oder auch an einem Brunnen!«

»Komisch«, sagte Elga, »woher kommt es dann … ich meine, am Brunnen stand eine ganze Menge von den schönen Blumen! Und es war doch eigentlich nur eine einzige Prinzessin!«

»Glaubst du mir etwa nicht?«

Die Stimme des Grashüpfers klang beleidigt und ein bißchen böse.

»Doch, ganz bestimmt!« versicherte Elga rasch. »Bloß … du hast doch selber gesagt: man muß nachdenken!«

»Du wunderst dich, daß meine Geschichte von einer einzigen Lilie handelt, und in Wirklichkeit gibt es viele?«

Elga nickte eifrig.

»Ja, siehst du, als Lilie so traurig und allein am Brunnen stand, hatten ihre Schwestern Mitleid mit ihr. Sie baten ihren Vater, hinaufsteigen und Lilie Gesellschaft leisten zu dürfen. Der Wasserkönig erlaubte es. Seitdem ist Lilie nicht mehr allein. Sie darf mit ihren Schwestern plaudern und spielen und tanzen. Deshalb ist sie auch nicht mehr traurig.«

Glücklich betrachtete Elga ihre goldene Blume, die eine verzauberte Wasserprinzessin war. »Oh, Grashüpfer«, sagte sie, »das war aber eine schöne Geschichte!«

Sie spürte einen kleinen Druck auf dem Knie, und als sie hinsah, war der Grashüpfer schon fortgesprungen.

Elga wußte diesmal gleich, daß der Grashüpfer nicht wiederkommen würde. Es hatte keinen Sinn, ihn zu rufen. Sie nahm die Lilie aus dem Wasser und flüsterte ihr zu: »Nun komm, meine kleine Prinzessin, jetzt will ich dich ganz rasch nach Hause bringen, damit Mutti dich in ein Glas tut! Mutti wird sich freuen, wenn ich ihr erzähle, daß eine richtige Prinzessin zu uns auf Besuch kommt! Du magst doch bei uns bleiben … recht lange, ja? Wir wollen dir jeden Tag frisches Wasser geben, damit du nicht soviel Sehnsucht haben mußt … nach dem Brunnen und nach deinen Schwestern! Komm, meine kleine Prinzessin!«

Und sie dachte, wie sonderbar es doch war: Lilie hatte eigentlich nur Gutes getan und deshalb nicht auf die Zeit geachtet. Wenn sie nun auch kein Nebel geworden war, so war sie doch auch keine fröhliche Prinzessin mehr.

War das gerecht?

»Man muß nachdenken«, hatte der Grashüpfer gesagt. Und Elga dachte nach.

Wenn man anderen helfen kann, soll man es tun, und nicht an sich selbst denken, sagte sie sich. Und wer weiß — vielleicht ist die Prinzessin Lilie jetzt doch glücklich, wenn sie die liebe Sonne sieht und wenn wir Menschen uns an ihr freuen.

»Ich hab’ dich lieb, Prinzessin Lilie«, sagte sie leise und strich ganz vorsichtig und zart über ein weiches seidenes Blumenblatt.

Mit ihrer wunderschönen Blume lief Elga, so rasch sie konnte, nach Hause.

Elga und der Grashüpfer

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