Читать книгу Sophienlust Bestseller 11 – Familienroman - Marietta Brem - Страница 3
Оглавление»Mir ist so kalt, Tante Franzi«, nörgelte die kleine Marion Bölz, ein hübsches Mädchen von fünf Jahren. Vorwitzig lugten ihre schwarzen Locken unter der dunkelblauen Kapuze ihres Regenmantels hervor. Ihre Händchen hatte sie fröstelnd in den Taschen vergraben.
»Sei still, Marion«, wisperte Franziska Bölz zurück. Hastig wischte sie mit der linken Hand die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr stand die junge Frau am Grabe eines geliebten Menschen, und dieses Mal fiel es ihr besonders schwer, denn es war ihr einziger Bruder, dessen Sarg gerade langsam in die Erde hinabgelassen wurde.
Es waren viele Menschen zu dieser Beerdigung gekommen, denn Ulrich Bölz, der Sprengmeister der Baufirma Hirzel und Sohn, war allseits ziemlich beliebt gewesen, hatte dem örtlichen Gesangsverein als aktives Mitglied angehört, und war im Betrieb sowohl von Kollegen als auch von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt worden.
Es war ein Unglücksfall gewesen, der ihn bei einer Sprengung im betriebseigenen Steinbruch das Leben gekostet hatte. Das hatte Manfred Hirzel, der Juniorchef und Franziskas Verlobter, immer wieder versichert.
Aber das war für Franziska kein Trost. Sie hatte ihren Bruder und Marion ihren Vater verloren. Nun war das Mädchen eine Waise. Kaum daß sie den Tod der Mutter vor elf Monaten verkraftet hatte, mußte sie auch schon auf den Vater verzichten, dem ihre ganze kindliche Liebe gegolten hatte.
Franziska konnte die Welt nicht mehr verstehen. Was sollte das noch für einen Sinn haben, wenn eine ganze Familie ausgelöscht wurde und nur ein kleines Mädchen von gerade fünf Jahren übrigblieb?
»Komm, wir gehen heim, Tante Franziska«, quengelte Marion nun schon etwas lauter und riß energisch an der Hand der Tante. »Mir gefällt es hier nicht mehr. Ich will nach Hause zu meinem Papi.«
Die junge Frau preßte voll ohnmächtigem Schmerz die blassen Lippen zusammen, während die Tränen wieder zu fließen anfingen. Sie spürte, wie einige der Trauergäste immer wieder verstohlen zu ihnen herüberschauten. Es war ihr peinlich, und sie senkte rasch den Kopf. Langes dunkles Haar fiel nach vorne und schirmte sie gegen die neugierigen Blicke ab.
Franziska Bölz war eine schöne, blutjunge Frau, die schon viel Leid in ihrem Leben erfahren hatte. Kurz nacheinander waren die geliebten Eltern gestorben, als sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen war.
Ulrich, der ältere Bruder, war zu dieser Zeit schon mit Herta verheiratet gewesen. Mit offenen Armen hatte seine Frau die verwaiste Schwägerin in ihrem Haushalt aufgenommen. Dann, kaum zwei Jahre später, war Marion auf die Welt gekommen, und sie hatten schon geglaubt, daß nun die Zeit des Kummers und der Trauer endgültig vorbei sei. Es war jedoch nur eine kurze Atempause, die ihnen das Schicksal gönnte, ehe es erneut und unbarmherzig zuschlug.
Herta begann zu kränkeln. Sie wurde immer blasser und magerer, und bald konnte sie nur noch für wenige Stunden am Tag aufstehen und in einem Stuhl sitzen.
Ulrich wußte, daß seine Frau nur noch kurze Zeit leben würde, denn der Arzt hatte es ihm gesagt. Herta litt an einer unheilbaren Krankheit, die man zu spät erkannt hatte, um sie noch zum Stillstand bringen zu können. Seine Geduld und Beherrschung war bewundernswert gewesen, und erst, als Herta tot war, brach auch er zusammen. Die Monate, die dann folgten, waren die grausamsten in Franziskas Leben gewesen. Ulrich konnte den Schicksalsschlag nicht überwinden. Er hatte keine Freude mehr an seinem Dasein, und auch um sein Töchterchen Marion kümmerte er sich kaum mehr.
Oft fragte die Kleine nach ihrem Papi, aber Franziska konnte dem Kind auch nicht helfen, sondern nur versuchen, es abzulenken.
Irgend etwas riß Franziska aus ihren wehmütigen Gedanken. Jemand hatte sie ziemlich unsanft angerempelt. Wie erwachend schaute sich die junge Frau um und entdeckte, daß die Beerdigung ihrem Ende zuging. Mitleidig hielt der Pfarrer, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, ihre Hand und murmelte ein paar tröstende Worte, die wie nichtssagende Floskeln an ihr vorbeiglitten.
Franziska war wie versteinert. Noch konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, wie es weitergehen sollte.
Ihre Schritte waren müde und schleppend, als sie an das offene Grab trat. Sie schaute hinunter auf den dunklen Sarg, auf dem bunte Blumen lagen. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als schaue ihr Bruder sie mit seinen dunklen Augen bittend an. »Sorge du für meine kleine Marion, wenn ich einmal nicht mehr bin«, hatte er noch wenige Tage vor seinem zu frühen Tod zu ihr gesagt, und sie hatte es ihm ganz fest versprochen, nicht ahnend, daß sie dieses Versprechen schon bald würde einlösen müssen.
Marion war Ulrichs Vermächtnis, das sie zu schützen hatte. Irgendwie würde es schon weitergehen, wenn nur sie und das Kind zusammenbleiben durften.
Lautlos fiel der Strauß weißer Nelken in das Grab hinab. Am liebsten wäre Franziska jetzt hinterhergesprungen, wenn sie nicht die kleine Hand ihrer Nichte in der ihren gespürt hätte. Daran klammerte sie sich wie eine Ertrinkende.
»Wenn Sie Hilfe brauchen, Fräulein Bölz, dann scheuen Sie sich bitte nicht, zu uns zu kommen.«
Franziska schaute überrascht in das schöne Gesicht der Frau, die so überaus freundlich zu ihr gesprochen hatte. Stumm hatte sie die Beileidsbezeigungen an sich vorüberrauschen lassen, ohne an jemanden ein Wort zu richten, aber diese Stimme klang anders. Sie drückte nicht seelenloses Mitgefühl, sondern echte Anteilnahme aus.
»Das ist sehr freundlich. Vielen Dank, Frau…«
»Ich bin Denise von Schoenecker«, stellte sich die Unbekannte in dem schwarzen Wollmantel vor. »Meinem Sohn gehört das Kinderheim Sophienlust. Wenn Sie also Hilfe brauchen oder einen Platz für Ihre kleine Nichte suchen, dann können Sie sich jederzeit an mich wenden.«
Denise nickte der jungen Frau noch einmal zu und verschwand dann in der Menge. Sie kannte die traurige Geschichte der Familie, die durch ein unverständliches Schicksal so hart geprüft wurde.
Nachdenklich schaute Franziska Bölz der Frau nach. Irgendwie fühlte sie sich sogar ein bißchen getröstet, auch wenn sie nicht im Traum daran dachte, das Angebot der fremden Frau anzunehmen. Ein Kinderheim! Wie sollte sie das mit der kleinen Waisenrente bezahlen?
»Gehen wir jetzt endlich nach Hause?« flüsterte Marion, als sie langsam über den Kiesweg gingen. Das hohe, eiserne Friedhofstor war nicht mehr weit von ihnen entfernt, aber Franziska hatte das Gefühl, als würden sie es niemals erreichen.
»Ja, Schätzchen, jetzt gehen wir heim«, antwortete sie noch schwach. Unbändige Sehnsucht nach Manfred überkam jetzt die junge Frau. Warum nur hatte er sie diesen schweren Weg ganz allein gehen lassen? Sie konnte das einfach nicht verstehen. Oder doch?
Zugegeben, er hatte ihren Bruder nie besonders gemocht. Aber seit Hertas Tod, als sie, Franziska, den kleinen Haushalt ganz übernommen hatte, war er erst recht nicht mehr gut auf den zukünftigen Schwager zu sprechen gewesen. Er wollte nicht, daß sich seine Braut mit einem, wie er sagte, fremden Kind belastete, auch wenn es sich um die eigene Nichte handelte.
Franziska sollte schön aussehen und sich nicht wie eine abgehetzte Hausfrau benehmen. Das waren seine Worte bei ihrem letzten Streit gewesen.
Überhaupt stritten sie ziemlich viel, seit sie zu ihrem Bruder in die kleine Wohnung gezogen war und deshalb auch der Hochzeitstermin verschoben wurde.
Manfred konnte nicht verstehen, wie man ihm, dem Juniorchef der Baufirma Hirzel und Sohn, einen Korb geben konnte. Schließlich konnte er jedes Mädchen haben, das er haben wollte. Und da wagte es ausgerechnet die Schwester eines seiner Angestellten, den Hochzeitstermin mit ihm abzusagen.
Franziska hatte ihren Verlobten zwar durchschaut, aber sie hing an ihm, weil er außer Marion der einzige Mensch war, der ihr noch etwas bedeutete.
Als sie die Tür zu der kleinen Wohnung aufschloß, fühlten sich ihre Finger wie Eis an.
»Was machen wir jetzt, Tante Franzi?« piepste Marion mit ihrem zarten Stimmchen.
»Ich weiß es auch nicht, Herzchen«, gestand Franziska, die erleichtert war, daß sie den Trauergästen entkommen war.
Die Wohnung machte einen kalten, leeren Eindruck auf Franziska, nicht zuletzt deshalb, weil sie vergessen hatte, einzuheizen. Das war immer die Arbeit ihres Bruders gewesen, der ihr jeden nur möglichen Handgriff abgenommen hatte.
»Du tust schon so viel für uns, da ist es nur recht und billig, wenn ich dir die schweren Arbeiten abnehme.« Fast glaubte sie, seine warme, wohlklingende Stimme zu hören, und irgendwie fühlte sie sich getröstet.
»Komm, Marion, jetzt mache ich dir erst einmal etwas zu essen, und dann legst du dich hin.«
»Nicht schon schlafen gehen, Tante Franzi. Draußen ist es noch gar nicht dunkel«, wehrte sich das kleine Mädchen und zog einen Schmollmund. Sie sah aus wie eine Elfe mit ihrem schwarzen Lockenkopf und dem schmalen, ein wenig zu blassen Gesichtchen.
»Natürlich ist es schon dunkel. Das Licht, das du siehst, stammt von der Straßenlaterne, du kleiner Schlauberger.« Unwillkürlich mußte die junge Frau lachen. Sie liebte ihre kleine Nichte über alles, doch nicht nur, weil diese dem toten Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Das wußte Marion natürlich, und sie wandte ihren ganzen Charme auf, wenn sie der Tante etwas abschmeicheln wollte.
»Was möchtest du, Marion? Brot mit Wurst oder lieber mit Rührei?« Franziska zwang sich dazu, ein freundliches Gesicht zu machen, obwohl sie immer wieder gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen mußte. Das Kind sollte es nicht sehen, denn sie hatte es noch nicht richtig begriffen, daß der Tod des Vaters ein Grund zum Traurigsein war.
»Wurst mit Rührei«, rief das Mädchen ganz begeistert und kroch auf allen vieren über die Eckbank, bis sie endlich auf ihrem Platz zum Sitzen kam.
Die Wohnküche war groß und behaglich eingerichtet, doch auch hier herrschte ziemliche Kälte. Aber Franziska hatte keine Lust, den Kohleofen einzuheizen. Sie schaltete den Backofen ein und öffnete die Klappe einen Spalt breit. So konnte die Wärme ungehindert entweichen. Bald war es angenehm überschlagen.
Die junge Frau bemühte sich, sich auf das Abendessen zu konzentrieren, das sie zubereitete. Kurze Zeit später stellte sie überrascht fest, daß ihr das sogar einigermaßen gelungen war. Trotzdem war sie froh, als das Kind gegen achtzehn Uhr endlich im Bett lag.
Artig faltete Marion ihre Hände und schaute erwartungsvoll zu der Tante auf. Beinahe hätte Franziska vergessen, mit dem Kind, wie gewohnt, zu beten. Schuldbewußt kehrte sie noch einmal zurück und setzte sich an das Bett.
»Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich zu dir in den Himmel komm«, murmelte die junge Frau tonlos.
»Und zu meinem Vati«, fügte Marion noch eifrig hinzu. Dann schloß sie zufrieden die Augen.
Franziska aber war bei den Worten des Kindes erschrocken zusammengezuckt. Hatte Marion doch mehr verstanden, als sie ahnte?
Rasch hauchte sie dem Kind noch einen zärtlichen Kuß auf die Stirn, bevor sie das liebevoll eingerichtete Kinderzimmer verließ.
Erst jetzt konnte Franziska sich ihrem Schmerz hingeben. Sie vermißte den Bruder unendlich, denn er war immer der ruhende Pol in ihrem Leben gewesen. Und nun war er tot.
Müde setzte sich Franziska auf das Bett in dem kleinen Zimmer, das sie seit Hertas Tod bewohnte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Hoffnungslosigkeit stieg in der jungen Frau auf.
Franziska Bölz wußte, daß sie Marion niemals würde im Stich lassen können, dazu liebte sie das Mädchen viel zu sehr. Außerdem war sie es ihrem Bruder und auch Herta schuldig, daß sie sich um deren Töchterchen kümmerte, jetzt, da sie es selbst nicht mehr konnten.
Mit leerem Blick schaute sie sich in dem Zimmer um. Der dunkle Schrank, der noch von den Eltern stammte, schien drohend auf sie zuzukommen, und die dünnen Vorhänge bewegten sich leicht vor dem halb geöffneten Fenster. Kühle Abendluft drang ins Zimmer. Von der Straße konnte man die Geräusche hektischer Betriebsamkeit hören.
Aber Franziska nahm das alles gar nicht wahr. Sie mußte an Ulrich denken, der jetzt so weit von ihr entfernt war. Für ihren Bruder war das Leben ohne seine geliebte Frau sinnlos geworden. Eigentlich hatte der Tod für ihn eine Erlösung dargestellt.
Franziska erschrak bei diesem Gedanken. In welche irren Phantasien verirrte sie sich nun in ihrer Trauer?
Nein! Soweit durfte es nicht kommen. Entschlossen stand sie auf und machte das Fenster zu. Dann ging sie ins Bad, füllte ihren Zahnputzbecher mit Wasser und holte aus dem Medizinschränkchen, das sich hinter dem Spiegel verbarg, die Schlaftabletten ihres Bruders. Ulrich hatte sie seit Hertas Tod täglich genommen.
Es zischte leise, als sie die weiße Tablette ins Wasserglas fallen ließ, dann sprudelte es, und schließlich hatte sie sich aufgelöst. Angewidert verzog Franziska das Gesicht, als sie die milchige Flüssigkeit auf ihrer Zunge spürte. Aber sie fühlte schon nach zehn Minuten, wie sich eine bleierne Müdigkeit in ihr ausbreitete.
Franziska schloß die Augen, bereit, sofort einzuschlafen. Da läutete das Telefon. Die Frau zuckte zusammen, aber sie öffnete nicht die Augen. Sie hatte beschlossen, es läuten zu lassen.
Aber der Anrufer blieb hartnäckig, und schließlich hielt sie das Gebimmel nicht mehr aus. Seufzend erhob sie sich und mußte sich einen Augenblick am Bettpfosten festhalten. Ihr wurde schwindlig, denn die Tablette war stark und ihre Wirkung zuverlässig.
»Ja, hallo«, murmelte sie schwach und preßte den Hörer an ihr Ohr.
»Franziska, endlich. Ich dachte schon, du…« Die Stimme des Mannes klang aufgeregt und auch ein wenig ärgerlich. »Ich habe es vorhin schon einmal versucht. Wenn du jetzt nicht abgenommen hättest, dann wäre ich sofort zu dir gefahren.«
»Ach, Manfred, du bist das«, antwortete Franziska leise auf den Redestrom des Mannes am anderen Ende der Leitung. Sie gähnte verstohlen und war froh, daß er es nicht sehen konnte. Sicher hätte er sie sonst getadelt. »Ich lag schon im Bett.«
Daß Manfred Hirzel vor lauter Ärger die Augen verdrehte, konnte sie zum Glück nicht sehen. Aber im Moment hätte es sie wahrscheinlich auch nicht besonders interessiert.
»Na, du hast vielleicht Nerven, Mädchen. Ich dachte, daß du dir vor lauter Kummer um deinen geliebten Bruder vielleicht das Leben nimmst, und dann gehst du seelenruhig ins Bett und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein.«
»Sprich nicht so respektlos von meinem Bruder und vom lieben Gott. Vielleicht brauchst du ihn auch einmal«, antwortete Franziska ärgerlich. Plötzlich war sie hellwach. Manfred hatte sich um sie gesorgt. Das war ja etwas ganz Neues.
»Von wo rufst du überhaupt an? Ich dachte, du wärst in Zürich?« Die Verbindung war so deutlich und ohne Nebengeräusche, daß Franziska sofort merkte, daß Manfred Hirzel zumindest in Deutschland war.
»Die Verabredung hat sich zerschlagen«, gestand der Mann. »Überhaupt ist der ganze Auftrag flöten gegangen.«
»Ach, und das sagst du mir erst jetzt?« Franziskas Stimme klang traurig. »Dann hättest du mich doch begleiten können. Ich hätte dich so dringend gebraucht.«
»Das glaube ich dir ja, Liebling. Aber weißt du, ich war so zerschlagen, weil mir ein anderer zuvorgekommen ist, daß ich mich erst einmal habe erholen müssen. Bitte, verzeih mir.« Manfred bemühte sich, seine Stimme zerknirscht klingen zu lassen, und es gelang ihm auch. Er war ein guter Schauspieler und auf diese Eigenschaft stolz.
Franziska fiel auch prompt darauf herein. »Natürlich verzeih ich dir. Es ist zum Glück vorbei, und Ulrich hättest du ohnehin nicht mehr helfen können. Es ist nur…« Sie zögerte einen Augenblick. »Ich… ich vermisse dich so sehr.«
»Also, dann machen wir jetzt Schluß, damit du wieder in dein Bett kommst, bevor es kalt wird. Morgen sehen wir uns ja sicher.« Hastig beendete Manfred Hirzel das Gespräch, das in Bahnen zu verlaufen drohte, die ihm nicht unbedingt zusagten. Zugegeben, er mochte Franziska Bölz sehr gern. Sie sah bildhübsch aus mit ihren dunklen, langen Haaren und den fast schwarzen Augen, die voller Glut funkeln konnten.
Seit sie sich aber zu einem richtigen Heimchen am Herd entwickelt hatte, war sein Interesse an ihr merklich abgekühlt. Er brauchte eine Frau, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für ihn da war, die seine Hobbys teilte und an seinen Vergnügungen teilnahm.
Franziska hatte sich aber statt dessen mit dem Kind ihres Bruders belastet und mit dessen ganzem Haushalt. Das gefiel Manfred Hirzel ganz und gar nicht. Und jetzt, nach Ulrichs Tod, sah es fast so aus, als würde Franziska gar nicht mehr von dem Kind loskommen, an das sie offensichtlich ihr Herz gehängt hatte.
Nein! Manfred Hirzel schüttelte den Kopf, daß seine blonden, dauergewellten Haare nur so flogen. Ein Kind würde er sich niemals aufhalsen. Da verzichtete er lieber auf Franziska, so schwer es ihm auch fiel.
Noch eine ganze Weile stand Manfred vor dem Telefon und betrachtete den Apparat, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, und darum beschloß er, sie auf Franziska abzuwälzen.
Sie sollte wählen zwischen einer Ehe mit ihm und dem Kind, das er niemals aufnehmen würde. Was ging ihn diese Marion an, das Kind eines seiner Arbeiter?
Er hatte schließlich den Unfall nicht verschuldet, der Ulrich Bölz das Leben gekostet hatte. Also war er auch nicht verpflichtet, sich um dessen Nachkommen zu kümmern.
Trotzdem wollte er großzügig sein und Franziska anbieten, das Kind in einem guten Internat unterzubringen.
Natürlich! Das war überhaupt die Lösung. Manfred schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. Daß er da nicht eher draufgekommen war.
Von Manfred Hirzels geheimen Gedanken und Plänen ahnte Franziska natürlich nichts. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, kehrte auch die bleierne Müdigkeit wieder zurück, die sie vorhin so rasch abgeschüttelt hatte.
*
»Hast du ihn eigentlich gekannt?« Denise von Schoenecker trat ans Fenster und beobachtete gedankenverloren die Schneeflocken, die lustig durch die kalte Novemberluft gaukelten, bevor sie langsam zu Boden fielen.
»Wen meinst du?« Ihr Mann Alexander von Schoenecker ließ die Zeitung sinken. Den ganzen Abend schon hatte er gemerkt, daß seine Frau etwas beschäftigte. Sie war so schweigsam gewesen, was sonst gar nicht ihre Art war.
»Ulrich Bölz«, antwortete Denise etwas ungeduldig. »Er hat bei Hirzel und Sohn gearbeitet. Du kennst doch den Seniorchef.«
»Ja, den schon«, gab Alexander gedehnt zu. »Und von diesem Herrn Bölz habe ich auch schon gehört. Er muß ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter gewesen sein, der sich allerdings mit dem Junior nicht besonders gut verstanden hat.«
Denise drehte sich um und ging langsam auf ihren Mann zu. »Den Grund dafür kennst du sicher nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, daß ich mich nie in fremde Angelegenheiten mische. Auch wenn Heinrich Hirzel einer meiner besten Freunde ist, ist das noch lange kein Grund, daß ich…«
»Du hast natürlich recht, wie immer«, unterbrach ihn Denise. Das tat sie sonst nie, aber heute war sie so nervös und ungeduldig wie schon lange nicht mehr, ohne den Grund dafür zu kennen.
Überrascht zog Alexander die Augenbrauen hoch. »Jetzt setze dich einmal her zu mir und erzähle«, forderte er seine Frau auf. »Ich sehe doch, daß du irgendein Erlebnis nicht verarbeiten kannst. Hängt das etwa mit der Beerdigung zusammen, auf der du heute nachmittag warst?«
»Ja… und auch nein. Ich muß gestehen, ich weiß es nicht. Ich sehe nur ständig dieses Bild vor mir, wie diese Franziska, die Schwester von Ulrich Bölz, mit ihrer kleinen Nichte Marion dagestanden hat. Einfach furchtbar.«
Denise setzte sich seufzend neben ihren Mann auf das Sofa. »Wenn solche Menschen dann mit dem Schicksal hadern, habe ich volles Verständnis dafür. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«
Alexander legte den Arm um die Schultern seiner Frau, der auch nach den vielen Ehejahren noch seine ganze Liebe gehörte. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nie ganz werden verstehen können. Und deshalb steht uns auch nicht das Recht zu, nach dem Sinn irgendeines Geschehens zu fragen. Du weißt doch selbst, meine Liebe, daß sich meistens alles in Wohlgefallen auflöst, auch wenn es einige Zeit dauert.«
Innig schmiegte sich Denise an Alexander und legte ihre Wange an die seine. »Du hast recht wie immer, Schatz«, gab sie dann zu und fühlte sich wunderbar geborgen in seinen Armen. »Ich bin so froh, daß ich dich habe, Alex. Du verstehst es immer wieder, mir meine Lebensfreude zurückzugeben.«
Alexander küßte seine Frau zärtlich und merkte gar nicht, daß die Zeitung zu Boden fiel.
»Hoffentlich störe ich euch nicht. Ich wollte mich nur zurückmelden.« Dominik von Wellentin-Schoenecker, von allen nur kurz Nick genannt, stand plötzlich im Zimmer. Niemand hatte ihn kommen hören.
Denise richtete sich auf. »Ach, unser Herr Sohn findet es auch wieder einmal für nötig, in sein trautes Heim zurückzukehren.« Eigentlich hatte sie schimpfen wollen, aber als sie in das strahlende Gesicht ihres Sohnes schaute, hatte er ihr bereits allen Wind aus den Segeln genommen.
»Nicht, Mutti, das paßt überhaupt nicht zu dir, daß du mir jetzt eine Standpauke hältst. Ich war doch nur in Sophienlust und habe Heidi getröstet.« Er goß sich eine Tasse Tee ein, der noch gut warm war. »Das tut gut«, murmelte er dann genießerisch.
»Was ist denn mit Heidi? Heute nachmittag war doch noch alles in Ordnung.« Denise schaute ihren Sohn beunruhigt an.
Aber Nick winkte ab und setzte sich in einen der wuchtigen Sessel. Dann streckte er seine langen Beine weit von sich und legte den Kopf zurück. »Nicht nötig, Mutti, daß du dich aufregst. Jetzt schläft sie endlich. Ihr hat nur der Abschied von Karin zu schaffen gemacht. Sie sind ja in den letzten zwei Monaten ganz dicke Freundinnen geworden.«
»Ach ja, Karin. Sie ist auch ein liebes Mädchen.« Denise lächelte ihren Sohn an. »Es ist schon ein großes Glück für sie, daß sie neue Eltern gefunden hat. Ich glaube, bei den Krämers hat sie es wirklich schön. Sie lieben das Kind sehr, und außerdem haben sie keine eigenen Kinder.«
»Schon, aber Heidi hat jetzt wieder überhaupt keine Freundin in ihrem Alter, abgesehen davon, daß Karin versprochen hat, bald schon zu Besuch zu kommen«, berichtete Nick weiter.
Das Kinderheim Sophienlust, das er von seiner Großmutter Sophie vererbt bekommen hatte, lag ihm sehr am Herzen. Er kümmerte sich mit Freude und Feuereifer um alle Belange der Kinder, tröstete sie, wenn es nötig war, und lernte mit den Größeren, wenn sie es wollten und seine Zeit es erlaubte.
»Vielleicht wird sie bald eine neue Freundin bekommen. Ich glaube es sogar ganz sicher«, warf Denise ein. »Marion dürfte etwa in Heidis Alter sein, und sie ist anscheinend auch ein sehr liebes Mädchen.«
»Ich weiß, wen du meinst, Mutti. Du sprichst von Marion Bölz, deren Vater heute beerdigt worden ist. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn du dich ein bißchen um die Leute kümmerst. Ich habe nämlich läuten hören, daß sie ziemlich arm sein sollen. Marions Vater hat doch sein ganzes Geld ausgegeben, um seiner Frau zu helfen. Er soll sogar Schulden bei der Bank gemacht haben. Und dann war doch alles umsonst«, fügte der hübsche Junge noch traurig hinzu. Auch ihm ging das Schicksal anderer Menschen nahe, genau wie seiner Mutter.
»Woher weißt du denn das?« fragte Denise überrascht, und auch Alexander horchte auf.
»Peter Maiers Vater arbeitet doch auch bei Hirzel. Und ihr wißt doch, daß Peter mein Freund ist.«
»Ich habe Marions Tante heute zwar meine Hilfe angeboten, aber wie ich diese junge Frau einschätze, wird sie davon keinen Gebrauch machen. Sie wird sich nicht getrauen, hierherzukommen«, überlegte Denise laut und nippte an ihrem Tee.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muß der Berg eben zum Propheten gehen.« Alexander schmunzelte und hauchte seiner Frau einen liebevollen Kuß auf die Wange.
»Du kennst Mutti wirklich sehr gut, Vati.« Nick lachte ebenfalls. »Heidi wird staunen, daß wir so schnell für Ersatz gesorgt haben.«
»Noch ist Marion nicht hier«, beschwichtigte Denise ihre beiden Männer. Aber auch sie war überzeugt davon, daß es für alle Beteiligten die beste Lösung war.
*
»Von mir aus kannst du sofort gehen, Irina. Aber denkst du denn nicht ein bißchen an deinen Sohn?« Aufgeregt ging der Mann in dem exklusiv eingerichteten Wohnzimmer auf und ab. Er sah nicht den großen, schweren Eichentisch, dessen Oberfläche mit teuren Platten bestückt war, und sein Blick streifte auch uninteressiert die rustikalen Fronten des langen Schranks, auf den er einmal so stolz gewesen war.
Er wußte nur eines: Seine Frau wollte ihn und den gemeinsamen Sohn Holger verlassen, weil sie es angeblich in der Einsamkeit nicht mehr aushielt. Dabei wußte er ganz genau, daß da ein anderer Mann dahintersteckte, auch wenn sie es nicht zugab. Irina war schon immer lebenslustig gewesen, und er hatte sich schon damals gewundert, warum sie ausgerechnet ihn geheiratet hatte und sogar mit ihm in die Einsamkeit gezogen war.
»Sei nicht so theatralisch, Werner.« Die spöttische Stimme der jungen, gutaussehenden Frau riß ihn aus seinen Gedanken. »Du weißt genau, daß Holger bei dir und Helene, der Köchin, ausgezeichnet aufgehoben ist. Ich jedenfalls bin hundertprozentig davon überzeugt, daß es Holger an nichts fehlen und mich überhaupt nicht vermissen wird.«
»Ich hoffe sehr, daß du dich da nicht irrst. Ich hoffe es für Holger und für mich. Was mich betrifft, werde ich diesen Verlust ziemlich rasch verschmerzen. Wenn einer gehen will, dann soll man ihn nicht aufhalten.«
Werner Rombold schüttelte den Kopf. Warum sagte er so etwas? Er wußte doch ganz genau, daß es nicht stimmte. Noch immer liebte er Irina, die er vor zwölf Jahren geheiratet hatte. Nur ihre Lebenseinstellung hatte er schon damals nicht geteilt.
Kein Fest hatte sie freiwillig ausgelassen, und auch als Holger schon auf der Welt war, hatte sie noch immer nicht auf ihre Vergnügungen verzichten können. Meist ist sie dann in die Stadt gefahren. Das Landleben, das er selbst so liebte, war für Irina eine Qual.
»Da bin ich aber froh, daß du es mir so einfach machst«, sagte die hübsche Frau spöttisch und grinste. »Natürlich werde ich ab und zu meinen Sohn besuchen. Und auf eine Scheidung lege ich keinen Wert, solange ich nicht wieder heiraten will, was in der nächsten Zeit bestimmt nicht der Fall sein wird.«
»Das beruhigt mich ungemein«, ahmte Werner den Tonfall seiner Frau nach. »Ich würde sonst sicher umkommen vor Eifersucht.« Er lachte grimmig auf, und seine Augen blickten hart.
Was war aus seinem Leben geworden, das er sich so schön und wohlgeordnet vorgestellt hatte? Alles war zerbrochen, alles hatte er verloren. Aber das wollte er Irina nicht eingestehen, diesen Triumph wollte er ihr nicht gönnen.
Aufreizend ließ sich die Frau in einen der weichen Sessel fallen und schlug die wohlgeformten Beine übereinander. »Ich muß zugeben, so gefällst du mir schon bedeutend besser, mein Lieber«, sagte sie zuckersüß und legte ihren Kopf schief. Diese Geste hatte Werner früher immer so gefallen, aber heute ließ sie ihn kalt. Es wirkte gespielt und noch dazu kindisch, das fiel ihm erst jetzt auf.
»Mir ist das ziemlich egal, ob ich dir gefalle oder nicht. Nach allem, was du mir inzwischen an den Kopf geworfen hast, bedeutet mir deine Meinung überhaupt nichts mehr.« Werner fuhr sich mit den langen, sensiblen Fingern, die zu einer festen, großen Hand gehörten, durch sein dichtes dunkles Haar. Es widerstrebte ihm, all die Gemeinheiten zu sagen, aber er konnte nicht anders. Zu sehr hatte ihn die Frau getroffen, die er einmal mehr als sein Leben geliebt hatte.
»Streitet ihr euch schon wieder?« Die verschlafene Stimme eines Jungen riß die Eheleute aus ihrer heftigen Auseinandersetzung.
Siegessicher stemmte Irina Rombold die Hände in die Hüften. Ihre wasserblauen Augen funkelten triumphierend. »Siehst du, jetzt hast du dein geliebtes Söhnchen aufgeweckt mit deinem Geschrei. Hoffentlich bist du jetzt zufrieden.«
»Einmal mußt du es ja doch erfahren. Warum dann nicht heute und jetzt? Komm her zu mir, Holger.« Werner Rombold seufzte tief auf und legte seinem Sohn den Arm um die schmalen Schultern.
Der Junge war ungewöhnlich klein und schmächtig für seine zehn Jahre, und auch daran gab Werner seiner Frau die Schuld. Sie hatte keinen Tag Zeit, sich um Holger zu kümmern, ihm etwas Anständiges zu essen zu kochen und auch nach seinen Schularbeiten zu sehen. Meist war Irina außer Haus und ging ihren zahlreichen Vergnügungen nach, die ihn wirklich schon lange nicht mehr interessierten.
Nur Helene, die alte Köchin, die auch schon für das leibliche Wohl seiner Eltern gesorgt hatte, kümmerte sich um den Jungen und liebte ihn, wie es seine Mutter eigentlich hätte tun sollen.
»Ich weiß schon«, murmelte Holger traurig. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten; die gleichen dunklen Augen, die eine geheime Schwermut verrieten, und die dunklen, dichten Haare, die ein schmales, ernstes Gesicht umrahmten.
»Ihr laßt euch scheiden wie die Eltern von Michael. Der lebt jetzt auch bei seiner Mutter in der Stadt. Seither habe ich keinen Freund mehr.« Traurig senkte der Junge den Kopf.
»So schlimm wird es bei dir wohl nicht werden, Holger«, versuchte Werner seinen Sohn zu trösten. »Die Mami zieht für einige Zeit in die Stadt, weil es ihr hier draußen bei uns zu einsam ist. Du bleibst bei mir. Wir werden eine wunderschöne Zeit zusammen haben. Ich werde mein Büro in der Stadt auflösen und nur noch hier arbeiten, dann können wir immer zusammensein.«
»Ich muß also nicht weg von hier, wenn ihr euch scheiden laßt?« Ein wenig Hoffnung glomm in dem blassen Gesicht des Kindes auf.
»Wir lassen uns nicht scheiden, zumindest vorläufig nicht. Die Mami wird uns also erhalten bleiben. Sie macht nur Urlaub vom Landleben.« Er bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln, das ihm sogar gelang.
Mit ironischem Gesichtsausdruck beobachtete Irina Vater und Sohn. »Na bitte, Erklärungen von meiner Seite sind überflüssig.«
Verärgert drehte sie sich um und ging zur Tür. Ihr weites nachtblaues Seidenkleid schwang um ihre Beine. »Ich sehe schon, daß mich keiner von euch vermissen wird. Aber mir ergeht es ebenso. Ich werde froh sein, wenn ich mich nicht mehr ständig über euch ärgern muß.« Mit einem lauten Knall flog die Tür ins Schloß.
»Was… hat denn die Mami?« fragte Holger ziemlich verschüchtert. Seine dunklen Augen schimmerten verdächtig.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Sei nur ganz beruhigt, mein Sohn. Wir Männer werden schon gut miteinander auskommen, oder glaubst du nicht?« Aufmunternd nickte Werner dem Jungen zu, der noch immer ziemlich skeptisch dreinschaute. Sein Gesicht drückte Ratlosigkeit und eine geheime Furcht aus, die so gar nicht zu seinem Alter paßte.
Und das war alles Irinas Verdienst, dachte der Mann grimmig.
Holger zuckte die Schultern, auf denen ein viel zu großer Schlafanzug schlotterte. »Wir sind ja bis jetzt auch gut miteinander zurechtgekommen. Und es stimmt, daß ihr euch nicht scheiden laßt?« Ein bißchen Hoffnung glomm in seinem Blick auf.
Besorgt stellte Werner Rombold fest, daß die Zähne des Jungen wie im Fieber aufeinanderschlugen. War es die Aufregung, oder fror er so erbärmlich?
»Komm, Holger. Jetzt gehst du erstmal ins Bett, morgen reden wir noch einmal über alles, einverstanden?«
»Ja, Vati.« Folgsam stieg der Junge die teppichbespannte Treppe hinauf und war froh, als er endlich wieder in seinem Bett lag.
Mit einem liebevollen Lächeln setzte sich Werner auf die Bettkante und strich Holger das wirre Haar aus der Stirn, die sich fiebrig heiß anfühlte. Sorge stieg in dem Mann hoch, obwohl er sich immer wieder sagte, daß Fieber bei Kindern durchaus normal war.
»Jetzt vergiß das, was du gehört hast, Holger, und mache deine Augen zu. Morgen ist wieder ein neuer Tag, und dann sieht alles auch gleich nicht mehr so schlimm aus. Einverstanden?«
»Vati…«
»Ja, mein Sohn?« Werner furchte die Stirn.
»Du… du bleibst aber bei mir, auch wenn die Mami fortgeht. Versprichst du mir das?«
»Ja, Holger. Das kann ich dir mit gutem Gewissen versprechen. Niemals werde ich dich verlassen, solange du mich noch brauchst. Schließlich bist du alles, was ich habe. Für dich lebe ich.«
Wie erwachend strich sich der Mann über die Augen. Wozu hatte er sich nur hinreißen lassen? Das konnte der Junge doch niemals verstehen, nie verkraften.
Aber ein Blick in das Gesicht seines Sohnes beruhigte ihn wieder. Holger war eingeschlafen. Seine Wangen waren rosig angehaucht. Wahrscheinlich hatte er sich auch das Fieber nur eingebildet.
Leise erhob sich Werner und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. Lange blieb sein Blick auf dem entspannten Gesicht seines Kindes hängen, bis er sich endlich davon losreißen konnte.
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stapfte er die Stufen wieder hinunter. Er sah aus wie ein alter Mann, der alles verloren hatte. Dabei war er gerade achtunddreißig Jahre alt. Aber danach fragte das Schicksal eben nicht.
*
Franziska spürte, wie die Erstarrung langsam von ihr wich. Auch jetzt, zwei Tage nach der Beerdigung ihres Bruders, fühlte sie sich noch wie ausgehöhlt, und doch griff das Leben schon wieder ein bißchen nach ihr.
Nicht zuletzt wegen Marion, dem kleinen Mädchen, das innerhalb eines Jahres seine Eltern verloren hatte. Wie schrecklich mußte es erst für das Kind sein, plötzlich fast allein in der Welt zu stehen. Nur die Tante war Marion noch geblieben.
Wieder einmal nahm sich Franziska ganz fest vor, Marion niemals im Stich zu lassen. Sie hatte dieses Versprechen bereits Herta gegeben, ehe sie gestorben war, und auch Ulrich hatte sie kurz vor seinem Tod noch um diesen Liebesdienst gebeten.
Forschend schaute die junge Frau in den kleinen Spiegel im Badezimmer. Wie sehr hatte sie sich in den letzten Wochen und Monaten verändert, seit das Leid sich bei ihnen die Tür in die Hand gab. Irgendwie kam sie sich älter und auch gereifter vor als andere mit vierundzwanzig Jahren.
Rasch griff sie nach der Truhe mit Make-up. Wenn Manfred nachher gleich zu ihr kam, dann wollte sie hübsch und gepflegt aussehen. Er mochte es nicht, wenn sie traurig war und sich ihrem Kummer hingab. Das wußte Franziska nur zu gut.
Schon um acht Uhr hatte sie Marion in den Kindergarten gebracht. Wie schon die ganze letzte Woche war das Wetter regnerisch und kalt und dementsprechend war auch ihre Stimmung.
Nur eines hielt Franziska aufrecht: Manfred hatte am Vorabend angerufen und sein Kommen für diesen Vormittag angekündigt. Immer wieder mußte die junge Frau daran denken, wie geheimnisvoll seine Stimme geklungen hatte.
Etwas Dringendes hätte er mit ihr zu besprechen, das keinen Aufschub duldete, hatte er gesagt.
Rasch fuhr sich Franziska mit der Bürste durch ihr langes dunkles Haar, das von Naturlocken beherrscht wurde.
Gerade als sie fertig war, klingelte es. Franziska warf noch einen abschließenden Blick in den Spiegel. Ja, sie konnte mit ihrem Äußeren zufrieden sein.
»Manfred.«
Der blonde Mann rang sich ein Lächeln ab. Nur schwer konnte er seine Überraschung verbergen. Daß Franziska so hübsch aussehen würde, damit hatte er natürlich nicht gerechnet.
»Hallo, Kleines«, begrüßte er sie mit seiner etwas zu hohen Stimme, die so gar nicht zu einem Mann paßte. Ohne auf ihre Einladung zu warten, strebte er hastig an ihr vorbei in die Wohnung hinein.
»Wo ist denn das Gör?«
»Wenn du Marion meinst, die habe ich in den Kindergarten gebracht«, antwortete Franziska verärgert. Ihre ganze freudige Erwartung schlug augenblicklich in Abwehr um. Wie konnte Manfred es wagen, ihre geliebte Nichte Gör zu nennen?
»Willst du dich nicht setzen? Ich kann dir auch etwas zu trinken oder zu essen bringen«, besann sie sich auf ihre guten Manieren.
»Danke, nein. Schließlich bin ich nicht gekommen, um meine körperlichen Bedürfnisse bei dir zu stillen. Das kann ich zu Hause bedeutend besser, das kannst du mir glauben.«
Peinlich berührt senkte Franziska den Kopf, daß ihre langen glänzenden Haare nach vorne fielen. Warum nur spielte Manfred immer auf ihre Armut an? Er wußte doch, daß Hertas Krankheit alle Ersparnisse der kleinen Familie aufgezehrt hatte. Sogar Schulden hatte Ulrich machen müssen, weil er dem Rat der Ärzte nicht mehr getraut, sondern lieber auf eigene Kosten neuartige Behandlungsmethoden versucht hatte.
Aber es war alles umsonst gewesen, und so hatte nicht einmal die Lebensversicherung ausgereicht, um die Bankschulden zu tilgen. Sie selbst, Franziska, konnte nicht arbeiten, weil sie halbtags, während Marion im Kindergarten war, keine Stelle fand.
An Denise von Schoeneckers Angebot dachte Franziska Bölz schon lange nicht mehr. Wie hätte sie Marions Aufenthalt in solch einem Kinderheim auch finanzieren sollen?
»Sei nicht schon wieder sauer, Franzi. Ich habe es doch nicht so gemeint. Es ist nur – ich möchte dir einen Vorschlag machen und weiß nicht, wie ich es anpacken soll.« Seine Stimme klang versöhnlich.
Plötzlich wollte Manfred Hirzel gar nicht mehr Schluß machen mit Franziska, zumindest noch nicht gleich. Sie war ein besonders schönes Mädchen, und ihre Qualitäten hatte sie auch. So hübsch und begehrenswert wie heute war sie ihm schon lange nicht mehr erschienen. Und ihre dunklen Augen sahen ihn so intensiv an, daß er sie am liebsten voller Leidenschaft in die Arme gerissen hätte.
Aber noch konnte er sich bezwingen, denn er wußte, daß er in dem Moment verspielt hatte, wo er seinen Gefühlen nachgab. Er bemühte sich, die ganze Sache nüchtern zu betrachten. Immerhin gab es da noch das Kind, das ihm schon lange ein Dorn im Auge war.
Erst wenn Marions Zukunft geklärt sein würde, konnte er seinen Gefühlen nachgeben, die er momentan sogar für Liebe hielt.
»Du sagst ja gar nichts. Ich dachte, du wolltest etwas mit mir besprechen«, unterbrach Franziska seine Überlegungen, denn unter seinen forschenden Blicken fühlte sie sich etwas ungemütlich.
»Du hast recht wie immer.« Er schlug seine Beine übereinander, daß Franziska seine blank geputzten Schuhe sehen konnte. Überhaupt war Manfred Hirzel ein Mann, der größten Wert auf teure, gepflegte Kleidung legte. Ein Mensch sollte nicht über seinen Reichtum reden müssen, sondern man sollte es ihm ansehen, das war seine Devise.
Daran mußte die junge Frau plötzlich denken, als sie ihn so selbstherrlich in den fast ärmlichen Polstermöbeln ihres Bruders sitzen sah.
Einen Augenblick stand sie noch unschlüssig vor ihm, aber als er weiterhin schwieg, setzte sie sich ihm gegenüber.
»Es… es geht um Marion«, begann er etwas zögernd und brach dann ab, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten.
Aber Franziska reagierte überhaupt nicht. Sie wollte hören, was er noch zu sagen hatte. Sie fühlte, daß ihr eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Es konnte nichts Gutes sein, was er mit ihr besprechen wollte. Jetzt nicht mehr.
»Und weiter?« forschte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, wobei sie sich um Gelassenheit bemühte.
»Es bringt nichts, wenn wir wie die Katze um den heißen Brei herumstreichen. Ich möchte dich heiraten, Franziska. In den letzten Minuten ist es mir ganz klar geworden, daß ich dich an meiner Seite haben möchte. Du bist ein liebes Mädchen, fleißig und anständig, dazu bildschön, wie du sicher weißt.«
Franziska hielt den Atem an. Sollte sie sich so in Manfred getäuscht haben? Er wollte sie heiraten, wollte sie zu seiner Frau machen. Ein herrliches Leben erwartete sie an seiner Seite, ein Leben ohne Armut und Not. Sie würde so für Marion sorgen können, wie sie es sich immer gewünscht hatte, hübsche Kleider kaufen und niedliches Spielzeug, das sich das Kind schon immer sehnlichst gewünscht hatte.
Und trotzdem. Franziska Bölz konnte sich nicht so richtig über den Antrag des Mannes freuen. Das Wort Liebe war nicht gefallen. Auch von Marion hatte er nicht gesprochen. Dachte er wirklich daran, ein für ihn fremdes Kind in sein Haus aufzunehmen? Dann hätte sie ihm große Abbitte leisten müssen, weil sie ihn die ganze Zeit so verkannt hatte.
Als Manfred weitersprach, wurde ihr klar, daß sie sich doch nicht geirrt hatte. Manfred Hirzel war genauso, wie sie ihn eingeschätzt hatte: kalt, berechnend und ohne jedes Gefühl für andere Menschen.
»Da wäre nur noch eine Sache zu klären, nämlich: Was wird aus Marion, wenn wir erst verheiratet sind und einen eigenen Haushalt haben.«
Franziska erstarrte. »Marion ist keine Sache, sondern meine Nichte«, begehrte die Frau auf. Ihr Blick wurde hart, und ihre schönen Augen verdunkelten sich. Das also war der Haken, die Bedingung, die mit dem Heiratsantrag verknüpft war. Sie hatte es ja geahnt.
»Also gut, deine Nichte. Du siehst doch bestimmt ein, daß du mir nicht zumuten kannst, ein fremdes Kind aufzuziehen. Deshalb habe ich…«
»Was hast du?« unterbrach Franziska ihn. »Du redest immer nur davon, was ich dir nicht zumuten kann. Und was du mir zumutest, daran denkst du wohl nicht?«
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, darum schaute sie schnell zur Seite.
»Laß mich doch bitte ausreden. Wir kommen auf keinen grünen Zweig, wenn wir uns schon zu Anfang unserer Unterhaltung streiten. Also, ich habe mir Gedanken gemacht, was wir mit deiner Nichte machen könnten. Und ich glaube, daß mein Entschluß auch dein Einverständnis finden wird.«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Franziska hatte sich wieder gefangen. Ihr Mund verzog sich verächtlich nach unten, und sie bemühte sich, ihm ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Nun wußte sie, daß alle ihre Hoffnungen zerschlagen waren.
»Warte doch erst ab und unterbrich mich nicht dauernd. Es stimmt wirklich, daß ich mir die ganzen Tage überlegt habe, was das beste für das Kind ist. Und ich habe eine ausgezeichnete Lösung gefunden.«
»Du willst mir die Kleine wegnehmen«, murmelte Franziska tonlos. »Aber das eine sage ich dir, das wird dir nie und nimmer gelingen. Eher…«
»Was eher?« Forschend betrachtete der Mann seine Freundin.
»Ach nichts«, wehrte sie ab. Ihre feingliedrigen Finger fuhren nervös über die Tischplatte, als wollten sie Staub wegwischen, der gar nicht vorhanden war.
»Nun sag schon, was für eine wunderbare Lösung du für Marion gefunden hast. Davon, ob ich sie auch wunderbar finde, hängt doch unsere gemeinsame Zukunft ab, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
»Sei nicht so zynisch, Franzi, das paßt nicht zu dir«, tadelte der Mann sichtlich verärgert. Trotzdem war seine Miene noch immer freundlich und unbewegt.
Franziska wußte, daß das die Ruhe vor dem Sturm war. So gut kannte sie den Juniorchef der Firma Hirzel und Sohn schon, daß sie die meisten seiner Reaktionen bereits vorausahnen konnte. Darum schwieg sie jetzt und bemühte sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Er sollte nicht merken, wie aufgeregt sie war, wie ihr Herz vor Angst klopfte, ihn heute das letzte Mal zu sehen, weil sie seinen Vorschlag ablehnen mußte.
»Wie alt ist Marion eigentlich?« Geschäftsmäßig legte der Mann die Hände gegeneinander und schaute sein Gegenüber über den Tisch hinweg erwartungsvoll an.