Читать книгу Sophienlust Bestseller Box 5 – Familienroman - Marietta Brem - Страница 6

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Sonja Rieder stand vor dem Garderobenspiegel. Aufmerksam musterte sie sich, dann lächelte sie. Sie fand, daß ihr die neue Frisur gut stand. Eifrig zupfte sie dann jedoch hier noch ein Löckchen zurecht, zuletzt holte sie einen Lippenstift aus ihrer Handtasche.

»Mami, was machst du da?« fragte Mark. Interessiert beobachtete er seine Mutter.

Sonja zuckte zusammen, sie fühlte sich ertappt.

»Ich… gehe weg.« Rasch steckte sie ihren Lippenstift in die Tasche zurück.

»Ich komme mit«, verkündete der Neunjährige.

Sonja erschrak. »Ich dachte, du willst heute nicht hinaus. Das hast du doch vorhin gesagt.«

»Ich will nicht zu Bernd«, verbesserte Mark seine Mutter. »Mit dir ist das etwas anderes.«

»Ich gehe nur spazieren. Ich bin auch bald wieder zurück«, wich Sonja aus.

»Ich komme mit.«

»Hast du deine Aufgaben schon gemacht?« Sonja versuchte, ihrer Stimme Strenge zu verleihen.

»Klar. Soll ich sie dir zeigen?«

»Später.« Sonja unterdrückte einen Seufzer.

Mark sah kritisch an sich herunter. »Muß ich mich umziehen? Du hast dich so schick gemacht.« Er war es nicht gewohnt, daß seine Mutter einen Lippenstift benutzte. Sie schminkte sich höchstens mal am Abend, wenn sie mit Papa groß ausging.

Sonja wandte sich schnell ab.

»Wenn wir nur spazierengehen, dann kann ich ja meine Rollschuhe anziehen«, überlegte Mark laut.

»Das ist eine Idee. Du fährst Rollschuh. Du kannst dazu auf den Spielplatz gehen. Ich komme dann dort vorbei und hole dich ab. Wenn du rausgehst, muß ich die Tür absperren.«

»Warum hast du es plötzlich so eilig?« maulte Mark. »Ich habe meine Rollschuhe im Abstellraum. Ich mußte sie gestern ja unbedingt wegräumen.«

Sonja unterdrückte eine Antwort. Sie wollte sich jetzt auf keine weitere Diskussionen einlassen. Vielsagend öffnete sie die Wohnungstür.

»Gleich.« Mark trollte sich in Richtung Abstellraum.

Für Sonja dauerte es ewig, bis er mit seinen Rollschuhen wieder zurückkam.

»So, jetzt muß ich sie noch anziehen. Am besten mache ich das erst im Hausflur. Wenn ich damit die Treppe hinuntergehe, dann poltert es, und Frau Weißert schimpft wieder.«

»Sie ist die Hausmeisterin«, sagte Sonja nach einem erneuten Blick auf die Uhr.

»Mhm«, machte Mark. »Es gibt Schlimmeres. Bernd sagt zu seiner Hausmeisterin immer dumme Gans oder blöde Ziege.« Er schielte zu seiner Mutter empor. Was würde sie jetzt sagen?

Sonja sagte nichts, denn sie hatte diese Bemerkung überhört. Sie drängte nur: »Komm endlich, damit ich abschließen kann.«

»Bin schon weg.« Mark schoß an seiner Mutter vorbei. Als Sonja ins Erdgeschoß kam, hatte er bereits den rechten Rollschuh am Fuß.

»Du kannst schon vorausgehen«, sagte er und hob kurz den Kopf. »Bis du an der Ecke bist, habe ich dich eingeholt.«

»Ich muß sowieso nicht auf dich warten«, meinte Sonja. Sie nahm ihren Worten aber die Schärfe, indem sie ihren Sohn anlächelte. »Du findest doch allein zum Spielplatz.«

»Ich will aber nicht auf den Spielplatz.« Eilig schnürte Mark sich auch den zweiten Rollschuh zu. »So, ich bin fertig. Es kann losgehen.«

»Wohin willst du denn?« fragte Sonja ungeduldig.

»Mit dir mit«, meinte Mark ungerührt. Er verstaute seine Hausschuhe hinter der Treppe, dann rollte er zur Haustür. »Jetzt siehst du wenigstens einmal, wie gut ich schon Rollschuh laufen kann.«

»Muß das unbedingt heute sein?« meinte Sonja unsicher. »Wir können ja morgen einen Spaziergang machen.«

»Was willst du dann heute tun?« fragte Mark. Er riß für seine Mutter die Eingangstür auf.

»Eigentlich nichts«, wich Sonja aus. Rasch trat sie auf die Straße hinaus. Sie wollte die weiteren Fragen ihres Sohnes nicht beantworten. Vergebens zerbrach sie sich den Kopf, wohin sie ihn schicken könnte. Es war wie verhext, denn sonst zeigte er sich nie so anhänglich. Wenn sie sich bei ihrem Mann darüber beklagte, dann lachte dieser nur. Er war der Ansicht, daß ein Neunjähriger eine gewisse Freiheit genießen sollte.

»Wohin gehen wir eigentlich?« fragte Mark und unterbrach damit seine Mutter in ihren Gedanken.

Sonja blieb stehen. »Wenn dir langweilig ist, dann kannst du ja woandershin fahren.«

Mark zog eine Schnute. »Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich begleite.«

Diese Worte versetzten Sonja einen Stich. Sie fuhr ihrem Sohn über das Haar. Sagen konnte sie nichts. Sie hatte ein schlechtes Gewissen.

»Na, siehst du.« Mark strahlte zufrieden. »So bist du nicht allein.«

»Das ist lieb von dir.« Sonjas Stimme klang rauh, und sie sah ihren Sohn auch nicht an. »Aber es macht mir wirklich nichts aus. Ich wollte sowieso nur bis zum Park gehen und dann hätte ich im Parkcafé einen Kaffee getrunken.«

»Dabei leiste ich dir auch Gesellschaft«, erklärte Mark. Seine Hände versanken in den Hosentaschen. Er kam sich heute sehr erwachsen vor.

»Mit Rollschuhen ist das ausgeschlossen.« Abschwächend setzte Sonja hinzu: »Du weißt ja, das Parkcafé ist ein sehr schönes, elegantes Café.«

»Deswegen hast du dich also so hübsch gemacht. Warum hast du das nicht vorher gesagt? Ich hätte mir dann auch eine andere Hose angezogen.«

»Mit Rollschuhen hättest du sowieso nicht hineingekonnt.« Sonja schritt schneller aus. Die Ungeduld trieb sie vorwärts.

»Aber es gibt dort gutes Eis.« Mark bemühte sich, an ihrer Seite zu bleiben.

»Du kannst eines in der Tüte bekommen«, sagte Sonja. Sie lächelte. Wie sie Mark kannte, würde er sich damit zufriedengeben. Sie warf ihm einen raschen Seitenblick zu und stellte erleichtert fest, daß er zufrieden grinste.

»Siehst du«, verkündete er. »Dich zu begleiten lohnt sich immer. So und jetzt zeige ich dir, wie ich fahren kann.« Schon sauste er den Gehweg entlang. Geschickt wich er Fußgängern aus und drehte auch einige Kreise. An einem anderen Tag hätte Sonja ihn sicher ermahnt, vorsichtiger zu fahren, doch jetzt war sie froh, daß er nicht an ihrer Seite fuhr und ihr womöglich noch weitere Fragen stellte.

»Hier hast du zwei Euro«, meinte sie großzügig, als sie das Parkcafé erreicht hatten.

»Prima, das reicht für eine große Tüte.«

»Laß es dir schmecken. Du kannst ja dann etwas im Park herumfahren. Vielleicht triffst du einen Freund.« Sonjas Blick wanderte zum Eingang des Parkcafés hin. »Ich finde dich dann schon.«

»He, willst du so lange da drinnen bleiben?« Mark griff nach dem Arm seiner Mutter. »Du könntest dir doch auch nur eine Eistüte kaufen. Papa hat dies beim letzten Mal auch nur getan.«

»Ich möchte einen Kaffee trinken«, sagte Sonja. Ungeduldig befreite sie ihren Arm. »Wenn du in der Zwischenzeit anständig bist, bekommst du noch ein Eis.«

Das war verlockend. Mark aß Eis für sein Leben gern. »Ich esse das Eis, dann fahre ich um den Springbrunnen herum. Bis dahin hast du deinen Kaffee sicher getrunken.«

»Natürlich.« Sonja fuhr ihrem Sohn über das Haar, dann ging sie rasch auf den Eingang zu. Dort drehte sie sich nochmals um. Ihr war eingefallen, daß sie ihrem Sohn keine weiteren Verhaltensmaßnahmen gegeben hatte. Auf keinen Fall dürfte er mit den Rollschuhen hinaus auf die Straße. Mark jedoch war schon zum Eisstand gefahren. So zuckte sie nur die Achseln und betrat das Café.

*

»Ich habe eine Neuigkeit!« Henrik, Denise von Schoeneckers neunjähriger Sohn, stürzte auf den Spielplatz von Sophienlust.

Ein Mädchen sprang auf. »Ist Nick auch schon da?« fragte sie.

»Nick, immer Nick«, maulte Henrik empört. »Ich bin da!«

»Wenn du Pünktchen gefallen willst, dann mußt du schon noch ein Stückchen wachsen«, neckte ein anderes Mädchen Henrik.

»Ich habe nur nach Mick gefragt, weil ich mit ihm verabredet bin«, verteidigte sich das Mädchen, das Pünktchen genannt wurde. Diesen Spitznamen verdankte sie ihren unzähligen Sommersprossen.

»Keine Ausrede.« Angelika Langenbach lachte. Sie war zwölf Jahre alt, ein Jahr jünger als Pünktchen. »Wir wissen doch alle, daß du immer nur auf ihn wartest.«

Unerwarteterweise kam Henrik Pünktchen zu Hilfe. »Nick ist auch ein toller Bursche«, lobte er seinen um sieben Jahre älteren Bruder. »Auf ihn zu warten ist keine Schande. Pünktchen, du hast ganz recht, wenn du seine Freundin bist.«

»Ich bin aber auch seine Freundin«, meldete sich ein kleines Mädchen zu Wort. Sie hieß Heidi, war fünf Jahre alt und damit das jüngste Dauerkind von Sophienlust. »Nick hat versprochen, einmal auch mit mir auszureiten. Das darf er doch, oder?« Heidi sah Pünktchen an.

Deren Wangen hatten sich rot gefärbt. »Ich bestimme doch nicht, was Nick tun und lassen darf«, sagte sie verlegen.

»Noch nicht«, sagte Heidi altklug. »Ich weiß etwas!« Vor Eifer platschte die Kleine in die Hände. »Ich heirate Henrik und du Nick, wenn wir groß sind. Dann können wir beide für immer hierbleiben.«

»Dazu kann ich noch nichts sagen«, meinte Henrik. »Jetzt siehst du ja ganz herzig aus. Mal abwarten, wie du aussiehst, wenn du ins heiratsfähige Alter kommst.«

Noch einige Zeit scherzten und flachsten die Kinder.

»Moment«, meldete sich Henrik nach einiger Zeit wieder zu Wort. »Ich wollte euch doch eine Neuigkeit erzählen. Was glaubt ihr, warum ich mit Mutti hergekommen bin?«

»Du kommst doch fast jeden Tag her«, meinte Vicky, Angelikas Schwester.

»Weil du uns alle magst«, rief Heidi.

»Quatsch!« Henrik sprang auf die Schaukel. So konnte er alles besser überblicken.

Heidi beeindruckte das nicht. »Warum magst du uns nicht mehr?« fragte sie.

»Das habe ich doch nicht gesagt.« Langsam wurde Henrik ärgerlich. »Kannst du nicht einmal dein Plappermäulchen halten? Ich habe eine Neuigkeit.« Mit einer Hand hielt er sich an der Kette der Schaukel fest, mit der anderen klopfte er sich auf die Brust. Er machte sich gern wichtig.

Pünktchen ermutigte ihn lächelnd. »Komm, schieß schon los. Wir sind alle sehr gespannt.«

»Ja, das ist so.« Henrik räusperte sich. Er genoß es, daß jetzt alle Blicke auf ihn gerichtet waren. »Wir besuchen Jürgen im Krankenhaus. Nick ist nicht da. Also bestimme ich, wer uns noch begleiten darf.«

»Du irrst, Bruderherz«, sagte Dominik von Wellentin-Schoenecker. Unbemerkt hatte er sich von der anderen Seite an den Spielplatz herangeschlichen. Hinter einem Busch hatte er lächelnd gewartet, bis Henrik richtig in Fahrt war. Er neckte seinen Bruder gern.

»Du!« Henrik fiel beinahe von der Schaukel. »Was willst du denn? Du hast doch gesagt, daß du nicht mit ins Krankenhaus fährst.«

»Habe ich auch nicht vor.«

»Dann sei so nett und laß mich in Ruhe. Immer wird man von dir gestört«, knurrte Henrik.

»Keine Sorge, von dir will ich nichts. Ich komme nur Pünktchen abholen. Hast du vergessen, Pünktchen, du wolltest doch mit zum Gestüt.«

»Ich habe schon auf dich gewartet«, sagte die Dreizehnjährige eifrig. Sie strahlte Nick an. Ihr war es egal, wenn die Kinder sie neckten. Sie hing nun mal ganz besonders an Nick und träumte bereits davon, einmal seine Frau zu werden.

»Los, dann verschwindet«, sagte Henrik. »Merkt ihr nicht, daß ihr hier überflüssig seid?«

»Schon kapiert, Bruderherz. Du willst Hof halten. Pünktchen, interessiert dich das, oder verlassen wir den gastfreundlichen Platz?« scherzte Nick.

»Gehen wir«, sagte Pünktchen ohne zu zögern.

»Geht nur, ihr seid für mich viel zu erwachsen.« Henrik sprang von der Schaukel. Er drehte seinem Bruder und Pünktchen den Rücken zu. »Wer hören will, was ich noch zu sagen habe, der folge mir.« Er lief in den Park hinein. Unter den ersten Bäumen blieb er stehen. Zufrieden stellte er fest, daß die meisten ihm folgten, und so lief er weiter bis zum Weiher, der in der Mitte des Parks lag.

Atemlos erreichte Heidi ihn als erste. »Ich bin nicht erwachsen«, keuchte sie. »Ich will hören, was du sagen wolltest.«

»Mutti fährt Jürgen besuchen. Ich fahre mit. Willst du auch mitkommen?«

»Ja, ich möchte Jürgen trösten.« Heidi drängte sich nahe an Henrik heran. »Ich habe auch noch Schokolade«, flüsterte sie. »Du bekommst ein Stückchen ab, wenn ich mit darf.«

»Habe nichts dagegen.« Henrik grinste.

»Für Jürgen müssen wir aber auch etwas übrig lassen. Ich muß ihm doch etwas mitbringen.« Auf Heidis Stirn erschien eine Falte. »Darf ich wirklich mit?«

Henrik warf sich in die Brust. »Wenn ich es sage!«

»Aber wie willst du das denn machen?« Heidi schob ihre Unterlippe nach vorne. »Du bist doch auch nur ein Kind und mußt folgen.«

»Und?« entgegnete Henrik etwas ungehalten. »Willst du etwa Jürgen nicht besuchen?«

»Schon, aber ich darf bestimmt nicht.«

»Wenn ich es doch sage«, gab Henrik an, wurde aber von Angelika unterbrochen.

»Heidi war gestern mit Tante Isi da. Heute ist jemand anderes dran.«

»Das kann ich doch nicht wissen.« Unsicher senkte Henrik seinen Blick. »Wir müssen uns sowieso beeilen. Mutti will ja bald fahren. Ich bin euch ja auch nur holen gekommen. Das war doch lieb von mir?«

»Klar«, stimmte Angelika sofort friedfertig zu. Henrik war bei allen sehr beliebt, denn er war sehr hilfsbereit und zögerte nie lange, wenn es darum ging, für ein anderes Kind einzuspringen. »Ohne dich hätten wir nicht einmal gewußt, daß Tante Isi jetzt schon fährt. Auch wenn wir nicht alle mitfahren können, wollen wir Jürgen doch grüßen lassen.«

»Die Grüße richte ich ganz sicher aus«, sagte Henrik wieder eifrig. »Mutti hat gesagt, er muß auch nicht mehr lange im Krankenhaus sein. Er ist ja schon operiert.«

»Hat das sehr weh getan?« erkundigte Heidi sich mitleidig.

»Habe ich Mutti auch gefragt.« Henrik setzte wieder eine wichtige Miene auf. »Mutti hat gesagt, er hat nichts gespürt, und jetzt bekommt er dafür sehr viel Eis zu essen.«

»Stimmt«, erklärte Angelika. »Er muß Kaltes essen, damit die Blutung gestillt wird.«

»Und das tut nicht weh?« fragte Heidi nochmals. »Jürgen hat doch vorher so starkes Halsweh gehabt.«

»Das waren die Mandeln«, wurde sie von Henrik belehrt, »und die haben sie ihm nun herausgeschnitten.«

»Und dafür gibt es Eis«, überlegte Heidi. Ihre Hand fuhr zum Hals. »Ich glaube, ich habe auch Halsweh.«

»Das würde ich mir an deiner Stelle aber gut überlegen«, gab Henrik zu bedenken.

Heidi nickte ernsthaft. »Ich warte damit, bis Jürgen wieder in Sophienlust ist. Dann kann ich ihn fragen, wie es im Krankenhaus war. Vielleicht schmeckt das Eis gar nicht so gut, das er bekommen hat.«

»Ich kann jederzeit auf ein Eis verzichten«, verkündete Henrik. »Ich muß mich jetzt aber beeilen. Mutti ist sicher schon fertig.« Von den anderen Kindern gefolgt, stob er davon.

Die Kinder liefen auf dem kürzesten Weg zum Haus. Das Haus war ein großes einstöckiges Gebäude mit neuangebautem Nebentrakt. Es hatte eine weiße Fassade und große Fenster mit grünen Fensterläden. Eine Freitreppe führte hinauf zum Portal. Durch dieses gelangte man in eine große Halle. So weit kamen die Kinder aber nicht, denn Denise von Schoenecker, eine aparte Frau mit schwarzem Haar, kam ihnen schon entgegen. Stürmisch wurde sie von den Kindern umringt. Denise lachte und hob abwehrend die Hand. Alle Fragen konnte sie sowieso nicht gleichzeitig beantworten.

*

Mark fuhr zwischen Spielplatz und Parkcafé hin und her. Sein Eis hatte er schon lange aufgegessen. Er langweilte sich. Immer schneller drehte er seine Kurven, schließlich prallte er beinahe gegen eine Spaziergängerin.

»Was fällt dir denn ein!« schimpfte die Frau. »Hier ist ein Parkweg.«

»Wo soll ich denn dann fahren?« maulte Mark.

»Jedenfalls nicht hier. Der Park soll der Erholung dienen. Wenn solche Bengel wie du hier herumfahren, dann ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher! Ich werde mich beschweren.«

Mark zog es vor, zu verschwinden. Er fuhr wieder zum Spielplatz zurück, aber dort waren nur kleine Kinder. Jungen seines Alters konnte er nicht entdecken. Kein Wunder, außer einer Rutsche und einem Sandkasten gab es hier keine Geräte. Da war auf dem Spielplatz neben der Schule doch noch mehr los. Wenigstens gab es da eine Schaukel und ein riesiges Klettergerüst. Irgendeinen Spielkameraden hätte er dort sicher auch gefunden. Aber konnte er wissen, daß seine Mutter so lange brauchen würde? Immer schneller fuhr er um die Sandkisten herum.

»Wirst du wohl aufhören!« schimpfte eine junge Frau, die in der Nähe auf einer Bank saß. »Du erschreckst ja die Kinder. Stell dir nur vor, du überfährst eines!«

Mark zog es vor, nicht zu antworten, sondern trollte sich wieder. Sein nächstes Ziel war das Parkcafé. Einige Male umrundete er das Lokal. Dahinter befand sich ein kleiner See, auf dem Enten schwammen. Als kleiner Junge hatte er diese Enten stets gefüttert. Was sollte er aber nun tun? Zum Entenfüttern fühlte er sich schon zu alt, auch hatte er kein Brot dabei. Seine Mutter konnte er nirgends entdecken, weder an einem der großen Fenster noch auf der Terrasse.

Wütend setzte Mark sich auf die unterste Terrassenstufe. Er überlegte, ob er nicht einfach wegfahren sollte. Es war das Eis, das ihn zurückhielt. Seine Mutter hatte doch gesagt, wenn er brav wartete, würde er noch eine Tüte bekommen. Mark nahm Kieselsteine vom Boden auf und begann damit nach Baumstämmen zu zielen. Er bemerkte nicht, daß der Kellner ihn von der Terrasse aus mit mißbilligenden Blicken bedachte. Bald hatte er das Steinchenspiel satt. Er begann, die Stufen hinaufzusteigen und dann im Schwung darüber zu hüpfen oder zu fahren. Bald konnte er drei Stufen überspringen. Nun fand der Kellner es an der Zeit, einzugreifen. Er kam herbei und packte Mark ziemlich unsanft am Kragen.

»Das hier ist kein Spielplatz. Sieh zu, daß du verschwindest.«

»Aber ich warte doch auf meine Mutter.« Mark wandte sich um und versuchte, sich aus dem Grff des Kellners zu befreien.

»Du kannst auf deine Mutter warten, wo du willst, nur nicht hier«, entgegnete der Kellner unfreundlich. Er ließ Mark los. »Und nun verschwinde, aber schnell. Ich sage nicht gerne zweimal das gleiche.«

Mark blickte in das wütende Gesicht des Mannes und zog es vor, zu gehorchen. Sein nächstes Ziel war der Parkeingang, aber auch dort schien er den Spaziergängern im Weg zu sein. Allmählich wurde es dem Neunjährigen zu dumm, und die Langeweile trieb ihn auf die Straße. Der Fußgängerübergang zog ihn an. Er drückte auf den Knopf. Es wurde grün, und er schoß über die Kreuzung. Immer wieder drückte er. Er fand Spaß daran, die Autos durch seinen Knopfdruck zum Halten zu bringen. Dann begann er, das Überqueren hinauszuzögern. Kurz bevor die Ampel wieder auf rot sprang, sauste er los. Er grinste, denn dieses Spiel begann ihm Spaß zu machen, und es war niemand da, der ihn zurechtwies.

Dann geschah es. Mark wartete zu lange. Die Fußgängerampel zeigte schon rot, als er über den Bordstein rollte. Aus den Augenwinkeln sah er, daß sich die Autos in Bewegung setzten. Er flitzte los. Er war überzeugt, es zu schaffen, doch dann stolperte er. Riesengroß kam das Auto auf ihn zu. Halb aufgerichtet sah er ihm entgegen. Vor Schreck konnte er sich nicht bewegen.

Der Autofahrer hatte es eilig gehabt. Nervös hatte er auf das Umschalten der Ampel gewartet. Er sah nur das Grün und gab Gas. Den Jungen sah er erst im letzten Moment. Voll trat er auf die Bremse, aber es war schon zu spät.

*

Heidi saß strahlend im Fond des Autos. Sie hatte doch mitgedurft. »Du bist Spitze«, flüsterte sie Henrik zu.

»Nicht mein Verdienst«, gab Henrik zurück. Nicht immer schmückte er sich mit fremden Federn. »Du hast Glück gehabt, weil Pünktchen und Nick nicht mitfahren wollten, und weil Fabian auch verzichtet hat.«

Heidi runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, daß Fabian dafür von Magda einen Keks bekommt.«

»Alles kann man eben nicht haben«, stellte Henrik altklug fest.

»Ich besuche lieber Jürgen«, mischte sich Vicky ein. Sie saß neben Henrik und Heidi auf dem Rücksitz, während ihre Schwester vorne sitzen durfte. »Jürgen hat wirklich Pech. Da ist er nur so kurz bei uns, und dann muß er auch noch ins Krankenhaus.«

»Ich frage ihn, ob es ihm gefällt«, meinte Heidi. Sie fuhr sich mit der Hand an den Hals, denn sie spielte noch immer mit dem Gedanken, auch Halsweh zu bekommen.

»Wir sind da«, verkündete Henrik. »Da vorne ist ein Parkplatz, Mutti.« aufgeregt streckte Henrik seine Hand aus.

»Schon gesehen.« Denise von Schoenecker fuhr in die Parklücke. Da Henrik bereits die Türen aufreißen wollte, wandte er sich rasch nach ihm um. »Einen Moment, mein Sohn. Was für die anderen gilt, gilt auch für dich. wir machen einen Besuch im Krankenhaus. Da wird nicht herumgetobt. Wir bleiben auch alle beisammen.«

»Das ist doch klar, Mutti«, erwiderte Henrik.

»Dann warte auch mit dem Aussteigen, bis wir alle soweit sind.«

»Okay, Heidi, ich helfe dir.« Henrik löste den Gurt vom Kindersitz und half Heidi heraus. »Dürfen wir jetzt die Türen öffnen?«

»Ja«, sagte Denise und stieg aus.

»Heidi, dich nehme ich lieber an die Hand«, sagte Henrik. »Auch auf einem Parkplatz muß man aufpassen. Manche Autofahrer sind sehr rücksichtslos.« Henrik warf seiner Mutter einen schelmischen Blick zu.

»Ich kann schon auf mich allein aufpassen.« Heidi drehte ihr Köpfchen nach links und dann nach rechts, daß ihre Zöpfchen nur so flogen.

Während die Kinder hinter Denise auf das Gebäude zugingen, plapperten sie noch munter, doch ihr Gespräch brach abrupt ab, als die Sirene des Krankenwagens ertönte. Ängstlich sah Heidi Henrik an.

»Du, da liegt ja jemand drinnen? Jemand, der sehr krank ist?«

»Wahrscheinlich, denn wenn es nicht pressieren würde, wäre die Sirene nicht eingeschaltet. Ich möchte jedenfalls nicht da drinnen liegen.« Henrik folgte dem Krankenwagen mit den Augen. Nicht weit entfernt von den Kindern hielt er vor dem Hintereingang des Krankenhauses.

»Müssen wir da auch hinein?« fragte Heidi beklommen. Sie hatte sich etwas von Henrik gelöst. Ihre Augen wurden ganz groß vor Mitleid, als sie erkannte, daß tatsächlich jemand in dem Wagen lag. »Wird dem nun auch etwas herausgeschnitten?« fragte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie auf den Rettungswagen zu, aus dem Mark gerade herausgehoben wurde. Er war nicht bei Bewußtsein.

»Heidi!« rief Henrik.

»Ich muß ihn doch trösten! Sicher hat er Angst. Ich will ihm sagen, daß das Herausschneiden nicht wehtut!« Heidi lief weiter. Henrik holte sie ein und hielt sie fest. Dabei warf er einen Blick auf die Tragbahre.

»Mark«, entfuhr es ihm. »Mark!« Er ließ Heidi los und lief nun selbst hinter den Trägern her. »Mark, so sag doch etwas.«

Henrik blieb stehen. Er hatte erkannt, daß sein Schulkamerad ihm nicht antworten konnte. Dann kehrte er um und eilte auf seine Mutter zu.

»Mutti, das war Mark! Er hat sich überhaupt nicht gerührt! Es muß ihm etwas Schreckliches passiert sein!« Henriks Stimme überschlug sich fast. »Zwei Männer haben ihn auf einer Trage hineingetragen.«

»Ich habe es gesehen.« Denise zog Henrik an sich. Sie spürte seine Erregung. »Ist Mark ein Schulkamerad von dir?«

Henrik nickte. Langsam faßte er sich wieder. »Mark sitzt in der Schule vor mir. Er ist ein feiner Kerl. Mutti, er war ganz allein. Bitte, Mutti, vielleicht kannst du ihm helfen?«

»Henrik, Mark braucht sicher einen Arzt. Ich kann da nicht helfen.« Denise strich ihrem Sohn über den stets wilden Haarschopf.

»Vielleicht hat der Bub aber Angst«, meinte Heidi. »Ich hätte schreckliche Angst. Die beiden Männer hatten es so eilig. Die haben ihn sicher nicht getröstet.«

»Mutti, ich verstehe das auch nicht. Mark hat doch eine Mutter und einen Vater. Warum wird er ganz allein ins Krankenhaus gebracht? Wenn ich ins Krankenhaus müßte, würdest du doch mitfahren.« Henrik schmiegte sich an seine Mutter.

»Tante Isi ist mit Jürgen auch mitgefahren«, sagte Angelika.

»Aber Mark war ganz allein. Außer den beiden Männern im weißen Mantel war niemand im Rettungswagen. Mutti, was fehlt Mark?«

»Ich werde mich erkundigen«, versprach Denise.

»Und du tröstest ihn auch, wenn er Angst hat?« fragte Heidi.

»Wenn Mutti zu ihm darf, dann tut sie das sicher. Mutti, frag’ bitte. Wir warten hier auf dich. Sag einfach, daß ich Mark kenne. Du kannst auch sagen, daß er mein Freund ist.«

»Ihr könnt in der Halle des Krankenhauses warten«, sagte Denise entschlossen. »Ich werde mich an der Aufnahme erkundigen.« Aufmunternd berührte sie Henriks Wange. Dann sah sie Angelika an. Mit ihren zwölf Jahren war diese die Älteste. Sie verstand auch sofort.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Tante Isi, wir warten in der Halle auf dich.« Mit der einen Hand griff sie nach Heidi, mit der anderen nach ihrer Schwester.

Denise wandte sich an die Aufnahme. Sie erkundigte sich nach dem Jungen, der soeben eingeliefert worden war.

»Meinen Sie den Jungen, der von einem Auto angefahren wurde? Warten Sie.« Die Frau erhob sich und kam aus ihrer Glaskabine. »Sind Sie die Mutter des Jungen?«

»Nein. Wir sahen nur, wie er eingeliefert wurde. Mein Sohn kennt ihn. Ist er schwer verletzt?«

»Es sieht so aus. Wir wissen nur soviel, daß der Junge direkt in ein Auto hineinlief. Er wird bereis zur Operation vorbereitet. Sie können uns sicher den Namen des Jungen sagen. Offensichtlich war er allein.«

»Natürlich. Mein Sohn wartet in der Halle, ich kann ihn fragen. Im Moment weiß ich nur den Vornamen.« Denise sah die Frau an. »Kann ich den Jungen sehen? Ich meine, bevor er operiert wird. Wenn der Junge allein ist, dann könnte ich vielleicht helfen.«

»Ich werde fragen. Bevor Sie das Krankenhaus verlassen, kommen Sie bitte mit Ihrem Sohn nochmals bei mir vorbei. Vielleicht weiß ihr Sohn auch, wo der Junge wohnt. Hat er Eltern?«

Denise dachte daran, was Henrik gesagt hatte und nickte. Wenig später wurde sie von einer Krankenschwester geholt. Diese brachte Denise in den Vorraum des Operationsaales. »Er ist gerade zu sich gekommen, aber nicht ansprechbar. Wahrscheinlich hat er starke Schmerzen.«

»Darf ich?«

Mark stöhnte und öffnete die Augen. Denise beugte sich über ihn. »Ich bin Henriks Mutter. Henrik geht mit dir in die gleiche Klasse. Erinnerst du dich an ihn?«

»Henrik«, wiederholte Mark, dann jedoch wurden seine Augen starr. »Das Auto. Es war so schnell. Ich kam nicht mehr auf die andere Seite. Mama wird böse sein.« Stoßweise kamen die Worte aus seinem Mund. Er wollte sich aufrichten. Mit einem Schmerzenslaut sank er zurück. »Alles tut so weh. Ich kann mich nicht rühren. Wo bin ich? Ich will zu meiner Mama.«

Marks Stimme brach. Er schluchzte nur noch vor sich hin.

Die Schwester, die ebenfalls herangekommen war, reichte Denise ein Tuch. Denise nahm es. Sie tupfte Mark die Schweißtropfen von der Stirn. Liebevoll sagte sie dabei zu ihm: »Du bist im Krankenhaus. Gleich wirst du keine Schmerzen mehr haben. Die Ärzte werden dir helfen.«

»Du bist lieb.« Mark griff nach Denises Hand. »Mama ist sicher böse auf mich. Ich hätte im Park warten sollen. Au, es tut so weh.« Marks Gesicht verzerrte sich. Er klammerte sich an Denises Hand.

»Entschuldigen Sie, Dr. Bichler und Dr. Leitner sind soweit. Wir müssen den Jungen in den Operationssaal bringen.« Ein Krankenwärter war herangekommen.

»Nein«, schrie Mark. »Bitte, bleib bei mir.«

»Das geht nicht, Mark. Nur Ärzte dürfen in den Operationssaal. Aber Henrik und ich kommen dich ganz sicher einmal besuchen. Dann geht es dir schon besser, und du hast keine Schmerzen mehr.«

»Wirklich!« Kurz leuchteten Marks Augen auf. »Ich wußte gar nicht, daß Henrik so eine nette Mutter hat. Du!« Nochmals drückte er Denises Hand. »Wo ist meine Mama? Ist sie noch immer im Café? Das Auto… Mama weiß gar nicht, daß ich auf die Straße gelaufen bin.« Sein Atem ging wieder stoßweise.

»Ich werde es deiner Mama sagen. Jetzt mußt du ganz ruhig sein. Du bekommst eine Narkose, und wenn du aus der Narkose erwachst, dann ist deine Mama da.«

»Kommst du mich auch wirklich wieder besuchen?« fragte Mark noch, dann schloß er die Augen. Die Beruhigungsspritze begann zu wirken.

*

»So und jetzt trinken wir noch ein Glas Wein.« Elmar Dahl blickte Sonja Rieder tief in die Augen. Sie war genau sein Typ.

»Dazu ist es noch viel zu früh. Nachmittags trinke ich keinen Wein.« Sonja lächelte.

»Gut, dann heute abend um acht. Ich kenne ein sehr nettes Weinlokal.«

»Ausgeschlossen.« Sonja erschrak. Auf was ließ sie sich da ein?

»Aber Sonja!« Lächelnd griff Elmar über den Tisch und strich sachte über Sonjas Handrücken.

Sonja entzog ihm ihre Hand. »Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein.«

»Aber Sie sind hier. Endlich haben Sie meine Einladung angenommen.« Elmar strahlte sie an.

Verlegen strich Sonja sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Warum auch nicht? Niemand kann mir verbieten, am Nachmittag eine Tasse Kaffee zu trinken.«

»Ich hoffe, Sie werden das jetzt öfter tun.«

»Vielleicht.« Sonja lächelte kokett. »Das ist ein Wort. Entschuldigen Sie, Sonja, darauf müssen wir wirklich ein Glas trinken.« Elmar ließ keinen weiteren Einwand mehr gelten und winkte der Kellnerin. »Einen Liter französischen Rotwein. Einen Moment«, er schlug die Weinkarte auf.

»Nein, keinen Liter. Höchstens ein Viertel. Elmar, wirklich, ich kann nicht so lange bleiben.«

»Gut«, gab Elmar Dahl nach. »Ihr Wunsch ist mir Befehl.«

Die Kellnerin brachte den Wein. Als sie wieder weg war, hob Elmar sein Glas. »Ich trinke darauf, daß dieser Nachmittag eine Fortsetzung findet.« Er sagte es sehr ernst und verwirrte Sonja damit wieder. »Sie wissen gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe.«

»Hören Sie auf, Elmar.« Sonja sah ihn über den Rand ihres Glases an. »Glauben Sie, ich weiß nicht, was für ein Schürzenjäger Sie sind? Meine Freundin hat mich vor Ihnen gewarnt!«

»Wie schön, daß Sie trotzdem gekommen sind. Ich hoffe, Sie geben mir Gelegenheit, Ihnen zu beweisen, daß Ruth maßlos übertreibt.« Elmar hob sein Glas. »Ich danke Ihnen.«

Gleich darauf wechselte er das Thema. Seit zehn Jahren arbeitete er als Vertreter und seine beste Kundschaft waren die Hausfrauen. Bei seinem Charme fiel es ihm nicht schwer, mit ihnen zu einem Abschluß zu kommen. Er konnte aber auch geistreich plaudern, und zwischendurch sparte er nicht mit Komplimenten. Sonja vergaß die Zeit, und sie vergaß ihren Sohn. In Elmars Nähe fühlte sie sich als Frau. Seit einem halben Jahr kannte sie ihn nun. In einem Kaufhaus war sie ihm zum erstenmal begegnet. Sie war in Begleitung Ruth Brunners gewesen. Unter einem simplen Vorwand hatte er sie angesprochen, und Ruth war von ihm begeistert gewesen. Ohne Bedenken hatte sie die Einladung zu einem Kaffee angenommen. Seitdem hatte sie sich hin und wieder mit Elmar Dahl getroffen, aber immer war auch Ruth dabeigewesen. Vorige Woche nun hatte Sonja seinem Drängen nachgegeben, und jetzt saß sie ihm zum erstenmal allein gegenüber. Sie hatte durchaus Bedenken gehabt. In ihrer zehnjährigen Ehe hatte es für sie bisher nur ihren Mann und ihren Sohn gegeben. Ulrich, ihr Mann, hatte seine Arbeit und war oft beruflich unterwegs. Mark wurde immer selbständiger. Auch er brauchte sie nicht mehr so viel. Gerne hätte sie sich wieder eine Arbeit gesucht, aber Ulrich war strikt dagegen. Jetzt jedoch dachte sie nicht an ihren Mann. Sie lachte viel. Es war Elmar gelungen, sie aus ihrer Reserve zu locken.

Dann fiel Sonjas Blick zufällig auf die Uhr. »Mein Gott, sitze ich wirklich schon über eine Stunde hier?« fragte sie erschrocken.

»Eineinhalb. Ich weiß es genau. Ich war eine halbe Stunde vor Ihnen da und habe die Minuten bis zu Ihrem Kommen gezählt.«

Sonja ging nicht mehr auf seinen Ton ein. Sie schob das Weinglas von sich. »Ich muß gehen.«

»Nicht doch.« Elmar griff nach ihrer Hand. »Bleiben Sie noch. Wir können auch woandershin fahren. Hinaus aus der Stadt.«

Sonja schlug die Augen nieder. »Bitte, Elmar, es geht nicht. Ich muß mich beeilen.«

»Schade.« Elmar ließ ihre Hand los. Er erkannte, daß es ihr ernst war. »Ich bringe Sie nach Hause.«

»Das geht nicht. Mein Sohn hat mich begleitet.« Sonja hielt ihren Blick noch immer gesenkt.

»Oh, das wußte ich nicht.«

Sonja versuchte ein Lächeln. »Mark ist schon neun und sonst oft allein unterwegs. Nur heute zeigte er sich so anhänglich.«

»Holen Sie ihn doch herein«, schlug Elmar vor. »Ich spendiere ihm ein Eis.«

Sonjas Wangen röteten sich. »Besser nicht. Er…« Sonja unterbrach sich. »Ich werde ihn im Park abholen und nach Hause gehen.«

»Sehen wir uns wieder, Sonja? Ich meine alleine.« Elmars Blick suchte den ihren. »Natürlich, wenn Sie mich nicht mögen, wenn ich Ihnen unsympathisch bin…«

»Nein«, entfuhr es Sonja, und dann röteten sich ihre Wangen noch stärker.

»Dann ist doch alles in Ordnung. Wir treffen uns, wir plaudern. Ich muß für einige Tage verreisen. Sagen wir also in einer Woche, zur gleichen Zeit, wieder hier?«

»Gut.« Sonja gab sich einen Ruck.

»Ich freue mich«, versicherte Elmar. Sein Blick ließ Sonjas Herz schneller schlagen. Wie gern wäre sie noch geblieben, aber sie mußte gehen.

Elmars Abschiedsworte klangen noch in ihr nach, als sie aus dem Café trat. Sie sah sich um, aber von Mark war keine Spur zu entdecken. Sie war noch in froher Stimmung, um sich zu ärgern. Beschwingt eilte sie durch den Park. Nirgends konnte sie ihren Sohn entdecken. Schließlich zuckte sie die Achseln und machte sich auf den Heimweg.

*

»Du bist ja schon da!« Verwirrt sah Sonja Rieder ihren Mann an. Dieser saß im Wohnzimmer und hatte die Füße weit von sich gestreckt. Vor ihm stand ein gefülltes Glas. Nicht gerade freundlich musterte er seine Frau.

»Ich habe mich heute extra beeilt, und was finde ich vor? Eine leere Wohnung!«

Trotz stieg in Sonja hoch. Schnippisch sagte sie: »Woher sollte ich wissen, daß du früher kommen wolltest?«

»Ich warte schon über eine Stunde.« Anklagend erhob Ulrich sich.

Sonja warf ihren Kopf in den Nacken. »Ich habe schon viel länger auf dich gewartet.«

»Das ist doch die Höhe!« Ulrich streckte sich. »Da beeile ich mich… ich habe noch nicht einmal gegessen! Offensichtlich bin ich zu Hause nicht mehr erwünscht. Meine Familie treibt sich irgendwo herum.«

»Soll ich vielleicht zu Hause sitzen und warten, bist du geruhst anzurufen oder persönlich aufzutauchen? Nein, mein Lieber, so blöd bin ich nicht mehr.« Sonja hielt seinem Blick stand.

»Was willst du damit sagen?« Seine Stimme wurde schärfer.

»Nichts. Ich lasse mich von dir nur nicht mehr bevormunden.«

Ulrich war so verblüfft, daß es ihm plötzlich an Worten fehlte. So kannte er seine Frau gar nicht. Er starrte sie an, dann knurrte er: »Ich habe Hunger.«

»Viel habe ich nicht im Haus. Ich habe mit deinem Kommen nicht gerechnet.« Ulrich öffnete den Mund. Ehe er aber seinem Ärger erneut Luft machen konnte, fuhr Sonja fort: »Ich kann dir ein Steak machen. Dazu grüne Bohnen. Wenn dir das genügt?«

»Es wäre zu freundlich, wenn du dir diese Mühe machen würdest.«

Sonja ging nicht auf seinen Ton ein. Sie drehte sich um und ging in die Küche. Nach einiger Zeit kam Ulrich ihr nach.

»Wo ist Mark?«

»Draußen«, entgegnete Sonja kurz.

»Wo draußen?« beharrte Ulrich.

Sonja spürte, daß sie rot wurde. Sie sah nicht auf, sondern begann das Fleisch zu klopfen.

Ulrich setzte sich auf einen Küchenstuhl. »Ich hätte ihn gern begrüßt. Ich war schließlich vier Tage fort.«

»Schön, daß du früher kommen konntest«, sagte Sonja. Ihr schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar.

Zufrieden nickte Ulrich. »Nur dumm, daß ihr nicht zu Hause wart. Bei diesem herrlichen Wetter hätten wir noch etwas unternehmen können. Wo bist du eigentlich gewesen?«

»Ich war im Park. Ich machte einen Spaziergang.« Sonja versuchte, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.

»Du gehst allein spazieren?« wunderte ihr Mann sich.

»Soll ich bei diesem schönen Wetter den ganzen Tag zu Hause hocken?« fuhr Sonja unbeherrscht auf.

Ulrich zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was hast du? Ich wußte nur nicht, daß du auch allein spazierengehst. Du hast dich sonst doch immer beklagt. Hatte Ruth keine Zeit?«

»Ruth, warum fragst du nach Ruth?« Sonja wurde rot. »Ich hatte immer das Gefühl, du siehst es nicht gern, wenn ich mich mit ihr treffe. Aber wenn es dich beruhigt – ich war nicht allein. Mark hat mich begleitet.«

»Warum soll mich das beruhigen?« Kopfschüttelnd erhob sich Ulrich. »Ich habe doch nichts dagegen, wenn du mit Mark spazierengehst. Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht.« Sonja ging wieder in Abwehrstellung.

»Was soll das nun schon wieder heißen?«

»Genau das, was ich gesagt habe. Mark begleitete mich bis zum Park. Dort ging ich ins Café.«

»Ohne Mark?« Ulrich fixierte seine Frau scharf.

»Sollte ich ihn etwa mit seinen Rollschuhen ins Café mitnehmen? Ich habe ihm befohlen, im Park zu warten. Wie so oft, hat er nicht gehorcht.« Sonja drehte ihrem Mann den Rücken zu und machte sich am Herd zu schaffen.

»Hat er den Park verlassen?« Ulrich trat hinter seine Frau.

»Vermutlich. Ich konnte ihn jedenfalls im Park nicht finden.«

»Und du hast keine Ahnung, wo er jetzt stecken könnte«, bohrte Ulrich weiter.

Sonja fuhr herum. »Mach’ daraus doch kein Drama! Wahrscheinlich hat er irgendeinen Freund getroffen und ist mit ihm mitgegangen.«

»Nachdem du ihm gesagt hattest, er sollte auf dich warten? Das ist typisch. Mark scheint dir überhaupt nicht zu gehorchen.«

»Wenn du glaubst, daß er dir besser folgt, bitte. Aber ich möchte dich daran erinnern, daß du dafür warst, daß er allein hinaus darf.«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« fragte Ulrich scharf. »Mark ist neun, da finde ich es selbstverständlich, daß er zu Freunden darf. Nur bin ich der Ansicht, daß du wissen mußt, wo sich dein Sohn aufhält.«

»Ja glaubst du, er sagt mir stets die Wahrheit? Soll ich wirklich nachprüfen, ob er nun bei Stefan oder Christoph ist?«

»Das ist deine Aufgabe als Mutter«, gab Ulrich genauso heftig zurück.

»Da sieht man es wieder, wie wenig Ahnung du hast. Was weißt du schon von Mark! Laß dir doch einmal von ihm erzählen, was er so den ganzen Tag tut.«

»Das wollte ich doch heute machen«, sagte Ulrich unsicher. Er mußte zugeben, daß seine Frau recht hatte. In letzter Zeit war er viel auswärts gewesen.

»Ich werde dich nicht daran hindern«, Sonja stellte die Pfanne auf die Herdplatte.

»Wan glaubst du, wird Mark hier sein?«

»Ich weiß es nicht.«

Die kurz angebundene Art seiner Frau erregte wieder Ulrichs Zorn. »Das läßt dich so kalt? Wer weiß, wo Mark sich herumtreibt! Vielleicht sucht er dich jetzt.«

»Was hätte ich denn tun sollen?« hielt Sonja ihrem Mann empört entgegen. »Er war nicht da. Ich kann doch nicht stundenlang auf sein Erscheinen warten.« Sie unterbrach sich. Ihr wurde bewußt, daß sie Mark hatte warten lassen. »Er ist kein kleines Kind mehr. Er findet allein nach Hause.«

»Das sind Ansichten! Ich sehe schon, ich muß mich wirklich mehr um Mark kümmern.«

»Schaden würde es nicht. Er vergißt am Ende sonst noch, daß du sein Vater bist.«

»Nun ist aber Schluß! Du tust geradeso, als ob ich zu meinem Vergnügen verreise. Ich bin nun mal Journalist und schreibe gern aktuelle Berichte. Das ist meine Arbeit. Deine Aufgabe ist es, dich um Mark zu kümmern.«

»Ich weiß, daß du so denkst.« Sonja ließ ihren Ärger an der Pfanne aus. Heftig rückte sie diese hin und her. »Dir scheint überhaupt nicht bewußt zu sein, wie altmodisch deine Einstellung ist. Die Frau gehört ins Haus, und sie hat dem Mann untertan zu sein. So einfach ist das für dich!«

Ulrich fühlte sich angegriffen, und dabei war er heute mit den besten Vorsätzen nach Hause gekommen. »Ich bin vor allem der Ansicht, daß man sich um einen neunjährigen Jungen kümmern muß. Wer weiß, was so einem Kind alles einfällt. Ich gehe Mark suchen.«

»Dein Essen ist fertig.«

»Mark ist wichtiger.«

Sonja überhörte das. »Du kannst gleich in der Küche essen«, sagte sie und begann den Tisch zu decken.

»Bevor ich nicht weiß, wo Mark ist, kann ich nicht essen.« Ulrich zögerte aber. Das Steak duftete verführerisch.

»Wo willst du Mark suchen?« fragte Sonja ungerührt

»Im?Park natürlich«, antwortete Ulrich, setzte sich dann aber doch vor den gefüllten Teller.

»Im Park ist er nicht.«

»Ich verstehe deine Ruhe nicht«, erklärte Ulrich, nachdem er die ersten Bissen gegessen hatte. »Ist Mark oft allein unterwegs?«

»Du warst doch dafür, daß er auf den Spielplatz oder zu Freunden darf. Erst kürzlich hast du mich ausgelacht, als ich mir Sorgen machte.«

»Du drehst einem das Wort im Mund herum«, empörte sich Ulrich. »Man kann einen neunjährigen Jungen nicht einsperren, aber man muß wissen, wo er sich aufhält.«

Sonja schoß das Blut ins Gesicht. So unrecht hatte ihr Mann gar nicht. »Schmeckt es dir?« fragte sie daher eine Spur freundlicher.

»Danke. Was willst du machen, wenn Mark nicht kommt?«

»Warum sollte er nicht kommen?« Sonja erschrak, an so etwas hatte sie überhaupt noch nicht gedacht. »Er hat sicher nur einen Freund getroffen und wird jeden Augenblick hier sein«, versuchte sie dann, sich selbst zu beruhigen.

Gleich darauf läutete es. »Da, was habe ich gesagt«, trumpfte Sonja auf und eilte zur Tür. Sie kam jedoch nicht dazu, die beabsichtigte Standpauke loszulassen. Erstaunt blickte sie auf die Frau, die ihr irgendwie bekannt vorkam.

»Frau Rieder, nicht wahr?« sagte Denise. Sie streckte der Frau ihre Hand hin. »Wir sind uns schon begegnet, und zwar bei Elternabenden. Mein Sohn geht in die gleiche Klasse wie Mark. Schoenecker ist mein Name.«

»Richtig.« Sonja lächelte. »Mark erzählt oft von Henrik. Kommen Sie doch herein, Frau von Schoenecker. Ist Henrik nicht bei Ihnen?«

»Er wartet im Auto.«

»Aber warum denn? Mark ist zwar im Moment nicht da, aber ich nehme an, daß er gleich kommt.«

»Ich komme von Mark.« Denise sah Sonja Rieder ernst an. Es hatte keinen Sinn, herumzureden, dadurch wurde nichts besser. »Ihr Sohn hatte einen Unfall. Ich war mit Henrik im Krankenhaus, wir wollten einen Krankenbesuch machen, als Ihr Sohn eingeliefert wurde.«

»Das ist doch nicht möglich! Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« Sonja faßte Denise am Arm.

»Mark war ungehorsam. Er ist auf die Straße gefahren und kam unter ein Auto.«

Sonja schluchzte auf. »Ich habe ihn warten lassen.«

»Was ist denn los?« Ulrich Rieder erschien im Flur. »Sonja, ist etwas mit Mark?« Heftig packte Ulrich seine Frau an den Schultern. Sonja konnte jedoch nicht sprechen, und so wiederholte Denise ihre Worte.

»Um Gottes willen! Da hast du es nun!« fuhr Ulrich seine Frau an. »Ich habe dir ja gesagt, du hättest Mark suchen müssen! Wie konntest du ihn nur allein lassen?«

»Moment«, mischte sich Denise ein. Sie hatte Mitleid mit Sonja, die leise vor sich hin schluchzte. »Mark weiß, daß er unfolgsam gewesen ist. Er hat Angst, daß seine Mutter nun böse auf ihn sein könnte.«

»Das wäre ja noch schöner«, Ulrich ließ Sonja los.

»Ich habe ihm gesagt, daß er warten soll«, schluchzte Sonja.

»Du hast ihm gesagt – Mark ist noch ein Kind. Man muß auf ihn achten!«

»Du hast in den letzten Wochen kaum Zeit für ihn gehabt.« Sonjas Stimme brach.

»Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich jetzt gegenseitig Vorwürfe machen«, sagte Denise. »Ihr Sohn braucht Sie jetzt.«

»Natürlich. Es ist nur… ich bin heute extra früher nach Hause gekommen, und jetzt ist Mark im Krankenhaus. Sie sagten, er wird gerade operiert?«

Denise nickte. »Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

»Wir fahren sofort ins Krankenhaus! Komm, Sonja, du mußt dich jetzt zusammennehmen.« Ulrich legte seiner Frau den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Ich weiß ja, daß Mark ein sehr lebhaftes Kind ist.« Dann besann Ulrich sich. »Vielen Dank, Frau von Schoenecker. Es war sehr nett, daß Sie persönlich vorbeigekommen sind.«

»Das war selbstverständlich. Wenn ich noch etwas tun kann?«

»Vielen Dank, aber wir fahren sofort ins Krankenhaus. Dort wird man uns sicher schon Näheres sagen können.«

»Ich werde Mark in den nächsten Tagen mit Henrik besuchen«, versprach Denise. Sie konnte keine weiteren Hoffnungen machen, denn sie wußte ja selbst nicht, welche Verletzungen sich Mark zugezogen hatte.

*

»Schwester, bitte, wie lange dauert es noch?« Ulrich Rieder hatte es im Wartezimmer nicht mehr ausgehalten.

»Sie müssen sich noch gedulden.« Die Schwester lächelte verbindlich.

»Wir sind jetzt schon eine Stunde hier. Wie lange dauert die Operation noch?« Mit einer fahrigen Handbewegung strich Ulrich sich über die Stirn. Seine Nerven waren aufs äußerste angespannt. Erst im Krankenhaus war ihm richtig bewußt geworden, daß sein Sohn einen Unfall gehabt hatte. Angst hatte ihn erfaßt und nicht mehr losgelassen.

»Die Operation ist beendet.«

»So! Und mein Sohn? Was ist mit ihm? Schwester, ich will zu meinem Sohn!«

»Bitte, Herr Rieder, beruhigen Sie sich.«

»Was ist mit meinem Sohn, Schwester? Sie verheimlichen mir doch etwas. Warum will man mich nicht zu ihm lassen?«

»Davon ist doch keine Rede.« Die Schwester war solche Auftritte gewöhnt. Resolut packte sie Ulrich am Arm. »Frau Dr. Leitner war bei der Operation dabei. Sie wird gleich zu Ihnen kommen und mit Ihnen sprechen.« Mit sanfter Gewalt dirigierte sie ihn ins Besucherzimmer zurück. »Bitte, warten Sie hier.« Sie wollte die Tür schließen, doch Ulrich hielt sie zurück.

»Einen Augenblick noch, Schwester.Wo ist mein Sohn? Er…« Ulrich konnte nicht weitersprechen.

»Ihr Sohn liegt auf der Intensivstation. Dorthin kommen alle Frischoperierten. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Danke, Schwester«, mischte sich Sonja ein. »Ulrich, es hat keinen Sinn. Wir müssen warten.« Sie schnupfte auf. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Es wird nicht mehr lange dauern. Sie müssen sich nur noch etwas gedulden. Frau Dr. Leitner kommt sicher gleich.« Sie nickte Sonja zu, dann ging sie.

»Ich kann nicht mehr warten.« Ulrich streifte die Hand seiner Frau ab. Wie ein gefangenes Tier begann er in dem kleinen Raum hin und her zu laufen. »Ich halte es nicht mehr aus. Ich muß wissen, wie es Mark geht. Ich habe soviel versäumt.« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Wie selten hatte ich für Mark Zeit! Das muß sich ändern.«

Sonja sagte darauf nichts. Kraftlos sank sie wieder in sich zusammen. Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als die Tür geöffnet wurde.

»Ich bin Dr. Leitner«, sagte die Frau im weißen Kittel. »Würden Sie bitte mitkommen?«

»Frau Doktor, waren Sie bei der Operation dabei?« Ulrich stürzte auf die Ärztin zu. Sie nickte.

»Und? Wir haben keine Ahnung, was mit unserem Sohn ist. Uns hat noch niemand etwas erzählt.«

»Ich verstehe Ihre Aufregung, Herr Rieder. Wir haben getan, was wir konnten. Ich werde Ihnen alles erklären. Kommen Sie bitte!« Erst jetzt wandte Dr. Helga Leitner sich Sonja zu und nickte flüchtig in ihre Richtung.

»Dürfen wir zu Mark?« Sonja erhob sich.

»Heute noch nicht. Morgen erst.«

Ulrich begehrte sofort auf. »Ich will zu meinem Sohn! Sie können mich daran nicht hindern!«

»Doch«, entgegnete Dr. Leitner ruhig. »Es hätte keinen Sinn. Es war eine schwere Operation. Mark liegt noch in Narkose. Sprechen können Sie erst morgen mit ihm.«

»Frau Doktor, ich habe so viele Fragen.« Erregt ging Ulrich auf die Ärztin zu. »Weshalb wurde Mark operiert?«

»Es war notwendig.« Die Ärztin senkte den Blick.

Ulrich konnte sich nicht länger beherrschen. Er faßte die Ärztin am Arm. »Und jetzt, Frau Doktor? Was ist los? Ist alles in Ordnung? Wie lange muß Mark hierbleiben?«

»Darüber will ich ja mit Ihnen sprechen. Bitte, kommen Sie mit in mein Büro. Ich habe Kaffee kommen lassen.«

»Mir ist nicht nach Kaffee zumute«, brauste Ulrich auf.

»Aber mir. Entschuldigen Sie, ich brauche jetzt einen Kaffee. Ich war über eine Stunde im Operationssaal.« Dr. Leitner wandte sich um.

»Entschuldigen Sie«, murmelte Ulrich beschämt. Ohne seine Frau zu beachten, folgte er der Ärztin. Sonja folgte mit gesenktem Kopf.

»Bitte, setzen Sie sich.« Helga Leitner wies auf die Polstergruppe in der Ecke des Büros. »Sie trinken doch auch eine Tasse mit?« Diesmal wandte sie sich an Sonja.

»Gern«, antwortete Sonja, während Ulrich nur die Achseln zuckte.

Gleich darauf kam eine Lernschwester und deckte den Tisch. »Lassen Sie, ich schenke schon ein«, sagte die Ärztin. Sie zog ihren weißen Kittel aus, dann setzte sie sich dem Ehepaar gegenüber.

Erstaunt sah Ulrich sie an. Ohne den Kittel wirkte sie ganz verändert, fast fraulich. Sie ergriff die Kaffeekanne und begann einzuschenken. »Wie ich hörte, waren Sie nicht dabei, als Ihr Sohn unter das Auto kam«, bemerkte sie fast beiläufig.

Sonja konnte nichts sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Ulrich nickte. »Ich war in letzter Zeit wenig zu Hause. Ich weiß, ich habe mich zu wenig um meinen Sohn gekümmert.«

Erstaunt sah Sonja ihren Mann an. Sie erkannte, daß er sich Vorwürfe machte. Einige Zeit herrschte Schweigen. Die Ärztin wußte nicht so recht, wo sie beginnen sollte. Auch sie spürte Ulrichs Schuldgefühle und war etwas verlegen.

Dann sah Ulrich die Ärztin an. »Bitte, sagen Sie uns endlich, was geschehen ist. Ist unser Sohn schwerverletzt?«

Dr. Leitner sah das Zucken, um Herrn Rieders Mundwinkel. Sie hätte gern etwas Erfreuliches gesagt, aber das war leider nicht möglich. »Wir mußten sofort operieren. Wie es scheint, ist die Operation geglückt.« Die Ärztin sprach sachlich und kühl. Nicht zum erstenmal saß sie angstvollen Eltern gegenüber. Sie erläuterte Marks Verletzungen.

»Bitte, Frau Doktor«, unterbrach Ulrich sie nach einiger Zeit. »Sie haben uns nun die Tatsachen gesagt. Aber Sie haben Bedenken, nicht wahr? Würden Sie uns diese bitte auch sagen?«

»Gut. Es kann sein, daß Ihr Sohn seine Beine nicht mehr bewegen kann.«

Sonja schrie auf.

Beruhigend hob die Ärztin ihre Hände. »Noch steht nichts fest. Wir müssen abwarten. Erst nach den Untersuchungen in den nächsten Tagen können wir uns ein genaues Bild machen.«

»Das kann nicht sein!« Sonja war außer sich.

Die Ärztin erhob sich. »Beruhigen Sie sich, Frau Rieder. Morgen früh können Sie Ihren Sohn sehen und

sich überzeugen, daß es ihm den Umständen entsprechend recht gut geht.«

»Er wird nie wieder laufen können.« Fröstelnd schlug Sonja ihre Arme über der Brust zusammen.

»Das habe ich nicht gesagt. Auch wenn es eine Lähmung geben sollte, kann diese nur vorübergehend sein.« Die Ärztin legte begütigend ihre Hand auf Sonjas Schultern. »Sie brauchen etwas zur Beruhigung. Es war zuviel für Sie.«

»Nein. Ich möchte jetzt nur nach Hause.« Sonjas Blick suchte den ihres Mannes.

»Gut, gehen wir.« Ulrich erhob sich sofort. »Verzeihen Sie, Frau Doktor.«

»Natürlich.« Wieder senkte die Ärztin ihren Blick. Sie war sich selten so hilflos vorgekommen.

»Wenn ich noch irgend etwas für Sie tun kann?« Helga Leitner sah Ulrich an. Sein markantes Gesicht war vom Schmerz gezeichnet.

»Danke, Frau Doktor. Irgendwie werden wir die Stunden bis morgen früh schon durchstehen. Sehen wir uns dann morgen?«

»Ich werde hier sein«, versprach Dr. Leitner. »Ich werde auch nachher noch nach Ihrem Sohn sehen. Sie können sicher sein, daß für ihn alles getan wird.«

»Ich bin davon überzeugt.« Ulrich atmete tief durch.

»Sie sollten aber wirklich etwas zur Beruhigung nehmen«, drängte die Ärztin. Dann wurde ihr Sonjas Gegenwart wieder bewußt. »Das gleiche gilt natürlich auch für Sie, Frau Rieder.« Sie wandte sich ab und öffnete einen Schrank. »Hier!« Sie reichte Ulrich eine Medikamentenschachtel. Ulrich nahm sie, ohne auch nur einen Blick auf das Etikett zu werfen. Dann berührte er Sonjas Arm.

»Komm«, forderte er sie auf.

*

Es wurde dämmrig. Die Gegenstände in der Wohnung waren nicht mehr klar zu erkennen, trotzdem erhob Sonja Rieder sich nicht, um Licht zu machen. Auch ihr Mann rührte sich nicht. In der letzten halben Stunde war kein Wort zwischen ihnen gefallen. Beide hingen ihren Gedanken nach, beide machten sich Vorwürfe, jeder auf seine Weise. Anstatt durch den Kummer zueinander zu finden, wurde die Kluft zwischen ihnen jedoch nur noch tiefer.

Sonja sah zu ihrem Mann hin. Was sollte sie ihm sagen? Es tat ihr alles so leid. Nie mehr wollte sie Elmar Dahl sehen. Was wäre, wenn… Diese Gedanken waren quälend. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und sprang auf.

Erschrocken fuhr Ulrich zusammen. »Was ist?«

»Nichts. Wir können nicht die ganze Zeit hier sitzen und brüten.«

»Was sollten wir sonst tun? Sonja, wir haben versagt.« Ulrich erhob sich und ging auf seine Frau zu. Er hob die Hände, brachte es aber nicht fertig, seine Frau zu berühren. »Ich bin ein Versager, Sonja!« schrie er gequält.

»Nicht, Ulrich, bitte nicht.« Verzweifelt hielt Sonja sich die Ohren zu. »So etwas darfst du nicht sagen.«

»O doch. Du hast ganz recht gehabt! Ich habe mich in letzter Zeit kaum um Mark gekümmert. Sicher hätte er seinen Vater gebraucht. Wir hätten so viel miteinander unternehmen können.«

»Das hat doch mit dem Unfall nichts zu tun.«

Ulrich beachtete den Einwand seiner Frau nicht. Er fuhr mit seiner Anklage fort: »Vor zwei Jahren habe ich Mark das Radfahren beigebracht. Wir wollten Radtouren machen. Ein einziges Mal sind wir zusammen ausgefahren. So vieles habe ich Mark versprochen! Ich habe ihm die Rollschuhe geschenkt, aber nie habe ich ihm beim Fahren zugesehen.«

»Hör auf!« schrie Sonja, ihre Hände gegen die Ohren gepreßt.

Grob packte Ulrich ihre Hände und riß sie herunter. »Ich weiß, daß ich Fehler gemacht habe, aber du bist auch nicht schuldfrei. Auch du hast dich zu wenig um Mark gekümmert. Wärst du bei ihm gewesen, dann wäre es nicht zu diesem Unfall gekommen.«

Sonja stöhnte auf. »Ich weiß es nicht. Bitte, Ulrich! Mark ist oft allein unterwegs gewesen. Du hast es ihm erlaubt!«

»Ich weiß. Ich wollte meine Ruhe haben, wenn ich zu Hause war. Mark ist sehr anstrengend. Er kann einen mit seinen Fragen löchern. Ich kann mir vorstellen, daß es dir genauso ergangen ist. Du hast Mark auch abgeschoben.«

»Das ist nicht wahr. Ich wollte nicht, daß er so oft allein unterwegs ist.«

»Warum hast du es ihm dann nicht untersagt?« Ulrichs Stimme klang scharf.

»Weil du es erlaubt hast.« Sonja schluchzte auf. »Immer wieder bekam ich das zu hören, wenn ich sagte, er soll nicht zu seinen Freunden gehen. Er war in letzter Zeit auch viel auf dem Fußballplatz.«

»Da gehört ein richtiger Junge auch hin. Hättest du ihn Fußball spielen lassen, dann wäre er nicht überfahren worden.« Nun hatte Ulrich es ausgesprochen. Er erschrak. Er wollte ihr doch nicht die Schuld geben.

Sonja sah ihn mit großen, weit aufgerissenen Augen an. Dann drehte sie sich wortlos um und eilte aus dem Zimmer. Langsam folgte Ulrich ihr in die Küche. Sonja saß auf dem Küchenstuhl und weinte leise vor sich hin.

Ulrich blieb an der Tür stehen und suchte nach Worten. »Sonja«, begann er schließlich. »Ich weiß, ich hätte das nicht sagen sollen. Wäre ich hiergeblieben und nicht nach Hamburg gefahren… nein, dann wäre ich in der Redaktion gewesen.«

»Und ich war im Café.« Sonja hob ihren Kopf. Sie sah ihn an, aber eigentlich blickte sie durch ihn hindurch.

Ulrich nickte. »Ich weiß, die Cafés sind voll von jungen Frauen. Warum auch nicht. Du hast ja recht. Einen Neunjährigen kann man nicht ständig beaufsichtigen.«

Sonja fuhr auf. »Ja, genau das hast du doch immer gesagt.«

»Was willst du, ich sage es auch jetzt noch.« Ulrich wandte sich ab.

»Wohin willst du?«

»Raus. Ich muß noch etwas an die frische Luft. Ich ersticke sonst.« Dann besann er sich. »Willst du nicht mitkommen.«

Sonja fuhr sich über die Augen, dann schüttelte sie den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Sie hatte das Gefühl, ihrem Mann nicht in die Augen sehen zu können. Er hatte ja recht, wenn er sie anklagte, tausendmal recht.

*

»Henrik!« Mark hatte den Kopf zur Tür gewandt und den Schulfreund erkannt.

»Hallo, Mark.« Bewußt munter trat Henrik an Marks Bett. Dann jedoch stockte er. Mark war bleich, und um seinen Kopf hatte er einen dicken weißen Verband.

Mark winkte ab. »Es ist nicht so schlimm. Der Kopf tut mir gar nicht mehr weh. Wenn nur diese Untersuchungen nicht wären.« Er wandte den Kopf zur Seite, und es war ihm anzusehen, daß er verzweifelt war. »Ich soll die Beine bewegen«, sagte er leise, »aber es geht nicht.«

Henrik wußte nicht, was er sagen sollte. Er drehte sich zu seiner Mutter um. »Du mußt Geduld haben, Mark«, kam Denise ihrem Sohn zu Hilfe. Sie lächelte dem Jungen zu.

»Du… Sie! Ich erinnere mich. Sie sind bei mir gewesen, bevor ich operiert worden bin.«

»Du kannst zu meiner Mutti ruhig du sagen. Alle Kinder duzen sie. Du weißt doch, wir haben ein Kinderheim«, plapperte Henrik nun darauflos. »Ich habe dir auch eine Menge mitgebracht. Unsere Kinder haben es gebastelt.« Er öffnete die Tasche und breitete seine Schätze auf Marks Bettdecke aus.

»Das ist aber nett. Ich wollte eure Kinder ja schon lange einmal kennenlernen.«

»Ja«, bestätigte Henrik. »Du warst ja auch einmal eingeladen, aber dann hast du mit deinem Papa verreisen müssen.«

Mark nickte. »Mein Papa ist immer viel unterwegs. Jetzt hat er aber gesagt, daß er hierbleibt. Mir zuliebe«, setzte er hinzu und seufzte.

»Mein Vati hat auch viel Arbeit«, sagte Henrik. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. »Vati muß immer auf dem Gut arbeiten.«

»Da habt ihr Pferde, nicht wahr?«

»Ja, und für die Kinder haben wir Ponys.«

»Schade, daß ich nie zu dir gekommen bin. Ich bin noch nie auf einem Pony geritten.«

»Das können wir nachholen«, meinte Henrik eifrig. »Gleich, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, kommst du uns besuchen. Es ist ja nicht weit von Wildmoos. Mutti holt dich ab.« Henrik erschrak. Er sah, daß sich Marks Augen mit Tränen füllten. »Was hast du denn? Hast du Schmerzen?«

»Ich kann gar nichts mehr tun. Weder dich besuchen noch reiten. Meine Beine…« Mark schluchzte auf.

»Natürlich kannst du uns besuchen«, mischte sich Denise ein. »Wir holen dich einfach ab.«

»Du darfst nicht traurig sein«, versuchte auch Henrik zu trösten. »Wir sind alle deine Freunde.«

»Mama und Papa sagen das auch. Sie haben gar nicht mit mir geschimpft. Ich will auch nicht weinen.« Tapfer fuhr sich Mark über die Augen.

»Ich bin ja selbst schuld. Man darf doch auf der Straße nicht Rollschuhlaufen.«

»Ich mache auch oft Sachen, die man nicht tun darf«, bemerkte Henrik tröstend. Er warf seiner Mutter einen raschen Seitenblick zu.

»Mama hatte mir gesagt, ich soll im Park bleiben«, bekannte Mark.

»Ja«, bestätigte Henrik, »die Erwachsenen sind eben doch klüger als wir. Ich werde in Zukunft mehr folgen.«

»Das würde auf keinen Fall schaden«, sagte Denise lächelnd.

»Du hast eine nette Mutter. Ich hätte nie gedacht, daß sie mich wirklich besuchen kommt.«

»Meine Mutti hält immer, was sie verspricht«, erklärte Henrik mit Überzeugung. »Wir kommen dich jetzt öfters besuchen.«

»Das ist fein.« Ein Lächeln huschte über Marks bleiches Gesicht. »Alle sind sehr lieb zu mir. Ich bekomme auch sehr viele Sachen.« Mark zeigte auf die andere Seite seines Bettes. Dort standen zwei Stühle, auf denen sich Spielsachen stapelten.

Henrik machte ein enttäuschtes Gesicht. »Dann können dir die Sachen aus Sophienlust gar nicht gefallen.«

»Klar gefallen sie mir.« Mark nahm ein selbstgebasteltes Lesezeichen auf. »Das kann ich gut gebrauchen. Papa hat mir auch eine Menge Bücher gekauft.«

»Mensch!« staunte Henrik. Er war um das Bett herumgegangen und stand nun vor dem Spielzeug. Sein besonderes Interesse galt einem Flugzeug. Vorsichtig berührte er es.

»Es ist zum Aufziehen. Ich habe mir schon lange eines gewünscht, aber eines zum Selberbasteln«, erklärte Mark.

»Das ist doch Spitze.« Henrik war begeistert.

»Na ja«, meinte Mark. »Aber was soll ich jetzt damit? Ich kann hier nicht damit spielen. Papa glaubt, er muß mir jedesmal, wenn er kommt, etwas Tolles mitbringen.« Mark seufzte.

»Ich würde mich darüber freuen. Spielzeug kann man nie genug haben«, stellte Henrik fest. Er begann die anderen Sachen zu untersuchen. Er fand ein Rennauto, einen Elektrobaukasten und noch vieles andere. »Das alles hast du erst hier im Krankenhaus bekommen?« fragte er erstaunt.

»Klar, Mama und Papa kommen mich auch sehr oft besuchen.« Mark sagte es ohne große Freude. Henrik beachtete es nicht weiter, das Spielzeug faszinierte ihn. Denise von Schoenecker jedoch fiel es auf. Sie zog sich einen freien Stuhl heran und setzte sich.

»Da geht es dir ja sehr gut«, meinte sie.

Mark nickte, aber sein Gesicht blieb ernst.

»Langweilig kann dir da nicht werden«, fuhr Denise fort. Sie beobachtete Mark dabei genau.

»Nein.« Es klang gedehnt. »Bei mir ist immer etwas los. Mama und Papa haben gesagt, daß die Schwestern sich um mich kümmern sollen, wenn sie nicht da sind. Auch Frau Doktor kommt immer. Sie hat sogar gesagt, ich soll zu ihr Tante Helga sagen.« Mark blähte seine Backen auf.

»Das ist doch schön«, meinte Denise.

»Dir kann ich es ja sagen«, meinte Mark zutraulich. »Ich finde es gar nicht so schön. Ich weiß doch, daß die alle nur wegen meiner Beine so lieb zu mir sind. Und auch weil meine Eltern sie darum gebeten haben.« Du bist doch nicht wegen meiner Eltern da, oder?«

Das konnte Denise mit gutem Gewissen verneinen. »Ich habe deine Eltern nicht mehr gesehen. Aber ich finde es schön, daß deine Eltern so besorgt um dich sind.«

»Ja, und böse sind sie überhaupt nicht auf mich«, sagte Mark. Er sah dabei aber eher unglücklich aus.

Denise griff nach seiner Hand. »Etwas macht dir doch Kummer, Mark. Willst du es mir nicht verraten?«

Henrik war aufmerksam geworden. »Vor Mutti kannst du nichts geheimhalten«, stellte er fest.

»Papa hat Urlaub genommen«, begann Mark. »Er hat jetzt viel Zeit für mich.«

»Freust du dich nicht darüber?« fragte Denise.

»Schon. Papa und Mama sind beide sehr lieb zu mir. Nur finde ich es nicht schön, daß sie zueinander nicht lieb sind. Als sie mich heute vormittag besuchten, haben sie mir beide etwas mitgebracht. Ich habe mich richtig gefreut. Wir haben auch davon gesprochen, was wir alles machen werden, wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen werde. Aber dann haben Papa und Mama sich gezankt. Beide haben mich küssen wollen, aber gegenseitig haben sie sich angeschrien.«

Denise strich über Marks Haar. »Auch Erwachsene streiten hin und wieder«, meinte sie.

»Ich weiß, aber ich glaube, mein Papa und meine Mama haben sich nicht mehr lieb.«

»Dein Unfall hat deine Eltern sehr aufgeregt«, begann Denise vorsichtig. Sie hatte bereits selbst den Eindruck gehabt, daß sich das Ehepaar auseinandergelebt hatte. Schade, Mark hätte jetzt sehr viel Liebe gebraucht.

»Ich will aber nicht, daß Papa und Mama sich zanken«, schluchzte Mark. »Sie sehen sich dabei überhaupt nicht freundlich an.«

Wieder einmal stellte Denise fest, daß Kinder sehr feinfühlig sein konnten. Offensichtlich steckte das Ehepaar Rieder in einer Krise.

Die Tür flog auf, und Ulrich Rieder eilte ins Zimmer. »Hallo, Mark. Oh, du hast Besuch.«

Nach Ulrich trat Sonja ein. Während das Ehepaar Denise begrüßte, flüsterte Henrik leise: »Keine Sorge, meine Mutti wird schon dafür sorgen, daß sie in Zukunft netter zueinander sind.«

»Das kann deine Mama sicher nicht. Mein Papa läßt sich nämlich von niemandem etwas sagen«, flüsterte Mark zurück. »Er ist sehr gescheit und schreibt viele lange Berichte.«

*

Immer wieder glitt Elmar Dahls Blick zur Eingangstür hin, dann wieder zur Uhr. Seine Lippen preßten sich aufeinander. Er mußte es wohl glauben, ob er wollte oder nicht. Sonja Rieder hatte ihn versetzt. Als sein Blick wieder zur Eingangstür wanderte, entdeckte er Ruth Brunner. In Erwartung, daß Sonja ihr auf dem Fuße folgen würde, richtete er sich etwas auf. Aber er sah sich enttäuscht. Sonjas Freundin war allein. Sie hatte zwei Einkaufstaschen bei sich und war an Elmar Dahls Tisch schon fast vorbei, als sie ihn doch noch sah. Erfreut blieb sie stehen.

»Hallo! Schon lange nicht mehr gesehen!«

Elmar erhob sich lächelnd. Es blieb ihm ja auch gar nichts anderes übrig, als Ruth zu begrüßen. Es würde nur etwas peinlich werden, wenn Sonja nun doch noch kommen sollte. Oder hatte Sonja etwa ihre Freundin eingeweiht?

»Was sehen Sie mich denn so an?« Ohne jegliche Hemmung stellte Ruth ihre Taschen ab. Herr Dahl hatte ihr bereits bei der ersten Begegnung gefallen. Nur schade, daß er stets mehr Interesse für Sonja gezeigt hatte. Ihr war das keinesfalls entgangen. »Habe ich etwa einen schwarzen Fleck auf der Nase?« Sie lachte.

»Nein, aber Sie sehen so aus, als ob Sie eine Tasse Kaffee gebrauchen könnten«, konterte Elmar.

»Heißt das, daß Sie mich zu einem Kaffee einladen?«

»Warum nicht? Wie Sie sehen, fehlt es mir an Gesellschaft.« Elmar schob für Ruth einen Stuhl zurecht.

Ruth setzte sich. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, stellte sie fest. »Sind Sie öfters hier?«

Wollte sie ihn herausfordern? Hatte Sonja sie doch geschickt?

»Wie man es nimmt. Ich finde das Parkcafé sehr reizvoll. »Elmar beugte sich etwas vor und blickte Ruth ins Gesicht. »Besonders für Verabredungen eignet es sich sehr gut. Sind Sie nicht auch dieser Meinung?«

Verwirrt sah Ruth ihn an, dann zuckte sie die Achseln.

»Ich bin solo und erwarte auch niemanden.«

»Und ich wurde versetzt«, erklärte Elmar offen. Er beobachtete Ruth dabei scharf und stellte fest, daß sie verblüfft war. »Überrascht Sie das?« fragte er dann.

»Um ehrlich zu sein, ja. Vor allem überrascht mich, daß Sie das so ohne weiteres zugeben. Ich habe Sie für eitler gehalten.«

»Oh, ich bin auch eitel.« Elmar lächelte. Jetzt, da er sicher war, daß Ruth nicht als Ersatz für Sonja geschickt worden war, wich er einem Flirt nicht mehr aus. »Ich bin nämlich sicher, daß es einen triftigen Grund dafür gibt.«

»Mögen Sie recht behalten. Ich verspreche Ihnen, zu verschwinden, falls Ihre Freundin doch noch auftaucht.«

»Nicht nötig. Sie kommt sicher nicht mehr, und wenn – ein wenig Eifersucht hat noch keiner Frau geschadet.«

»Typisch Mann«, stellte Ruth empört fest. Aber ihr war anzumerken, daß ihr diese Art von Mann gefiel. Sie ließ sich auch nicht lange bitten, als Elmar sie nach dem Kaffee noch zu einem Wein einlud. Irgendwann erkundigte Elmar sich beiläufig nach Sonja. Ruth schöpfte keinen Verdacht.

»Mit ihr kann man im Moment nicht sprechen«, erzählte sie. »Ihr Sohn hatte einen Unfall. Ich weiß selbst noch nicht genau, was eigentlich geschehen ist. Jedenfalls liegt der Junge im Krankenhaus.«

Elmar wechselte das Thema. Er hatte also recht gehabt. Sonja war nicht aus einer Laune heraus ferngeblieben.

*

»Ich sehe mal nach, ob Dr. Leitner da ist«, sagte Ulrich Rieder, als er mit seiner Frau Marks Krankenzimmer verließ.

»Du hast sie doch erst heute vormittag gesprochen«, meinte Sonja.

»Sie behandelt nun mal Mark. Du mußt zugeben, sie kümmert sich rührend um ihn.«

»Mark liegt ja auch auf ihrer Station.«

»Sie tut viel mehr als nur ihre Pflicht«, beharrte Ulrich. »Hast du etwa etwas dagegen, wenn ich sie aufsuche?«

»Natürlich nicht.« Sonja sah ihren Mann kurz an. »Ich meine nur, daß sie dir jetzt auch nicht mehr sagen kann als am Vormittag.«

Ulrich blickte an seiner Frau vorbei. »Sie soll sehen, daß wir uns um Mark sorgen. Wir wollen nicht wieder etwas versäumen.«

»Hat Frau Dr. Leitner überhaupt Dienst?«

»Soviel ich weiß, wohnt die Ärztin hier im Krankenhaus.«

»Ach so, das wußte ich nicht.« Gleichgültig zuckte Sonja mit den Achseln. Sie hatte mit Dr. Leitner noch keine zehn Worte gesprochen.

»Sie ist eine Frau, die völlig in ihrem Beruf aufgeht. Mark kommt das zugute. Sie besucht ihn auch noch oft am Abend und liest ihm vor.«

»Ich weiß nicht, ob Mark das gefällt«, wandte Sonja ein.

»Warum sollte es ihm nicht gefallen? Dr. Leitner ist sehr nett und kinderlieb. Es ist wichtig, daß Mark zu ihr Vertrauen hat. Er darf sie sogar Tante nennen.«

Vielleicht hatte ihr Mann recht. Sonja sagte nichts mehr. Sie wartete, denn Ulrich hatte sich an eine Schwester gewandt.

»Frau Dr. Leitner ist nicht mehr im Dienst«, gab diese Auskunft. »Sie wollte aber gegen acht nochmals kommen. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Wissen Sie, ob sie im Haus ist? Ich hätte sie gerne noch etwas gefragt.«

»Ich kann hinaufläuten«, erbot sich die Schwester.

»Ja, bitte, tun Sie das. Sagen Sie ihr, daß ich sie sprechen möchte. Natürlich nur, wenn ich sie nicht störe«, setzte er nach kurzem Zögern hinzu.

»Ich werde sie fragen.« Mit einem verbindlichen Lächeln verschwand die Schwester im Aufenthaltsraum. Wenige Minuten später erschien sie wieder. »Frau Doktor kommt sofort«, meldete sie.

»Was willst du denn von Dr. Leitner?« fragte Sonja jetzt doch etwas verwundert.

»Ich möchte wissen, welche Untersuchungen morgen an Mark vorgenommen werden«, wich Ulrich aus.

»Hat sie dir das nicht bereits am Vormittag gesagt?«

»Schon«, mußte Ulrich zugeben. »Aber mich interessieren Einzelheiten. Willst du bei dem Gespräch dabei sein, oder wartest du in der Halle?«

Da Sonja es überflüssig fand, sich nochmals mit der Ärztin zu unterhalten, sagte sie: »Ich würde gern inzwischen Besorgungen machen. Am besten wird sein, ich gehe danach gleich nach Hause.«

»Wenn du meinst«, sagte Ulrich. Er war froh darüber. Er konnte mit Sonja einfach nicht über Mark sprechen. Es drängte ihn aber danach, sich jemandem anzuvertrauen. Er hatte sich zu wenig um seinen Jungen gekümmert. Mit Dr. Leitner konnte man gut reden. Sie verstand es, zuzuhören.

Ulrich sah die Ärztin kommen. Er ließ seine Frau stehen und ging ihr entgegen. »Entschuldigen Sie, Frau Doktor.« Er wußte nicht weiter und blickte sich unsicher nach seiner Frau um. Vielleicht hatte Sonja recht. Er konnte doch nicht über die Freizeit der Ärztin verfügen. Sonja jedoch hatte sich bereits abgewandt und ging dem Ausgang zu.

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen, Herr Rieder«, sagte Helga Leitner freundlich. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich jederzeit für Sie, ich meine für Ihren Sohn, da bin. Ich wollte mich sowieso noch zu Mark setzen. Ich habe schon eine schöne Geschichte zum Vorlesen herausgesucht.«

Ulrich mußte gegen seinen Willen lächeln. »Mark liest schon selbst«, meinte er. »Zum Ärger meiner Frau auch noch unter der Bettdecke.«

»Jedes Kind hat es gern, wenn ihm vorgelesen wird«, belehrte ihn die Ärztin. »Mark hört mir jedenfalls gern zu.«

Ulrich stutzte. Er konnte sich nicht erinnern, daß Sonja Mark in den letzten Jahren vorgelesen hatte. Seit er zur Schule ging, hatte sie das sicher nicht mehr getan.

»Und Sie opfern Ihre Freizeit.« Dankbar sah Ulrich die Ärztin an. Er fand, daß diese sehr viel für seinen Sohn tat. »Das ist sehr nett von Ihnen.«

»Von einem Opfer kann keine Rede sein. Ich liebe Kinder. Und Ihren Sohn finde ich besonders nett.«

Noch war sich Dr. Leitner nicht bewußt, daß es eigentlich Ulrich Rieder war, den sie so besonders nett fand.

»Es ist aber Ihre Freizeit, Frau Doktor«, beharrte Ulrich.

»Freizeit«, Helga Leitner lächelte. Erstaunt stellte Ulrich fest, daß dieses Lächeln sie sehr fraulich machte. »Ich lese viel in meiner Freizeit, aber sonst? Dieses Krankenhaus hier ist mein Zuhause.«

»Aber dafür sind Sie doch noch viel zu jung«, entfuhr es Ulrich.

»Ich liebe meinen Beruf«, meinte die Ärztin.

»Das ist noch lange kein Grund, völlig darin aufzugehen.«

Ulrich sah die Ärztin an. Ihr sonst zu einem Knoten aufgestecktes Haar fiel ihr lose und in weichen Wellen auf die Schultern.

»So ist es nun auch wieder nicht. Ich mache gern Wanderungen, und außerdem reise ich gern.«

»Allein?« entfuhr es Ulrich.

»Warum nicht? Aber Sie sind sicher nicht hiergeblieben, um mit mir über mein Privatleben zu sprechen.« Dr. Leitner fuhr sich über das Haar. Der dienstliche Gesichtsausdruck, den Ulrich so gut kannte, wurde wieder sichtbar. »Was kann ich für Sie tun, Herr Rieder? Wollen wir in mein Büro gehen?«

Einem plötzlichen Einfall folgend sagte Ulrich: »Nicht ins Büro. Ich kenne ein nettes Lokal gleich um die Ecke. Sie haben doch jetzt keinen Dienst.«

»Schon, aber…« Dr. Leitner war verwirrt. Nicht nur wegen seiner Einladung. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie schlug die Augen nieder.

»Dann darf ich Sie doch einladen?« bat Ulrich.

»Wie kommen Sie dazu?« Helga Leitner wagte nicht, ihn anzusehen.

»Weil ich Sie schätze, Frau Doktor«, sagte Ulrich. Er ahnte nicht, welchen Sturm er mit diesen Worten in ihrem Inneren auslöste. »Sie haben so viel Verständnis gezeigt.«

»Oh.« Dr. Leitners Wangen röteten sich leicht. So hatte seit Jahren niemand mehr zu ihr gesprochen.

»Haben Sie Zeit?«

Helga Leitner nickte.

»Dann wollen wir gehen.« Noch in der Halle des Krankenhauses begann Ulrich von seinem Sohn zu sprechen. Er sprach von Mark als Baby und erzählte Episoden aus seinem Leben. Helga Leitner lächelte. Sie hätte Herrn Rieder stundenlang zuhören können.

*

Über eine Stunde hatte Ulrich mit Dr. Leitner in dem Lokal gesessen, dann war er mit ihr noch spazierengegangen. Keine Minute hatte er sich in ihrer Gegenwart gelangweilt. Als er die Haustür aufschloß, fragte er sich, wann er sich zuletzt mit Sonja so ausführlich unterhalten hatte. Er seufzte und betrat den Flur.

Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt, und er hörte die Stimme seiner Frau. Er wußte, daß seine Frau oft lange Gespräche mit Ruth führte. Er mochte die Freundin seiner Frau nicht. Nicht gerade leise stieß er die Wohnzimmertür auf. Sonja hörte ihn nicht. Erregt sprach sie in den Hörer.

Mit wem sprach seine Frau da? Ulrich blieb wie angewurzelt stehen.

»Tut mir leid, Elmar«, wiederholte Sonja. »Ich kann jetzt wirklich nicht. Nicht morgen, und auch nicht übermorgen.« Rasch legte Sonja den Hörer auf. Sie wollte nicht schwach werden. Elmars Stimme klang ihr noch in den Ohren, als ihr Mann sie heftig an den Schultern packte.

»Mit wem hast du telefoniert?« Er schüttelte sie.

Fassungslos starrte Sonja in das wütende Gesicht ihres Mannes. Sie konnte nicht so schnell umdenken. »Wo kommst du denn her?« Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.

Ulrich umklammerte ihren Arm fester. »Muß ich um Erlaubnis fragen, wenn ich meine eigene Wohnung betreten will?«

»Ich habe dich nur nicht gehört.«

»Das habe ich bemerkt.« Ulrich ließ Sonja abrupt los, daß sie taumelte. Sonja ging zur Tür.

»Wohin gehst du?« Mit wenigen Schritten war Ulrich bei ihr.

»In die Küche. Wir haben noch nicht gegessen.«

»Ich will jetzt kein Essen. Wer war der Mann?« Ulrich verstellte ihr den Weg.

»Elmar Dahl. Du kennst ihn nicht. Er ist ein Bekannter von Ruth.«

»Mit dem du dich verabredest!« Ulrich griff wieder nach ihrem Arm.

»Du hast also gelauscht!« Sonja wurde wütend. Sie entriß ihm ihren Arm und wich zurück. »Ich habe mich nicht mit ihm verabredet. Das mußt du dann ja auch gehört haben.«

»Du gibst also zu, daß er sich mit dir verabreden wollte?«

»Ja«, schrie Sonja ihren Mann ins Gesicht.

Ulrich wurde blaß. »Du hast… wie lange geht das schon?«

Nur langsam ging Sonja auf, was ihr Mann dachte. »Wie kannst du nur so etwas glauben!« rief sie empört. »Ruth war immer dabei, wenn ich diesen Mann getroffen habe. Ein einziges Mal…« Sie brach ab. Ihr wurde bewußt, daß sie mit solchen Worten ihren Mann nur noch mehr in seinem Glauben bestärken würde.

Ulrich sah rot.

»Du hast dich also hinter meinem Rücken mit einem anderen Mann getroffen!« Der Blick, mit dem er Sonja dabei ansah, trieb ihr das Blut ins Gesicht. »Wie lange geht das schon?«

»Ist das ein Verhör?«

»Mir ist es egal, wie du es nennst«, gab Ulrich genauso scharf zurück.

»Du glaubst doch nicht etwa… nein, Ulrich, das geht zu weit.«

Mit hochrotem Gesicht eilte Sonja an ihm vorbei. Wie ein gereizter Stier lief Ulrich hinter ihr her.

»Ich glaube das, was ich gehört habe. Du hast mit einem Mann telefoniert. Du wolltest dich mit einem Mann verabreden.«

»Ich habe mich nicht verabredet.« Sonja fühlte sich herausgefordert. »Wenn du es ganz genau wissen willst: Ich bin zur letzten Verabredung nicht erschienen.«

Also doch! Ulrich hatte das Gefühl, einen Schlag erhalten zu haben. Nach außen hin wirkte er jedoch völlig ruhig, als er sich setzte.

»Wie lange geht das schon?« fragte er wieder.

Sonja beruhigte sich und setzte sich ihrem Mann gegenüber. »Das ist doch Unsinn. Ich habe Elmar Dahl ein einziges Mal im Parkcafé getroffen. Das ist alles. Du kannst es mir glauben.« Ulrich war zutiefst getroffen. »Das hätte ich nie von dir gedacht.«

»Ulrich!« Sonja wollte ihre Hand auf die seine legen, aber er entzog sie ihr. »Ich habe doch nichts Böses getan. Was ist dabei, wenn ich mit jemandem einen Kaffee trinke?« Sonja sprach auf ihn ein und wurde immer erregter. Ihr Mann jedoch rührte sich nicht. Seine Miene glich einer Maske aus Stein.

»Ulrich, du bist so viel unterwegs. Du bist doch sicher schon einmal mit anderen ausgegangen.«

Endlich tat Ulrich den Mund auf. »Nein, meine Liebe. Im Gegensatz zu dir habe ich unsere Ehe sehr ernst genommen.«

»Ich… aber das habe ich doch auch.« Sonja konnte Ulrichs steinernes Gesicht nicht mehr länger ertragen. Sie sah auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Seine nächste Frage traf sie wie ein Peitschenhieb.

»Wann hast du dich mit diesem Mann zuletzt getroffen?«

»Ich habe mich nur einmal mit ihm getroffen«, sagte sie leise.

Ulrich stieß ein verächtliches Lächeln aus.

»Wirklich. Bis dahin hatte ich alle seine Einladungen abgelehnt.« Tief in ihrem Inneren ahnte Sonja, daß es falsch war, alles zu sagen, aber sie konnte nicht anders. Sie mußte sich vor sich selbst verteidigen. »Ich bin das eine Mal sogar nicht allein ins Café gegangen. Mark war dabei.«

Ulrich fuhr auf. »Mark kennt diesen Mann?«

Sonja schüttelte den Kopf. »Nein. Er blieb im Park, während ich ins Café ging.«

Ulrichs Augen weiteten sich. »Du hast Mark alleingelassen?«

Sonja konnte ihren Mann nicht mehr ansehen. »Er hatte seine Rollschuhe dabei«, sagte sie leise.

Polternd fiel der Stuhl um. Ulrich war aufgesprungen. »War das an dem Tag, an dem Mark verunglückte?«

Sonja konnte nichts sagen. Ihr Kopf sank auf die Brust. Ulrich wußte genug.

»Ich habe es geahnt!« schrie er. »Du bist schuld! Du… du…«, es fehlte ihm an Worten.

»Nein!« Sonja zitterte am ganzen Körper. »Das darfst du nicht sagen! Mark war oft allein draußen. Es hätte genauso gut ein anderes Mal passieren können.«

»Du bist schuld!« Voller Haß schleuderte Ulrich die Anklage seiner Frau erneut entgegen. »Wegen deiner Liebschaft ist mein Sohn nun gelähmt!«

Sonja wimmerte leise. Sie wollte ihm nicht glauben. Sie liebte Mark. Sie sah erst auf, als die Schlafzimmertür zuschlug. Sie hörte ihren Mann im Schlafzimmer hin und her gehen und fragte sich, was er dort tun mochte. Endlich raffte sie sich auf und ging ins Schlafzimmer hinüber, um nachzusehen.

Ulrich hatte seinen kleinen Schweinslederkoffer auf das Bett gestellt und warf wahllos einige Kleidungsstücke hinein. Er eilte an Sonja vorbei ins Badezimmer. Mit seinem Waschzeug kam er zurück.

»Was tust du da?«

»Das siehst du doch. Ich packe!«

»Du willst verreisen?«

»Ich ziehe aus.« Mit einem Ruck schloß Ulrich den Kofferdeckel.

Sonja lehnte sich an die Tür. Sie wollte nicht glauben, was sie da gehört hatte. »Was tust du?«

»Ich ziehe in ein Hotel. Glaubst du, ich könnte noch länger mit dir unter einem Dach leben?« Hilflos stand sie da. Sie ließ ihren Mann an sich vorbeigehen und hörte, wie die Wohnungstür hinter ihm ins Schloß fiel.

*

»Papa, du kommst heute aber früh«, wunderte Mark sich. »Schwester Margit hat mich eben erst gewaschen.«

»Ich weiß.« Unsicher trat Ulrich Rieder näher. Er lächelte. »Ich wollte nur nach dir sehen. Mitgebracht habe ich dir diesmal aber nichts. Die Geschäfte haben ja gerade erst geöffnet.«

»Du mußt mir nicht immer etwas mitbringen.« Mark grinste. »Wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen werde, dann können wir gar nicht alles mitnehmen.«

»Entlassen! Wann wirst du denn entlassen?«

Mark hob seinen Kopf etwas. Er strahlte. »In vierzehn Tagen spätestens drei Wochen. Frau Dr. Leitner hat mir aber erklärt, daß ich nach einiger Zeit wieder ins Krankenhaus muß. Papa, glaubst du, daß ich dann wieder laufen kann? Ich weiß, daß ich erst noch einmal operiert werden muß.«

»Wir wollen es ganz fest hoffen«, sagte Ulrich. Er beugte sich über seinen Sohn. Zärtlich strich er ihm über das Haar.

»Frau Doktor glaubt, daß ich es wieder kann«, sagte Mark.

»Ich weiß, sie hat Hoffnung. Aber warum sagst du eigentlich Frau Doktor? Darfst du nicht Tante zu ihr sagen?«

»Schon. Aber ich will nicht.« Mark schob die Unterlippe nach vorne.

»Warum nicht?« fragte Ulrich erstaunt. Er setzte sich auf die Bettkante.

»Sie ist nicht meine Tante. Meine neue Tante ist Tante Isi. Sie ist wirklich lieb.«

»Tante Isi?« überlegte Ulrich laut.

»Das ist Henriks Mutter. Sie hat gesagt, ich darf sie besuchen kommen, wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen bin.« Da sein Vater offensichtlich noch immer nicht wußte, wen er meinte, erklärte Mark: »Mit Henrik gehe ich in die Schule. Er wohnt in der Nähe von Wildmoos. Sein Vater hat dort viele Pferde, und seine Mutter hat ein Kinderheim. Dort muß es ganz toll sein.«

»Du meinst Frau von Schoenecker? Du hast recht, sie ist eine nette Frau.«

»Dann darf ich sie und Henrik und die vielen anderen Kinder besuchen?« Erwartungsvoll sah Mark seinen Vater an.

»Natürlich darfst du das.« Ulrich war da eine Idee gekommen. Sie gewann von Sekunde zu Sekunde mehr an Form. Sonja würde er Mark auf keinen Fall mehr anvertrauen. Plötzlich bemerkte er, daß sein Sohn den Kopf zur Seite gedreht hatte.

»Mark, was hast du denn?«

»Nichts«, schluchzte Mark.

»Was ist, du kannst es mir doch sagen.« Mit sanfter Gewalt drehte Ulrich den Kopf seines Sohnes wieder zu sich.

»Tante Isi hat versprochen, mich abzuholen. Aber dann in Sophienlust? Wie soll ich dort laufen?«

»Du wirst nicht laufen, du wirst fahren.« Ulrichs Herz war schwer. Auch er konnte sich seinen Sohn noch nicht in einem Rollstuhl vorstellen. »Ich habe darüber schon mit Dr. Leitner gesprochen. Du bekommst einen Rollstuhl. Damit kannst du dich selbst fortbewegen. Die Tante Doktor wird dir auch zeigen, wie du am besten mit so einem Ding umgehst. Sonst wird immer jemand dasein, der dich schiebt.«

»Es wird doch nicht für lange sein, oder?«

»Nein, nein«, sagte Ulrich. Er wollte selbst gern glauben, daß seinem Sohn zu helfen war. »Wir müssen jetzt nur Geduld haben.«

»Ich weiß.« Mark nickte. »Ich bin ja so froh, daß ihr nicht böse auf mich seid. In Zukunft werde ich Mami immer folgen. Mami ist sehr lieb…«

Ulrich ließ seinen Sohn nicht aussprechen. »Mami hat gar keinen Grund, auf die böse zu sein«, sagte er hart.

Erstaunt sah Mark seinen Vater an. »Mami hat gesagt, ich soll im Park warten und ich bin auf die Straße gelaufen.«

»Mami hätte dich nicht allein lassen dürfen.« Ulrich richtete sich auf.

»Ich habe doch dafür ein Eis bekommen«, sagte Mark unbekümmert. Wie sollte er auch wissen, daß er damit seinen Vater noch mehr gegen die Mutter aufbrachte.

»So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht«, knurrte Ulrich.

»Was meinst du damit, Papa? Du hast mir doch auch schon oft ein Eis gekauft.«

»Ja, aber ich habe dich noch nie allein gelassen.« Ulrich erhob sich. Er konnte nicht mehr ruhig sitzen.

»Mami wollte doch nur einen Kaffee trinken. Das ist ein ganz vornehmes Café. Der Kellner hat mich weggeschickt, als ich an der Treppe zur Terrasse gewartet habe.«

»Was!«

»Na ja.« Mark schnitt eine Grimasse. »Es war meine Schuld. Ich habe mit Steinen geworfen. Ich war an diesem Tag wirklich nicht besonders gehorsam.«

Trotz des Geständnisses blieb Ulrichs Miene hart. Seine Frau hatte versagt. Er würde dafür sorgen, daß ihr das Erziehungsrecht entzogen wurde.

»Papa, was hast du?« fragte Mark erneut. Er schluckte. Wie böse sein Papa dreinsah. »Papa, warum bist du böse?«

»Ich bin nicht böse«, sagte Ulrich. Er sagte es geistesabwesend. Zwei tiefe Falten hatten sich auf seiner Stirn gebildet.

Angst erfüllte Mark. »Mami, wo ist Mami?« schluchzte er plötzlich.

»Was ist denn? Warum weinst du? Hast du Schmerzen?«

»Mami, warum ist Mami heute nicht mitgekommen?«

»Mama kommt vielleicht später«, wich Ulrich aus.

»Aber warum?« Mark spürte, daß etwas nicht in Ordnung war. »Wann kommt Mama?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde aber heute den ganzen Tag bei dir bleiben. Das freut dich doch, oder?« Ulrich bemühte sich um ein Lächeln. Dabei tätschelte er seinem Sohn die Wange.

»Ja«, antwortete Mark etwas gedehnt. »Dann können wir spielen. Und wenn Mama kommt, dann spielt sie mit.«

»Das weiß ich nicht. Mami wird aber in nächster Zeit nicht mehr so oft kommen.« Ulrich wich den fragenden Kinderaugen aus. Er suchte nach Worten. Er war sehr froh, als die Stationsschwester kam und sagte, daß Mark gleich zu einer Untersuchung gebracht werden würde.

*

Zusammen mit den anderen Ärzten der Morgenvisite durchquerte Dr. Leitner den Vorraum der chirurgischen Abteilung. Ihr Blick fiel auf Ulrich Rieder. Er stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen an der Glastür. »Ich komme gleich nach«, meinte die Ärztin zu einem Kollegen. »Ihr könnt schon ohne mich anfangen.« Ohne Zögern ging sie auf Ulrich zu.

»Guten Morgen«, grüßte sie. Sie war sich dessen nicht bewußt, aber sie lächelte. »Da hat Mark doch recht gehabt. Als ich ihm im Röntgenraum begegnete, sagte er, daß Sie hier sind. Sie wollen wirklich den ganzen Tag hierbleiben?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Helga Leitner spürte die Verzweiflung des Mannes. Spontan fragte sie: »Kann ich Ihnen helfen? Machen Sie sich Sorgen um Mark? Ich habe mir die neuen Röntgenbilder angesehen. Es besteht wirklich eine gute Chance, daß er wieder laufen wird.«

»Ich glaube Ihnen. Es hätte alles nur gar nicht passieren dürfen.«

»Sie machen sich schon wieder Vorwürfe.« Helga Leitner legte Ulrich ihre Hand auf den Arm. »Das dürfen Sie nicht. Wir haben doch gestern darüber gesprochen.«

»Meine Frau trägt die Schuld. Ich habe ihr vertraut. Ich war ein Narr. Aber jetzt wird sich einiges ändern, das schwöre ich Ihnen.«

Erschrocken ließ die Ärztin Ulrichs Arm los. Der Mann schien um Jahre gealtert. Die Falten um seine Mundwinkel waren nicht zu übersehen. Gestern hatte sie mit ihm noch gelacht, jetzt klang seine Stimme bitter, aggressiv.

»Was ist denn geschehen?« Frau Dr. Leitner vergaß, daß sie eigentlich an der Visite teilnehmen wollte.

»Wollen Sie es wirklich wissen?« Ulrich lachte bitter auf. Er hatte sich fast die ganze Nacht schlaflos in einem harten Hotelbett herumgewälzt. »Meine Frau hat mir Hörner aufgesetzt.«

Helga Leitners Herz begann heftig zu klopfen. »Das ist doch nicht möglich!« Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es eine Frau gab,die diesen Mann betrügen würde.

Der Pieper in der Manteltasche brachte Dr. Leitner in die Wirklichkeit zurück. »Ich muß zur Visite«, sagte sie verlegen. »Für heute ist keine Operation angesetzt. Ich könnte gegen zehn Uhr rasch einen Kaffee trinken.« Sie schlug die Augen nieder.

»Meine Frau!« Ulrich sah Sonja auf die Glastüre zukommen. »Es wird heute das letzte Mal sein, daß sie Mark besucht. In Zukunft werde ich das unterbinden.« Er ließ die Ärztin unvermittelt stehen und ging Sonja entgegen.

»Was hast du hier zu suchen?« fragte er sie scharf.

Helga Leitner hörte seine Worte. Sie lösen einen Sturm in ihrem Innern aus. Ohne Näheres zu wissen, galt ihre Sympathie dennoch allein dem Mann. Sie war bereit, Sonja Rieder alles Schlechtes zuzutrauen. Ein neues Piepsen des Rufapparates erinnerte die Ärztin an ihre Pflichten. Sie eilte zur Station.

Sonja war vor ihrem Mann zurückgewichen. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Man sah ihr die durchwachte Nacht an.

»Es ist besser, du gehst wieder«, sagte Ulrich etwas ruhiger.

»Du willst mich nicht zu Mark lassen?« Sonja mußte sich an der Tür festhalten. Das alles war einfach zu viel für sie.

»Wozu? Soll ich ihm sagen, daß es deine Schuld ist, daß er dort drinnen liegt?«

»Ich weiß nicht, ob du recht hast.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich Sonja sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihr Widerspruchsgeist war wie weggeblasen.

»Mark wird vielleicht nie wieder gehen können. Ich werde nicht zulassen, daß du dich weiter um ihn kümmerst. Jedes Wort wäre eine Lüge.«

»Bitte, Ulrich. Ich liebe Mark, und ich liebe dich. Du mußt mir glauben. Zwischen Herrn Dahl und mir hat es nichts gegeben, wessen ich mich schämen müßte.«

»Ich kann dir nicht glauben, Sonja. Du hast Mark allein gelassen. Es ist besser, wenn du gehst.« Ulrichs Blick war kalt. Dann wurde ihm bewußt, was seine Frau gesagt hatte, und er brauste auf: »Wie kannst du von Liebe sprechen? Ich halte dich nicht. Du kannst jederzeit zu deinem Freund gehen!«

Sonja mußte zur Seite treten, als ein Krankenwärter mit einem frischbezogenen Bett an ihr vorbei wollte. Sie konnte auch nicht sprechen. Hätte sie geantwortet, wäre sie in Tränen ausgebrochen.

Völlig unerwartet griff Ulrich nach ihrem Arm.

»Setzen wir uns. Wir werden zu einer Einigung kommen. Ich habe jedenfalls keine Lust, noch länger aufzufallen.«

Er zog Sonja zu einer Holzbank.

»Du kannst deinem Freund sagen, daß ich mit einer Scheidung einverstanden bin«, begann Ulrich.

Sonja hatte das Gefühl, in einem Karussell zu sitzen. Was sagte Ulrich da? Aber dieser sprach unbarmherzig weiter.

»Du kannst aber, so lange du willst, in der Wohnung bleiben. Ich werde dir keine Schwierigkeiten machen. Du kannst tun und lassen, was du willst, nur für Mark wirst du nicht mehr sorgen.«

»Ulrich, das kannst du nicht tun. Mark braucht mich doch jetzt besonders. Er wird bald nach Hause dürfen.«

»In zwei bis drei Wochen wird er entlassen werden. Zu dir lasse ich ihn aber auf keinen Fall.«

Sonja rückte etwas zur Seite. Was sollte sie nur tun?

»Ich habe Mark schon gesagt, daß du ihn nicht mehr oft besuchen wirst. Du kannst jetzt zu ihm gehen. Sage ihm das gleiche. Es ist wahrscheinlich besser, wenn er jetzt noch nicht erfährt, daß wir uns trennen. Ich werde es ihm bei Gelegenheit schon beibringen.« Ulrich erhob sich. »Ich sage ihm, daß du hier bist.« Ohne seine Frau nochmals anzusehen, ging er

davon. Er bog in den Gang ein, an dessen Ende sich Marks Zimmer befand.

Sonja konnte sich zuerst nicht rühren. Hatte Ulrich wirklich von Trennung gesprochen? Das war doch Wahnsinn. Sie wollte doch keine Scheidung. Sie wollte für Mark da sein, wollte ihm helfen, alles leichter zu ertragen. Der Chefarzt hatte gesagt, daß Hoffnung bestand.

»Frau Rieder, ist Ihnen nicht gut?« Schwester Margit hatte Sonja entdeckt. Ihr Benehmen erschien ihr eigenartig. Da Sonja nicht sofort antwortete, berührte die Schwester ihren Arm. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Frau Rieder?«

Jetzt zuckte Sonja zusammen. »Nein, danke. Ich will zu meinem Sohn.«

»Das können Sie. Ihr Sohn ist bereits von der Röntgenstation zurück.« Erstaunt sah Schwester Margit in das bleiche Gesicht Sonjas. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Frau Rieder?« fragte sie besorgt.

Sonjas Gesicht straffte sich. »Mein Sohn wartet.« Steif stand sie auf. Sie ging an der Schwester vorbei, dann besann sie sich und drehte sich um. »Vielen Dank, Schwester.« Sie ließ aber Schwester Margit keine Gelegenheit, noch etwas zu erwidern. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Die wenigen Meter bis zu Marks Zimmer legte sie im Laufschritt zurück.

*

»Heute feiern wir, wir feiern ein Sommerfest!« sang Heidi Holsten. Noch im Schlafanzug hüpfte sie auf einem Fuß durch den Gang zum großen Waschraum. Im Waschraum stutzte sie. »Was macht ihr denn für Gesichter?« fragte sie. »Habt ihr vergessen, daß wir heute feiern?«

Victoria, die von allen nur Vicky gerufen wurde, seufzte. »Hast du schon aus dem Fenster gesehen?«

Heidi schüttelte den Kopf. Rasch lief sie ans Fenster, und schon wurde ihr Gesicht lang. »Es regnet! Das darf nicht wahr sein!« Mit geballten Händen schlug sie gegen die Scheibe, an der die Regentropfen herunterliefen. »Heute ist doch Sommer.«

Pünktchen trat zu ihr. »Auch im Sommer kann es regnen.« Trübsinnig starrte auch sie hinaus in den Regen. Es schien, als habe der Himmel alle seine Schleusen geöffnet.

»Verdammt«, murrte Angelika. Sie war nun auch im Waschraum erschienen.

»Der Sommer ist doch so lang.« Heidi kämpfte mit den Tränen. »Warum regnet es da schon am ersten Tag?« Sie preßte ihr Gesichtchen an Pünktchens Bauch.

»Schon gut.« Die Dreizehnjährige fuhr beruhigend über Heidis blondes Haar, das ihr noch zerzaust auf die Schultern fiel. »Wir werden noch oft im Park feiern können.«

»Und wenn es nun immer regnet?« schluchzte Heidi. »Wenn es nie wieder aufhört?«

»Dann steigt das Wasser ganz hoch, und wir bauen uns ein großes Schiff, mit dem wir dann durch die ganze Welt fahren«, sagte Vicky. Der Gedanke gefiel ihr. Sie preßte die Nase ans Fenster. »Schade, daß wir in der Nähe keinen Fluß haben, der übertreten kann.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und verkündete dann: »Ich sehe aber eine Pfütze. Die wird sicher immer größer.«

»Ich mag aber keinen Regen. Er soll aufhören.« Heidi schniefte.

»Es ist doch ganz lustig. Sieh nur, wie die Tropfen an der Fensterscheibe herunterlaufen. Vicky versuchte, von innen ihren Zeigefinger gegen die Tropfen zu legen.

»Sie machen alles naß. Unser schönes Fest!« So leicht war Heidi nicht zu beruhigen.

»Wir fahren dafür Boot. Das Boot, das wir bauen, wird sehr groß und wir machen ein Dach darüber, dann werden wir nicht naß.« Vicky spähte eifrig hinaus. Sie hatte als einzige Spaß an dem reichhaltigen Naß. »Wir fahren bis nach Afrika, und dort besuchen wir eine Negerfamilie.«

»Ich will aber hierbleiben«, erklärte Heidi ernsthaft.

Vicky überhörte diesen Einwand. Sie meinte: »Für deine beiden Kaninchen Schneeweißchen und Rosenrot haben wir auf dem Schiff auch noch Platz. Die dürfen mitfahren.«

Die neunjährige Vicky war sicher, damit Heidis Herz gewonnen zu haben. Heidi hing sehr an ihren beiden Kaninchen. Sie waren nicht wie die anderen Tiere der Kinder im Tierheim Waldi & Co. untergebracht, sondern gehörten wie Barri, Anglos und Bella, zum Tierbestand von Sophienlust. Der alte Justus, auch für die Ponys der Kinder zuständig, betreute die Kaninchen und die Hunde. Doch nicht einmal damit konnte sie heute Heidi versöhnen. Die Kleine hatte sich schon zu sehr auf das Sommerfest gefreut, das im Park stattfinden sollte. Seit Tagen sprachen die Kinder von nichts anderem mehr und hatten dafür eifrig Lampions und Girlanden gebastelt.

Daher schüttelte Heidi auch eigensinnig ihren Kopf. »Ich will nicht Boot fahren. Ich bin sicher, daß meine Kaninchen das auch nicht wollen. Wir wollen das Sommerfest feiern. Tante Ma muß den Regen wegschicken.« Heidi drehte sich um und stürmte aus dem Waschraum.

»Tante Ma, Tante Ma«, schrie sie dabei laut. So wurde Frau Rennert, die Heimleiterin, von den Kindern gerufen.

Die ältere, sehr mütterliche Frau, erschien auch sofort im Gang. »Was ist denn los, Heidi? Bist du schon fertig?«

»Nein.« Heidi stürzte auf sie zu und ließ sich hochnehmen.

»Willst du dich nicht waschen und anziehen?«

»Wozu?« Heidi schob ihre Unterlippe nach vorn und machte ihr nur allzu bekanntes Schmollmündchen. »Heute soll doch der erste Sommertag sein. Im Sommer scheint die Sonne, und da ist es schön. Bei uns regnet es aber. Wir können unser Fest nicht feiern, ich ziehe mich nur an, wenn du den Regen wegschickst.«

»Aber Heidi, du weißt doch, daß ich das nicht kann.« Die einstige Fürsorgerin lächelte. »Auf das Wetter hat niemand Einfluß.«

»Doch, der Mann, der im Himmel wohnt.«

»Du meinst Petrus?«

Heidi nickte. »Ja, vielleicht bin ich nicht brav genug gewesen. Ich habe gestern aber nichts angestellt. Ich habe nur heimlich Plätzchen genommen. War das so schlimm?«

»Du weißt, daß man nichts heimlich nehmen darf.« Frau Rennert verbiß sich ein Lächeln. Heidi war und blieb ein kleines Naschkätzchen.

»Was machen wir nun? Nützt es nichts, wenn ich verspreche, nie wieder heimlich Plätzchen zu nehmen?« Mit gerunzelter Stirn sah Heidi die Heimleiterin an.

»So schlimm ist der Regen gar nicht«, wich Frau Rennert aus. »Wir feiern trotzdem.«

»Aber da wird ja alles naß.«

»Wir feiern nicht im Park, sondern im Wintergarten.«

»Du bist aber klug!« Begeistert schlug Heidi ihre Hände zusammen. »Im Wintergarten haben wir auch Pflanzen, da können wir unsere Lampions aufhängen, und sie werden nicht naß. Das muß ich gleich den anderen erzählen.« Sie zappelte solange in Frau Rennerts Armen, bis diese sie wieder auf den Boden stellte. Sofort rannte sie in den Waschraum zurück.

»Schnell, beeilt euch! Wir feiern doch, und Habakuk feiert mit.« Strahlend blickte Heidi in die Runde.

»Das geht doch nicht. Erstens wird alles naß, und zweitens darf Habakuk nicht in den Park. Sonst finden wir ihn nicht mehr.« Vicky schüttelte den Kopf. »Ich bin dafür, daß wir ein Boot bauen.«

»Habakuk kann mitfeiern«, trumpfte Heidi auf. »Wir feiern nämlich im Wintergarten. Dort ist es fast so schön wie im Park.«

Damit hatte sie recht. Der Wintergarten bestand fast nur aus Fenstern und beherbergte eine ganze Menge Pflanzen, die sich vom Fußboden bis zur Decke rankten. Im Winter hielten sich die Kinder hier viel auf, aber auch bei Regenwetter war es ein idealer Spielraum. Ständige Bewohner des Wintergartens waren Habakuk, ein Papagei, ein Wellensittich und ein Kanarienvogel. Besonders Habakuk hatten die Kinder in ihr Herz geschlossen. Er war sehr gelehrig und sie versuchten immer wieder, seinen Wortschatz zu erweitern.

»Das ist eine gute Idee«, lobte Pünktchen. »Du hast recht. Im Wintergarten können wir auch sehr schön feiern.«

»Es war nicht meine Idee«, sagte Heidi bescheiden. »Tante Ma ist so gescheit.«

»Seid ihr alle damit einverstanden?« fragte Frau Rennert. Sie streckte ihren Kopf in den Waschraum.

Alle stimmten begeistert zu. Der Regen störte sie nicht mehr.

»Gut«, entschied Frau Rennert. »Dann könnt ihr gleich nach dem Frühstück mit dem Schmücken des Wintergartens beginnen.«

»Da wird sich Habakuk aber freuen.« Heidi machte einen Luftsprung. Dann riß sie sich die Pyjamajacke vom Körper. »Ich wasche mich zuerst. Ich will die erste sein.«

Ein munteres Gepruste und Geplansche ging los. Die Kinder drängten sich vor den Waschbecken. Eine Weile sah die Heimleiterin schmunzelnd zu, dann ging sie.

»So, ich bin sauber«, verkündete Heidi. »Ich fange schon an mit dem Lampionaufhängen.«

»Das gilt nicht!« Vicky hob entrüstet ihren Kopf. Angelika, ihre um drei Jahre ältere Schwester, wollte ihr gerade die Ohren waschen. »Du mußt auf uns warten.«

»Zuerst wird sowieso gefrühstückt, das hat Tante Ma gesagt«, meinte Angelika. Unbarmherzig griff sie fester zu. Vicky nahm es zur Zeit mit dem Waschen nicht so genau. Erst gestern abend hatte sie ihre Schwester dabei ertappt, daß diese ungewaschen zu Bett gehen wollte.

»Aua!« rief Vicky empört. »Ich bin doch schon sauber. Wenn du mich weiter so schrubbst, dann bekommt meine Haut noch Löcher.«

»Laß sie los«, befahl Heidi. »Vicky und ich sind die ersten. Wir gehen schon hinunter.«

»Moment! Was glaubst du, was Tante Ma und Schwester Regine sagen, wenn du so unten auftauchst?« Heidi wurde von Pünktchen festgehalten.

»Laß mich los!« Mit blitzenden Augen versuchte Heidi sich zu befreien. »Ich bin nirgends mehr schmutzig.«

»Das glaube ich dir ja.« Pünktchen ließ die Kleine los. »Du bist nur eine Wetterhexe.«

Heidi verstand noch immer nicht. Mit gerunzelter Stirn dachte sie über das Wort nach. Vicky war es endlich gelungen, sich von ihrer Schwester zu befreien. Sie kam Heidi zu Hilfe.

»Pünktchen meint deine Haare. Du bist noch nicht gekämmt.«

»Oh, und ich wollte doch die erste sein.« Heidi rannte vor den einen Spiegel, der etwas niedriger hing. Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse.

»Soll ich dir helfen?« erbot sich Vicky.

»Ich bin groß, ich mache es selbst.« Heidi stellte sich auf die Zehenspitzen, griff nach der Bürste und begann heftig ihr Haar zu bürsten.

»Dann können wir ja gehen.« Pünktchen ging zur Tür.

»Nein, ich brauche doch meine Rattenschwänzchen!« schrie Heidi entsetzt. So wurden ihre Zöpfchen von den anderen Kindern genannt. Sie waren etwas dünn und standen seitlich unternehmungslustig ab. Jetzt hingen ihr die Haare noch auf die Schultern.

»Ich dachte, du bist schon groß«, erinnerte sie Pünktchen und grinste.

Heidi war nie um eine Ausrede verlegen. »So groß bin ich nun auch wieder nicht. Wichtig ist, daß ich mich schon anziehen und waschen kann.« Hoheitsvoll setzte sie hinzu: »Und zwar ganz allein.«

Pünktchen erbarmte sich ihrer. Sie kam zurück und band Heidi ihre üblichen zwei Rattenschwänzchen. Alle Kinder betraten dann zur gleichen Zeit den Speisesaal, wo sie von Schwester Regine bereits erwartet wurden.

*

Ulrich Rieder war auf Spaziergängen schon öfter in die Nähe von Sophienlust gekommen, aber betreten hatte er den Besitz noch nie. Jetzt parkte er direkt vor dem großen schmiedeeisernen Tor. Er seufzte, denn es regnete noch immer. Während er seinen Regenschirm hervorholte, überlegte er, ob er sich nicht hätte anmelden müssen. Schließlich war heute Sonntag.

Sekundenlang blieb Ulrich reglos hinter dem Steuerrad sitzen. Er fühlte sich so müde. Er schloß die Augen. Er hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen. Da er sich untertags viel bei seinem Sohn aufgehalten hatte, hatte er nachts gearbeitet. Arbeit war immer noch besser als sich schlaflos im Bett herumzuwälzen und zu grübeln. Dann jedoch raffte er sich auf. Er war hier, um sich davon zu überzeugen, daß es den Kindern hier gut ging. Der Gedanke, Mark hierherzubringen, hatte sich in ihm gefestigt. Hier würde Mark nicht allein sein. Er hatte sich umgehört und nur Gutes über das Kinderheim in Erfahrung brachte.

Ulrich spannte seinen Schirm auf und schloß sein Auto ab. Das schmiedeeiserne Tor war nicht versperrt. Er öffnete es und ging zu Fuß die Auffahrt hinauf. Das Portal war geschlossen. Wieder überkamen Ulrich Bedenken, aber er schob sie zur Seite und läutete.

Im Wintergarten wurde das Läuten wohl gehört, aber diesmal reagierten die Kinder nicht. An einem anderen Tag wären sicher einige von ihnen in die Halle gestürzt.

Frau Rennert erhob sich.

»Nein, Tante Ma muß hierbleiben«, rief Hendrik sofort. »Wir müssen das Spiel noch beenden. Wir brauchen heute keine Besucher. Oder, Mutti, erwartest du jemand?«

»Vati kommt, aber er kommt erst später«, antwortete Denise von Schoenecker. Sie wandte sich an die Heimleiterin. »Bleiben Sie nur sitzen. Ich sehe nach.«

»Soll ich nicht gehen, Mutti?« erbot sich Nick.

»Laß nur Mutti gehen. Sie ist hier die Chefin. Sie wird sagen, daß wir am Sonntag keinen Besuch empfangen.« Hendrik lief zu seiner Mutter und schob sie lachend zur Tür. Er war richtig in Fahrt. Das Sommerfest hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht. »Beeile dich. Du bist als nächste mit dem Raten dran«, rief er noch, dann kehrte er zu den anderen Kindern zurück, die im Halbkreis auf dem Fußboden saßen.

Denise ging durch die Halle und öffnete die Tür.

»Herr Rieder, wie nett, daß Sie auch einmal vorbeikommen. Schönes Wetter haben Sie ja nicht gerade mitgebracht.« Denise blickte hinaus in den Regen. Sie erwartete, auch Sonja Rieder zu sehen. Sie hatte das Ehepaar bei ihrem Zusammentreffen im Krankenhaus eingeladen.

Ulrich deutete Denises Blick richtig. Verlegen blickte er auf den Boden. »Entschuldigen Sie, Frau von Schoenecker, wenn ich Sie so überfalle. Ich wollte mich umsehen.«

Denise war erstaunt, aber sie zeigte es nicht. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie freundlich.

»Danke.« Ulrich trat ein. Sein Blick fiel auf den offenen Kamin, vor dem ein Bärenfell lag. »Wunderschön«, bemerkte er. Er meinte es ehrlich.

»Die Halle ist der Mittelpunkt von Sophienlust«, erklärte Denise.

»Ich habe schon viel von Sophienlust gehört, und ich war neugierig«, gestand er. »Trotzdem ist es von mir unverzeihlich, daß ich Sie an einem Sonntag überfalle.«

»Ich habe Sie doch eingeladen.« Denise lächelte. »Ihre Frau…«

Ulrich hob die Hände. »Bitte, meine Frau hat keine Ahnung, daß ich hier bin.«

Denise erschrak. Das Lächeln war völlig aus Herrn Rieders Gesicht gewichen. Sie hatte das Gefühl, einem anderen Mann gegenüberzustehen.

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas vorzumachen, Frau von Schoenecker«, sagte er hart. »Ich habe mich von meiner Frau getrennt.«

Denise dachte nur an Mark. Für ihn mußte das ein schwerer Schock sein. Daher fragte sie: »Was sagt denn Ihr Sohn dazu?«

»Vielleicht vermutet Mark es, aber er weiß es noch nicht.«

»Das ist ja schrecklich!« entfuhr es Denise.

»Warum?« Ulrichs Miene wurde noch abweisender. »Ich werde für Mark sorgen. Besser als bisher für ihn gesorgt wurde.« Mit großen Schritten begann er in der Halle auf und ab zu gehen. »Ich bin fast ständig bei ihm, und außerdem kümmert sich Frau Dr. Leitner um ihn.«

»Sie kann ihm nicht die Mutter ersetzen«, sagte Denise energisch.

Ruckartig blieb Ulrich stehen. Er lachte gequält auf. »Bis vor kurzem hätte ich das auch gedacht.« Und dann brach alles aus dem Mann heraus. Denise unterbrach ihn mit keinem Wort. Sie hörte zu. Sie war erschüttert, als sie merkte, wie sehr dieser Mann litt. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr aber auch, daß Sonja Rieder litt. Wie sehr hätten sich diese Menschen jetzt gegenseitig gebraucht. Und statt sich gegenseitig zu stützen liefen sie auseinander.

»Kommen Sie, setzen wir uns.« Denise berührt leicht Ulrichs Arm. Sie versuchte mit ihm zu reden, aber nach wenigen Minuten sprang Ulrich wieder auf.

»Nein, ich werde nicht zulassen, daß meine Frau sich weiterhin um Mark kümmert. Deswegen bin ich hier.«

Denise seufzte. Der Mann schien fest entschlossen.

»In zehn Tagen wird Mark aus dem Krankenhaus entlassen. Im Rollstuhl. In ein bis zwei Monaten wird er nochmals operiert. Dr. Leitner hofft, daß er dann wieder laufen kann, aber eine Garantie kann sie mir nicht geben.« Ulrich unterbrach sich. Er sah Denise an. »Ich dachte an Ihr Kinderheim. Mark darf nicht grübeln. Er soll Spielgefährten haben. Jetzt wissen Sie, warum ich hier bin. Ich habe Sie absichtlich nicht vorher angerufen. Sie sollten sich auf meinen Besuch nicht vorbereiten können. Ich wollte mich selbst davon überzeugen, ob alles stimmt, was man von Ihrem Kinderheim erzählt.«

Denise nickte. Sie hatte verstanden. Sie erhob sich. »Bitte«, sagte sie. Sie ging durch die Halle und öffnete die Tür zum Wintergarten. Das Lachen der fröhlichen Kinderschar klang ihnen entgegen.

Ulrich trat an Denises Seite. Er war beeindruckt. »Das sind alles Waisenkinder?« fragte er erstaunt.

»Nicht alle, Irmela, zum Beispiel, das große blonde Mädchen dort, lebt bei uns in Sophienlust, weil sie eine deutsche Schule besuchen will. Ihre Mutter hat nach dem Tod ihres Vaters wieder geheiratet und lebt nun in Bombay. Zuerst hat Irmela gegen ihren Stiefvater rebelliert, doch jetzt versteht sie sich gut mit ihm. Die Ferien verbringt sie stets bei ihren Eltern.«

»Es ist kaum zu glauben.« Ein Lächeln erschien auf Ulrichs Gesicht. »Ich bin froh, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Jetzt bin ich sicher, daß Mark bei Ihnen gut aufgehoben wäre.«

»Mutti! Herr Rieder!« Hendrik kam herbeigelaufen. Er reichte Ulrich die Hand, dann meinte er: »Fein, daß du Herrn Rieder nicht weggeschickt hast. Er kann mit uns spielen.« Eifrig erklärte er. »Wir feiern den Sommeranfang. Wo ist Marks Mama? Sie weiß vielleicht auch noch ein Spiel?«

»Meine Frau ist nicht hier.« Ulrich sah Denise an. »Ich will auch nicht länger stören. Ich werde Sie nächste Woche anrufen.«

»Sie stören doch nicht«, fiel Hendrik Marks Vater ins Wort. »Schade, daß Sie Mark nicht mitgebracht haben.«

»Mark muß noch zehn Tage im Krankenhaus bleiben«, erklärte Denise anstelle von Herrn Rieder.

»Dann darf er uns aber besuchen kommen, nicht wahr?« fragend sah Hendrik Marks Vater an.

Ulrich nickte.

»Ich weiß was, hört einmal her!« Lautstark verschaffte Hendrik sich Gehör. Als es im Raum ruhiger wurde, stellte er sich in Positur. »Ich habe euch doch von meinem Freund Mark erzählt. Er wird uns bald besuchen kommen.«

Hendrik machte eine kurze Pause. »Bravo«, schrie Heidi, und die anderen Kinder klatschten Beifall.

»Ich habe eine Idee. Heute mußten wir unser Sommerfest im Wintergarten feiern. Wenn Mark kommt, wird hoffentlich die Sonne scheinen. Ihm zu Ehren feiern wir dann im Park. Wir hängen dann unsere Lampions an den Bäumen auf und zünden sie an. Mark muß eben dann so lange hierbleiben, bis es dunkel wird.«

»Ja«, riefen die Kinder begeistert.

»Herr Rieder, darf Mark mit uns feiern?« Hendrik strahlte den Vater seines Schulfreundes an. Er war sehr stolz auf seinen Einfall.

Ehe Herr Rieder antworten konnte, kam Nick heran. »Da hast du eine gute Idee gehabt, Bruderherz. Wir feiern Marks Entlassung aus dem Krankenhaus.« Er begrüßte Herrn Rieder und erklärte: »Wir haben nämlich noch viel mehr Lampions gebastelt. Im Wintergarten konnten wir gar nicht alle aufhängen.« Nick lachte. »Unser Sommerfest ist ja heute buchstäblich ins Wasser gefallen.«

»Ja, ein scheußliches Wetter«, stimmte Ulrich zu.

»Im Nebenzimmer ist der Tisch gedeckt. Es gibt noch Kuchen. Wollen Sie nicht ein Stück Kuchen essen? Ich werde inzwischen frischen Kaffee holen.« Nick wollte in die Küche gehen, doch Ulrich hielt ihn zurück.

»Vielen Dank, aber ich möchte Mark nicht zu lange alleinlassen.«

»Warum sind Sie dann überhaupt gekommen?« fragte Hendrik vorlaut. Er fing einen strengen Blick seiner Mutter auf und senkte den Kopf.

»Ich wollte mich umsehen.« Verlegen wandte sich Ulrich an Denise. »Ich möchte Sie bitten, Mark aufzunehmen. Bis zur zweiten Operation.« Er atmete tief durch. »Dann sehen wir weiter.«

Hendrik riß Mund und Augen auf. »Mark soll ganz bei uns wohnen? Klar darf er das! Es sind ja bald Ferien. Wohnt dann Tante Sonja auch bei uns?« Stolz blickte Hendrik in die Runde. »Marks Mama hat mir erlaubt, daß ich Tante Sonja zu ihr sagen darf.«

»Nein, Marks Mama wird auf keinen Fall hier wohnen«, sagte Ulrich scharf. Er sah so abweisend aus, daß Hendrik erschrocken einen Schritt zurücktrat.

»Ist der aber böse«, flüsterte Heidi, die gerade hinzugekommen war.

Ulrich achtete überhaupt nicht auf das Kind. Er hob seine Stimme: »Ich wünsche nicht, daß meine Frau Mark hier besucht.«

»Mutti, warum darf Tante Sonja nicht herkommen?« Völlig verständnislos sah Henrik zwischen seiner Mutter und Marks Vater hin und her. Heidi hatte recht, richtig böse sah der Mann jetzt aus.

Henrik öffnete wieder den Mund, aber seine Mutter kam ihm zuvor. »Bitte, Henrik!« Ängstlich griff Heidi nach Henriks Hand. »Gehen wir lieber. Hoffentlich ist Mark nicht auch so böse.«

»Mark ist sehr lieb«, behauptete Henrik.

»Das hast du von seinem Papa und seiner Mama auch gesagt.« Heidi versuchte, Henrik ins Zimmer hineinzuziehen.

»Ich habe es auch geglaubt«, sagte Henrik. Er warf Ulrich noch einen raschen Blick zu, dann ging er mit Heidi mit.

Obgleich er sich nicht verabschiedet hatte, ließ Denise ihn gehen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie zu Ulrich.

»Ich muß mich entschuldigen«, erwiderte dieser knapp. »Ich kann einfach nicht. Ich bin…«

»Ich verstehe schon. Es war etwas viel für Sie in letzter Zeit«, sagte Denise warm. »Ich wünsche Ihnen, daß alles wieder in Ordnung kommt.«

Ulrich ging nicht auf ihren Ton ein. »Es ist besser, wenn ich mich verabschiede. Ich will zu meinem Sohn. Ich melde mich dann bei Ihnen.«

*

Ärgerlich verzog die Ärztin das Gesicht. Der Junge brachte sie noch langsam um den Verstand. Wäre er nicht Ulrich Rieders Sohn gewesen, hätte sie ihm schon längst gehörig die Meinung gesagt. Was bildete sich der Lausebengel eigentlich ein? Etwas freundlicher konnte er wirklich sein. Schließlich saß sie viele Stunden des Tages an seinem Bett.

Helga Leitner atmete tief durch, dann sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Gut, dann ißt du den Kuchen eben später. Aber essen solltest du ihn schon. Ich habe ihn extra für dich aus der Kantine geholt.«

»Ich mag keinen Kuchen. Sie hätten ihn nicht zu holen brauchen.« Mark drehte seinen Kopf zur Seite.

»Wenn dein Papa dir einen Kuchen mitbringt, dann ißt du ihn immer«, sagte Helga. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Der Kuchen ist dann auch von Papa«, sagte Mark patzig.

»Was soll das, Mark? Ich möchte dir doch nur helfen. Soll ich etwa deinem Papa sagen, daß du zu mir so ungezogen bist?«

Mark preßte die Lippen aufeinander und schwieg.

»Schau«, versuchte es die Ärztin nochmals. Sie beugte sich über Mark und legte ihm ihre Hand auf den Kopf. »Wenn du willst, dann lese ich dir wieder vor.«

»Ist nicht nötig. Wenn ich will, kann ich selbst lesen. Ich bin ja kein Baby mehr.«

»Ich weiß, deine Mama hat dir auch nicht oft vorgelesen. Ich finde aber das Vorlesen wichtig.«

»Ich nicht.«

Helga kniff ihre Mundwinkel ein. »Du wirst auch noch darauf kommen, wie schön es ist, wenn sich jemand um dich kümmert.«

»Meine Mama kümmert sich doch um mich.«

»So, und wo ist deine Mama jetzt?«

»Sie…« Mark schluckte. »Sie hat gesagt, sie kann jetzt nicht mehr so oft kommen.«

Helga nickte. »Daher solltest du froh sein, daß ich mir für dich Zeit nehme. Bis dein Papa kommt, können wir ja etwas spielen.«

»Ich will jetzt nicht spielen.« Mark schloß die Augen. Warum ging die Ärztin nicht weg? Er wollte allein sein und darüber nachdenken, warum seine Mama nicht mehr kam.

»Was willst du sonst machen? Du weißt doch, daß ich meine Freizeit gern mit dir verbringe.« Helga strich Mark über das Haar. Mark zuckte zusammen.

»Es ist wirklich nicht nötig. Sie können ruhig gehen. Mir ist allein nicht langweilig.«

»Du machst es einem wirklich nicht leicht.« Dr. Leitner konnte ihren Ärger nun nicht mehr unterdrücken. »Ich meine es gut mit dir.«

Mit Marks Beherrschung war es auch vorbei. »Ich will zu meiner Mama! Wo ist meine Mami? Gehen Sie doch weg, damit meine Mami kommen kann.« Er stieß die Hände der Ärztin zur Seite.

»Deine Mama kommt nicht mehr. Einmal wirst du noch froh sein, wenn ich Zeit für dich habe«, sagte Helga.

»Das ist nicht wahr. Morgen kommt Mama sicher.«

»Da irrst du. Dein Papa hat es ihr verboten.«

»Nein. Sie lügen!« schrie Mark.

Die Ärztin blieb gelassen. »Wenn du mir nicht glaubst, dann frage doch deinen Papa. Deine Mama hat ja nicht richtig auf dich aufgepaßt. Dein Papa wird sich in Zukunft mehr um dich kümmern. Dein Papa und ich«, setzte sie hinzu. Mark starrte sie entsetzt an. Trotzdem fuhr sie ihm wieder über das Haar. Sie hatte sich nun mal vorgenommen, immer freundlich zu ihm zu sei, denn sie wußte, daß sich Ulrich Rieder darüber freute.

Für Mark war das zuviel. »Lassen Sie mich in Ruhe! Gehen Sie weg!« Seine Stimme überschlug sich. Dann schlug er mit den Händen nach ihr. Helga versuchte ihn festzuhalten. Sie war hilflos. Zum Glück kam in diesem Augenblick Denise von Schoenecker ins Zimmer. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, alle zwei Tage nach Mark zu sehen. Durch Ulrichs Besuch war sie sehr beunruhigt.

»So ein ungezogener Bengel«, schimpfte die Ärztin, als sie Denise begrüßte. »Da sieht man, wohin es führt, wenn die Mutter andere Interessen hat.«

Denise glaubte, nicht richtig zu hören. Wie konnte man so vor einem Kind sprechen? Ohne weiter auf die Ärztin zu achten, eilte sie zum Bett und nahm Mark in die Arme.

»Tante Isi«, schluchzte der Neunjährige verzweifelt. »Ich will gar nicht weinen, ich bin doch schon groß.«

»Es ist ja gut.« Denise fuhr Mark zärtlich durch das Haar. Sie spürte, daß er noch immer zitterte. Nur langsam beruhigte er sich.

»Jetzt bist du da. Bitte, schick die Frau Doktor weg.« Mark blickte flüchtig zu der Ärztin hin, um sich dann noch enger an Denise zu schmiegen. »Ich will nicht mit ihr spielen, und vorlesen soll sie mir auch nicht mehr.«

»Jetzt sehen Sie selbst, wie undankbar dieses Kind ist.«

Dr. Leitner preßte ihre Hände gegen die Brust. Sie war hochrot im Gesicht.

Mark beobachtete sie nicht mehr. »Sie hat gesagt, sie wird jetzt immer mit mir spielen. Weil… weil…«, Seine Stimme brach. Es durfte einfach nicht wahr sein, daß seine Mutter und sein Vater sich trennten.

»Er wartet ständig auf seine Mutter«, erklärte die Ärztin. »Ich habe ihm nun gesagt, daß sie nicht mehr kommen wird. Es ist an der Zeit, daß er die Wahrheit erfährt.«

»Tante Isi, sie soll weggehen«, schrie Mark erneut. Er wollte die Wahrheit nicht hören.

»Bitte, Frau Doktor.« Denise sah die Ärztin an. »Könnten Sie mich mal mit Mark allein lassen?«

»Sie werden doch nicht den Launen eines Kindes nachgeben«, empörte Dr. Leitner sich. »Es ist an der Zeit, daß Mark Gehorsam lernt. Im übrigen habe ich Herrn Rieder versprochen, mich um Mark zu kümmern. Irgend jemand wird es in Zukunft doch tun müssen.«

»Natürlich. Aber Mark kommt zuerst zu uns nach Sophienlust. Sie entschuldigen, aber ich möchte ihn darauf vorbereiten.«

»Wie wollen Sie das tun?« Die Ärztin zuckte die Achseln.

»Indem ich mit ihm spreche.« Denise lächelte Mark aufmunternd zu.

»Es hat keinen Sinn, wenn Sie ihm etwas vormachen«, sagte die Ärztin steif.

»Vormachen?« Denise schüttelte den Kopf. »In der Ehe von Marks Eltern kriselt es. Mark hat das schon selbst gespürt. An eine endgültige Trennung glaube ich deswegen noch nicht.«

Dr. Leitner schluckte. Sie senkte den Blick. Hatte Denise von Schoenecker ihre geheimsten Gedanken erraten? »Natürlich können Sie mit Mark sprechen«, sagte sie. »Sie haben sicher viel Erfahrung mit Kindern. Wenn Sie mich brauchen, ich bin im Ärztezimmer.«

*

»Für Mark wird es nicht leicht sein«, sagte Ulrich Rieder. Er ging an der Seite Dr. Leitners vor dem Krankenhaus auf und ab. »Natürlich geht er gern nach Sophienlust. Da habe ich auch keine Bedenken, denn dort hat er genügend Spielkameraden. Aber was kommt danach. Mark hängt sehr an seiner Mutter.«

»Das ist nur natürlich, aber er wird darüber hinwegkommen.« Dr. Leitner blieb stehen und lächelte Ulrich an. »Ich habe Ihnen ja versprochen zu helfen.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei Ihnen bedanken kann. Sie tun so viel für meinen Sohn.« Ulrich registrierte, daß Helga Leitner eine neue Frisur hatte, auch hatte sie sich die Lippen nachgezogen.

Helga errötete unter seinem Blick.

»Wichtig ist vorerst die zweite Operation«, meinte sie dann. »Wenn Mark wieder laufen kann, verkraftet er auch die Trennung von der Mutter.«

Ulrich nickte. »Ohne Sie würde ich daran nicht glauben.«

»Das müssen Sie aber«, sagte die Ärztin eifrig. »Es bestehen wirklich Chancen.« Jetzt war Dr. Leitner in ihrem Element. Sie sprach, und Ulrich hörte zu. Er klammerte sich förmlich an ihre Worte. Als sie schwieg, seufzte er.

»Wenn ich Sie nicht hätte, Frau Doktor. Ich glaube, ich wäre völlig verzweifelt. Es ist alles so trostlos. Hier liegt nun mein Sohn, und vor kurzem ist er noch so fröhlich herumgesprungen. Und am Abend erwartet mich das leere Hotelzimmer.«

»Das kann ich verstehen. Aber weshalb gehen Sie nicht unter Leute? Sie müssen auf andere Gedanken kommen.«

»Das sagt sich so einfach.« Ein Schatten legte sich über Ulrichs Gesicht. »Ich stehe vor den Trümmern meiner Ehe. Ich habe gearbeitet, habe alles für meine Familie getan. Ich wollte uns ein eigenes Heim schaffen. Es sollte ein Häuschen im Grünen werden.«

»Sie dürfen nicht so viel grübeln. Es ist ein Fehler, wenn Sie sich jeden Abend in Ihrem Hotelzimmer verkriechen.«

»Was soll ich allein tun?« Ulrich wollte sich abwenden, aber da fing er einen Blick der Ärztin auf. Unwillkürlich hielt er inne. »Oder würden Sie…?« Er stockte. »Dürfte ich Sie heute abend einladen? Wir könnten zusammen essen gehen. Natürlich nur, wenn Sie nichts anderes vorhaben. Sie haben mir und meinem Sohn schon genügend Zeit geopfert.«

»Ich habe nichts besonderes vor«, sagte Helga eine Spur zu rasch. Sie hatte darauf gehofft.

»Das ist fein. Ich habe an den letzten Abenden geglaubt, mir würde die Decke auf den Kopf fallen. Wann darf ich Sie abholen, Frau Doktor?«

»Lassen Sie doch bitte das Frau Doktor weg.« Errötend setzte die Ärztin hinzu: »Ich heiße Helga.«

»Und ich Ulrich.« Ulrich streckte der Ärztin die Hand hin. »Vielen Dank, daß Sie heute für mich Zeit haben.«

Zeit für dich werde ich immer haben, dachte Helga. Sie sprach es jedoch nicht aus, sondern legte nur ihre Hand in die seine. »Sagen wir um 19 Uhr. Oder ist Ihnen das noch zu früh?«

»Aber nein. Ich bin froh für jede Stunde, die ich nicht allein sein muß. Ich hoffe nur, Sie bereuen nicht, meine Einladung angenommen zu haben. Ich glaube, ich bin zur Zeit kein sehr guter Gesellschafter.«

Helga überwand ihre Verlegenheit. »Darauf lasse ich es ankommen«, erwiderte sie kokett.

Viel zu früh stand sie vor dem Krankenhaus und hielt nach Ulrich Ausschau. Sie war aufgeregt wie beim ersten Rendezvous. Ihre Wangen hatten sich gerötet und ihre Augen leuchteten. Sie sah um Jahre jünger aus.

Ulrich kam. Erstaunt musterte er die Ärztin. Mit klopfendem Herzen hielt Helga seinem Blick stand. »Ich staune«, gestand Ulrich dann. »Sie sind ja eine Frau!« Noch dazu eine verdammt hübsche! Wo habe ich bisher nur meine Augen gehabt? Galant half er ihr in den Wagen.

»Wohin fahren wir?« fragte Helga verlegen. Es war für sie nicht leicht, zu dem unbeschwerten Ton ihrer Studentenzeit zurückzufinden. Nach einer großen Enttäuschung war sie den Männern aus dem Weg gegangen.

»Ich muß etwas gutmachen.« Ulrich lächelte verschmitzt. Er fuhr in die Innenstadt. Dort kannte er ein Blumengeschäft, das um diese Zeit noch geöffnet hatte.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Helga«, sagte er und eilte in den Laden. Ehe Dr. Leitner richtig wußte, wie ihr geschah, lag ein herrlicher Teerosenstrauß in ihrem Schoß.

»Aber Ulrich!« Verlegen doch tief beglückt, barg Helga ihr Gesicht in den herrlichen Blüten.

»Das ist für alles, was Sie bisher für mich getan haben. Ich hoffe, daß es nicht das letzte Mal ist, daß wir zusammen ausgehen.« Ulrich lächelte sie an. Sie gefiel ihm von Minute zu Minute besser.

Bereits beim Essen überwand Helga ihre restliche Scheu. Sie bewies, daß sie sogar Charme besaß. Auch für Ulrich wurde es ein netter Abend. Er merkte wohl, daß die Ärztin ihn mochte doch er dachte nicht weiter darüber nach. Es schmeichelte ihm. Es richtete sein ramponiertes Selbstbewußtsein wieder etwas auf. Es ging schon auf Mitternacht zu, als er Dr. Leitner schließlich zum Krankenhaus zurückbrachte.

»Es war ein sehr schöner Abend«, sagte er. »Ich spüre wieder, daß ich lebe.« Spontan beugte er sich vor und küßte Helga auf die Wange.

Helga spürte den unbändigen Drang, ihn festzuhalten und richtig zu küssen, aber sie wagte es nicht.

»Ich habe zu danken«, sagte sie. »Ich bin schon sehr lange nicht mehr ausgegangen.«

»Ein guter Grund, das öfter zu tun. Was halten Sie von morgen?«

Helga nickte überglücklich.

»Ich werde mir etwas einfallen lassen«, versprach Ulrich. »Ich komme sowieso schon am Vormittag ins Krankenhaus, um nach Mark zu sehen. Schlafen Sie gut.«

»Danke.« Helga stieg rasch aus. Sie eilte die Stufen des Krankenhauses hinauf, aber am Eingang blieb sie noch einmal stehen und blickte zurück. Sie sah, daß Ulrich die Hand hob und ihr zuwinkte. Sie hätte jubeln mögen. Wie schön war plötzlich das Leben.

*

»Wann kommt Mark denn?« Heidi fragte es zum x-ten Mal.

»Am Nachmittag«, erklärte Pünktchen, auch nicht zum erstenmal.

»Aber es ist doch schon lange Nachmittag«, quengelte die Kleine. »Das Mittagessen ist ja schon lange vorbei.«

»Das kommt dir nur so vor, weil du heute nicht geschlafen hast.

»Ich kann doch nicht schlafen, wenn Mark kommt«, empörte Heidi sich. »Ich muß ihn doch begrüßen. Ich will doch sehen, ob er jetzt sprechen kann. Als ich ihn damals gesehen habe, hat er überhaupt nichts gesagt.«

»Jetzt kann er sprechen«, beruhigte Pünktchen sie.

Vicky und Fabian kamen in die Halle. »Seht mal, was wir gemacht haben«, rief Vicky. Stolz hielt sie ein Plakat in die Höhe.

»Du bist zu klein.« Fabian, der ein Jahr älter war, nahm ihr das Plakat aus der Hand. Er stieg auf einen Hocker. »So, jetzt können es alle sehen.«

»Schön«, lobte Pünktchen.

»Wir haben es beide zusammen gemalt«, rief Vicky.

»Was steht denn darauf?« fragte Heidi.

»Herzlich Willkommen«, sagte Vicky. »Das Plakat hängen wir im Park auf.«

Heidi wandte sich ab. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln setzte sie sich auf das Bärenfell. Nach einiger Zeit fiel Pünktchen ihr Schweigen auf. »Was ist denn los, Heidi?« fragte sie freundlich.

Heidi sagte nichts, aber ihr Köpfchen sank noch tiefer auf die Brust.

»Nanu, du wirst doch heute nicht traurig sein. Gleich kommt Mark, und dann gibt es Erdbeerkuchen, Kakao und Eis.«

»Ja, und essen dürfen wir im Freien. Justus und Onkel Wolfgang haben schon die Bänke und Tische aufgestellt. Das wird lustig, ich weiß.« Trotzdem seufzte sie.

»Und?« fragte Pünktchen. Sie ging vor Heidi in die Knie und hob ihr Köpfchen an.

»Das Plakat«, sagte die Kleine bekümmert.

»Findest du es nicht schön?«

Heidi nickte. »Doch. Aber warum ist mir das nicht eingefallen? Ich möchte Mark doch auch herzlich willkommen heißen.«

Pünktchen mußte lachen. Da Heidi ein beleidigtes Gesicht machte, zog sie diese freundschaftlich an ihren Rattenschwänzchen.

Vicky hatte die Klage der Kleinen auch gehört. Sie war etwas weniger rücksichtsvoll. »Auch wenn es dir eingefallen wäre, hätte es dir nichts genützt. Du kannst ja nicht schreiben.«

»Genau!« Heidi sprang auf. »Ich will doch in die Schule. Ihr nehmt mich nur nie mit.«

»Wann wirst du endlich begreifen, daß es in der Schule nicht so lustig ist, wie du dir das vorstellst.« Fabian schüttelte den Kopf. »Ich bin jedenfalls sehr froh, daß wir jetzt bald Ferien haben.«

»Siehst du, das kann ich nicht sein. Ich habe ja immer Ferien.« Schon wieder sank Heidis Köpfchen auf die Brust.

»Dafür bist du aber die Kleinste. Jeder gibt dir etwas ab. Einmal ein Bonbon, dann ein Plätzchen oder ein Stück Schokolade.«

Heidis Kopf schoß in die Höhe. »Hast du etwas für mich?« Sie strahlte Fabian an.

»Mal sehen«, brummte der Junge. Seine Hand fuhr in die Hosentasche. »Da ist nichts drin.«

»Bitte, sei so lieb und suche in der anderen«, bettelte Heidi.

Fabian grinste. Er spielte dieses Spiel oft mit der Kleinen. Zuerst kam seine Hand auch aus der zweiten Tasche wieder leer zum Vorschein, aber als er Heidis enttäuschtes Gesichtchen sah, griff er nochmals hinein, und diesmal zog er ein Stück Schokolade hervor. »Das habe ich extra für dich aufgehoben.«

»Danke«, jubelte Heidi. Sie nahm die Schokolade, packte sie aus und steckte sie genußvoll in den Mund. Dann stellte sie fest: »Schreiben kann ich aber noch immer nicht.«

»Aber du kannst sprechen«, meinte Pünktchen.

»Klar!« Empört sah Heidi Pünktchen an. »Das kann ich schon lange.«

»Dann ist es gut. Dann kannst du Mark ja das sagen, was Vicky und Fabian aufgeschrieben haben.«

»Ich will aber schreiben.« Mit vorgeschobener Unterlippe blickte Heidi auf das Plakat. »Das schaut sehr schön aus.« Doch dann erhellte sich ihr Gesichtchen. »Ich kann Mark noch viel mehr sagen, als hier auf dem Plakat steht. Ich kann ihm sagen, daß ich mich freue, daß er jetzt bei uns ist. Daß ich mit ihm spielen will, und daß er nicht traurig sein soll, weil er nicht laufen kann.«

Pünktchen nickte, aber Fabian war damit nicht einverstanden. »Das mit dem Laufen erwähnst du lieber nicht«, meinte er. »Mark soll nicht daran erinnert werden.«

»Aber er sieht doch, daß wir laufen können«, meinte Heidi. »Wird er da nicht traurig sein?«

»Tante Isi hat gesagt, daß Mark noch einmal operiert wird. Dann kann er auch wieder laufen.«

»Aber jetzt«, beharrte Heidi. »Jetzt muß er zusehen, wie wir herumlaufen. Das ist doch nicht lustig.«

»Wir werden in der nächsten Zeit eben nicht Fangen spielen.« Er zögerte und setzte dann hinzu: »Fußballspielen eben auch nicht. Uns wird schon etwas anderes einfallen.«

»Sicher, es gibt eine ganze Menge Spiele, wo man nicht laufen muß«, bestätigte Pünktchen.

»Mir würde es trotzdem nicht gefallen, wenn ich der einzige wäre, der nicht laufen kann«, sagte Heidi leise. Sie hatte Mark nur kurz gesehen, aber das Bild des leblosen Jungen auf der Trage hatte sich tief in ihrem Innern eingegraben. »Ich werde immer bei ihm bleiben. Dann ist er nicht allein.«

Da Denise von Schoeneckers Söhne gerade die Halle betraten, achtete Pünktchen nicht mehr auf Heidi, und so hatte sie ihre Worte auch nicht mehr gehört.

»Los, ihr Faulpelze«, rief Henrik zur Begrüßung, »auf in den Park! Mal sehen, was wir noch alles richten können. Mark soll es bei uns gefallen.«

»Das Plakat müssen wir noch aufhängen«, rief Vicky.

Henrik musterte es kritisch. »Na ja, es geht«, meinte er.

Nick dagegen lobte: »Keine schlechte Idee. Das hängen wir an den nächsten Baum.«

Erwartungsvoll liefen die Kinder aus dem Haus. Lena und Ella, die beiden Hausmädchen, deckten bereits die Tische im Freien. Begeistert sahen die Kinder sich um. Nachdem Nick das Plakat befestigt hatte, waren alle der Meinung, daß Mark nun eigentlich kommen könnte.

»Nein, noch nicht«, rief Heidi. Sie stieg auf einen Baumstrunk und verkündete: »Ich muß zuerst noch springen.«

»Jetzt wird nicht gesprungen«, sagte Henrik. »Ich glaube, wir können schon zum Tor gehen.«

»Ich muß aber noch springen«, behauptete Heidi erneut.

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Henrik setzte sich in Bewegung und trabte die Ausfahrt hinunter. Die anderen Kinder folgten ihm. Heidi zögerte, dann rief sie laut: »Achtung, ich springe jetzt!«

Sie sprang, und dann lag sie auf dem Bauch. Sie streckte Hände und Füße weit von sich und schrie aus Leibeskräften.

Pünktchen kam als erste zu ihr zurück. Was ist denn los?« Sie wollte die Kleine aufheben, doch Heidi wehrte sich dagegen und schrie nur um so lauter.

»Hast du dir wehgetan?« Pünktchen war ratlos.

»Au, au, au«, heulte Heidi.

»Los, steh doch auf«, meinte Vicky. »Dein Kleid wird doch schmutzig.«

Heidi hob etwas den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte sie.

»Das werden wir gleich haben.« Nick packte Heidi unter den Achseln und hob sie hoch.

Heidi zog die Beine ein und jammerte: »Ich kann nicht stehen. Ich kann nicht mehr gehen.«

Nun war Nick auch erschrocken. Er setzte Heidi wieder auf den Boden. »Zeig einmal her!« Vorsichtig begann er, ihre Knie zu untersuchen. Nicht die kleinste Schramme war zu entdecken, aber Heidi brüllte erneut.

»Das verstehe ich nicht. Wo tut es dir weh?«

»Überall. Ich kann nicht mehr laufen, ganz sicher nicht mehr.«

»Das ist doch nicht möglich. Du hast es doch noch gar nicht probiert.« Nick schüttelte seinen Kopf. Heidi war doch sonst nicht so wehleidig.

»Es geht nicht. Es tut ja so weh. Au, au.«

»Vielleicht ist sie mit dem Knie auf einen Stein gefallen«, mutmaßte Henrik.

»Aber man sieht nichts. Sie blutet nicht einmal«, stellte Pünktchen fest. Sie hatte sich nun ebenfalls über Heidi gebeugt.

»Mensch, Heidi.« Henrik berührte die Kleine an der Schulter. »Mach doch keine Geschichten. Mark kann jeden Augenblick kommen.«

»Das macht nichts. Ihr könnt ruhig zum Tor gehen. Ich bleibe hier sitzen.« Heidi sah rasch in die Runde, dann begann sie wieder zu stöhnen.

»Ich hole Mutti«, sagte Nick erschrocken.

Heidi unterbrach ihr Stöhnen. »Tante Isi kann auch nichts machen. Ich kann nur nicht mehr laufen.«

Pünktchen unterdrückte ein Schmunzeln. Ein Verdacht war ihr gekommen. »Und es tut dir sehr weh?« erkundigte sie sich.

»Wenn ich ruhig sitze, nicht. Nur gehen, das kann ich nicht.«

»Sicher wird es aber noch besser, wenn du liegst. Los, Nick, trage Heidi ins Haus. Es ist schade, aber wenn man so einen wehen Fuß hat, dann muß man sich ins Bett legen.« Pünktchen versuchte, ernst zu bleiben.

»Nein, das ist nicht wahr«, fuhr Heidi auf. Alles Stöhnen und Brüllen war auf einmal vergessen. »Mark muß auch nicht ins Bett. Er muß nur immer sitzen.«

Jetzt verstand auch Nick. »Das ist doch kein Spaß«, sagte er empört.

Energisch zog er Heidi nun auf die Füße. »Sei froh, daß es dir nicht so geht wie Mark.«

»Aber… aber ich wollte doch nur…« Heidis Augen füllten sich nun wirklich mit Tränen.

»Spiel ja nicht weiter Theater«, drohte Nick.

»Nick, ich glaube, du tust ihr Unrecht«, meinte Pünktchen. Sie nahm Heidi in die Arme. »Was hast du nun wirklich gewollt?«

»Wenn Mark nicht laufen kann, dann will ich es auch nicht können.« Heidi bohrte ihr Gesichtchen in Pünktchens Halsgrube.

Gerührt strich Nick der Kleinen über das Köpfchen, dann erklärte er ihr aber, daß das nicht nötig wäre. Während er noch sprach, ertönte eine Autohupe. Ulrich Rieder fuhr durch das schmiedeeiserne Tor.

*

Mark fühlte sich in Sophienlust wohl. Endlich hatte er Spielgefährten. Die Kinder unternahmen nichts ohne ihn. Pünktchen oder Nick schoben den Rollstuhl, und Heidi durfte sogar hin und wieder bei Mark sitzen. Heidi hatte Mark ganz besonders ins Herz geschlossen, denn er wünschte sich doch eine kleine Schwester.

Heute nun wollten sie Mark das Tierheim Waldi & Co. zeigen. Es lag am Rande von Wildmoos. Für die Kinder war das ein schöner Spaziergang. Sie waren gleich nach dem Mittagessen losgezogen und wollten den ganzen Nachmittag dort verbringen. Andrea von Lehn, Denise von Schoeneckers Stieftochter, erwartete die Kinder schon. Zusammen mit ihrem Mann, einem Tierarzt, hatte sie dieses Tierheim gegründet, das dazu diente, herrenlose, vernachlässigte oder kranke Tiere aufzunehmen. Aber auch Kindern, die nur vorübergehend in Sophienlust weilten und sich von ihre Tieren nicht trennen wollten, wurde dadurch Gelegenheit gegeben, ihre Lieblinge zu behalten. Die Tiere wurden in Waldi & Co. untergebracht und konnten dort jederzeit besucht werden.

Heidi saß stolz neben Mark, und ihr Plappermäulchen stand keine Sekunde still. Sie erzählte von Waldi, dem Kurzhaardackel, nach dem das Tierheim benannt worden war. Mark wurde immer neugieriger. Er mochte Tiere und kannte auch die verschiedenen Hunderassen, aber er hatte noch nie einen jungen Schimpansen gestreichelt, oder ein Reh. Und Heidi behauptete,daß es diese Tiere im Tierheim gab.

»Ein richtiges Bambi und es läßt sich streicheln?« fragte Mark ungläubig.

»Ja, es lebt im Freigehege, aber es ist sehr zutraulich«, berichtete Heidi. »Genau wie Fridolin.«

»Wer ist Fridolin?«

»Ein Esel. Auf ihm können wir reiten. Er wird dir auch gefallen. Er ist sehr lustig.«

Nein, das konnte Mark einfach nicht mehr glauben. »Halt!« rief er.

»Was ist denn?« fragte Pünktchen und blieb stehen.

»Heidi beschwindelt mich doch! Ich glaube ihr nicht mehr. Ein Affe, ein Reh und ein Esel, das ist einfach zuviel.«

»Der Affe heißt Mogli«, rief Heidi.

»Tante Isi, Tante Isi.« Mark wandte den Kopf. »Bitte, komm her.«

Denise von Schoenecker bildete mit Irmela die Nachhut. Ausnahmsweise begleitete sie heute die Kinder selbst. »Was gibt es?« Sie kam heran.

»Waldi & Co. ist ein Tierheim, nicht wahr?« fragte Mark, als Denise an seiner Seite ging.

»Ja, und der Chef von den Tieren ist Waldi«, rief Heidi dazwischen. »Es gibt aber auch noch Munko. Das ist ein ehemaliger Polizeihund.«

»Gut, das glaube ich. Heidi hat aber auch gesagt, es gibt dort einen Affen und einen Esel.« Anklagend sah Mark Denise an. Er war überzeugt, daß Heidi ihn angelogen hatte.

Ehe Denise antworten konnte, patschte Heidi in die Hände. »Er glaubt mir nicht«, rief sie lachend.

Denise lächelte ebenfalls. »Heidi hat die Wahrheit gesagt.«

»Und ich darf den Esel streicheln und auch den Affen?« Mark war außer sich vor Freude.

Wie üblich wurden die Kinder von Waldi begrüßt. Er kam ihnen schon im großen Hof entgegengesprungen. Heidi rutschte vom Rollstuhl und stellte vor: »Chef Waldi.« Sie kniete sich nieder und kraulte den Dackel hinter seinen langen Ohren. Dieser bellte und jaulte begeistert. Er mochte die Kinder sehr.

Denise sah Marks sehnsüchtigen Blick. So hob sie den Dackel auf und setzte ihn in Marks Schoß. Mark war selig. Natürlich wurden dann auch noch Munko und Severin von ihm begrüßt. Severin, eine Dogge, gehörte zum Haushalt des Tierarztehepaars von Lehn.

»So, sind wir nun auch an der Reihe?« fragte lachend eine junge Frau, die einen zweijährigen Jungen auf dem Arm hielt.

»Ab, ab«, forderte dieser energisch. »Peterle auch ada sagen.«

»Nicht ada, sondern Grüß Gott.« Heidi umarmte den kleinen Kerl stürmisch. Peterle war Andrea von Lehns Sohn. »Heute bleiben wir den ganzen Nachmittag hier«, erklärte sie dem Kleinen. »Wir müssen Mark doch alles zeigen.«

Andrea von Lehn begrüßte Mark.

»Vielen Dank, daß Sie mich eingeladen haben«, sagte Mark höflich, doch dann hielt er es nicht mehr aus: »Wo ist der Esel?«

»Im Freigehege.«

»Ist er wirklich echt?«

»Du kannst dich gleich davon überzeugen«, meinte Andrea lächelnd. Sie schob jetzt selbst den Rollstuhl, dabei erklärte sie Mark alles. Ihr Sohn Peterle stapfte munter an Heidis Hand nebenher.

Auch die anderen wollten zuerst die Tiere begrüßen, also machte sich die ganze Schar geschlossen auf den Weg zum Freigehege.

Jetzt konnte Mark sich davon überzeugen, daß Heidi die Wahrheit gesagt hatte. Als erstes kam das Bambi herangesprungen. Es war wirklich sehr zutraulich. Mark konnte es mühelos anfassen und streicheln. Fridolin dagegen hielt nicht still. Zuerst untersuchte er die Räder des Rollstuhls, dann verschwand er hinter dem Stuhl. Zur Freude der Kinder versuchte er nun, mit dem Kopf den Rollstuhl in Bewegung zu setzen. Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß das nicht möglich war, denn Andrea von Lehn hatte fürsorglich die Handbremse gezogen, kam er wieder nach vorn und blieb nun neben Mark stehen. Jetzt hatte Mark genügend Gelegenheit, den Esel zu betrachten, und bald faßte er Zutrauen. Er strich Fridolin über das graue Fell und berührte sogar eines seiner langen Ohren.

»Bist du ein liebes Kerlchen«, meinte er dann. Schon mutiger, begann er den Hals des Tieres zu tätscheln. Zufrieden begann Friedolin zu iaen, dabei rieb er seinen Kopf an Marks Arm.

»Nun bist du sein Freund«, stellte Heidi fest. Sie kannte Fridolins Eigenart. Sie behielt recht. Fridolin lief munter neben dem Rollstuhl her, als sie weiterzogen.

Es wurde für alle Kinder ein schöner Nachmittag. Mark kam nicht zu kurz. Stets befand er sich mit seinem Rollstuhl mitten unter den Kindern und den Tieren, und ihm wurde alles gezeigt. Die Kinder führten ihn quer durch das Freigehege. Zuerst machte Heidi allerdings eine saure Miene, denn Peterle kletterte ohne Scheu auf den Rollstuhl und setzte sich zufrieden auf Marks Schoß.

»Peterle fahren«, rief er begeistert.

»Na ja«, gab Heidi nach, denn sie mochte den Kleinen sehr. »Mit Mark fahren darfst du, aber Mark bleibt mein Freund, verstanden?«

An Freundschaft schien Peterle nicht weiter interessiert. Er war sowieso der Liebling aller und wurde sehr verwöhnt. Er saß nun auf Marks Knien und dirigerte: »Fahren da, Peterle will da hin! Jetzt fahren zum Zaun, Peterle will Zaun.«

»Peterle fahren und reiten«, jubelte er dann, und schon begann er auf Marks Knien auf und ab zu hüpfen.

»Halt still«, forderte Heidi. »Du tust Mark doch weh.«

»Ne«, sagte der Junge. »Ich spüre nichts. Ich bin für Peterle jetzt Fridolin.« Mark versuchte, die Laute des Esels nachzumachen.

Peterle platschte in die Hände und lachte. Dabei verlor er das Gleichgewicht, und bevor Mark zupacken konnte, rutschte er aus dem Rollstuhl und lag bäuchlings in der Wiese.

Der Kleine schrie aus Leibeskräften. Sofort war Andrea von Lehn bei ihm und hob ihn auf.

»Aber, wer wird denn so brüllen?« Sie strich ihm zärtlich durch das leicht gelockte blonde Haar. »Du wolltest doch reiten. Ein Reitersmann fällt eben mal vom Pferd.« Sie lachte und schwenkte ihren Sohn durch die Luft.

Mark saß steif im Rollstuhl. Seine Zähne bohrten sich in die Unterlippe. Er konnte seinen Blick nicht von Andrea von Lehn lassen. Wie lieb sie Peterle tröstete. Seine Mutter hätte ihn genauso getröstet. Mark schluckte und schluckte, aber die Tränen ließen sich nicht zurückhalten. Heidi bemerkte es als erste.

»Mark, hat Peterle dir doch wehgetan?« fragte sie erschrocken.

Mark schüttelte den Kopf.

»Aber du weinst doch.« Heidi drängte sich an ihren Freund.

»Nein, ist nicht wahr«, schluchzte Mark. Er schämte sich seiner Tränen.

Während die Kinder noch bestürzt um den Rollstuhl standen, kam Denise heran. »Was hältst du davon, Mark, wenn wir beide eine kleine Spazierfahrt machen?« fragte sie.

Dankbar sah Mark sie an. »Ich wollte doch gar nicht weinen«, versicherte er. »Es ist doch so schön hier.«

Denise reichte Mark ein Taschentuch. Nachdem er sich die Nase geputzt hatte, blickte er rasch noch einmal zu Andrea hin. »Ich habe nur an Mama gedacht«, gestand er leise.

Denise nickte. Das hatte sie sich gedacht. »Ihr könnt schon zum Haus zurückgehen«, sagte sie zu den Kindern. »Ich fahre mit Mark noch bis ans Ende der Koppel.«

Mark weinte nun nicht mehr. Er starrte vor sich hin. Vergebens wartete Denise darauf, daß er seinen Mund auftat.

»Denkst du noch immer an deine Mama?« fragte Denise. Das Ende der Pferdekoppel war erreicht.

»Meine Mama ist auch so lieb wie Andrea«, stieß Mark hervor. »Wie ich klein war, hat sie mich auch immer getröstet.«

»Das hat sie doch jetzt auch noch getan«, entgegnete Denise. Eigentlich hatte sie erwartet, daß Frau Rieder sich bei ihr melden würde, aber das war nicht geschehen.

»Wo ist Mama?« fragte Mark. »Weiß sie, daß ich bei dir bin?«

Darauf konnte Denise keine Antwort geben. Sie hatte versucht, mit Ulrich Rieder zu sprechen, aber er war ihren Fragen ausgewichen.

»Papa will nicht, daß Mama zu mir kommt, nicht wahr? Er ist böse auf sie.«

Das mußte Denise bestätigen. »Weißt du«, versuchte sie zu erklären, »dein Papa und deine Mama haben Streit miteinander.«

»Es ist diesmal ein ganz böser Streit. Papa glaubt nicht mehr, daß Mama lieb ist. Sie ist es aber. Sie hat Papa und mich immer noch lieb. Das hat sie mir gesagt.« Verzweifelt griff Mark nach Denises Hand. »Mami wird jetzt ganz traurig sein.« Er schwieg einige Zeit, dann sagte er leise: »Auch wenn Papa Mama nicht mehr mag, ich habe sie noch immer lieb.«

»Das werde ich ihr sagen. Ich werde deine Mama morgen besuchen.« Denise lächelte. Sie war froh, daß sie sich nun dazu entschlossen hatte. Sie konnte einfach nicht glauben, daß Sonja Rieder ihren Mann betrog.

*

Sonja Rieder lag im Bett. Ihre Kopfschmerzen hatten nachgelassen, aber sie konnte sich nicht entschließen, aufzustehen. Eine ganze Woche hatte sie nun die Wohnung nicht mehr verlassen. Die meiste Zeit davon hatte sie im Bett verbracht. Ihre Nerven hatten rebelliert, und sie hatte hohes Fieber gehabt. Oft hatte sie stundenlang in einer Art Dämmerzustand vor sich hingedöst. Jetzt konnte sie wieder halbwegs klar denken. Ihre Gedanken drehten sich um Mark. Sie hätte ihn so gern gesehen. Sie sah jedoch ein, daß sie kein Recht dazu hatte. Selbstvorwürfe quälten sie und nahmen ihr den Mut, aufzustehen. Schließlich raffte sie sich doch auf. Sie ging in die Küche und brühte sich eine Tasse Kaffee auf. Sie hatte in den letzten Tagen kaum etwas gegessen und fühlte sich sehr schwach. Während sie am Herd hantierte, mußte sie sich immer wieder setzen. Der Gedanke, alle Schlaftabletten zu schlucken, die sie zu Hause hatte, kam ihr nicht zum erstenmal. Doch dann klingelte das Telefon. Sonja war so erschrocken, daß sie sich im ersten Augenblick nicht rühren konnte. Schrill tönte das Klingeln durch die stille Wohnung. Plötzlich sprang Sonja auf. Es konnte nur Ulrich oder Mark sein. Stolpernd eilte sie zum Telefontischchen in der Ecke. Sie riß den Hörer von der Gabel.

»Nein«, rief Sonja entsetzt. Sie hielt den Hörer etwas von sich. Die Stimme am anderen Ende ließ ihr Schuldgefühl wieder übermächtig werden.

»Hallo, Frau Rieder! Sonja, sind Sie es?« Elmar Dahl rief es in den Hörer.

Seine Stimme ließ Sonja erzittern. Sie preßte die Muschel wieder enger ans Ohr. »Bitte, rufen Sie nie wieder an. Bitte!« Mehr brachte sie nicht heraus. Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern ließ den Hörer einfach auf das Tischchen fallen. Elmar rief noch einige Male ihren Namen, aber als keine Antwort kam, zuckte er die Achseln und legte auf.

Kaum hatte Sonja sich wieder auf den Stuhl gesetzt, läutete es an der Wohnungstür. »Nein«, wimmerte Sonja, doch dann wurde ihr bewußt, daß es nicht Elmar Dahl sein konnte.

»Mark!« Automatisch kam der Name ihres Sohnes über ihre Lippen, und dann stürzte sie zur Tür. Es war Denise von Schoenecker. Sie konnte gerade noch rechtzeitig zugreifen. Sonja taumelte und wäre ohne ihre Hilfe wahrscheinlich gestürzt.

»Entschuldigung, Frau von Schoenecker.« Sonja fuhr sich über die Stirn. Mühsam richtete sie sich auf. »Ich dachte an Mark. Er ist doch bei Ihnen, nicht wahr?«

Denise nickte. Sie war erschüttert. Wie sehr hatte diese Frau sich verändert. Sie war bleich, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen.

Sonja raffte ihren Schlafrock über der Brust zusammen. »Ich fühlte mich nicht gut.«

»Haben Sie keinen Arzt aufgesucht?« fragte Denise.

»Wozu?« entgegnete Sonja bitter. Dann besann sie sich jedoch. »Mark, wie geht es Mark?«

»Er hat Sehnsucht nach Ihnen«, sagte Denise einfach.

»Wirklich?« Sonjas Wangen bekamen etwas Farbe. »Ich wollte zu ihm, aber mein Mann…«, sie brach ab.

»Wollen wir nicht hineingehen?« fragte Denise.

»Gern. Bitte erzählen Sie mir von Mark.« Flehend sah Sonja Denise an. Denise faßte Sonja unter und führte sie in die Wohnung zurück. Sie brachte sie zu einem Sessel und drückte sie hinein. Dann legte sie ihr die Hand auf die Stirn.

»Hatten Sie Fieber?«

»Ich glaube ja, aber das ist jetzt unwichtig. Wie geht es Mark?«

»Gut. Er ist gern bei uns«, antwortete Denise. Besorgt sah sie Sonja an. »Wann haben Sie zuletzt gegessen?«

»Ich habe mir vorhin gerade einen Kaffee gemacht und ein hartes Brötchen eingebrockt. Aber das ist jetzt nicht wichtig.«

»Doch, es ist wichtig. Mark hat Sehnsucht nach Ihnen. Er schickt mich. Ich soll Ihnen ausrichten, daß er Sie liebhat.«

Denise sah, wie sich Sonjas Augen mit Tränen füllten. »Das hat er wirklich gesagt?« fragte sie mit bebender Stimme.

»Ja, das hat er«, bestätigte Denise. Dann fragte sie: »Haben Sie irgendwo ein Fieberthermometer?«

»Mir geht es schon wieder ausgezeichnet.« Sonja wollte sich erheben.

»Sonja, Sie müssen jetzt etwas für sich tun! Ich bringe Sie zu einem Arzt.«

»Nein, das ist nicht nötig. Sagen Sie Mark, daß ich immer an ihn denke. Wenn er wieder im Krankenhaus ist, werde ich ihn besuchen.«

»Warum erst dann?« fragte Denise ruhig.

»Ich darf Mark nicht sehen. Mein Mann hat es verboten. Er glaubt…« Sonja sank in sich zusammen.

»Ich weiß, aber Ihr Mann irrt, oder?«

»Ich habe ihn nicht betrogen, noch nicht.« Sonja klammerte sich an die Lehne des Sessels. »Mein Mann war so oft nicht da, und wenn er da war, dann merkte er es nicht einmal, wenn ich ein neues Kleid trug.« Der Bann war gebrochen. Sonja sprach. Zuerst hektisch, dann ruhiger. Sie sprach sich alles von der Seele. In Denise von Schoenecker hatte sie eine verständnisvolle Zuhörerin.

»Sie sollten jetzt etwas Kräftiges essen und sich dann ins Bett legen«, meinte Denise nach einigen Minuten des Schweigens. »Sie dürfen sich nicht länger gehenlassen.«

»Ich bin lange nicht aus dem Haus gegangen. Ich habe kaum noch etwas zum Essen im Haus. Ich wußte einfach nicht mehr weiter. Vielleicht hätte ich doch…« Sonja starrte vor sich hin. Die alte Verzweiflung überfiel sie wieder.

»Kommen Sie, ziehen Sie sich an«, forderte Denise plötzlich.

»Ich kann nicht. Ich fühle mich nicht wohl.« Fröstelnd kreuzte Sonja ihre Arme vor der Brust.

»Ich nehme Sie mit nach Sophienlust«, sagte Denise entschlossen.

»Zu Mark!«

Denise nickte.

»Aber mein Mann! Ich bin doch schuld. Ich darf nicht zu Mark.« Sonja hatte sich halb aufgerichtet, jetzt sank sie wieder zurück. Denise ergriff sie am Arm und zog sie hoch.

»Mark braucht Sie. Sie müssen für ihn wieder gesund werden. Mit Ihrem Mann spreche ich.«

»Sie sind so gut«, sagte Sonja mit Tränen in den Augen.

Denise mußte Sonja beim Ankleiden behilflich sein. Das Nervenfieber hatte sie doch sehr geschwächt. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.

*

Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Ulrich Rieder die Treppe zum Krankenhaus hinauf. In der Halle kam ihm Dr. Leitner entgegen.

»Sie sind doch noch hier?« Ulrich war erfreut. »Ich hatte schon Angst, ich hätte Sie verpaßt. Ich wollte Sie abholen. Wir könnten ins Grüne fahren, was meinen Sie? Das Wetter lädt dazu ein.« Er reichte der Ärztin seine Hand.

Helga war überglücklich. Es ging ihr wie jedesmal, wenn sie ihn traf, ihr Herz schlug einen Trommelwirbel. Sie hatte auf sein Kommen gehofft und sich daher länger als nötig im Krankenhaus aufgehalten.

Ulrich bemerkte, daß die Ärztin zum Ausgehen angezogen war. Enttäuscht fragte er: »Haben Sie schon etwas vor?« Er hatte fast jeden Tag der letzten Woche mit ihr verbracht und sich daher an sie gewöhnt. Ihre Nähe verbannte seine hoffnungslosen Gedanken.

»Ich wollte spazierengehen. Das Wetter ist wirklich schön.« Sie lachte fröhlich. Sie hätte die ganze Welt umarmen können. Er war gekommen. Er wollte auch diesen Abend wieder mit ihr verbringen.

»Ausgezeichnet, dann verlegen wir den Spaziergang an den Waldsee. Dort kenne ich ein nettes Lokal. Ich war öfter mit…« Ulrich brach ab und biß sich auf die Unterlippe. Immer wieder passierte es, daß er an Sonja erinnert wurde.

»Wir müssen nicht einkehren«, sagte Helga unsicher.

»Natürlich kehren wir ein.« Ulrich lachte rauh. »Bei diesem Wetter können wir im Freien sitzen. Das Lokal hat eine Terrasse, die bis an das Seeufer heranreicht. Meine Frau und ich waren öfter dort, aber das spielt keine Rolle. Es ist vorbei.«

Helga blickte Ulrich ins Gesicht und sah darin wieder die Falte. Sie teilte seine Stirn in zwei Hälften. Warum mußte er nur immer wieder an seine Frau denken? Helga kämpfte vergebens gegen ihre Gefühle an. Sie haßte diese Frau, obwohl sie Sonja kaum kannte.

»Auf was warten wir noch?« fragte Ulrich gespielt munter. »Die Natur ruft! Ich freue mich, daß Sie für mich Zeit haben.« Er konnte wieder lächeln.

»Ich wäre sonst allein spazierengegangen«, sagte Helga.

»Ich finde es sehr schön, daß wir das nun zusammen tun können. Die Abende allein zu verbringen, ist so trostlos.«

»Da haben Sie recht«, stimmte Helga sofort zu. Bisher hatte sie das zwar nicht so empfunden, denn sie hatte viel gelesen, und auf ihren einsamen Spaziergängen war ihr nie langweilig gewesen, doch jetzt, seit sie Ulrich kannte, war das anders geworden. Sie träumte Tag und Nacht von diesem Mann. Sie hatte sich verändert, ihre Arbeit war für sie nicht mehr das Wichtigste.

Wenig später saßen sie in Ulrichs Wagen, und während sie aus der Stadt fuhren, erzählte er ihr von seiner Arbeit in der Redaktion.

»Das ist auch der Grund meiner Verspätung. Ich werde von jetzt an nicht mehr soviel reisen, sondern bei der Zeitung ein festes Ressort übernehmen. Das heißt dann zwar Schreibtischarbeit, aber ich kann mich um Mark kümmern. Wir werden dann zu dritt Ausflüge machen.«

Helgas Herz schlug wieder einen Trommelwirbel. Es würde nicht vorbei sein; Ulrich plante sie in die Zukunft mit ein. Es mußte ihr einfach gelingen, Marks Liebe zu gewinnen.

Ulrich sprach von seiner Tätigkeit in der Redaktion. Er merkte nicht, daß Helgas Gedanken eigene Wege gingen. Dann unterbrach er sich. »Unweit von hier liegt Sophienlust. Das ist wirklich ein Paradies für Kinder.« Nun war er bei seinem Lieblingsthema angelangt, denn über seinen Sohn konnte er stundenlang sprechen. Er wußte, daß er bisher für seinen Sohn zu wenig Zeit gehabt hatte, und in Zukunft sollte sich das ändern.

»Natürlich soll Mark nicht für immer in Sophienlust bleiben. Ich werde eine andere Lösung finden. Doch jetzt ist er dort gut aufgehoben. Frau von Schoenecker kann gut mit Kindern umgehen.«

Helga fühlte einen Stich in der Herzgegend. Sie war nicht besonders gut auf die Verwalterin des Kinderheims zu sprechen. Zu deutlich hatte Denise von Schoenecker ihr zu verstehen gegeben, daß sie nicht richtig gehandelt hatte. Sollte man etwa einem Neunjährigen alles durchgehen lassen? Aber Ulrich zuliebe war sie auch dazu bereit.

»Morgen werde ich in der Redaktion nicht benötigt. Ich werde daher bereits am Vormittag nach Sophienlust fahren.«

Helga gab sich einen Ruck. »Kann ich Sie begleiten?«

Sie merkte Ulrichs Erstaunen. Verlegen senkte sie den Blick, als sie hinzufügte: »Ich habe morgen meinen freien Tag.«

»Richtig, das hatten Sie ja bereits erwähnt. Ich hatte es nur wieder vergessen. Zu dumm, dann hätten wir eigentlich etwas anderes unternehmen können.«

»Nein«, sagte Helga rasch. »Es ist wichtig, daß Sie sich jetzt um Ihren Sohn kümmern. Und für mich wäre es eine Gelegenheit, ihn privat kennenzulernen.«

»Das ist nett von Ihnen«, meinte Ulrich erfreut. »Ich bin sicher, auch Ihnen wird es in Sophienlust gefallen.«

Davon war Helga zwar nicht überzeugt, aber sie hatte erkannt, daß der Weg zu Ulrichs Herzen nur über seinen Sohn führte.

*

»Wir werden erwartet«, sagte Ulrich. Er steuerte das Auto durch das schmiedeeiserne Tor, das offen stand.

»Sie haben Frau von Schoenecker Ihr Kommen mitgeteilt?«

»Ja. Die Kinder machen oft Ausflüge. Ich wollte verhindern, daß Mark am Ende nicht im Haus ist.«

Helga Leitner fühlte sich nicht besonders wohl in ihrer Haut. Als Ulrich vor der Freitreppe hielt, fragte sie: »Weiß Frau von Schoenecker, daß ich mitkomme?«

»Nein, ich habe sie deswegen nicht noch einmal angerufen. Das war wohl auch nicht nötig. Wir werden sowieso nicht die ganze Zeit hier bleiben. Im übrigen ist hier jeder Gast herzlich willkommen.«

Das Lächeln wollte Helga nicht so recht gelingen. In der Nähe des Hauses standen einige Kinder. Helga fühlte sich gemustert, dann sah sie, daß die Kinder die Köpfe zusammensteckten.

Ulrich hingegen war bester Laune. Er freute sich auf das Zusammentreffen mit Mark. Unternehmungslustig stieg er aus dem Auto. »Hallo«, rief er zu den Kindern hinüber. »Wo ist denn Mark?«

Verlegen senkten die Kinder ihre Köpfe. Alle hatten geglaubt, daß Herr Rieder allein kommen würde. Nur Heidi eilte auf ihn zu.

»Grüß Gott«, plapperte sie munter. »Wir haben schon auf dich gewartet. Mark ist im Pavillon. Du wirst staunen.«

Vicky, die hinter Heidi hergelaufen war, stieß diese nun heftig in die Seite.

»Au, du bist gemein«, rief Heidi. »Ich hätte schon nichts verraten.«

Inzwischen war Helga Leitner ebenfalls ausgestiegen. Unsicher stand sie neben dem Auto. Heidi streckte ihre Hand aus und zeigte auf die Ärztin.

»Wer ist das?«

»Das ist Frau Dr. Leitner. Sie hat Mark behandelt.« Ulrich trat an die Seite der Ärztin.

»Die hättest du aber besser zu Hause gelassen«, meinte Heidi mit gerunzelter Stirn.

Ulrich war verblüfft. Er hatte sich schon öfter mit der Kleinen unterhalten und fand sie entzückend. Auch wußte er, daß Mark sie in sein Herz geschlossen hatte.

»Aber warum denn? Die Frau Doktor will Mark besuchen.« Ulrich beugte sich zu Heidi hinunter. »Willst du ihr nicht Grüß Gott sagen?«

»Das kann ich schon machen«, meinte Heidi. Sie warf Dr. Leitner einen prüfenden Seitenblick zu und erkundigte sich: »Wenn ich es tue, geht sie dann wieder fort?«

»Warum sollte sie fortgehen? Mark freut sich bestimmt über ihren Besuch.«

»Das glaube ich nicht. Er wartet auf dich. Er hat eine Überraschung für dich.«

»Willst du wohl still sein!« schimpfte Vicky.

»Ich verrate doch nichts.« Treuherzig sah Heidi zu Ulrich auf. »Willst du nicht zum Pavillon gehen? Aber die Frau mußt du dalassen.«

»Das ist Frau Dr. Leitner«, sagte Ulrich automatisch. »Sie kommt natürlich mit. Helga«, er wandte sich an die Ärztin. »Das ist Heidi. Sie leistet Mark oft Gesellschaft.«

»Ich bin seine Freundin«, sagte Heidi.

»So!« Helga hielt der Kleinen ihre Hand hin. »Das ist aber schön.«

»Ja«, sagte Heidi. »Ich weiß alles von Mark. Ich kenne auch sein Geheimnis.«

»Verrätst du es uns?« fragte Helga. Sie wußte nicht so recht, was sie mit diesem kleinen Mädchen anfangen sollte. Auch die neugierigen Blicke der anderen Kinder irritierten sie.

»Dir sicher nicht«, sagte Heidi entschieden. »Das Geheimnis ist nicht für dich. Ich glaube, du störst hier.«

»Aber Heidi, wie kannst du nur so etwas sagen.« Ulrichs Gesicht verzog sich mißbilligend. Helga sollte doch einen guten Eindruck von Sophienlust gewinnen.

»Es ist aber wahr.« Hilfesuchend wandte Heidi sich um. Ihr Blick fiel auf Pünktchen. »Stimmt doch, Pünktchen?«

»Ich… ich gehe am besten Tante Isi holen«, entschied Pünktchen. »Sie hat wahrscheinlich Ihr Kommen überhört.« Sie sah Herrn Rieder an. Die Ärztin anzusehen vermied sie. »Wenn Sie hier bitte warten wollen.«

»Wozu? Wenn mein Sohn im Pavillon ist, kann ich doch gleich zu ihm gehen.«

»Bitte, es ist wirklich besser, wenn Sie hier warten.« Pünktchen wußte nicht, was tun. »Ich hole Tante Isi.« Sie wollte davongehen, aber Herrn Rieders ärgerliche Stimme hielt sie zurück.

»Wozu willst du jetzt Frau von Schoenecker holen?«

»Weil… weil…« Pünktchen wußte wirklich nicht, was sie sagen sollte.

»Du hättest diese Tante nicht mitbringen sollen. Ich habe es dir doch gleich gesagt«, meinte Heidi.

Allmählich wurde die Situation immer peinlicher. Ulrich sah Helga an. Sie hielt die Lippen fest aufeinandergepreßt. Offensichtlich ärgerte sie sich. »Die Kinder meinen es nicht so. In Sophienlust freut man sich über Besuch. Nicht wahr?« Er sah die Kinder an und erwartete ihre Bestätigung.

»Klar.« Wieder war es Heidi, die antwortete. »Besuch ist immer lustig. Aber wir haben schon Besuch.«

»Das darfst du doch nicht sagen«, rief Vicky empört.

»Tante Isi kommt, da kommt Tante Isi.« Pünktchens Stimme klang erleichtert.

»Tante Isi«, rief Heidi. »Ist die Überraschung jetzt geplatzt? Der Onkel hat eine andere Frau mitgebracht.«

»Du kannst deinen Mund wirklich nicht halten«, schimpfte jetzt auch Pünktchen aufs äußerste verlegen. »Komm, wir gehen auf den Spielplatz.« Energisch griff sie nach Heidis Hand.

Heidi wehrte sich. »Ich will zu Mark. Onkel, sag, daß ich zu Mark darf.«

Ulrich war Denise von Schoenecker einige Schritte entgegengegangen. »Was ist denn mit den Kindern los?« fragte er. »Offensichtlich haben sie mich zwar erwartet, aber ihr Benehmen läßt sehr zu wünschen übrig.«

»Da haben Sie recht. Die Kinder meinen es aber nicht so. Wir haben nur nicht damit gerechnet, daß Frau Dr. Leitner Sie begleitet.« Denise lächelte. Sie mußte versuchen, so gut wie möglich die Situation zu retten. Während sie die Ärztin begrüßte, sagte Ulrich steif:

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen? Frau Doktor wird sich auch in Zukunft um Mark kümmern. Sie wollte die Gelegenheit nützen, ihn in dieser Umgebung kennenzulernen.«

Helga Leitner hatte ihre Sprache wiedergefunden. »Ich muß gestehen, ich war auch sehr neugierig auf das Kinderheim. Gehört habe ich bereits viel davon.«

»Ich führe Sie sehr gern herum«, erbot sich Denise.

Heidi war es gelungen, sich von Pünktchen loszureißen. Sie lief auf Denise zu und fragte: »Was geschieht denn mit der anderen Frau? Muß sie nun wieder fortgehen? Da wird Mark aber sehr traurig sein.«

»Stören wir etwa?« fragte Ulrich irritiert. Er wurde aus dem Gerede der Kleinen nicht klug.

Ehe Denise antworten konnte, meinte Heidi. »Du störst nicht. Auf dich haben wir doch gewartet.«

»Höflich bist du nicht gerade«, sagte Ulrich unwirsch. Was mußte Helga sich nur denken?

»Ich muß mich für die Kinder entschuldigen«, sagte Denise. Sie hatte mit Herrn Rieder sprechen wollen. In Gegenwart der Ärztin war das aber nicht gut möglich. »Mark hat bereits Besuch. Seine Mutter ist bei ihm.«

Ulrich erstarrte. Damit hatte er nicht gerechnet. Für Helga Leitner glichen Denises Worte einer kalten Dusche. Ulrich hatte diesen Tag doch mit ihr verbringen wollen. »Ich dachte, Ihre Frau soll sich nicht mehr um Mark kümmern«, bemerkte sie spitz. Aus ihr sprach deutlich die Eifersucht.

»Stimmt.« Ulrich gab sich einen Ruck. »Wie kommt meine Frau dazu, Mark hier zu besuchen? Sie wußten, daß ich das nicht wünsche!« Ärgerlich sah er Denise an.

Denise nickte. »Ihre Entscheidung war nicht gut für den Jungen«, erklärte sie ruhig. »Mark braucht seine Mutter.«

»Das ist doch Unsinn!« Helga Leitners Stimme klang schrill. »Seine Mutter hat ihn vernachlässigt, das wissen Sie doch.«

Denise erkannte, daß es unmöglich war, in Gegenwart der Ärztin mit Marks Vater zu sprechen und gab auf. »Mark ist im Pavillon«, sagte sie daher nur.

»Ist meine Frau bei ihm?« fragte Ulrich.

Denise nickte.

»Das ist doch die Überraschung«, rief Heidi freudig. »Da staunst du, nicht wahr?«

Helga bekam ihr Arztgesicht, wie Ulrich es bei sich nannte. »Ich finde das sehr geschmacklos«, sagte sie. »Sie wissen doch, daß Herr Rieder sich von seiner Frau getrennt hat.«

»Ich weiß auch, daß Mark darüber sehr traurig ist.« Denise hielt dem Blick der Ärztin stand.

»Mark ist nicht das erste Kind, dessen Eltern sich trennen«, bemerkte Helga. Sie blickte über Denise hinweg.

»Frau Dr. Leitner hat recht«, sagte Ulrich. Auch sein Gesicht glich jetzt einer Maske.

»Wollen Sie nicht mit Ihrer Frau sprechen?« bat Denise.

»Wozu soll das gut sein?« fragte Helga, bevor Ulrich etwas sagen konnte. »Sie hätten Frau Rieder nie zu Mark lassen dürfen. So wird der Junge nur immer hin- und hergerissen werden. Das ist nicht gut für das Kind.«

»Frau Dr. Leitner hat recht. Am liebsten würde ich Mark sofort mitnehmen.«

Helga Leitner legte Ulrich ihre Hand auf den Arm. »In frühestens vierzehn Tagen können wir Mark wieder ins Krankenhaus holen. Dann kümmere ich mich um ihn, das verspreche ich Ihnen.«

»Das ist nett.« Ulrich zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln, dann wandte er sich wieder Denise zu. »Sie sehen, für meinen Sohn ist bestens gesorgt.«

»Ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen«, sagte Denise.

»Sie tun es doch bereits«, unterbrach Helga sie scharf. Frau von Schoenecker war für sie zur Feindin geworden.

»Dann tut es mir leid. Darf ich Sie ins Haus bitten?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich hat es keinen Sinn mehr, länger hierzubleiben. Wenn Marks Mutter da ist, habe ich sowieso keine Möglichkeit, dem Jungen näher zu kommen. Was meinen Sie, Ulrich?«

»Sie haben völlig recht«, erwiderte Ulrich automatisch.

»Gut, dann werde ich mich verabschieden.« Ohne ein Lächeln reichte Helga Denise die Hand.

»Wollen Sie wirklich wieder gehen?« Denise übersah Helgas Hand. Erschrocken blickte sie Ulrich an.

Ulrich wußte nicht, was er sagen sollte. Er wollte Mark sehen, dachte dabei aber auch an Sonja, seine Frau.

»Es ist wohl das beste, wenn wir wieder gehen.« Helga trat einen Schritt nach vorn. Nun stand sie zwischen Denise und Ulrich. »Ich finde, Sie haben nicht richtig gehandelt«, sagte sie zu Denise. »Herr Rieder ist schon seit einiger Zeit aus der ehelichen Wohnung ausgezogen. Eine Begegnung wäre nur peinlich.«

»Sie haben recht«, stimmte Ulrich zu. »Sonja und ich haben uns nichts mehr zu sagen.« Zu weiteren Äußerungen kam er nicht, denn Dr. Leitner ging zu seinem Wagen und setzte sich einfach auf den Beifahrersitz.

*

»Kommen Sie, Ulrich, es wird Zeit, daß wir nach Hause fahren«, mahnte Helga Leitner. Sie konnte es nicht mehr übersehen – Ulrich Rieder hatte entschieden zuviel getrunken.

»Schon, aber wir sind doch erst gekommen.«

»Wir sitzen schon vier Stunden hier, und während dieser Zeit haben Sie fast zwei Flaschen Wein geleert.«

»Oh!« Ulrich lachte. »Sie haben es nicht leicht mit mir, wie?« Ulrich griff nach seinem Glas und leerte es. »Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, daß Sie eine wunderbare Frau sind?«

Helgas Herz begann zu klopfen. Er war zwar nicht mehr ganz nüchtern, aber spielte das wirklich eine Rolle?

»Sie sind es«, beharrte Ulrich. Seine Hand griff über den Tisch. Unbeholfen begann er, ihren Handrücken zu streicheln. »Ich bin ein Narr. Da sitze ich an der Seite einer so bezaubernden Frau und mir fällt nichts anderes ein, als mich zu betrinken.«

»Sie haben es nur aus Sorge um Ihren Sohn getan«, entgegnete Helga beruhigend.

»Richtig«, stimmte Ulrich zu. »Nur wegen Mark, nicht wegen Sonja.« Mit einer heftigen Bewegung wischte er das leere Glas vom Tisch. Bestürzt fuhr er zusammen. »Sind Sie jetzt böse?«

»Nein, warum sollte ich böse sein?« Helga wollte sich nach den Scherben bücken, aber der Kellner kam ihr zuvor.

»Sonja wäre jetzt böse mit mir«, meinte Ulrich und lächelte schief. »Sie sind aber nicht Sonja, Sie sind eine wunderbare Frau.«

»Sie denken immer noch an Ihre Frau«, sagte Helga leise.

»Aber überhaupt nicht. Muß ich doch gar nicht. Ich habe ja Sie.« Ulrich beugte sich über den Tisch. Er nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Ich bin sehr froh, daß ich Sie habe«, versicherte er.

Helga überließ ihm lächelnd ihre Hand. Sie wollte ihm so gern glauben.

»Mark und ich fangen ein ganz neues Leben an«, fuhr Ulrich fort. »Wir brauchen Sonja nicht. Sie helfen uns dabei, nicht wahr?«

Helga schlug die Augen nieder. Warum erwähnte er nur immer wieder seine Frau?

»Wollen Sie unsere Freundin sein? Wir sind sonst so allein, Mark und ich.«

»Ich habe es Ihnen doch schon versprochen.«

»Das hatte ich wieder vergessen.« Ulrich ließ ihre Hand los. »Wir haben nichts mehr zu trinken. Kellner, wir brauchen Wein!«

»Nein, jetzt ist es wirklich genug, Ulrich.«

Ulrichs Schultern sanken vornüber. »Sie haben sicher recht. Ich habe aber noch eine große Bitte. Darf ich Sie noch etwas fragen?«

Helga nickte. »Ich möchte Sie duzen dürfen«, platzte Ulrich heraus. »Wir sind doch jetzt Freunde.«

»Ich habe nichts dagegen.« Helga lächelte ihm zu. Sie hatte keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Er war hier bei ihr. Er wollte ihre Freundschaft.

»Dazu brauche wir aber Wein, um anzustoßen.« Ulrich lächelte verschmitzt. »Ich möchte nämlich auf den Bruderschaftskuß nicht verzichten.«

Helga errötete wie ein junges Mädchen. »Es ist besser, wir gehen jetzt.«

»Nur, wenn ich dann später meinen Kuß bekomme.« Ulrich grinste, dann machte er eine steife Verbeugung. »Ich weiß, daß ich zuviel getrunken habe. Ich möchte auch nur einen ganz kleinen Kuß.«

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich fahre.«

»Da haben Sie recht.« Ulrich gab ihr sofort seine Autoschlüssel, dann winkte er dem Kellner. Beim Hinausgehen wollte Helga Ulrich stützen, aber er ging kerzengerade, als hätte er einen Stock verschluckt.

Auf dem Parkplatz hielt Ulrich plötzlich inne. Er wandte sich zu Helga um. Unsicher streckte er seine Hand nach ihr aus. »Ich glaube, ich habe doch zuviel getrunken.«

»Das macht doch nichts.« Helga trat an seine Seite und hakte ihn unter. »Ich bringe Sie sicher in Ihre Pension.«

»Es macht nichts.« Ulrich nickte bestätigend. »Sie sind eine wunderbare Frau«, versicherte er dann erneut. »Nun bist du meine Frau.« Ehe Helga es sich versah, schloß er sie in seine Arme.

Helga war nicht fähig, sich zu rühren. Dann näherten sich seine Lippen und preßten sich fordernd auf die ihren. Davon hatte sie seit Wochen geträumt.

»Du wunderbare Frau«, flüsterte Ulrich ihr ins Ohr. »Wir beide werden es sicher schön miteinander haben. Du wirst mich nie betrügen, nicht wahr?«

»Ganz sicher nicht.« Helga schlang ihre Arme um seinen Hals.

»So ist es recht. Eine Frau darf ihren Mann nicht betrügen.« Ulrich küßte sie erneut. Seine Worte hatten Helga wieder zur Besinnung gebracht. Sie entzog sich ihm.

»Du magst mich nicht«, klagte Ulrich.

»Doch, ich mag dich sehr.« Rasch beugte Helga sich vor und küßte ihn auf die Wange. »Ich finde, hier ist nur nicht der geeignete Ort, das zu zeigen.«

»Da hast du recht.« Schwer legten sich Ulrichs Hände auf ihre Schultern. »Wir gehen zu mir nach Hause. Da trinken wir auch noch eine Flasche Wein. Ich habe ein paar ausgezeichnete Flaschen im Keller.«

»Hast du vergessen, daß du nicht mehr zu Hause wohnst?« fragte Helga und zog ihn zum Auto.

»Nicht mehr.« Stur blieb Ulrich stehen. An der frischen Luft machte sich sein Alkoholkonsum noch stärker bemerkbar. »Stimmt, ich habe auch keine Frau mehr.« Weinerlich verzog er das Gesicht, aber gleich darauf erhellte sich seine Miene wieder. »Dafür habe ich jetzt dich.« Ulrich wollte sie wieder umschlingen. Geschickt wich Helga ihm aus. Nach einigem Hin und Her gelang es ihr endlich, Ulrich ins Auto zu verfrachten. Sie setzte sich ans Steuer.

»Ich will nicht nach Hause«, sagte Ulrich. »Ich will zu dir. Ich liebe dich.«

Unvermittelt trat Helga auf die Bremse. Was hatte Ulrich da gesagt? Strahlend wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Ulrich jedoch wußte schon nicht mehr, was er eben gesagt hatte. Sein Kopf war auf die Seite gesunken, und er hatte die Augen geschlossen. Er war eingeschlafen.

*

Denise von Schoenecker legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Ich habe mit dem Chefarzt gesprochen«, sagte sie zu Sonja Rieder, die gerade eintrat. »Mark wird morgen operiert.«

»Morgen.« Erschrocken blieb Sonja stehen. »Schon!«

Denise nickte. »Es geht Mark gut.«

Sonja setzte sich auf den nächsten Stuhl. »Die Operation muß gelingen.« Sie preßte ihre Hände gegeneinander. »Ich habe solche Angst!«

Denise ging zu Sonja hin. »Mark hat gute Chancen. Die Operation wird bestimmt gelingen.«

»Wenn sie gelingt, dann verzichte ich auf Mark. Wichtig ist vor allem anderen, daß er wieder laufen kann.«

»Er wird wieder laufen können«, sagte Denise zuversichtlich.

»Wenn ich ihn nur noch einmal sehen könnte.« Sonja verbarg ihr Gesicht in den Händen. Eigentlich hatte sie Sophienlust verlassen wollen, als ihr Mann vor vierzehn Tagen weggefahren war, ohne sie oder Mark zu sehen. Dann war sie aber doch geblieben, denn Mark hatte bitterlich geweint. Vor drei Tagen war ihr Mann wieder nach Sophienlust gekommen, um Mark abzuholen. Mit ihr hatte er nicht gesprochen. Wieder hatte sie Sophienlust verlassen wollen, doch diesmal hatte Denise sie gebeten, zu bleiben. Sonja ließ ihre Hände wieder sinken. Verzweifelt blickte sie auf Denise.

»Was tue ich eigentlich noch hier? Ich bin Ihnen schon lange genug zur Last gefallen. Meinetwegen haben Sie mit meinem Mann Schwierigkeiten bekommen.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn.« Denise legte Sonja ihre Hand auf die Schulter. »Ich habe Mark versprochen, daß ich Sie morgen zu ihm ins Krankenhaus bringe. Er will Sie in seiner Nähe wissen, wenn er operiert wird.«

»Aber mein Mann! Er duldet es doch nicht. Und dann ist da noch Dr. Leitner.«

»Wir fahren schon um sieben Uhr früh nach Maibach. Sie können Mark noch vor der Operation sprechen.«

»Sie wollen mich wirklich begleiten?«

Denise nickte. »Ich werde mit Ihnen warten, bis die Operation beendet ist.«

Ohne Denise von Schoenecker hätte Sonja Rieder am nächsten Morgen nicht gewagt, das Krankenhaus zu betreten. »Ich kann nicht«, sagte sie noch im Auto. Sie hatte große Angst vor der Begegnung mit ihrem Mann.

Denise ließ ihr nicht viel Zeit zum Überlegen. Sie parkte in der Nähe des Haupteinganges, stieg aus und öffnete für Sonja die Beifahrertür.

»Kommen Sie.« Sie griff nach Sonjas Arm und zog sie fast aus dem Auto. Sie wußte, wie angespannt die Nerven der jungen Frau waren. Sie hätte eigentlich dringend Ruhe und Erholung gebraucht.

Sie brachte Sonja hinauf in den dritten Stock. Mark war noch in seinem Zimmer. Strahlend streckte er seiner Mutter beide Arme entgegen.

»Ich habe gar keine Angst«, versicherte er. »Du wirst sehen, ich werde wieder laufen können. Ich glaube ganz fest daran.«

»Ich will auch daran glauben«, sagte Sonja und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Das mußt du auch«, erklärte Mark ernsthaft. »Ich werde wieder ganz gesund, und Papa und du, ihr habt euch wieder lieb.«

»Was tun Sie hier?« Dr. Leitner betrat mit wehendem Mantel das Zimmer. »Verlassen Sie sofort das Zimmer! Mark darf sich nicht aufregen!«

Sonja wollte gehen, aber Denise hielt sie fest. »Wir sind mit Erlaubnis des Chefarztes hier«, sagte sie fest. »Er fand es wichtig, daß Mark seine Mutter vor der Operation noch einmal sieht.«

Dr. Leitner starrte Denise an. Dem wußte sie nichts zu erwidern. »Bitte, beeilen Sie sich, Mark wird in Kürze abgeholt.« Sie drehte sich um und rauschte aus dem Zimmer.

*

Ulrich hatte sich verspätet. Etwas atemlos betrat er die Pförtnerloge. »Ist mein Sohn schon im Operationssaal?«

Der Pförtner vom Dienst kannte ihn. »Augenblick, Herr Rieder, ich erkundige mich.« Er griff zum Hörer. Gleich darauf gab er Auskunft. »Ja, Ihr Sohn ist bereits im Operationssaal.«

»Und Frau Dr. Leitner?«

»Moment.« Der Pförtner hob den Hörer wieder ans Ohr und fragte nach. »Frau Doktor assistiert. Der Chef operiert selbst.«

»Danke.« Plötzlich war die Angst wieder da. Sie packte ihn und ließ ihn nicht mehr los.

Er begab sich vor den Operationssaal und starrte das rote Licht an, das oberhalb der Tür brannte. Er stand mitten im Weg. »Sie können hier nicht stehenbleiben«, sagte die Stationsschwester ungeduldig. »Wenn Sie warten wollen, dann gehen Sie bitte in das Wartezimmer.«

Ulrich nickte, machte ein paar Schritte in Richtung Tür und blieb wieder stehen. »Ich werde doch sofort verständigt?«

»Das wissen Sie doch.« Die Stationsschwester eilte weiter. Es war heute wieder einmal eine Menge los. Vier Operationen standen auf dem Programm.

Mit gesenktem Kopf betrat Ulrich das Wartezimmer. Er sah auf, und sein Blick fiel auf Sonja. Wie angewurzelt blieb er stehen.

Sonja stand langsam auf. »Ich kann auch draußen warten« murmelte sie.

Bevor Denise etwas sagen konnte, schüttelte Ulrich den Kopf. Er trat ans Fenster und sah hinaus. »Ich habe Angst«, sagte er nach einiger Zeit laut und deutlich. »Was ist, wenn die Operation wieder nicht glückt? Wenn Mark sein restliches Leben an den Rollstuhl gefesselt bleibt?«

»Ich weiß es nicht. Ich würde alles tun, um ihm helfen zu können.« Sonja trat an die Seite ihres Mannes. »Ulrich, du mußt mir glauben, ich habe mich mit Elmar Dahl nur ein einziges Mal getroffen.«

Ulrichs Hand hatte sich bereits unwillkürlich nach seiner Frau ausgestreckt. Jetzt ließ er sie wieder sinken. »Ich will davon nichts hören…« Seine Lippen preßten sich aufeinander.

Minuten schienen zur Ewigkeit zu werden. Schweigend stand sich das Ehepaar gegenüber. »Jetzt geht es um Mark«, sagte Ulrich. Die Härte wich wieder aus seinem Gesicht. Seine Schultern sanken vornüber. »Auch ich habe mich zu wenig um unseren Sohn gekümmert.«

»Oh, Ulrich«, sagte Sonja. Die Kluft zwischen ihr und ihrem Mann erschien plötzlich nicht mehr so groß. »Leider erkennt man so etwas immer erst, wenn es zu spät ist.«

»Es darf nicht zu spät sein«, brach es aus Sonja heraus.

»Wir können nur noch abwarten.« Ulrich setzte sich in eine Ecke. Kein Wort kam mehr über seine Lippen.

Denise begann mit Sonja Rieder ein Gespräch. An Ulrich Rieder konnte sie sich nicht wenden, denn dieser hatte sie bewußt übersehen.

Die Wanduhr zog die Blicke der Wartenden immer wieder an. Sonjas Blick wanderte aber auch zu ihrem Mann hin. Warum war zwischen ihnen nur wieder diese Mauer des Schweigens? Dann wurde die Tür aufgerissen. Dr. Leitner eilte herein. Sie sah nur Ulrich. Mit ausgestreckten Armen ging sie auf ihn zu.

»Es ist alles gutgegangen! Die endgültige Gewißheit werden wir erst haben, wenn Mark aus der Narkose erwacht ist, aber wir glauben alle, daß er wieder laufen wird.«

»Helga!« In seiner Freude zog Ulrich die Ärztin an sich. »Wann kann ich zu meinem Sohn?«

»Erst nach dem Mittagessen. Ich wollte dir das nur persönlich sagen. Ich muß wieder in den OP. Wir sehen uns dann ja heute nachmittag.« Ohne Sonja oder Denise anzusehen, eilte Helga Leitner wieder aus dem Wartezimmer.

Sonja hatte sich erhoben. Mark würde wieder laufen können. Es bestand wirklich Hoffnung. Die Ärztin hatte es gesagt. Alles andere war nicht wichtig. Und trotzdem tat es weh, zu sehen, wie Ulrich diese Frau in seine Arme nahm.

»Gehen wir«, sagte Sonja zu Frau von Schoenecker. Sie wartete deren Zustimmung nicht ab, sondern ging gleich auf die Tür zu.

»Wohin gehst du?« fragte Ulrich.

»Weg.« Langsam drehte Sonja sich zu ihm um. Sie versuchte wieder zu lächeln. »Mark wird wieder gesund. Er braucht mich nicht mehr.«

»Willst du ihn denn nicht sehen?«

»Frau von Schoenecker wird ihn morgen besuchen und von mir grüßen.« Das Lächeln auf Sonjas Gesicht war wie eingefroren. Wie eine Marionette wandte sie sich ab. Sie hatte die Tür bereits erreicht, als Ulrich rief:

»So warte doch.« Langsam ging er auf seine Frau zu. »Du kannst selbstverständlich nach dem Essen auch zu Mark gehen. Mark wartet doch darauf«, setzte er wie zur Entschuldigung hinzu.

»Ich werde dann nach Sophienlust zurückfahren«, meinte Denise.

»Danke, Frau von Schoenecker. Danke für alles.« Sonja griff nach Denises Hand. »Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Sie in den letzten Tagen gemacht hätte.«

»Ich bin sehr glücklich, daß alles gutgegangen ist«, meinte Denise. Sie umarmte Sonja. »Was werden Sie jetzt tun?«

»Wenn Ulrich nichts dagegen hat, werde ich wieder die Wohnung benutzen. Meine Sachen hole ich dann in den nächsten Tagen ab.«

»Natürlich«, sagte Ulrich steif. Dann überwand er sich jedoch und reichte Denise ebenfalls die Hand. »Sie haben meiner Frau und meinem Sohn geholfen. Ich möchte mich ebenfalls bedanken.«

Denise lächelte fein, sagte jedoch nichts. Den letzten Schritt, um wieder zueinander zu finden, mußte das Ehepaar selbst tun. Sie ging, und Ulrich und Sonja blieben allein zurück. Sie sahen sich verlegen an. »Ich gehe dann«, sagte Sonja. »Wenn du nichts dagegen hast, komme ich nach dem Essen noch einmal vorbei.«

Ulrich nickte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er ließ sie gehen.

*

»Kommen Sie«, Schwester Margit lächelte Sonja Rieder an. »Ihr Sohn ist bereits wieder auf seinem Zimmer. Er wartet auf Sie.«

»Ist alles in Ordnung?« fragte Sonja atemlos.

Schwester Margit lächelte nur. Sie begleitete Sonja bis zur Tür, hinter der Mark nun lag.

Sonja trat ein. Mark lächelte seiner Mutter entgegen. »Ich bin nur noch schrecklich müde«, sagte er leise.

Sonja setzte sich auf den Bettrand. Sie strich ihm über die Haare, beugte sich dann über ihn und küßte ihn zärtlich. »Und? Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung! Ich soll mich nur nicht zuviel bewegen. Kannst du mal die Decke zur Seite ziehen?«

Sonja tat es. Überglücklich blickte sie auf Marks Füße. Seine Zehen bewegten sich.

»Mark!« Vor Glück konnte sie kaum sprechen.

»Alles klar, Mami? Ich habe dich lieb«, murmelte er, dann fielen ihm die Augen zu.

Sonja blieb auf dem Bettrand sitzen. Die Hand ihres Sohnes hielt sie in der ihren. Dann kam Ulrich.

»Er kann seine Zehen bewegen«, flüsterte Sonja ihm zu, dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen.

Mark schlug die Augen auf. »Papa«, er lächelte. Dann fragte er: »Mama, warum weinst du?«

»Weil… weil…« Sonja konnte nicht sprechen. Sie erhob sich, um ihrem Mann Platz zu machen.

»Mama, bitte, bleib hier! Bitte, ihr müßt beide hierbleiben.«

»Ja, wir bleiben beide hier«, versprach Ulrich. Er küßte seinen Sohn, dann holte er sich einen Stuhl.

»Das ist schön. Da kann ich wieder schlafen. Ich bin noch so müde.« Marks Kopf fiel zur Seite.

»Lassen wir ihn schlafen«, sagte Ulrich und setzte sich.

Nach einiger Zeit trat Dr. Leitner ins Zimmer. Wortlos blickte sie auf das Ehepaar und das schlafende Kind. »Ich sehe später noch einmal vorbei«, flüsterte sie Ulrich zu.

Dieser nickte nur.

Über eine Stunde war vergangen, als Mark seine Augen wieder aufschlug. Sonja und Ulrich beugten sich gleichzeitig über ihn.

»Ihr seid noch da?« Ein Leuchten trat auf Marks Gesicht. »Ich habe Durst«, sagte er dann. Sonja wollte sich aufrichten, doch Mark hielt sie fest.

»Nein, so arg ist mein Durst noch nicht.« Er grinste. Seine andere Hand griff nach dem Vater. »Ihr dürft niemals wieder weggehen. Ich will euch doch beide haben.«

»Liebling«, sagte Sonja rauh. Sie streichelte Marks Wange.

»Sag das zu Papa«, forderte Mark. »Er soll wieder dein Liebling sein.«

»Ich…« Sonja biß sich auf die Unterlippe.

»Dann sag’ es zu Mama.« Mark sah seinen Vater an. »Ihr müßt euch wieder liebhaben, sonst will ich gar nicht mehr laufen können.«

Das Ehepaar sah sich nicht an. Da nahm Mark einfach die Hände seiner Eltern und vereinte sie auf seiner Bettdecke.

»So, Papa hat gesagt, er wird in Zukunft nicht mehr so viel wegfahren. Das wird sehr schön sein, dann werden wir alles zu dritt unternehmen können.« Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er wieder ein.

»Es war auch meine Schuld. Ich hatte nur noch meine Arbeit im Kopf«, sagte Ulrich. Langsam hob er seinen Kopf. Das Gesicht seiner Frau war dicht vor ihm. Sie sahen sich an, und alles, was gesagt werden mußte, stand in ihren Augen.

Hinter ihnen öffnete Dr. Leitner die Tür. Sie zog sich wieder zurück, ohne sich bemerkbar gemacht zu haben. Einen Monat lang hatte sie sich ihren Träumen hingegeben, aber nun würde sie diese Träume tief in ihrem Innern begraben.

Sophienlust Bestseller Box 5 – Familienroman

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