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IV. Kapitel

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Das Frühstück war weniger animiert verlaufen, als Alice gehofft.

Borndorf war spät gekommen, war ermüdet und schweigsam.

Kaum, dass er eine Tasse Tee getrunken, äußerte er schon die Absicht fortzugehen, »um ein Dampfbad zu nehmen.«

»Bei der Hitze!« rief Alice erstaunt.

»Na ja, — um leichter zu werden; ein Pfund schwitze ich mir bestimmt ab.«

Thea zog die Augenbrauen hoch; ihr sagte dieser Gesprächsstoff entschieden nicht zu.

Alice aber ließ sich — naiv und temperamentvoll wie immer — in eine längere Debatte über Schwitzbäder ein. »Es soll ja sehr gesund sein und auch gut für Abmagern, aber Sie sind doch sowieso schon so schlank,« — ihr Blick streifte dabei zärtlich sein knabenhaftes Figürchen.

»Na, man kann nie dünn genug sein, gnädiges Fräulein. Jedes halbe Kilo, was man verliert, ist Gold wert. Ich nehme mich ja mit dem Essen schon so in Acht und mit dem Trinken auch, aber das genügt alles nicht. Schwitzen muss man doch; das bleibt schon das Beste.«

Mit dieser hygienischen Schlussbemerkung war er gegangen.

»Er nimmt’s wirklich ernst mit seinem Rennreiterberuf,« meinte Dahlweg, ihm nachblickend.

»Ja, er übertreibt es sogar,« entgegnete Balz, »ich bin doch wirklich kein Diensthuber, aber was zu viel ist, ist zu viel; dabei muss der Dienst leiden. Sehen Sie, Borndorf sprach ja selbst erst davon: Heute Nachmittag reitet er drei Rennen, Dienstag reitet er in Hamm, Donnerstag in Magdeburg, nächste Woche in Harzburg und in Karlshorst. Er ist doch wahrhaftig mehr auf den Rennplätzen als im Regiment. Na, so lange Prinz Hohenast Kommandeur ist, kann er es sich leisten; wenn nächstens ein anderer das Regiment bekommt, dann wird es wohl Schwierigkeiten geben.«

»Auch das noch,« klagte Alice, »Borndorf hat es so schon schwer; immer zu nachtschlafender Zeit aufstehen, und die vielen Pferde reiten und alle die Reisen kreuz und quer durch Deutschland, — nein, wirklich, das muss ihm ja schaden.«

»Er überanstrengt sich wohl wirklich,« mischte sich Thea ins Gespräch.

»Und die ewige Lebensgefahr,« fuhr Alice fort, deren Redestrom, wenn sie einmal begonnen, nicht so leicht zu unterbrechen war, »er riskiert doch jedes Mal, sich alle Glieder zu brechen. Was hat er denn schließlich von der ganzen Geschichte? Höchstens, dass er noch so eine furchtbare Glasbowle bekommt wie neulich beim Totalisator-Jagdrennen oder vielleicht wieder eine bronzene Kamingarnitur; sechs hat er schon, und einen Kamin hat er nicht!«

»Aber ich bitte dich,« rief Thea entrüstet, »was redest du da! Man reitet doch nicht um die Preise, sondern um die Ehre! Ich kann mir überhaupt nichts Schöneres denken, als so über den grünen Rasen zu galoppieren, im heißen Wettstreit mit den Kameraden, jeder Nerv gespannt bis zum Zerreißen in fieberhaftem Verlangen nach Sieg. Wenn ich ein Mann wäre, ich wüsste mir keinen schöneren Beruf.«

»Aber die vielen Unbequemlichkeiten,« warf Alice ein. Und Graf Balz stimmte ihr wie gewöhnlich zu, indem er, zu Thea gewendet, sagte: »Ja! Komtess, die Unbequemlichkeiten — dass man in der Gefahr einen Reiz erblickt, ist ja möglich, aber die Unbequemlichkeiten, diese täglichen kleinen Entbehrungen —.«

»Aber in denen steckt ja gerade der sittliche Wert,« unterbrach Thea, »natürlich ist es leichter, sich einmal für ein paar Augenblicke in kühnem Entschluss zusammenzuraffen, als mit eiserner Konsequenz sich lange Zeit hindurch straff im Zügel zu halten, — alle die vielen Kleinigkeiten, nicht alles zu essen, was einem schmeckt; sich im Trinken beständig Maß aufzulegen, zu Bett zu gehen, wenn man noch lieber aufbleiben möchte und aufstehen, wenn man noch gern weiterschlafen will, — dazu gehört Charakter!«

»Nun hör’ mal einer mein Töchterchen an,« lächelte Graf Dahlweg.

»Moralphilosophie der Rennbahn,« murmelte Balz.

»Ach, Philosophie ist immer langweilig,« rief Alice. »Und die Rennen sind meistens auch nicht sehr amüsant! Ich wollte es wäre Abend!« —

Und endlich war der Abend da. Es war nicht gerade eine sehr illustre Gesellschaft, die sich in dem kleinen Saale des Kurhauses zusammengefunden hatte.

Eine Menge der Spießbürgerfamilien, welche für die Sommerferien in diesem kleinen thüringischen Badeort weilten, saßen, festlich aufgeputzt an den Wänden des Saales und schauten mit unverhohlener Neugierde und heimlicher Bewunderung auf die paar Dutzend ›Rennleute‹, die sich im gleichen Raume befanden. Die Leute vom Turf glichen einer Phalanx, und die Mauer, die sie umgab, war — wenn auch unsichtbar — doch unübersteiglich. Die Spitze der Formation bildete der immer noch schöne Oberst von Herzogheim. Er gab seine Feldherrnstellung, die ihm viele bewundernde Blicke von Seiten des schönen Geschlechts eintrug, sehr plötzlich auf, um sich mit einer der jüngsten jungen Damen im Walzer zu wiegen, und mit der leichten Blasiertheit, die Kennzeichen der modernen Jugend ist, folgten die Kronprinz-Husaren dem Beispiel ihres Kommandeurs.

O, sie waren nicht so enthusiastisch, wie der ›immer noch schöne‹, der ›ewigjunge‹, welcher den Damen aller Altersklassen Komplimente zu sagen pflegte, die er selbst als ›faustdick‹ bezeichnete. Trotzdem — oder vielmehr gerade deswegen — schwärmte eine Unzahl weiblicher Wesen für den Oberst, der — quel comble! — Junggeselle und reich war. Auf diese letztere Tatsache pflegten die Leutnants, in uneingestandener Eifersucht, sämtliche Erfolge ihres schönen Kommandeurs zu setzen.

Natürlich hatte diese Ansicht nur teilweise Berechtigung. Die unleugbar vorhandenen persönlichen Vorzüge Herzogheims verfehlten nie ihre Wirkung, und wer ihn jetzt mit eleganter Geschmeidigkeit und sichtbarem Enthusiasmus mit Alice von Nordstetten durch den Saal fliegen sah, fand seinen Ruf als Damengünstling durchaus berechtigt.

Jedenfalls zeigten seine Leutnants weniger heiliges Feuer als er; au fond fanden sie, das Tanzen sei bei der Hitze nur eine mäßig angenehme Beschäftigung. Gewiss, es waren ja ein paar nette, junge Damen da, aber mit denen plaudert es sich bei Picknicks und Gartenfesten doch besser, als beim Tanzen. Na, aber wenn der Kommandeur tanzte —! »Nur Mut!« ermunterte Karlchen, der jüngste Leutnant des Regiments; mit einem schweren Seufzer richtete er seine frühzeitig üppige Gestalt (zweiundachtzig Kilo ohne Sattel) in die Höhe und begab sich in das Gewühl der Tanzenden. Die Regimentskameraden folgten. Das halbe Dutzend Herrenreiter aber, welches sich in einer Saalecke befand, zeigte sich nicht so leicht geneigt, seine kostbaren Kräfte beim Tanzen zu vergeuden. An ein und dieselbe Säule gelehnt, standen Hans und Heinrich Berch, das ›Zwillingsgestirn‹ der Rennbahn.

»Die wären ein glänzender Lustspielstoff,« hatte mal ein hoher Herr von ihnen behauptet, »denken Sie doch, die Verwechslungen!«

Und in der Tat, ein Tag, an dem die beiden nicht verwechselt worden wären, war in ihrem vierundzwanzigjährigen Leben noch nicht dagewesen.

In ihrer Kindheit hatte jeder von ihnen, wenn er für eine Dummheit bestraft werden sollte, natürlich behauptet, ›der andere‹ sei der Missetäter gewesen, und dieser schönen Gewohnheit waren sie treu geblieben.

Den Rennbahnbesuchern machte das ›Zwillingsgestirn‹ viel zu schaffen. Denn, wenn einer der kleinen, blonden Dragoner durchs Ziel ging, und die Leute, welche ihr Geld und ihr Vertrauen auf ihn gesetzt, in Triumphgeschrei ausbrachen, — dann war es sicher ›der andere‹ gewesen.

»Von denen möchte ich wirklich keinen heiraten,« hatte mal eine naive junge Dame gesagt, »ich würde ja nie wissen, welcher es ist — —!«

Übrigens waren sie beide nette Jungen, beliebte Kameraden und gute Reiter. Auf diese letztere Eigenschaft waren sie sehr eingebildet, und wenn sie — wie heute — in keinem Rennen Erfolg gehabt, so suchten sie das durch verdoppelt arrogante Haltung wettzumachen. Mit äußerst sieghafter Miene lehnten sie an ihrer Säule und schienen nicht auf die Komplimente zu achten, welche soeben von zwei anderen Herrenreitern an den roten Champion gerichtet wurden. Den schien das übrigens weiter nicht zu rühren. Gelangweilt und mit abweisender Miene hörte er den beiden Feldartilleristen zu, welche sich erst seit kurzer Zeit der Rennkarriere widmeten und noch kein Rennen großen Stils gelandet hatten.

Sie fanden nicht genug Worte, um Hof immer wieder zu versichern, dass die Art, in der er heute den Damenpreis gewonnen, ›einzig und geradezu kolossal sei.‹

»Ja, famos war es wirklich,« pflichtete Borndorf bei. Der kleine Ulan sah recht angegriffen aus. Er hatte heute zwei Siege davongetragen, beide nach heißem Endkampf um eine knappe Halslänge. Und die beiden erbitterten finish hatten seine Nerven mehr angestrengt, als er sich selbst gestehen mochte.

Jedenfalls erfüllte ihn der Gedanke an Tanzen mit einem gelinden Schauer. Aber zu umgehen war es wohl nicht, dass er Alice aufforderte, nachdem er ihr heute bei der Morgenarbeit gesagt, dass er ihretwegen zur Reunion käme.

Hinter dem breiten Rücken des einen Feldartilleristen spähte er vorsichtig nach Fräulein von Nordstetten aus.

Na, die schien sich ja vorläufig ganz gut zu amüsieren. So lange ihr der Oberst von Herzogheim so angelegentlich die Tour machte, war sie ja gut aufgehoben.

Mit einem Seufzer der Erleichterung sank Borndorf wieder auf seinen Stuhl zurück. —

Und Alice amüsierte sich in der Tat. Dass ihr Ideal sie noch nicht aufgefordert, betrübte sie zwar sehr, aber so schönen Komplimenten gegenüber, wie der Kommandeur sie ihr machte, konnte sie nicht frostig bleiben.

Ihre lachenden Augen und ihre strahlenden Zähne spornten den Oberst zu immer neuen Huldigungen an. Er begann ernstlich Feuer zu fangen.

Wirklich ein reizendes Mädel! Hübsch und frisch und natürlich. Die wäre wirklich imstande, den eingefleischtesten Junggesellen zu bekehren. Das wäre eine Kommandeuse, mit der man sich sehen lassen könnte!

Aber die sämtlichen Hoffnungen des liebeglühenden Obersten starben im Keim, als er den Gesichtsausdruck sah, mit welchem Alice den langsam sich nähernden Borndorf begrüßte.

Das war denn doch ein anderes Lächeln, als das er bisher bei ihr gesehen. Und wie ihr Ton vibrierte — »den nächsten Walzer, Herr von Borndorf? Aber natürlich! Der war Ihnen längst zugedacht.«

Und sie hatte für den ›immer noch Schönen‹ keinen Abschiedsblick, als sie sich mit dem kleinen Ulanen in das Gewühl der Tanzenden stürzte.

»Schade!« Herzogheim hätte das fast laut gedacht. Er war sich absolut darüber klar, dass der kleine Herrenreiter, ›dieser unreife Junge‹, für Alice bedeutend interessanter war, als er selbst, der schönste aller Kommandeure.

Dass er infolgedessen innerlich Fräulein von Nordstetten zu einem ›dummen Backfisch‹ stempelte, war durchaus gerechtfertigt.

Wirklich überflüssig, sich für eine solche Range zu interessieren.

Und im Geheimen fand Herr von Herzogheim es nicht sehr konsequent von sich selbst, dass er sich jetzt langsam zu Alices Onkel heranschlängelte und ihn vorsichtig ›auszuholen‹ begann.

Graf Dahlweg hatte keine Ursache irgendetwas aus Alices Leben zu verschweigen.

Es war eine einfache und traurige Geschichte.

Alice hatte im Alter von vier Jahren ihren Vater, ein paar Jahre später ihre Mutter verloren. Sie wurde von Verwandten erzogen. Bis zu ihrem sechzehnten Jahre hatte sie im Stifte Jürgenhöhe bei zwei alten Tanten gewohnt, dann hatte Graf Dahlweg, ihr Onkel, sie als Gefährtin für Thea, die sich nach dem plötzlichen Tode ihrer Mutter sehr einsam fühlte, ins Haus genommen. Vermögen hatte Alice nicht zu erwarten und da sie Expektantin auf Jürgenhöhe war, so würde sie vielleicht als Stiftsfräulein enden.

»Denn wer heiratet heutzutage ein armes Mädchen?« hatte Dahlweg geschlossen.

»Nun, das wollen wir doch nicht so schroff hinstellen,« lautete Herzogheims Entgegnung. »Schließlich, es gibt doch auch Leute, die selber Geld haben, und ein so reizvolles Wesen wie Ihr Fräulein Nichte —.«…

Das ›reizvolle Wesen‹, das eben am Arm Borndorfs auf die beiden Herren zusteuerte, sah in diesem Augenblick wirklich verführerisch aus.

Die Tatsache, dass ihr Partner sich zu einigen Komplimenten aufgerafft; ließ ihre Haut noch rosiger als sonst, ihre Lippen noch purpurner erscheinen.

»O, die Jugend, die Jugend!« dachte der ›immer noch schöne‹ mit einem heimlichen Seufzer, »wie sieghaft es ausschaut, dieses kleine Mädel, mit dem es das Leben bisher noch nicht sehr gut gemeint hat.

Bei Verwandten, — immer bei Verwandten, — die Gefährtin einer bevorzugten Cousine, — die Aussicht auf Stift Jürgenhöhe, — und dabei all das Leuchtende und Sieghafte, das ihr aus jeder Pore quillt.«

Alice war indessen herangetreten und sprach lebhaft auf ihren Onkel ein. »Hör’ mal, Onkel, in vierzehn Tagen sind die Rennen in Dornbach. Und Thea wollte sich doch sowieso die Jährlinge von Gestüt Hall ansehen. Und Hall liegt so nahe an Dornbach, ganz, ganz nahe, höchstens eine Stunde mit dem Wagen. Gehen wir zu den Rennen, Onkelchen? Da Thea doch sowieso —.«

»Wir werden sehen,« antwortete Dahlweg aus weichend.

»Ich muss mit Thea selber darüber sprechen,« sagte Alice hastig zu Borndorf. »Aber wo ist denn Thea? — — Ach, sie tanzt.« Die Gruppe blickte hinüber zu Thea, welche eben im Arm des roten Champion vorüberwalzte. Die zwei hohen Gestalten mit den ruhigen Bewegungen passten gut zusammen.

Sie waren beide ein Abbild elegantester Ruhe, und ihre beiden Gesichter waren kühl und gleichgültig wie immer.

Doch in Theas Augen lag ein feuchter und fieberhafter Glanz.

Und ihr schmales Gesicht war blasser als je. —


Der rote Champion

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