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Evolution

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Okay, … vielleicht hätte ich die Schuhe mit den hohen Hacken doch nicht anziehen sollen. Nach all den Jahren würde man doch meinen, man beherrsche den aufrechten Gang. Doch mit den Absätzen fängt man wieder bei null an. Zurück an den Start. Und das Beste ist, man tut sich das freiwillig an. Getrieben von dem immerwährenden Bedürfnis perfekt zu sein.

Ein Drang nach Superlativen – die längsten Beine, der knackigste Po, der flachste Bauch, die vollsten Brüste, die makelloseste Haut, die schönsten Haare. Sieht man genauer hin, so erkennt man die hohen Pumps, die einen künstlich verlängern und in denen sich Blasenpflaster und Anti-Rutsch-Matten guten Tag sagen.

Lässt man den Blick an glatten Beinen, die durch drastische Rodung letzter haariger Überbleibsel der Eiszeit befreit wurden, höher schweifen, kommt man in Gefilde an denen ebenfalls kein Haar gelassen wurde. Nicht zu vergessen die Bauch-weg-Po-her-Unterhose, die die letzten unerwünschten Speckpölsterchen, die von nächtlichen Schoko-Exzessen herrühren, bedingungslos abschnürt beziehungsweise fehlende Rundungen geschickt kompensiert. Dicht gefolgt vom Push-up-BH mit stinkenden Glibber-Pads.

Als Hingucker – eine Maske aus allem, was die Kosmetik-Industrie der Neuzeit so im Repertoire hat. Gekrönt von Haarspray verklebten Strähnen, mit denen man sich lieber keinem offenen Feuer nähern sollte. Nicht zu vergessen das strahlend weiße Lächeln direkt aus der Bleaching-Zahnpasta Tube.

Als abrundendes Accessoire – die Louis-Vuitton Tasche vom Straßenhändler um die Ecke, der jegliche Plagiatsverdächtigungen gekonnt abweist – ganz sicher hat er einen exklusiven Händlervertrag, der ihn berechtigt, die Produkte auf einem Campingtisch in der Fußgängerzone direkt neben den öffentlichen Toiletten zu verkaufen.

Et voilà – die perfekte Illusion. Und das Schlimmste kommt erst noch – mit den Tricks arbeiten alle.

Fakt ist, eigentlich ist es wie in Darwins-Lehre – wer sich nicht anpasst, hat schlechte Karten – Evolution halt. Obwohl ich schon so das Gefühl habe, einige Homo sapiens unter uns entwickeln sich nicht mehr weiter – hm Grundsatzdiskussion.

Ich könnte jetzt sagen, dass ich nicht zu dieser Gattung Weibchen gehöre, die das „Frauen-von-Stepford-Nacheifer-Syndrom“ in sich tragen. Ich könnte behaupten, ich sei anders … eine weitere Illusion, die ich mir erschaffe, die Suggestion, dass ich Kontrolle über diesen Part meines Ichs hätte.

Meine Hypothese ist, dass irgendwo in unserem Unterbewusstsein ein Programm abläuft, das uns zu so einem wie zuvor beschriebenen Wahnsinn treibt. Dies alles nur mit dem einen Ziel – potenzielle Nebenbuhlerinnen auszuschalten und das beste Männchen zu ergattern. Dies ist unser innerster Antrieb. Das würden wir natürlich nie offen zugeben. Zu hart erkämpft sind alle Emanzipations-Errungenschaften.

Dies ist er – der kleinste gemeinsame Nenner, der uns zu gewissen Gräueltaten treibt.

Ich spreche von jeder geschlagenen Schlacht am Wühltisch, um das letzte reduzierte Top zu ergattern, das uns sowieso viel zu klein ist, nur um triumphierend davon zu schreiten.

Es geht um jedes geheuchelte Schlankheits-Kompliment an eine vermeintliche Freundin, die eigentlich schrecklich zugenommen hat.

Jedes Wetteifern am Fitness-Studio Inquisitions-Folter-Gerät, das uns in der Umkleide vor Seitenstechen fast umkommen lässt – aber das man uns während des Wettrennens um die höchste Tretfrequenz niemals angesehen hätte.

Jenes instinktive Verhalten, das uns phantasievolle Gruselgeschichten über eine „Kollegin“ erfinden lässt, die gerade mal eben zur Toilette ist und wir somit auch noch das letzte buhlende Männchen erfolgreich in die Flucht schlagen, das es wagt, sie anstatt uns zu umwerben. Ja es geht um Abgründe, die sich auftun, wenn man das komplexe Wesen einer Frau erforscht.

Manche könnten nun vollen Spottes annehmen, dass wir weiblichen Geschöpfe recht einfach gestrickt zu sein scheinen – doch weit gefehlt, denn es ist diese tiefgründige innere Dissonanz, mit der wir immerfort mit uns selbst kämpfen. Ein resonantes Gefühlschaos, das in Impulsen solch schöpferisch zerstörender Kraft mündet wie sie charakteristisch für eine Evolution sind.

Scheiße… wo bin ich … sag nicht … NEEEIIIN … wie kann es auch anders sein – jetzt hab ich doch tatsächlich meine Haltestelle verpasst. Hans-guck-in-die-Luft par excellence sag ich nur. Memo an mich selbst: Ich sollte nicht so viel in Gedanken faseln, wenn ich in Öffis sitze. Das bin ja mal wieder typisch ICH.

Es sollte extra Sitze für Tagträumer geben, die automatisch an ihrer Endhaltestelle mittels Schleudersitz rausgeworfen werden – hm eine neue Geschäftsidee. Schnell raus hier. Okay … wo bin ich?

Darf ich vorstellen: fehlender Orientierungssinn – ein Gehirnareal, das bei mir zugegebenermaßen leicht verkümmert ist. Was natürlich durch meine Fähigkeit des Halteplan-Lesens locker kompensiert wird. Wo bin ich jetzt genau und was sind das für Striche und Farben – ach drauf geschissen – ich fahr einfach mit meinem mitgeschleppten Rad drauf los. Norden dürfte dort sein, wie war das noch mal … im Osten geht die Sonne auf – irgendwo ist sie nie zu sehen – wobei ich seh ja die Sonne von überall.

Ha … das wär ja gelacht – ich bin schließlich im Großstadtdschungel aufgewachsen. Also hier kommt mir mal nichts bekannt vor. Jetzt nur keine Panik – okay, einige Millisekunden später setzt doch Panik ein – Hilfe.

Natürlich ist wieder mal niemand in Sicht, den ich nach dem Weg fragen könnte – ja … richtig gehört – im Gegensatz zu den Herren der Schöpfung ist Nach-dem-Weg-Fragen tatsächlich eine Option für mich. Meine Hypothese ist, dass mit dem Akt des Nach-dem-Weg-Fragens ein Zeichen von Schwäche einhergeht und dies somit für unsere Vertreter des ach so starken Geschlechts ein krasser Gegensatz zu ihrem mühevoll aufgebauten Image wäre.

Wir Vertreter des schwachen Geschlechts haben damit allerdings kein Problem, da wir ja von unserem Prinzen aus einer Notsituation gerettet werden wollen. Oh… ich fasle schon wieder.

Ah da ist ein kleines Café, da sind sicher Vertreter der Gattung Mann, die mir den rechten Weg weisen können, zu finden.

Kurzer Check, ob es gefahrlos betreten werden kann. Gedankliche Checkliste: Punkt eins: optische Erscheinung – okay, vielleicht etwas antiquiert jedoch nicht heruntergekommen. Punkt zwei: Verhältnis weibliche/männliche Individuen: kein Missverhältnis durch das Schaufenster erkennbar. Punkt drei: Schokotorten-Portfolio: Hm … aus dieser Entfernung nicht erkennbar. Okay zugegebenermaßen gibt es einen Zielkonflikt zwischen Punkt drei und dem Traumgewicht-Erreichungsprojekt – aber was soll ich sagen – man muss eben Prioritäten setzen. Resümee: Tragbares Risiko.

Perfekt – es gibt sogar einen passenden Masten, wo ich mein Fahrrad anketten kann.

Kurzer Check, ob alle Potenziell-peinlich-wenn-exponiert-Stellen mit Textilfasern bedeckt sind, Brust raus, Bauch rein und schon kanns losgehen.

Natürlich stolziere ich mit direkt vom Victoria’s Secret Laufsteg abgeguckten großen Schritten und dem perfekt einstudierten Hüftschwung auf mein Ziel zu, als mein Stöckel in genau dem Loch des Kanaldeckels stecken bleibt, das man, wenn man es bewusst darauf angelegt hätte, niemals auf Anhieb treffen würde.

Ab jetzt geht alles ganz schnell, denn physikalische Grundgesetze treten ein. Darf ich vorstellen – das Aktionsprinzip, durch das mein Körper beschleunigt wird, dicht gefolgt vom Reaktionsprinzip, das mich schmerzlich daran erinnert, dass die gleich hohe entgegengesetzte Kraft mit der ich auf den Boden einschlage, vom Boden auch auf meinen Körper einschlägt. Da sag ich doch – guten Tag Gravitationskräfte – seid ihr auch noch alle da und 1:0 im Kampf Rotationsellipsoiden gegen träge Masse. Gleichzeitig setzt natürlich die reflexartige Hirn-Gliedmaßen Koordination ein, die mich vor schlimmeren Blessuren aus dem resultierenden Gleichgewichtsverlust bewahren soll und sicherstellt, dass ich mich so richtig vom aller Feinsten zum Affen mache. Da sag ich doch – Dankeschön vegetatives Nervensystem.

Da knie ich nun auf allen Vieren – zurück zum Ursprung, nur mit dem einen Unterschied, dass sich unsere pelzigen Vorfahren solche Schuhe sicher nie angetan hätten. Obwohl, stammen wir nicht eigentlich vom Quastenflosser ab – das lässt mich daran erinnern, dass ich Fisch ab sofort von meiner persönlichen Nahrungskette streiche.

Und welcher Schwachmat hat das Sprichwort: „Hochmut kommt vor dem Fall“ erfunden, das mir nun unentwegt durch den Kopf schießt.

Okay … das hat jetzt keiner gesehen – auch das rede ich mir ein und um meine Illusion nicht selbst zu zerstören, lässt mich mein Unterbewusstsein stur gen Boden blicken. Es nimmt mir somit die Möglichkeit, potenziell vorhandene Zeugen dieses Schauspiels zu erspähen, ergo wenn ich sie nicht sehe, sehen sie mich auch nicht – komplett unlogisch aber der ideale Selbstschutz. Dass ich damit meinen putenroten Kopf verstecke, ist ein angenehmer Nebeneffekt.

Kaum aus dieser erniedrigenden Position befreit, hab ich das Bedürfnis, diesem Isaac Newton selbst einen Apfel an die Birne zu hauen.

Nun wird erst das Ausmaß dessen sichtbar, wenn Beschleunigung über die Trägheit siegt.

Die physischen Opfer: Zwei wunderbar aufgeschlagene Knie, ein schmerzender Knöchel und ein paar halterlose Strümpfe.

Die psychischen Opfer: Einbußen von 1/8 Selbstbewusstsein, kurzer Anonymitätsverlust gefolgt von kurzem ungewollten Aufmerksamkeitsgewinn.

Sigmund Freud würde sicher gerne dieses Phänomen psychoanalytisch interpretieren, aber ich glaube, selbst er hätte irgendwann bei dem Versuch aufgegeben, meine Gefühlswelt zu enträtseln. Er würde sich wie Sisyphos fühlen, nur dass er keinen Marmorbrocken den Berg raufrollt sondern einen Riesenmuffin. Ein Zwiespalt tut sich auf, denn isst er vom Muffin, schafft er es aufgrund überzähliger Kilos nicht mehr auf den Berg, andererseits ist der Muffin einfach viel zu verlockend – willkommen in meiner Welt sag ich nur.

Es sieht aber so aus, als ob keine bleibenden Schäden entstanden sind, die nicht durch ein Pflaster und eine heiße Schokolade geheilt werden könnten.

Jetzt aber schnell ins Café, bevor sich noch die Erde vor mir auftut oder mich ein Meteorit trifft – ja ist alles schon vorgekommen – vielleicht nicht in der Reihenfolge … ich fasle schon wieder.

Beim Passieren der Eingangstüre frage ich mich kurz, ob es die heiße Schokolade hier auch mit Sahne gibt, verwerfe den Gedanken jedoch gleich wieder, den Riesenmuffin vor meinem geistigen Auge.

Ich löse mit meinem Eintreffen eine synchrone Rotationsbewegung aller Halswirbel im Raum aus. Gefolgt von einer paarweisen Winkeländerung und Linsenfokussierung direkt auf die Anomalie an meinem Körper: Meine aufgeschlagenen Knie.

In dem Moment bereue ich die morgendliche Entscheidung für einen Rock, doch ich wollte unbedingt das blaue Wasserfall-Top mit den breiten Spitzenträgern anziehen und im Rahmen meiner eingeschränkten Garderobe, war das die passende Wahl.

Viel schlimmer sind jedoch die Expressionen, die sich in Form von Mimik und Gestik der hier Anwesenden ableiten lassen. Und nun lässt die nonverbale Linguistik grüßen, auf deren Fähigkeit zur Entschlüsselung ich in diesem Moment gerne verzichten würde.

Ab jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten – entweder ich löse damit den nächsten Trend aus – Planking ist sicher auch dadurch entstanden, dass sich jemand so richtig aufs Maul gelegt hat – oder das zugegebenermaßen realistischere Szenario: Morgen ist mein verdatterter Anblick auf YouTube zur kollektiven Belustigung downloadbar. Da sag ich doch danke Tim Berners-Lee für ein Leben in Angst vor den sozialen Netzwerken.

Da steh ich natürlich voll drüber – zwar nur kurz aber hey, der Wille zählt fürs Werk. Dann ergebe ich mich dem gesellschaftlichen Druck und hechte gen Toilette, um größeren Reputationsschaden zu vermeiden. Der Spiegel enttarnt nun gnadenlos, was bisher verborgen blieb – man nehme schwarze Augenränder an bleicher Haut mit einer Prise Bad-Hair-Day. Das ist der Stoff, aus dem Horrorfilme sind – ich hör schon die „Der weiße Hai“ Filmmusik im Hintergrund – ta dada …

Ich bin sicher, Frankensteins-Monster hatte nach seiner Erweckung mehr Farbe im Gesicht als ich. Mir fällt wieder mein Arzt ein, den ich immer Dr. Schiwago genannt habe, weil ich mir seinen Namen nicht merken konnte, der einst meinte – ich zitiere wörtlich: „In meiner langjährigen Profession als praktizierender Arzt ist mir noch nie ein Organismus begegnet, der mit solch niedrigem Blutdruck bei gleichzeitig so hohem Puls nicht vor lauter paralysierter Hyperaktivität implodiert ist“ – wenn sie wüssten Herr Doktor.

Vielleicht stehen Sie kurz vor der Entdeckung einer neuen Spezies“ – fand er jetzt nicht so prickelnd als Kommentar seiner Diagnose. Naja, was soll ich sagen, ich bin wie ein Perpetuum mobile – einmal in Gang gesetzt, ewig in Bewegung.

Jetzt mach ich es schon wieder – zuerst die Straßenbahn, jetzt die Toilette – auf jeden Fall sollten sie mich unter die Gattung Tagträumer einordnen, wenn sie meine Spezies offiziell erfassen.

Hastig versuche ich noch das letzte bisschen Frisur zu retten – so, besser krieg ichs nicht hin. Heiße Schokolade ich komme.

Im Café sind wieder alle damit beschäftigt, sich gegenseitig zu ignorieren. Gekonnt siegt der Kollektivismus über den Individualismus und ich füge mich ebenfalls dieser Erscheinung des 21. Jahrhunderts und lese in meinem mitgebrachten Buch.

Der Zuckerschock regt meine Insulinproduktion an und Endorphine werden durch meinen Körper gejagt – die Weltordnung ist wiederhergestellt.

Die Tatsache, dass die Sitzbank ziemlich bequem ist, ist nur ein schwacher Trost dafür, dass alle Schokotorten bereits von anderen anonymen Schoko-Süchtigen, die mir zuvorgekommen sind, vertilgt wurden. Wobei ich der Versuchung hätte widerstehen können – ganz sicher. Ich bemerke gerade wie einfach es ist, sich selbst zu belügen.

Die Tür des Cafés wird aufgerissen und natürlich verfalle auch ich in die kollektive Halswirbelbewegung. Darf ich vorstellen: Neugierde, lateinisch: Novarum rerum cupidus, Wortstamm kommt von „auf Neues begierig“ – ein weiterer Wesenszug, der sich in eine Reihe von weiblichen Stereotypen eingliedert. Ich bin natürlich nicht neugierig – zumindest nicht pathologisch.

Plötzlich vernebelt sich meine Wahrnehmung und die Realität beginnt, wie in Zeitlupe abzulaufen. Eine Gruppe von potenziellen Ernährern betritt das Café. Ich spezifiziere genauer: Es handelt sich um eine Gruppe von Anzugträgern.

Der gemeine Anzugträger tritt in der freien Wildbahn üblicherweise im Rudel auf und weiß in der Regel genau über die Wirkung seines Äußeren auf das weibliche Publikum Bescheid. Okay, ich gestehe alles – Männer im Anzug sind sexy. Was, zu meiner Verteidigung, bei der heutigen Fülle an ungepflegten, arbeitsverweigernden, die Hose bis zum Po runtergezogenen Vertretern der Spezies Mann ein letzter Lichtblick ist, an den wir Frauen uns klammern.

Sie sind moderne Gladiatoren. Ihre Arena ist die Geschäftswelt und ihre Waffe ist ihre Souveränität, die sie in ihrem Blick tragen und sofort spult sich bei uns Weibchen der Urfilm ab, in dem wir unser Neandertaler-Männchen am Horizont erblicken. Es kommt von der Jagd nach Hause – in einer muskulösen Hand den Speer – in der anderen das erlegte Mammut. Wir lassen den Blick auf unseren Baby-Neandertaler-Bauch sinken und lächeln …

Jetzt reiß dich zusammen. Erfolgreich drücke ich auf Stopp und das Bild friert ein. Bevor ich wieder Kontrolle über mich selbst erlange, habe ich das Gefühl, die Neandertaler-Frau sieht mich an, als würde sie mich gleich verkloppen.

Wie ich sehe, ergeht es den anderen weiblichen Wesen im Raum genauso – wobei wir wieder beim kleinsten gemeinsamen Nenner wären. Tja, was zu beweisen war.

Ich erkenne in ihnen die anderen Neandertaler-Weibchen. Einigen von ihnen sind die Kinnladen auf der Tischplatte aufgeschlagen und sie schmachten die Gruppe sabbernd an. Die restlichen Männer im Raum sind weiß vom Sauerstoffverlust, der aus dem Baucheinziehen resultiert und ich bin sicher, ab morgen verzeichnen die Muckibuden einen Ansturm an Neukunden. Ja das sind die Marktmechanismen unserer Zeit.

Jetzt reißt euch gefälligst mal zusammen – damit mein ich übrigens auch mich. Habt ihr auch noch das letzte Quäntchen Selbstachtung verloren?

Als gnadenloser Realist mit sarkastischem Einschlag habe ich diese Kreaturen schon lange durchschaut. Meistens sind es selbstgefällige, arrogante Profilierungsneurotiker mit penisverlängernden Fortsätzen genannt Automobil, deren Existenz allein dazu da ist, um uns Frauen den Kopf zu verdrehen.

Mich würde interessieren, was Carl Benz zu dieser Zweckentfremdung seiner Erfindung sagen würde. Obwohl letztens hab ich gelesen, dass er gar nicht das erste Automobil gebaut haben soll, sondern Nicolas Joseph Cugnot. Naja dann war Benz vielleicht der Anzugträger und Cugnot der, der gerade auf der Bauchspeckwegbank trainiert hat.

Aber nicht mit mir – ich bin da so was von immun dagegen. Die Gesamtsituation hier lässt mich sowas von kalt – zumindest gebe ich mir Mühe, es so aussehen zu lassen.

Das gehört alles zum Selbstschutz-Programm, das nun abläuft und mich vor größeren Enttäuschungen bewahren soll. Der Quellcode wurde noch nicht entschlüsselt, doch ich vermute, es läuft ungefähr so ab:

Wenn (Anzugträger auftaucht) {

Start Urfilm;

Schilde auf 100 % hochfahren;

Hoffnungen auf 0 % runterfahren;

Gleichgültigkeitsprogramm aktivieren;

}

Im Ablauf des Gleichgültigkeitsprogramms bin ich nun soweit, dass ich genug von diesem Schauspiel habe und mich wieder dem Studium meines Buches widme. Das ist natürlich alles Taktik, denn insgeheim hoffen wir somit die Aufmerksamkeit eines der Männchen zu erregen und es von der Gruppe zu trennen.

Meine Hypothese: Männer wollen immer das, was sie nicht oder nur schwer haben können – wobei wir wieder beim Neandertaler-Jäger wären. Vielleicht spult sich sogar ihre Version des Urfilms in ihren Köpfen ab – hm interessanter Gedanke und ich sehe einen Neandertaler, der ein Mammut im Schwitzkasten hat.

Einziger Wermutstropfen – das Gleichgültigkeitsprogramm läuft nun bei jeder Frau im ganzen Raum ab und wir sind wieder beim gegenseitigen Ignorieren angelangt.

In der Gruppe Anzugträger, die mittlerweile Platz genommen hat, scheint jemand einen Witz gemacht zu haben, denn alle lachen lauthals.

Unruhe breitet sich im gesamten Raum wie ein eisiger Wind aus und ein weiteres Naturschauspiel lässt sich beobachten. Kleine Schminkspiegelchen werden aus den Taschen gezückt und Näschen gepudert, Kleidung wird zurechtgerückt, Füße werden übereinander geschlagen und ich mitten drin wie ein Ornithologe, nur dass ich kein Fernglas brauche.

Ich lächle, weil ich, bedingt durch den Zustand meines Geschlechts, zu einer eingeweihten Wissenden gehöre und somit genau weiß, was los ist. Jedes feminine Wesen in diesem Raum hat Angst, dass der Witz auf ihre Kosten ging.

Und da ist er, der Blick genau in dem Moment, als ich das selbstbelustigte Grinsen an der Backe kleben habe. Eines der Männchen sieht zu mir rüber. Unsere Blicke treffen sich und der Urfilm beginnt, sich erneut abzuspulen. In Echtzeit durchlaufe ich das Selbstschutz-Programm. Ich klammere mich an mein Buch und der Sympathikus gewinnt Oberhand über den Parasympathikus und Schamesröte steigt mir ins Gesicht – ein weiterer Dank geht an das vegetative Nervensystem.

Mein Atemreflex setzt für eine gefühlte Ewigkeit aus und kurzer Schwindel überkommt mich. Der Mann sieht so unverschämt gut aus, dass es sogar wehtut – oh das ist mein Knöchel, der sich da meldet.

Der ist höchstens fünfunddreißig, durchtrainiert, hat dunkles Haar und stahlblaue Augen, die sich direkt in mein Eroberungs-Zentrum bohren. Mit seinem kantigen, wunderschönen Gesicht sieht er aus wie einer dieser Aristokraten. Für einen kurzen Augenblick habe ich das Gefühl, die Flugzeuge in meinem Bauch heben mich in ungeahnte Höhen.

Oh, da fällt mir auf … ich bin wohl das zentrale Thema des Witzes und alle anderen wissen es auch, denn zugleich macht die eisige Kälte einer Erleichterungsbrise Platz, gefolgt von gönnerhaften weiblichen Blicken, die ein klares Ziel haben – mich.

Okay – jetzt bin ich so richtig verunsichert, aber ich lasse den Hexen ihren Triumph nicht und strecke mich zurück, damit man meine breiten Schultern und meine schön geformten Schlüsselbeine sehen kann. Zugegebenermaßen einer meiner wenigen Trümpfe, die ich glaube zu haben oder was sich zumindest aus meiner subjektiven Wahrnehmung begründet, dass ich sie haben könnte.

Den taktischen Schachzug, den ich nicht vorhersah: Sie tun es mir nun alle gleich und richtig schwere Geschütze werden aufgefahren: Bäuche werden eingezogen, Brüste rausgestreckt, Haare fliegen. Okay Kapitulation – ich wollte sowieso gleich gehen, ja okay, vielleicht noch nicht so schnell, aber ich möchte sowieso nach Hause.

Ich will gerade den Nervenimpuls zum Aufbruch von meinem Gehirn an meine Beine schicken, da erhebt sich das Blick-von-vorher-Männchen plötzlich und ich kann erkennen, dass es sich in meine Richtung bewegt.

Oh nein … er wird doch nicht … er kann doch nicht. Wie war das nochmal? Angriff oder Flucht? Und er kommt nicht allein auf mich zu – er wird von ungläubigen, neidischen Blicken der Nebenbuhlerinnen begleitet und ich weiß grad nicht, was schlimmer wäre – wenn er mich jetzt anmachen oder einfach nach dem Zucker fragen würde.

Atme, atme zwinge ich mich. Okay, für Flucht bleibt keine Zeit mehr, denn er steht bereits vor mir und lächelt mich an. Toll, Zahnarztlächeln – konzentrier dich, du bist immun, du bist immun, du…. „Hallo, könnte ich die Financial Times dort haben oder brauchen Sie sie noch?“

Ein kollektives Aufatmen geht durch die Reihen und ich komme mir vor, wie ein absoluter Vollidiot, weil ich mir Hoffnungen gemacht habe. Wo ist das Schutzprogramm wenn man es einmal braucht?

Seh ich etwa so aus, als ob ich die Financial Times lesen würde? Die liegt da noch vom Vorgänger – obwohl, das weiß er ja nicht – hm Business-Lady – egal.

Wie konnte ich nur annehmen, dass sich so ein Anzugträger für mich interessiert. Ausgerechnet für mich. Okay, vielleicht hab ich einen knochigen Arsch und Mikrobrüste, ja und vielleicht müsste was an meiner Nase gemacht werden, doch verdammt nochmal anmachen hätte er mich schon können. Ich hätt ihn sowieso abblitzen lassen. Der ist ja absolut nicht mein Typ (Selbstschutz wurde aktiviert), aber nicht mal das bisschen Selbstbewusstseins-Push sei mir vergönnt.

Ich greife gelangweilt nach der Zeitung neben mir und reiche sie ihm rüber, ohne nur mit der Wimper zu zucken. Eigentlich unglaublich, wie gekonnt man sein inneres Gefühlschaos verbergen kann, wenn man sich so wie ich halbwegs im Griff hat. Und echt gut, dass es gedankenlesende Schönlinge nur in meiner Phantasie gibt.

Er sieht mich leicht ungläubig an und quetscht ein „Danke“ heraus. Ja, was ist los? Wenn du ein Weibchen willst, dass dich ansabbert, weil du so schön bist, versuch dein Glück an einem anderen Tisch.

Also so was macht mich wahnsinnig – reiche Schönlinge, die es gewohnt sind, alle Aufmerksamkeit der Welt zu kriegen. So, jetzt hast du Dorian Gray es geschafft, mir auch noch das letzte Drittel des Tages zu vermiesen, was sich erfahrungsgemäß in einer Metamorphose zu Mr. Hyde auswirkt, der schon an einigen nächtlichen Kühlschrank-Plünder-Aktionen beteiligt war. Ich bin sicher, Robert Louis Stevenson verzeiht mir diesen Missbrauch seiner Schöpfung.

Er macht Anstalten umzukehren, verharrt aber einen kurzen Moment in sich und es sieht so aus, als würde er überlegen. Scheiße… kann der doch Gedanken lesen?

Er dreht sich nochmals zu mir um und sieht mich an, diesmal mit einem anderen Ausdruck. Meine Alarmglocken läuten, denn es ist der Neandertaler-auf-der-Jagd-Blick.

Es ist jener Blick, der wieder meinen Urfilm aktiviert. Jener Blick, der meine sonst automatisch ablaufenden Körperfunktionen kurz deaktiviert und mich in einem Vakuum zurücklässt.

Dann kommt er näher, beugt sich leicht zu mir runter, als würde er mir etwas sagen wollen, das nur für mich bestimmt ist, was nicht für alle Ohren im Raum hörbar sein soll, deren Besitzerinnen übrigens gerade vor Neid ihre Fingernägel in die Tischplatten krallen.

Er ist so nahe, ich kann ihn sogar riechen – natürlich ein olfaktorischer Hochgenuss, der sich auf all meine Sinne auswirkt.

Binnen Millisekunden entschlüssle ich über diesen Kanal seine DNS und mein Unterbewusstsein weiß sofort, dass unser Erbgut kompatibel ist. Ich halt das nicht mehr aus. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht zu sabbern beginne und falle bereits in einen Tagtraum, in dem wir im Park picknicken …

„Würden Sie mir einen blasen?“ So flüsterleise Worte, die vor meinem Butterbrot eine Atombombe einschlagen lassen, reißen mich bedingungslos aus meiner Phantasie zurück in die erbarmungslose Realität.

Ding, ding, ding: Knock-out in der ersten Runde. Meine Hypothese über Anzugträger hat es nun geradewegs zur Theorie geschafft. Ach Dorian, was hätte nur aus uns werden können – du abartiger Arsch.

Zwar mit kurzer Verzögerung, jedoch blitzschnell, aktiviert sich mein In-Not-Programm. Konzipiert für genau solche Fälle.

Wenn (Anzugträger aufdringlich wird){

Dann

Gegenangriff;

}

Sonst

Flucht

}

Geistesgegenwärtig kommt mir mein Selbstverteidigungs-Eskalationstraining in den Sinn:

Tipp 1: Bleiben Sie ruhig – ich bin ruhig – noch

Tipp 2: Finger weg vom Alkohol – naja YouTube braucht doch auch irgendwo seine Videos her, aber keine Zeit für Alkohol

Tipp 3: Halten Sie sich die Notausgänge im Blick, falls Ihnen danach Prügel drohen – okay.

Mir fällt gerade auf, dass das scheiß Tipps sind. Das klang im Training damals logischer.

Egal, ich muss jetzt stark sein. Nicht nur für mich, nein, für alle Weibchen, bei denen er das schon abgezogen hat und die vielleicht gleich geflüchtet sind. Okay ich gebs zu, das war auch mein erster Gedanke, doch ich bin noch hier. Ich feile noch an meinem Plan …

Und da ist er, der rettende Gedanke – Logik ist etwas Befreiendes, ich sollte sie öfters anwenden. Ich schlage ihn natürlich mit seinen eigenen Waffen.

Ich setze meinen laszivsten Blick auf, der seinen Urfilm auslösen wird und blase (Grins) zum Gegenangriff.

Mit burlesqueartigen Bewegungen schlage ich meine Beine übereinander, schiebe den Träger meiner Bluse in einer fließenden Bewegung etwas tiefer, damit meine nackte Schulter besser zur Geltung kommt, rutsche näher an ihn heran, sodass mein Kopf seiner Hose gefährlich nahekommt, blicke mit klimpernden Wimpern zu ihm auf und flüstere mit einer entrüstenden Selbstverständlichkeit, die mir all meine nonexistenten schauspielerischen Fähigkeiten abverlangt: „Ja, … okay.“ Dabei hebe ich meine Hand und nähere mich langsam verbotener Bereiche.

Er schreckt etwas zurück. Es sieht so aus, als hätte ich ihm auch gerade seine Phantasie zerstört – nur mit dem Unterschied, dass er darin sicher kein Butterbrot gegessen hat – ha willkommen zurück in der Realität.

„Echt – jetzt wirklich? Dann sollten wir hier schnell verschwinden“, entgegnet er ein bisschen zu überrascht für meinen Geschmack.

Aus dieser Reaktion schließe ich, dass der Spruch entweder noch nie funktioniert hat, oder dass das hier eine Jungfernfahrt war – hm sein erstes Opfer. Also wirklich, Männer sind solch einfältige Wesen. Er kapierts einfach nicht.

„Nein … natürlich nicht wirklich“, fahre ich ihn immer noch flüsternd an. Nun habe ich genug von dieser Farce und packe meine Sachen zusammen.

„Wo wollen Sie hin?“, fragt er, als ob er sich immer noch Hoffnungen machen würde.

Okay, ich hätte es ja auf sich beruhen lassen, aber er wollte sich diesen Korb ja unbedingt noch abholen.

„Ich muss zum Zoo. Meldung machen, dass einer ihrer Primaten entlaufen ist.“ Der hat gesessen. Ihm und dem Rest der Zuschauer fallen soeben die Kinnladen runter

Das ist mein Stichwort, um von hier zu verschwinden – siehe Tipp Nr. 3 Selbstverteidigungs-Eskalationstraining. Dabei werfe ich ihm noch einen Wo-das-herkommt-gibt-es-noch-viel-mehr-Blick zu, um die Grenzen meines Reviers abzustecken.

Ich erhebe mich theatralisch und – oh nein Kreislauf – es ist ja mal wieder so klar. Und aaahh Schmerz – mein Knöchel. Nun offenbart sich die volle Wirkung der plötzlichen Lageänderung.

Ehe ich mich versehe, wird mir schwarz vor Augen, bekomme weiche Knie, verliere die Kontrolle über meinen Körper und gleite in die bittersüße Bewusstlosigkeit ab.

Die Geräusche des Raumes sind so unendlich weit weg und ich bin in einem Paralleluniversum, das gerade einer Nussschale entsprungen ist, gefangen.

Eigentlich stand in meinem Drehbuch: Verlasse als selbstbewusste Powerfrau diese Gestade, nicht kippe vor deinem Peiniger aus den Latschen.

Einmal im Leben verlässt man sich auf die Funktionsfähigkeit seines Kreislaufsystems und auf Gelenke, die sonst immer funktionieren und dann wird man so herb enttäuscht.

Langsam komme ich zu mir und blicke in ein perfektes Gesicht, dessen Mund sich bewegt, ich aber nur komische Worte verstehen kann, die keinen Sinn ergeben. Ist irgendwie lustig und ich kann mein Lächeln nicht unterdrücken.

„Ist alles in Ordnung?“ Okay, jetzt ergeben die Worte einen Sinn. Anscheinend wird mein Gehirn wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt und ich werde wieder einmal unsanft aus einem Bewusstseinsstadium gerissen.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich in seinen Armen liege. Durch sein Jackett hindurch fühle ich feste Muskeln und der Vorspann des Urfilms beginnt bereits wieder zu laufen.

„Hey … alles in Ordnung?“, höre ich nun klar und deutlich. Seine Stimme ist erfüllt von Sorge und Beschützerinstinkt, was mich wieder weiche Knie kriegen lässt.

Kurz ertappe ich mich, in diesem Zustand ganzheitlicher Konfusion zu verweilen und einfach die Rettung durch den Prinzen zu genießen. Ich fühle mich so sicher und mit den Muskeln kann er sicher auch ganz hervorragend Mammuts jagen … .

Jetzt reiß dich zusammen! Und schon werde ich wieder Herr über meine Gliedmaßen und entreiße mich ruckartig seinen Armen.

Wie peinlich ist das denn. Ich spüre förmlich alle Augen auf mir. Kann sich nicht jetzt die Erde auftun, bitte? Okay, die Show ist vorbei. Jetzt ist es aber sowas von Zeit für Flucht und wie von der Tarantel gestochen – igitt Spinnen – verlasse ich das Café, ohne dabei meinen Blick vom Notausgang abschweifen zu lassen. Nichts wie weg hier.

Mir fällt gerade ein, dass es praktisch war, gleich zu zahlen, das sollte ich immer so machen – nur für alle Fälle.

Und wenn ich geglaubt habe, es könnte nicht schlimmer kommen, so werde ich abermals eines Besseren belehrt, denn auf dem Perfekt-für-mein-Rad-Masten hängt nur noch mein aufgebrochenes Schloss. Da geht es hin Fahrrad Nummer 5. Ein herber Verlust. Ich hatte gerade eine Beziehung zu ihm aufgebaut.

Naja, vielleicht kriegen sie den Verbrecher ja noch, wenn ich es gleich als vermisst melde. Sie können ja dann eine Fahndung rausgeben, oder so.

Ich überlege gerade, wie das Fahrrad genau ausgesehen hat – für eine Gegenüberstellung, doch ich merke, dass wir uns gar nicht richtig gekannt haben. Es bleibt auf jeden Fall keine Zeit zu verlieren. Ich rette dich.

Mit der höchsten Schrittfrequenz, die meine Schuhe und mein Knöchel zulassen, haste ich gen Straßenbahn, die mir natürlich so richtig schön direkt vor meiner Nase davonfährt. Was ist heute bloß los? Ist ja wie verhext. Vielleicht lastet ja ein Fluch auf mir.

Nach kurzer Wartezeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, da ja Geduld eine meiner größten Stärken ist – schön wärs – steige ich endlich ein.

Ich weiß, dass es nach 4 Stationen ein Polizeirevier gibt, denn da hab ich schon mal angerufen, als ein Betrunkener der fixen Meinung war, er würde in meiner Wohnung wohnen. Es stellte sich heraus, dass er im falschen Stadtteil war, aber hey, das kann doch jedem mal passieren.

Es liegt mir fern, über jemanden zu richten, der genauso wenig Orientierungssinn hat wie ich, sei es genetisch bedingt oder vorübergehend vom Schnaps betäubt.

Als er dann lustige Bilder an die Flurwand uriniert hat, habe ich die Bullen gerufen – ich hasse moderne Kunst. Ich fasle schon wieder, aber diesmal verpasse ich die Haltestelle nicht.

Gazellenartig verlasse ich die Straßenbahn – kurzer Blick gen Himmel, ob es sich eh kein Meteorit anders überlegt hat, in die Troposphäre einzudringen.

Die Luft ist rein und ich marschiere los. Aua mein Knöchel tut echt weh, ich hoffe das bleibt nicht. Ich kann Ärzte und Krankenhäuser nämlich nicht ausstehen. Was soll ich sagen, Phobie Nr. 1 aus dem Fundus meiner zugegebenermaßen zahlreichen Phobien – sorry Dr. Schiwago – aus uns hätte nie etwas werden können.

Ich öffne die Tür des Polizeireviers und das Halswirbelsäulen-Ding spielt sich erneut ab.

Es gibt eine Empfangsdame, die aber meiner Meinung nach eher eine abschreckende Wirkung hat – obwohl, vielleicht ist das ja gewollt und stand so in der Stellenausschreibung:

Suchen furchteinflößende Wuchtbrumme mit Frauenbart für diverse Einschüchterungsmanöver.

Sie tippt stoisch in ihren PC und über ihre Brille mit Kettchen, die sie für meinen Geschmack zu weit an der Nasenspitze trägt, sieht sie mich skeptisch an. Ich lasse mich davon natürlich nicht einschüchtern.

„Hallo, mein Fahrrad wurde gestohlen und ….“ „Nummer … hinsetzen“, fällt sie mir ins Wort und zeigt erst auf die Box mit den Abziehnummern und dann in einen Nebenraum, in dem gefühlte 50 Leute sitzen und warten.

Ich bin kurz gewillt, ihr für die freundliche Unterstützung zu danken, da fällt mir wieder Tipp Nummer 3 vom Eskalationstraining ein und ehrlich gesagt, würd ich mich lieber nicht mit ihr anlegen, bei dem animalischen Körpergeruch, der mir gerade in die Nase steigt.

Okay gewonnen, ich reiße pathetisch einen Zettel ab und mache kehrt, als ich mit voller Wucht gegen einen Artgenossen krache.

Meinem Knöchel gefällt die plötzliche Belastung gar nicht und er entschließt sich abermals, seine Arbeit an den Nagel zu hängen.

Oh … ein Déjà-vu. Ich sacke erneut direkt in die Arme meines Gegenübers, das mittlerweile als Männchen klassifiziert wurde. Okay, definitiv zu viel fremder Körperkontakt für einen Tag.

Ich fange mich gleich wieder und blicke in grüne Augen, die zu einem definitiv sehr ansprechenden Gesicht gehören, das mich etwas überrumpelt anlächelt. Ja, Entschuldigung – ich Körperklaus – du zugegebenermaßen süßes Männchen. Wehe der Urfilm aktiviert sich jetzt, doch dazu bleibt keine Zeit. Peinlich berührt drücke ich ein kaum hörbares „Verzeihung“ heraus.

Das verschafft mir etwas Zeit und ich scanne ihn in Sekunden von Kopf bis Fuß. Rotes Haar mit drei-Tage-Bart in der gleichen Farbe, durchtrainiert, schöne Hände und weiße Hose – was, weiße Hose … du wirst doch nicht … neeeeeeeiiiiiiiiinnnnnnnn.

„Guten Tag, Herr Doktor“, meldet sich Miss Marple mit dem zuckersüßesten Lächeln, das ihre Dritten hergeben. Du Heuchlerin.

Das einzig Schlimmere als Anzugträger sind Ärzte – die Götter in weiß – dass ich nicht lache. Glauben, sie hätten uns Frauen nach Analyse dreier Blutwerte durchschaut, urteilen vorschnell und zücken den Rezeptblock, als wäre er ein Dolch zum finalen Stoß von dem unsere Körper noch weiter aufquellen. Als ob die natürliche Orangenhaut nicht schon reichen würde.

Ich werde aus meinem cholerischen Mit-mir-selbst-Gefasel gerissen, als sich seine Lippen öffnen und er den Blick über mich schweifen lässt. Direkt zu ... Miss Marple.

„Guten Tag Mandy, es geht wieder um mein Auto.“ Bitte was – Mandy – toll, er ignoriert mich einfach. Da sag ich doch Dankeschön, dass ich durch meine Krankenkassenbeiträge dein Gehalt zahle.

Die Arroganz in Person – sicher so ein Schönheitschirurg, der dafür verantwortlich ist, dass hunderte bemitleidenswerte weibliche Geschöpfe in den Ruin getrieben werden, weil sie die Brust-OP Kredit finanzieren.

„Soll ich im Warteraum Platz nehmen?“ Und man merkt, dass dies eine Pseudofrage seinerseits war, denn ich habe das Gefühl, er kennt die Antwort schon.

„Nein … gehen Sie bitte gleich durch“, schmachtet Miss Marple, während sie künstlich gefühlte zehnmal blinzelt. Also wenn das ein Augenaufschlag gewesen sein soll, solltest du noch Trockentraining vor dem Spiegel machen – der löst sicher keinen Urfilm aus.

Aber warte mal, keine Nummer, kein Warten im überfüllten Raum. Ärger steigt in mir auf – Ärger über die gesamte Ärztegilde. Überall Privilegien, die für uns Normalos nicht gelten. Die Herrenrasse auf dem Planet der Affen.

Nein, ich kanns mir nicht verkneifen, so sehr ich mich auch bemühe und stelle lauthals fest: „Ich geh dann mal mit meiner Nummer in den Warteraum. Zu den niederen Gesellschaftsschichten.“

Nach diesem Statement stapfe ich selbstbewusst davon. Jetzt bin ich erleichtert und mir wird klar, dass sich Martin Luther King im Kampf für die Gerechtigkeit sicher auch so gefühlt haben muss und es war gut, dass er sich seine Rede ebenfalls nicht verkniffen hat. Okay ich gebe den leichten Hauch von Melodramatik zu.

Ich stoppe meinen Aufmarsch kurz für die gedankliche Kann-Raum-gefahrlos-betreten-werden-Checkliste. Bruchbude – Missverhältnis von 100 % männlichen Wartenden – sicher keine Schokotorten, Resümee: Gefahr im Verzug. Doch ich habe keine andere Wahl, sonst hätte meine Ansprache keinen Sinn gemacht. Du musst jetzt stark sein.

Ich hole tief Luft und trete ein, versuche aber keinen Blickkontakt mit den hier schicksalhaft zusammengeführten Anwesenden aufzubauen.

Da ist ein Display mit Siebensegmentanzeige, das mich ohne Rücksicht auf Verluste knallhart informiert, dass noch eine Differenz von 24 zwischen der blinkenden und meiner auf Zellstoff gedruckten Nummer besteht.

Nun sind wieder meine nonexistenten Geduldstugenden gefragt. Wieder steigt Wut in mir hoch, da ich sicher bin, dass Dr. Frankenstein schon wieder entlassen wurde und ich hier noch 100 Jahre im Turm verbringen muss. Naja was bleibt mir anderes übrig? Mein Prinz hat sich vorgedrängelt. Da fällt mir ein, ob sich mein Bad-Hair-Day mittlerweile in einen Worst-Hair-Day gewandelt hat? Kranker Gedankensprung – sogar für meine Verhältnisse.

Und dann ertappe ich mich doch, dass ich meinen Blick im Raum schweifen lasse – ein Gleichgültigkeits-Programm-Bug, der manchmal auftritt und der mich nun, wie kann es auch anders sein, auf einen Starrer aufmerksam macht.

Der gemeine Starrer, der üblicherweise in öffentlichen Gebäuden oder Verkehrsmitteln zu finden ist, wird als Stegreifkünstler klassifiziert, der das Aufsetzen von spontanen Stielaugen durch jahrelange Perfektion zur Kunst erhoben hat.

Man vermutet eine Verwandtschaft mit dem grauen Star. Und sein auserwähltes Opfer bin ich. Ich starre wie hypnotisiert zurück und versuche, das Wer-zuerst-wegsieht-Spielchen zu spielen. Ich schaffe das, ich bin stark, ich … aaahhhh … Scheiße, ich bin doch zu schwach und schon ergebe ich mich mit gesengtem Blick ehrfürchtig dem Gewinner dieses Psychospielchens.

Der Augenblick seines Triumphes dauert nicht lange an, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und der Starrer seinen Blick von mir löst. Das kommt davon, wenn Neugierde über schlechte Angewohnheiten siegt. Herein kommen drei Polizisten in Uniform – hm Uniformen sind echt sexy – die einen Verhafteten reinbringen.

Stopp. Ich dachte, das hier wäre der Warteraum für Opfer. Hallo, ihr seid im falschen Raum! Doch sie sind anscheinend anderer Meinung, denn sie blicken schon suchend umher.

Nein, die suchen jetzt nicht wirklich nach einem Sitzplatz. Anscheinend sind sie schon fündig geworden, denn ein Polizist deutet in meine Richtung. Ja klar, denn da ist ein freier Platz neben mir. Das ist ja meine Pufferatmosphäre, die meinen Sicherheitsabstand zu den Männchen im Raum aufrechterhalten soll.

Und schon nehmen sie Fahrt mit Kurs Südwest auf und aus dem einst sicheren Gewässer wird nun raue See.

Mir offenbart sich das ganze Ausmaß dessen, was da auf mich zukommt.

Der in Handschellen Gekettete ist ein Muskelprotz mit tätowierten Ober- und Unterarmen, die mich an den Film „From dusk till dawn“ erinnern. Er trägt ein schwarzes Unterhemd, das keine Phantasie offen lässt – da ist wirklich alles da – das ganze Paket.

Für seine bullige Statur ist er erstaunlich jung und oben drein ziemlich respekteinflößend. Sein Gesicht weist eine perfekte Symmetrie auf, die sofort die Skizze des vitruvianischen Menschen vor meinem geistigen Auge aufpoppen lässt. Jetzt beginne ich, Leonardo da Vincis Werk zu verstehen.

Er hat graue Augen und sein Haar ist millimeterkurz geschnitten, was seine, für den Haarschnitt ideale, Kopfform noch betont.

Gefühle von Angst und Ekstase münden in einer Hormonausschüttung und irgendwie ist es plötzlich so heiß hier drin. Vielleicht sinds auch die Wechseljahre – nein das wär zu früh – definitiv.

Ich frage mich, ob er überhaupt einen Speer braucht oder ob sich das Mammut bei seinem Anblick freiwillig tot stellt. Stopp … unglaublich, was so zentral konzentriertes, wohlgeformtes Eiweiß in mir auslöst, obwohl doch jeder weiß, dass so Spinatmatrosen eine Bohne in der Birne und ein Würstchen in der Hose haben.

Wenn ich so in die Runde blicke, erkenne ich in den Gesichtern den Muckibude-ich-komme-Blick und ich zweifle kurz, ob ich hier vielleicht im falschen Raum bin.

Nun wirft sein Körper schon einen großen Schatten auf mich. Wieso möchte ich am liebsten gerade loskreischen und das Weite suchen? Hilfesuchend blicke ich in die Gesichter der Polizisten mit der impliziten Bitte, mich nicht mit Vin Diesel allein zu lassen.

Wieder einmal erkenne ich schmerzlich, dass ich ignoriert werde – haben die sich etwa mit dem Arzt von vorhin abgesprochen?

Sie setzen den Knacki direkt neben mich, verlassen den Raum und überlassen mich meinem Schicksal. Da sag ich noch mal Dankeschön Exekutive.

Unsere Körper berühren sich kurz – ist ja auch kein Wunder – der ist auch breit wie ein Schrank. Ich rutsche auf meinem Stuhl bis raus zur Kante, bis die Balance des Mein-Bereich-dein-Bereich-Verhältnisses wiederhergestellt ist.

Dass meine rechte Arschbacke nun frei hängt, ist mir in dem Moment so was von scheißegal. Bloß keine Panik. Flache Atmung setzt ein und leichter Schwindel überkommt mich erneut. Atme, atme … nur noch 20 Nummern. Und wenn ich glaubte, es kann nicht schlimmer kommen, so sehe ich nun wieder direkt in die Augen meines persönlichen Starrers – ach, auch noch da.

Anscheinend hat er Phase zwei erreicht, denn nun grinst er mich mit einem Noch-drei-Zähne-sind-heil-Lächeln, das jeden Zahnarzt in die Flucht geschlagen hätte, an und formt aus den überhängenden Lappen, die nun spitz zusammengeführt werden, einen Kuss.

Brechreiz überkommt mich und ich atme stoßartig aus. Dünste ich heute Moschus aus oder steht auf meiner Stirn „Bitte mach mich blöd an oder ignorier mich einfach“ geschrieben?

Angewidert wende ich meinen Blick ab und treffe direkt ins Schwarze – eigentlich ins Graue – denn ich vergaß kurz, dass Vin Diesel ja auch noch da ist.

Hm, hat der schöne große Augen. Einwandfrei, ich habe die Wahl zwischen grauem Star oder Herkules. Ich bin nur noch unschlüssig, wer mir die Haare mehr zu Berge stehen lässt.

Für einen kurzen Augenblick und bevor ich einen sicheren, leeren Blick aus dem Fenster werfe, hatte ich das Gefühl, einen urinstinktiv verborgenen Du-gehörst-mir-Blick bei Vin zu erhaschen. Was mir gerade noch zusätzlich die Gänsehaut aufzieht und was ich sogleich als Halluzination abtue.

Meine kurze Ablenkung wurde schamlos ausgenutzt. Grauer Star hat Phase drei erreicht und pirscht sich im Schutz des Grases der Savanne an.

Er hat doch echt die Nerven, zu mir rüberzukommen und sofort setzt das In-Not-Programm ein. Nein, ich werde nicht flüchten, sondern kämpfen, das bin ich all den Opfern seiner schamlosen Glotzattacken schuldig.

Okay, ich hab trotzdem Schiss, denn er sieht siegessicher aus und schüchtert mich mit seiner ausgebeulten Jeans ein, die sicher nur ein unförmiger, großer Schlüsselbund ist – ganz sicher. Wie war das noch mal? Wenn man ganz fest daran glaubt, wird es wahr… oder?

„Hallo Puppe, ich will dir was zeigen.“ Mit diesem pulitzerpreisverdächtigen Satz, mit dem er bestimmt die Herzen jedes niederen Weibchens im Sturm erobert hätte, greift er sich zielsicher an seinen Schlüsselbund und ist gerade dabei, ans Licht zu befördern, was lieber verborgen geblieben wäre. Gleichzeitig überschreitet er die Grenze meiner Komfortzone und greift nach meinem Arm.

Ein Ruf vollgepackt mit Ekel und purem Entsetzen, der aus mir dringt, erhellt die heiligen Hallen des Warteraums. Ich schließe die Augen, um mich vor der drohenden Erblindung und dem Immunsystemsonderhochlauf zu schützen.

Das Notprogramm geht in den Fluchtmodus, doch anscheinend entpuppt sich wieder ein Bug, denn Schockstarre tritt ein.

Eine gefühlte Ewigkeit später wird mir klar, dass meine Mechanorezeptoren keine Berührung erfasst haben – die Luft scheint rein zu sein.

Ich öffne meine Augen und blicke in ein vollkommen ungläubig erstarrtes Starrer-Gesicht. Auch die Blicke der anderen Männchen im Raum sind von Angst erfüllt.

Niemand bewegt sich und für einen kurzen Moment glaube ich, ich hätte die Zeit angehalten. Im nächsten Moment würde ich für diese Gabe meinen letzten Schokomuffin geben, denn der Grund dafür, dass alle dreinschauen als hätten sie gerade eine Begegnung der dritten Art, bin natürlich ich, die wie ein Klammeraffe an Vin Diesel hängt.

Interessant, bei einem Angriff flüchtet sich das Weibchen zum stärksten Männchen – irgendwie logisch und anscheinend eine instinktive Reaktion. Wow, seine Muskeln sind echt hart und er riecht ziemlich gut (Start Urfilm). Okay, schuldig im Sinne der Anklage, die Gesamtsituation macht aus mir gerade einen Zombie.

Was mach ich hier eigentlich? Ich fasle und dabei bin ich noch nicht aus der Gefahrenzone.

Peinlich berührt löse ich meinen Griff und schrecke zurück – Tipp 3 des Eskalationstrainings kommt mir in den Sinn, doch Adonis scheint keinen Gräuel gegen mich zu hegen, denn er fixiert den grauen Star mit seinem Blick. Ha, jetzt weißt du mal, wie sich das anfühlt, du glupschäugige Amöbe.

Für die Beobachtung des sich nun abspielenden Naturschauspiels, hätte jeder Anthropologe getötet.

Beschützerinstinkt gemischt mit purem Testosteron und einem Schuss Adrenalin erhebt sich vom Stuhl in Form von reinster, geballter Muskelmasse.

Begleitet wird diese Szene von melodiösem Klimpern der Handschellen. Ein Blick genügt und es ist klar, wer hier das Alphamännchen ist. Oh, ich halte das nicht aus – das ist ja so was von animalisch.

Anstatt die Message zu verstehen, entscheidet sich der zwei Köpfe kleinere graue Star, es mit dem überlegenen Männchen aufzunehmen. Falsche Entscheidung sag ich nur. Die Handschellen werden ihn nicht aufhalten, dir eine zu verpassen.

Er hat nichts zu verlieren – er ist ja schon verhaftet worden. Gerade eben frage ich mich, was er wohl verbrochen hat.

Das niedere Männchen kommt mit kampfeslustiger Miene näher und ich kann die knisternde Spannung in der Luft sogar auf den feinen Härchen meiner Haut fühlen.

Okay es reicht – Auszeit – wir sind ja hier nicht bei den Wilden.

Ich erhebe mich von meinem Stuhl und versuche, den eintretenden Schwindel durch tiefe Atmung zu kompensieren, was mir auch gelingt. Nun stehen wir hier und starren uns an – hm back to the roots. Und da ist mein Zeichen. Mit dem erneuten Wechsel der Siebensegmentanzeige, stürme ich gen Notausgang.

Der eigentliche Besitzer der Nummer erhebt sich und ruft mir ein „Hey, das ist meine Nummer“ hinterher.

Der Blick meinerseits, der ihn nun trifft, lässt ihn erschaudern, da es mein Halts-Maul-oder-ich-belege-dich-mit-einem-Bann-Blick ist, den ich anscheinend voll gut draufhabe, denn mit den Worten: „Okay, ich kann mich auch geirrt haben“, setzt er sich wieder auf seinen Platz und schon bin ich in Miss Marples Bereich.

Mit dem Gedanken: „Nichts wie raus hier“, fliege ich auf meinem Besen davon. Es tut mir leid Fahrrad Nr. 5, normalerweise lässt man keinen Kameraden zurück, doch ich bleib sicher keine Sekunde länger mehr auf Shutter Island.

Warme Abendluft strömt mir entgegen und ich fühle mich … seltsam.

Mein Aggregatzustand schwankt im Sinusrhythmus und ich frage mich, ob sich das Auge Saurons auf mich gerichtet hat, denn sonst fällt mir keine plausible Erklärung für so viel Pech an einem Tag in Mittelerde ein. Okay, jetzt nichts wie heim.

Ich steige in die nächste Straßenbahn und bin verwundert, dass mich noch keine Aliens entführt haben. Das würde den Tag heute noch so richtig abrunden.

An meiner Endhaltestelle angekommen, passe ich ganz besonders auf, als ich die Straße überquere. Nicht, dass ich noch vom Schrumpfkopf des Busses für gestrandete Zauberer überrollt werde. Überraschenderweise ging alles gut und ich kann in der Ferne schon mein Haus sehen.

Plötzlich schrecke ich auf. Das war doch jetzt ein Hundebellen, oder? Wo kam das her?

Darf ich vorstellen: Phobie Nr. 2: Pelzige, zähnefletschende Kläffer. Aber das Schlimmste sind diejenigen Besitzer, die sich selbst nicht im Griff haben und das von ihren vierbeinigen Anhängseln abverlangen.

Null Erziehung oder Konsequenz – und damit meine ich beide, Halter und Köter. Der beste Freund des Menschen – dass ich nicht lache. Und der Standard-Spruch: „Der tut überhaupt nichts“, während er schon tollwütig am Hosenbein nagt.

Okay, das war keine Einbildung, denn der Ursprung des Bellens ist die Deutsche Dogge, die gerade um die Ecke direkt auf mich zu sprintet.

Eine andere Episode des Urfilms startet und das fette Mammut kommt in Zeitlupe auf mich zugelaufen. Wo bleibt bloß mein Neandertaler-Männchen? Der kuckt wahrscheinlich gerade im Unterhemd bei einer Dose Bier Fußball.

Notprogramm aktiviert sich und Schockstarre tritt erneut ein.

Die Bestie trägt eine Leine, doch da hängt kein Besitzer dran. Wo ist der Vollpfosten bloß? Hilfe! Schnappatmung tritt ein und mein Leben zieht an mir vorbei.

Das Tier, das so groß wie ein Dinosaurier ist, springt an mir hoch und reißt mich mit ganzer Wucht zu Boden, sodass mir die Luft wegbleibt.

Ich werde sterben. Ich lese schon die Schlagzeilen: „Passantin in der Blüte ihres Lebens von blutrünstiger Bestie angefallen.

Mit meinem letzten Atemzug schreie ich inbrünstig, als das Ungeheuer beginnt, mich von oben bis unten abzuschlecken.

Warmer Sabber tropft auf meinen Körper und ich bin gerade dabei, ohnmächtig zu werden. Das Vieh wird im nächsten Augenblick von mir gezerrt und ich kann wieder frei atmen.

„Ist alles okay? Das tut mir so leid, er hat sich losgerissen“, höre ich von einer Stimme, die über mich gebeugt ist, deren Urheber ich allerdings nicht erkennen kann, weil ich eklige Hundespucke im Auge habe.

Herzrhythmusstörungen und eine erhöhte Atemfrequenz sind Nachwirkungen dieser Attacke. Ich stoße ein gequältes „Aua“ aus, nachdem mein Nervensystem akuten Schmerz registriert und die Belastungsreaktion nachlässt.

Die Bilder erlangen langsam Klarheit und ich erkenne ein kohlrabenschwarzhaariges Männchen, das mich mit großen, braunen Augen und diesem Bitte-verklag-mich-nicht-Blick ansieht.

Die Frage: „Soll ich einen Arzt rufen?“, reißt mich unsanft aus meinem gegenwärtigen Delirium. Was? Nicht einmal, wenn mir der Höllenhund einen Arm abgebissen hätte, würde ich so einen Quacksalber an mich ranlassen.

Du solltest lieber meinen Therapeuten anrufen.

Ich versuche mich aufzusetzen und vernehme ein abartiges Dröhnen in meinem Kopf. Das Gefühl löst einen Flashback in meine Jugend aus und ich durchlebe soeben die schicksalhaft prägende Situation wieder, in der mir ein fettes Moorhuhn an den Kopf kracht.

Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden das blindere Huhn war, aber Frank Ziemlinski hüllt sich bis heute ins Schweigen, woher er die Idee für sein Spiel hatte.

Das Denkarium gibt mich wieder in meine Realität frei und ich sehe zwei Vertreter der oberen Extremitäten in mein Gesicht ragen.

„Okay, wie viele Finger halte ich hoch?“ Das macht er jetzt nicht wirklich, oder? Bin ich denn von lauter evolutionsresistenten Warmduschern umgeben?

Die Antwort „Vier“, die nun aus meinem Munde kommt, war aufgelegt.

Mit dem letztem bisschen Selbstachtung, das ich zusammenkratzen kann, versuche ich mich hoch zu wuchten, als die Hand des Hades meinen Ellbogen ergreift.

Blitzartig löst er den Griff wieder, nachdem ich ihm mit eisiger Miene meinen Wage-es-nicht-mich-anzurühren-Blick zuwerfe. Hm gut, die Entwicklungsphase des mimischen Interpretationsvermögens ist bei ihm bereits abgeschlossen.

Für eine Zehntelsekunde schaffe ich es, mich semiautomatisch aufrechtzuhalten, als mein Körper dem Druck in meinem Kopf und dem nun vollkommen defekten Knöchel nachgibt. Da geht es hin, mein Stehvermögen und ich lande wieder einmal in den Armen eines Fremden, der mich gekonnt hochhebt, als wäre ich leicht wie eine Feder – was ich ja auch bin – zumindest rein metaphorisch.

Schwebend bewege ich mich fort und ich frage mich, wie lange der Spargeltarzan mich noch auf Händen trägt, bevor er zusammenklappt.

Okay, ich gebs zu, vielleicht aktiviert sich gerade eine Episode des Urfilms, in der ich über die Schwelle des Höhleneingangs getragen werde.

Sanft werde ich auf den Stufen eines Hauseinganges abgesetzt und ein: „Geht’s wieder?“, reißt mich aus meinen Flitterwochen. Treffender wäre ein: Geht’s noch, du Halter des personifizierten Bösen.

„Eigentlich ‚ging‘ es sehr gut, bis mich Godzilla angefallen hat“, schnaube ich wütend.

„Sein Name ist Minimus. Er gehört einem Freund und scheint Sie zu mögen“, lässt in mir das latente Bedürfnis wachsen, gewalttätig zu werden.

Bitte was – Minimus – das ist eher ein Maximus. Ein ziemlich hässlicher Maximus. Ich wische mir provisorisch den Sabber von der Backe, als mir Tarzan ein Taschentuch vor die Nase hält.

Erst jetzt merke ich, dass seine Augen von einem seltsam tiefgründigen Blick erfüllt sind, der zu einem charaktervollen Gesicht gehört. Mir fällt auf, dass er einen altmodischen, dunkelbraunen Anzug trägt aus dessen Weste eine silberne Taschenuhr blitzt.

Er sieht aus, als wäre er aus dem 19. Jahrhundert und eben erst aus der Zeitmaschine gestiegen und ich frage mich gerade, wo man so ein Ding unauffällig parken könnte.

Spätestens jetzt läuten bei mir die Alarmglocken. Wieder so ein Spinner, der zu oft Sherlock Holmes gesehen hat. Genauso schlimm wie diese Trekkies, die sich in Polyester-Anzüge schmeißen und mit rasierten Augenbrauen „Widerstand ist zwecklos“ brüllen.

Angewidert greife ich nach dem mir angebotenen Zellstoff, als Dr. Watson mit einer gekonnt blitzschnellen Handbewegung das Tuch in eine Rose verwandelt. Okay, so viel zum Thema Spinner.

Ich starre Harry Houdini überrascht an und greife nach dem Stückchen Vegetation, das sich doch tatsächlich als echte Rose herausstellt.

Kein krebserregendes, aus China importiertes Polymer. Bin zugegebenermaßen infinitesimal angetan und frage mich, ob die Anmach-Masche schon jemals zum Erfolg geführt hat. Nun, wenn der glaubt, er könne mich mit so einem Flohzirkus-Hokuspokus beeindrucken, ist er hier an der falschen Adresse.

Mit der Frage: „War das schon alles?“, versuche ich ihn aus der Fassung zu bringen, doch er ist diese Frage anscheinend schon gewohnt und antwortet lässig: „Was soll ich Ihnen denn herzaubern?“ Hm, da gäbe es einiges: Glück in der Liebe, ein stets gefülltes Sparschwein, nie mehr Zahnweh, zurückhaltende zukünftige Schwiegereltern, größere Brüste und ein McChicken Menü zum Mitnehmen.

„Mein fehlender Schuh wäre ein Anfang.“ Auf diesen Satz war er jetzt wohl doch nicht gefasst. Na, kommt da noch ein lässiger Spruch? Wohl eher nicht. Stattdessen starren wir synchron auf Fluffi, der an einer Litfaßsäule hängt und fröhlich an meinem 10 Pfund Treter nagt.

„Nun, wenn die Vorstellung schon beendet ist, erlaube ich mir, mich jetzt zu entfernen“, entgegne ich sarkastisch und stehe langsam auf. Ich muss mich an der Hausmauer festhalten, um mich in der Senkrechten zu halten und humple einschuhig davon.

Ein „Warten Sie“ lässt mich die Augen rollen. Mann, check es endlich oder soll ich dir ne Skizze machen?

„Das mit Ihrem Schuh tut mir wirklich leid“, spricht er mit aufgesetztem Hundeblick. Ich werds überleben.

„Ich werde ihn Ihnen natürlich ersetzen“, erklärt er weiters.

„Das, was Sie wirklich ersetzen sollten, ist der Taschentuchtrick, nämlich durch den Verschwinde-Trick.“

Mit diesen Worten lasse ich ihn sprichwörtlich im Regen stehen und ich frage mich, warum immer die netten Männchen ihre akuten Obsessionen frei ausleben.

Nichts wie weg hier, bevor er mir noch das Blut aussaugt.

Erleichtert rette ich mich in die Gestade meines Hauses und drücke den Aufzugknopf. Das „Out of order“-Schild, das unübersehbar an den Lifttüren prangt, und mir sogleich ins Auge sticht, absorbiert mein letztes bisschen Hoffnung daran, dass es ab jetzt nur bergauf gehen kann – ja und zwar in den vierten Stock. Zu Fuß.

Stöhnend schleppe ich mich empor, als mir die Knusperhexe, eine Nachbarin, die immer den Postboten mit Lebkuchen in ihre Wohnung locken will, entgegenkommt. Vielleicht mag er einfach keinen Lebkuchen – schon mal daran gedacht?

Sie sieht mich mit einem Blick des Entsetzens an. Schulterzuckend erkläre ich „Ähm … Sommerschlussverkauf?“

Mit einem Ausdruck des absoluten Verständnisses nickt sie und zieht weiter. An meiner Wohnung angekommen, stecke ich den Schlüssel ins Schloss und trete aufatmend ein – geschafft.

„Wo zum Teufel warst du so lange? Ich wollte schon einen Suchtrupp nach dir losschicken – beginnend bei allen Schokomuffin-Manufakturen.“ Bin ich so leicht zu durchschauen? Louis, mein Mitbewohner, steht vor mir.

„Was zum … ist alles okay mit dir?“, fragt er fürsorglich.

„Ja, alles noch dran, obwohl …“, entgegne ich nachdenklich.

„Wo ist Fahrrad Nr. 5?“, stellt er fest. Ich starre traurig ins Leere und er versteht sofort.

„Gehe hin in Frieden“, bekundet er andächtig.

Mit den Worten: „Was war denn los?“, kommt er näher und nimmt mir meine Tasche ab. Wie soll ich das nur in Worte fassen?

„Charlize Jones, träumst du schon wieder mit offenen Augen?“, ermahnt er mich, als ich nicht gleich antworte und macht mich wütend, weil er mich mit meinem vollen Namen anspricht. Ich hasse ihn. Alle nennen mich einfach nur Charlie.

„Ich überlege noch … es war irgendwie surreal – wie ein einsamer Impuls des blanken Wahnsinns“ – bitte verzeih mir William Butler Yeats für diese etwas eigenwillige Interpretation.

„Wieso? Hatten die im Supermarkt kein Schoko-Marzipan mehr und du hast dich mit einer anderen Abhängigen um das letzte Stück gekloppt?“ Ja genau, streu noch Salz in die Wunde – mhm Marzipan.

Genervt humple ich in Richtung meines Zimmers. Er schiebt sich vor mir in den Raum und versperrt mir den Weg.

„Stehengeblieben. Ich lasse dich nicht gehen, bis du mir gesagt hast, dass mit dir alles in Ordnung ist“, stellt er selbstsicher fest und stemmt die Hände in die Hüften.

„Mit mir ist alles in Ordnung“, erwidere ich lahm. Ich trete einen Schritt zur Seite, um die Barriere zu überwinden, doch er hält mich fest.

Bei dem Versuch mich zu befreien, tritt eine Auswirkung des fehlenden Y-Chromosoms zu Tage. Darf ich vorstellen: Fehlende Muskelkraft. Ich frage mich, ob die in der Muckibude nach heute noch freie Plätze haben.

Louis ist natürlich top durchtrainiert, in Designeroutfits gekleidet, perfekt rasiert, blond und stockschwul – der ideale Kumpel.

Er will dir nicht an die Wäsche und hat Zugang zur sonst verborgenen Matrix der männlichen Psyche – wie praktisch.

Mit meinen Worten: „Loslassen, oder ich gebe dem Bubble Tea Verkäufer deine Telefonnummer, nach dem du bei Becherübergabe immer die Hand ausstreckst, als wäre er Michelangelos Adam in der Sixtinischen Kapelle“, lässt er blitzschnell von mir ab und ich strauchle in meine Höhle. Man muss einfach den wunden Punkt seines Gegners kennen.

„Das wagst du nicht, denn sonst pinne ich die Wahrheit über den zweitägigen Stromausfall unten ans schwarze Brett“, droht er.

„Touché“, bemerke ich anerkennend. Ja okay, ich gestehe alles, es war ein Gefecht zwischen Nicola Tesla und Thomas Alva Edison – nur, dass statt einem Florett eine Glühbirne den Kampf entschied.

„Hey, was riecht hier so nach nassem Hund?“, ist mein Stichwort, um schnurstracks in die Dusche zu hechten.

Das heiße Wasser prasselt auf meinen Körper und ich beginne, mich endlich zu entspannen.

Ich steige aus der Dusche, schnappe mir mein Handtuch und als ich es mir gerade umgeschwungen habe, sehe ich eine Vertreterin der gemeinen Spinnentiere auf dem Badspiegel hängen.

Darf ich vorstellen: Phobie Nr. 3 ist gerade dabei, die ersten Anzeichen von Panik einzuleiten. Blanke Angst steigt in mir hoch und resultiert in einem lauten Schrei, der locker jeden Golden Globe in der Kategorie Horrorfilmakustik gewonnen hätte.

Die Tür wird aufgerissen und Louis starrt mich alarmiert an. Da ich keinen Pieps herausbringe, zeige ich in die Richtung der Kreatur.

Beim Anblick der Bestie stößt er denselben Schrei in derselben Tonlage aus wie ich und klammert sich verängstigt an mich. Nun startet ein Duett – Barbra Streisand und Cèline Dion live in concert in Appartement Nr. 13.

Barbra fängt sich als Erste, hebt mich über ihre Schulter und befördert mich aus der Kammer des Schreckens. Im rettenden Schützengraben greife ich nach meinem BlackBerry und wähle den Notruf.

„Hallo Joe, hier ist Charlie von der 13, Codewort Bisamratte.“ Joe ist unser Hausmeister und bester Mann des Spinnentiervernichtungs-Spezialkommandos.

Völlig außer Atem lasse ich mich mit dem Kopf auf den Bauch von Louis fallen, der auf dem Boden an der Couch lehnt. Gerade wird mir klar, dass wir eine Selbsthilfegruppe gründen sollten – die anonymen Arachnophoben.

Wir haben Glück, dass sich unsere Toilette in einem extra Raum befindet, denn Joe wird vorm Morgengrauen nicht eintreffen.

„Wie sehen denn deine Knie aus?“, fragt mich Barbra.

Ich wuchte mich hoch und falle im selben Augenblick stöhnend zu Boden.

„Aahh … mein Knöchel“, winsle ich mit schmerzverzerrter Miene.

„Warte, ich verarzte dich. Ich hab schließlich nicht umsonst alle Emergency Room Staffeln gesehen“, stellt Louis angeberisch fest. Ich rolle mit den Augen, weil er immer so tut, als hätte er ein Examen, nur weil er ein notorischer Ärzteserienfanatiker ist.

„Das mit dem Augenrollen habe ich genau gesehen“, ermahnt er mich. „Ich kann alles behandeln. Nenne mir den Notfall und ich sage dir die passende medizinische Versorgung.“

„Ähm … Brustvergrößerung“, knalle ich ihm als Stichwort hin.

„Das ist kein Notfall.“

„Doch, bei mir schon.“

„Charlize, wann wirst du endlich aufhören, dich auf deine Brüste zu reduzieren?“

„Wenn Männer aufhören es zu tun.“

„Komm, lass mal sehen. Der ist aber stark angeschwollen. Ich schätze, das sollte sich ein Arzt ansehen.“ Aha, was ist aus dem „Ich kann alles heilen“ geworden?

„Quatsch – ein bisschen Eis drauf und das wars“, beschwichtige ich.

„Also, ich erinnere mich an Staffel 2. Da hatte jemand das Gleiche. Dann haben sie ihm einen riesigen Eiterbatzen rausgeschnitten und er hatte voll die Blutvergiftung.“ Okay, jetzt hab ich Angst. Ob das auf einer wahren Begebenheit beruht?

„Du solltest nicht so viel fernsehen, das weicht dir das Gehirn auf“, rate ich ihm.

„Komm zieh dich an, ich bring dich ins Krankenhaus.“

Phobie Nr. 1 kündigt sich bereits wieder an und Abwehrhaltung tritt ein.

„Ich denk ja gar nicht daran“, motze ich.

„Oh doch, ich muss dich vor dir selbst schützen. Du hast die Wahl, entweder auf die leichte oder die harte Tour.“ Wow, er meint es ernst, aber ich lasse mich nicht einschüchtern.

„Dazu musst du mich erst mal aus dieser Wohnung bekommen“, stelle ich fest.

„Okay, dann auf die harte Tour.“ Ehe ich reagieren kann, hebt er mich wieder über seine Schulter und geht in Richtung Wohnungstüre. Er kann doch nicht … nein … ich hab doch nur ein Handtuch an.

„Aaaaahhhh … Stopp“, schreie ich, was ihn innehalten lässt.

„Lass mich sofort runter!“, verlange ich.

„Zieh dir was an oder ich laufe so mit dir rüber zum Krankenhaus. Widerstand ist zwecklos.“

„Schon gut, ich ergebe mich.“ Verdammter Trekkie.

Mit den Worten: „Na siehst du, geht doch“, trägt er mich in mein Zimmer und ich werfe mich in meine Klamotten.

Mir fällt auf, dass dieser, durch den Ausfall eines wichtigen Gelenkes, statisch unbestimmte Zustand sich ziemlich einschränkend auf meine automatisierten Bewegungsabläufe auswirkt und jedes Mal wenn ich versuche aufzutreten, zieht Schmerz durch meinen Körper.

Als ich fertig bin, hebt mich Louis in seine Arme, befördert mich aus der Wohnung und schon befinden wir uns auf den Weg ins Lazarett, das nur wenige Querstraßen von unserer Wohnung entfernt liegt.

Eigentlich genieße ich diesen kurzen Moment auf Händen getragen zu werden, wäre da nicht unser gruseliges Ziel. Ein Ort, an dem Leichen im Keller verwesen und Mumien durch die Gänge spuken.

Bei dem Gedanken schmiege ich mich fester an Louis und er meint: „Keine Angst, ich bleib die ganze Zeit da und halte Händchen.“ Das ist nun die Spitze der Eiskugel und krönender Abschluss für diesen verfluchten Tag.

Auf dem markierten Parkplatz direkt vor dem Geisterhaus steht ein Fuhrpark bestückt mit überteuerten Ärzte-Karossen Spalier. Elende Spießer.

Mir fällt ein Auto auf, das mit rotem Graffitilack beschmiert ist. Darauf sind deutlich die Zeichen: „Die Antwort lautet: Der Mensch, du Arschloch!“ zu erkennen. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich der Anblick nicht amüsiert.

Das Tor zur Unterwelt geht auf und es lässt sich hektisches Treiben ausmachen. Mein Puls ist auf 200 und ich kralle mich in die Schulter meines Packesels.

Schwebend entdecke ich den vollgestopften Warteraum, in dem das Grauen lauert. Vom kopflosen Reiter bis zum Zombie, dem ein Auge raushängt, ist alles dabei, was das moderne Gruselkabinett so hergibt.

Ich spüre bereits Anzeichen einer nahenden Ohnmacht, als Louis wie ein Wilder „Hilfe, ein Notfall, sie ist bewusstlos“ brüllt und ich ihn fragend anglotze.

„Was starrst du mich so an, mach die Augen zu. So kommen wir früher dran. Hast du das Wartezimmer gesehen?“, flüstert er fordernd. Ich habe den akuten Drang, ihn mit meinen Armen, die um seinen Hals geschwungen sind, zu strangulieren.

„Warten Sie, ich nehme sie“, höre ich eine besorgte, männliche Stimme sagen und schon werde ich in fremde Hände übergeben.

Ich zwinge mich, diese Maskerade aufrecht zu erhalten und kneife die Augen zusammen, als ich auf einen weichen Untergrund gelegt werde.

Mein Puls wird gefühlt. Daraufhin höre ich die männliche Stimme „Ich bin gleich zurück“ sagen. Mann, wo hat Louis mich da bloß reingeritten.

Als ich „Die Luft ist rein“ vernehme, reiße ich die Augen auf.

Mit einem „Ich hätte so richtig Lust, dich jetzt bewusstlos zu schlagen“ mache ich meinem Ärger Luft, doch Louis scheint keines meiner Worte mitgekriegt zu haben.

Bei ihm läuft gerade der Urfilm ab und als ich in die Richtung seines Schlafzimmerblickes schaue, weiß ich auch warum. Da läuft gerade der Bubble Tea Verkäufer in weißem Mantel den Gang hinunter und wirft Louis einen Ausdruck der Wiedererkennung zu.

Als Louis zu sabbern beginnt, boxe ich ihm an die Schulter. Mit einem „Los, geh schon“ hole ich ihn aus der Szene, wo er gerade in der Höhle steht und auf den Horizont blickt. Vollkommen verdattert sieht er mich an.

„Nein, das geht nicht. Ich lass dich hier nicht allein zurück. Zum Schluss sedieren sie dich und amputieren dir fälschlicherweise einen Zeh.“ Kreidebleich schlucke ich bei dem abartigen Gedanken, reiße mich aber im nächsten Moment wieder zusammen.

„Louis Hardy, ich sagte, du sollst abhauen. Los, schnapp ihn dir.“ Er zögert kurz, erhebt sich nach kurzer Überlegung doch mit dankendem Gesichtsausdruck.

Als er weg ist, fällt mir ein, dass ich ja noch in einer Rolle der heutigen Episode von Scary Movie stecke und falle erneut in eine gespielte Ohnmacht.

Sanft werde ich nach einigen Minuten hochgehoben und stelle fest, erneut in den Fangarmen eines Kittelträgers gefangen zu sein.

Als ich wieder auf eine Bahre gelegt werde, habe ich keine Lust mehr auf diese Soap-Opera und öffne langsam die Augen.

Geschockt fahre ich hoch. Das ist jetzt nicht wahr. Mein Gegenüber entpuppt sich gerade als der rothaarige Dr. Frankenstein. Er ist mindestens so überrascht wie ich.

Ein „Sind wir uns schon einmal begegnet?“ weckt in mir den Wunsch, im Boden zu versinken. Mir bleibt heute echt nichts erspart. Ja, es war ja so klar, dass unsere Begegnung im Polizeirevier schon den Weg in dein Vergessenszentrum eingeschlagen hat.

„Wenn, dann nur flüchtig“, entgegne ich gelangweilt. Wie wahr und WAS für eine Flucht das nach meinem Statement war.

„Was ist mit Ihnen passiert?“ Und schon wechselt er gekonnt das Thema, damit ich nicht merke, dass er eigentlich genau weiß, wo wir uns begegnet sind.

„Ich bin mit einer niederen Lebensform zusammengestoßen“, antworte ich. Hey, das ist nicht mal gelogen.

„Wir sind uns auf dem Polizeirevier begegnet, nicht wahr?“, mutmaßt er. Ach tatsächlich? Komischerweise sieht er mich an, als würde er sich Vorwürfe machen.

„Ja, kann sein“, stelle ich lässig fest.

„Ihr Knöchel ist geschwollen“, diagnostiziert er. Mann scheiße, er ist echt gut. Obwohl, das Krankheitsbild grenzt sich ein, wenn man schon tragend eingeliefert wird.

Mit den Worten: „Das seh ich mir mal genauer an“, greift er nach meinem Bein, was mich erschrocken zurückzucken lässt.

Schnappatmung setzt ein und „Ärztephobie“ rutscht mir heraus. Oh nein, wie peinlich, hab ich das laut gesagt? Sicher denkt er jetzt, ich wär so ein labiles Angsthäschen.

Er überlegt kurz und bringt dann ein „Ooookkkayyy, also ich taste den Knöchel nur ab – keine Angst“ hervor. Ich nicke. Eine Schweißperle macht sich auf den Weg Richtung Süden.

„Tut das weh?“, fragt er, als er auf die geschwollene Vielleicht-Eiterbeule drückt.

Ja. „Nein“, lüge ich, um einer Vielleicht-Spritze zu entgehen.

„Und hier?“

Ja. „Nein.“

Ich atme schnell, da lässt er von mir ab.

„Ich war wohl heute etwas unhöflich“, gibt er zu. „Ich habe mich vorgedrängelt. Es ist nur so, mein Wagen wird in letzter Zeit immer wieder Opfer von Vandalismus. Sicher irgend so ein Skinhead.“ Ach, nun habe ich den passenden Penis zum Fortsatz gefunden vom Parkplatz gefunden.

„Nein, machen Sie sich bitte keinen Kopf, ich hatte viel Spaß im Warteraum – zusammen mit Jack the Ripper und dem Ku-Klux-Klan“, stoße ich sarkastisch aus.

Er lächelt zaghaft und greift nach einem Fläschchen in einer Schublade.

Angst schießt in mir hoch. Ein verängstigtes „Was ist das?“ ist meine vollkommen übertriebene Reaktion auf die vorherrschende Ungewissheit über das unbekannte Liquid in dem Behälter.

„Jod, für Ihre aufgeschürften Knie“, informiert er mich. Ach so. Ich grad bin froh über den Rock und dass ich auf eine Strumpfhose verzichtet habe.

Er träufelt etwas davon auf einen Wattebausch und reinigt damit meine Wunden. Das brennt ziemlich, aber ich beiße die Zähne zusammen.

Dann holt er einen Verband aus der gleichen Schublade und wickelt ihn um meinen Knöchel. Zugegebenermaßen sieht das sehr professionell aus.

Er blickt zu mir hoch, da erkenne ich, dass er eigentlich ziemlich gut aussieht – für einen Arzt versteht sich.

Außerdem sieht man durch seine weiße Hose die Calvin Klein Boxershorts durchblitzen, was mich zu dem Schluss führt, vorschnell über meine Abneigung gegen weiße Hosen geurteilt zu haben.

Hey, schmachte ich ihn gerade an? Geht’s noch Charlie? Das ist sicher nur der Krankenhauskeim, der mich bereits in den Wahnsinn treibt.

Dann wird er plötzlich ernst und meint: „Wegen Ihrem Knöchel wollte ich Ihnen noch sagen, dass ich da noch etwas gefunden habe.“ Oh nein, Panik. Es ist die Eiterbeule, ganz bestimmt. „Es ist aber operabel“, ergänzt er.

Aaaaaaaaaahhhhhhhhh Exa-Panik tritt ein. Was ist es? Ein Tumor, ein Furunkel oder schlimmer, irgendein Parasit, der sich eingenistet hat.

Ich halt das nicht aus. Gerade, als Schwindel einsetzt, holt er hinter meinem Fuß ein rotes, rundes Schaumstoff-Ding hervor und setzt es sich mit den Worten: „Es ist eine Clownsnase“, lächelnd auf die Erhebung in seinem Gesicht.

Als er den Ausdruck von blankem Entsetzen in meinem Gesicht entschlüsselt hat, verschwindet das Grinsen blitzschnell aus seiner Visage.

Mein Weltbild über Ärzte ist in diesem Moment wiederhergestellt. Was denkt er sich eigentlich? Dass ich über diese Clownsnummer lache, während er eine Sekunde zuvor das Schock auslösende Wort „Operation“ benutzt.

„Das war ein Scherz“, beschwichtigt er unsicher.

Ich atme tief durch und erwidere emotionslos: „Ist nicht angekommen.“

Ich muss hier raus. Verärgert nehme ich Reißaus und humple zur Tür.

„Warten Sie. Das ist nur eine leichte Zerrung, ich wollte nicht …“

Ruckartig hebe ich meine Hand und erbiete mir somit das sofortige Stillschweigen des Männchens.

„Punkt eins: Wie können Sie es wagen, mir so eine Angst einzujagen. Haben Sie vollkommen den Verstand verloren?

Punkt zwei: Der ‚Skinhead‘ hat einen Hang zur griechischen Mythologie. Der Mensch, lautet die Antwort auf das Rätsel, das die Sphinx jedem Reisenden gestellt hat, bevor sie ihn getötet hat, wenn er falsch antwortete.

Die Frage dazu lautete: Was hat am Morgen vier Beine, zu Mittag zwei und am Abend drei? Und Punkt drei: ICH HASSE CLOWNS.“ Arschloch.

Schon bin ich raus aus dieser Folterkammer und Louis springt mir mit liebestrunkenem Blick entgegen.

„Und? Amputation oder Gnadenschuss. Gibt es noch Hoffnung? Wie wars?“, spottet er.

„Ich habe den Glauben in unser Gesundheitssystem verloren. Bitte bring mich schnell hier raus“, verlange ich.

„Euer Wunsch ist mir Befehl, Kleopatra.“ Ich sehe ihn an, als wäre ich gerade in meiner ganz persönlichen Hölle gelandet.

„Was ist Charlie?“

Mrs. Jones and me

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