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1. Kapitel

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Gerhard Erdmann verlässt den dunklen Torweg der Polizeiwache. Geblendet vom hellen Licht schließt er die Augen, hinter seiner rechten Schläfe pocht ein starker Schmerz.

Still ist es um diese Zeit in der Bahnhofsstraße. Der Morgenzug ist längst abgefahren, weit und breit sieht man keinen Menschen. Sein Blick fällt auf einen grauen Betonkübel.

Ein staubiges, gelb blühendes Kraut wuchert in trockener Erde, die so grau ist wie die Straße und so grau wie ihre Häuser, aus denen kein Laut dringt.

Noch steht er zögernd vor dem Tor und überlegt, wie es nun weitergeht mit ihm. Er fühlt sich nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Der Schmerz vernebelt seine Gedanken.

Als er den schrillen Ton einer Klingel hört, setzt er sich in Bewegung und er läuft wie ein Flüchtender. Hastig, fahrig und gehetzt läuft er, hält seinen Blick gesenkt und wird immer schneller.

Schon hat er die wenigen Hauptstraßen der kleinen Stadt hinter sich gelassen und biegt in eine schmale Gasse ein, die am Ufer der Oder endet. Aufatmend setzt er sich auf eine Bank.

Das sanfte Plätschern des Wassers beruhigt sein pochendes Herz, zugleich erinnert es ihn an den Morgen des gestrigen Tages. Mit seiner Angel saß er hier und ahnte nichts von seinem heutigen Ungemach.

Die wärmenden Strahlen der Sonne streicheln sanft sein Gesicht. Ich bin furchtbar müde, denkt er, ich werde jetzt endlich nach Hause gehen und mich hinlegen. Doch plötzlich steigt ein Gedanke in ihm auf wie eine Feuerlohe. Schnell steht er auf und schaut sich um.

Er kann nicht mehr hierbleiben. Wenn er bleibt, werden sie ihn niemals ausreisen lassen. Susanne wartet in Freiburg auf ihn. Er soll nachkommen, so war es verabredet.

Er denkt an seines Vaters Worte. Voller Verachtung sprach er von Susanne, die das Vertrauen des Staates schmählich missbraucht hatte, wie er sich ausdrückte. Republikflucht, was für eine Schande und ausgerechnet sein Sohn hatte sich mit diesem Mädchen verlobt.

Es folgte eine Litanei über sein verbummeltes Leben, das er nach Meinung seines Vaters führte. Darunter verstand er seine permanente Verweigerungshaltung gegenüber allem, was nur annähernd nach seinem Weltbild roch. Da war das Abitur, das er nicht gemacht hatte, um niemandem zum Munde reden zu müssen. Hinzu kam die Befreiung vom Wehrdienst wegen eines angeborenen Wirbelsäulenleidens, was sein Vater als Drückebergerei bezeichnete und letztendlich die Weigerung, in die SED einzutreten.

Er erreichte, was er wollte. Irgendwann strich sein Vater resignierend die Segel. Weit weg von Partei und Staat hatte er es sich gemütlich eingerichtet. Er wohnte in seiner Einzimmerwohnung, ohne sich um die Nachbarn zu scheren und arbeitete wochentags als Schlosser in einem Landbaubetrieb. An den Wochenenden saß er mit seiner Angel am Fluss oder fuhr mit der Bahn zu Rockkonzerten. Sein Leben fand in einer Nische statt. Es gab viele Nischen in diesem Land. Eine Mauer des Schweigens errichteten sie um ihre Enklaven und schufen so im eingemauerten Staat eine zweite, ganz private Mauer, hinter der sich das Miniaturland ihrer kleinen, persönlichen Freiheit verbarg. Am Sonntag saßen sie in ihren Schrebergärten, schimpften über die Obrigkeit und den Mangel an Konsumgütern und wähnten sich sicher zwischen Erdbeerstauden und Gartenzwergen. An den Gedanken, dass unter ihren Nachbarn jemand sein könnte, der sie an die Stasi verpfiff, hatte man sich längst gewöhnt.

Auch Susanne wünschte sich einen Schrebergarten, doch dann kam alles anders. Gemeinsam mit ihren Eltern beantragte sie eine Besuchsreise in die Bundesrepublik Deutschland.

Eine Silberhochzeit in der Verwandtschaft gab den Anlass und das Glück war ihnen hold, sie erhielten die Genehmigung. Stillschweigend vereinbarte man, drüben zu bleiben.

Er denkt an ihren letzten Abend. Sie saßen am Ufer des Flusses. Leise redeten sie, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war. Vorsicht war angebracht, inzwischen hatte sich die Kunde von Familie Riedels Westreise wie ein Lauffeuer in der kleinen Stadt verbreitet.

Er schließt die Augen und sieht ihr liebliches Mädchengesicht, in dem das Leben noch keine Spuren hinterlassen hat. Es ist das Gesicht eines Kindes und kindlich naiv klingen auch ihre Worte. Sie spricht von einem Land, das sie nur aus dem Fernsehen kennt. Ein Land voller Freiheit und Buntheit, so schön wie ein verheißungsvolles Schaufenster.

Viele würden doch jetzt rübergehen, über Ungarn oder Prag. Aber er soll sich nicht in Gefahr begeben, sondern lieber einen Ausreiseantrag stellen. Auch ihre Eltern meinen, dass es so am Besten wäre. ...

Ihre Eltern sind froh, wenn ich nicht nachkomme, denkt er. Ich bin ihnen nicht recht als Schwiegersohn. Ich, der Sohn eines Offiziers, eines in der Nachbarschaft unbeliebten Mannes, sie nennen ihn den „Schlüssellochspion“. Einer, der am Wahlsonntag an der Tür klingelt, um an den Urnengang zu erinnern.

Er ballt seine Fäuste in den Jackentaschen, denn nun wird ihm bewusst, dass er den Ausreiseantrag gründlich vermasselt hat. … Bin selber schuld, habe mein Maul nicht halten können, was hat mich nur geritten. ... Dabei hatte ich einfach nur gute Laune, das Wetter war super und ich wollte endlich Nägel mit Köpfen machen. ...

Der Brief von ihr aus Freiburg, dieser blumig duftende Brief, er lag gestern Morgen im Kasten und knisterte verheißungsvoll. Alles ist wunderbar, so schrieb sie begeistert. Auch mussten sie nicht in ein Lager, Verwandte hatten sie vorerst aufgenommen und er soll so schnell wie möglich nachkommen.

Losmarschiert ist er, den Brief in der Tasche, ein törichtes Lächeln auf den Lippen.

Natürlich musste er ewig warten, dabei saß er allein im Flur. Er starrte Honeckers Bild an, der wie ein gütiger Vater auf ihn herabschaute und als er den Blick des Staatsratsvorsitzenden nicht mehr ertragen konnte, da zählte er die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Es waren acht, das weiß er noch.

Endlich öffnete sich eine Tür, ein Mann steckte seinen Kopf heraus und forderte ihn auf, einzutreten. Schon beim Klang seiner ersten Worte dachte er, diese Geschichte hier nimmt kein gutes Ende. Da stand etwas im Raum, eine Wolke aus Antipathie und Misstrauen. Dicke Luft. Er hat alles vermasselt und was unmittelbar danach passierte, erscheint ihm nun so irreal wie ein Albtraum.

… Nein, es ist wahr, es ist wirklich geschehen. Sie nahmen mich in Haft. So heißt es doch, oder? Sie nennen es Sicherungsverwahrung. Er zieht seine Hände aus den Taschen und betrachtet kopfschüttelnd seine Handgelenke. Noch immer sieht man die rot unterlaufenen Abdrücke der Handschellen.

„Getobt haben soll ich“, flüstert er heiser, „nie im Leben würde ich so etwas tun.“

Sein Blick schweift über den Fluss. Ein Schleppkahn schippert langsam vorbei, hoch beladen mit Kies. Auf dem Deck flattert Wäsche im Wind und ein kleiner Hund steht bellend an der Reling. Vorn am Ufer neben der Trauerweide sieht er den alten Kiosk, an dem er sich manchmal ein Bier holt, wenn er hier angelt. Alles sieht genau so aus, wie es an jedem anderen beliebigen Tag am Fluss aussieht. Er schaut hinüber zu den Schwänen, die ihre langen Hälse gemächlich ins Wasser tunken und er sieht, wie sich ganz weit hinten über der Auenlandschaft graue Wolken zu Haufen ballen. Sicher gibt es drüben in Polen bald ein Gewitter.

Angst steigt in ihm auf und er kann sie nicht abschütteln. Er fühlt sich ihr ausgeliefert und alles Wohlvertraute, was er sieht, wird ihm zur trügerischen Kulisse. Er denkt an die Nacht im Keller der Stasi. Die gleißende Helle eines Scheinwerfers, dann die Dunkelheit, der erste Schlag in den Magen. ...

Zitternd lehnt er sich zurück und ein Schwindel befällt ihn. Seine Hand betastet die rechte Schläfe, der pochende Schmerz breitet sich erneut aus.

„Nicht auf den Kopf!“, brüllte jemand. Eine Tür schlug zu, ein Schlüssel drehte sich im Schloss und es wurde still.

Er hat unterschrieben. Da lag das Formular vor ihm auf dem Schreibtisch und man reichte ihm einen Kugelschreiber. Hatte er mit seiner Unterschrift nur bestätigt, dass sie ihn nicht schlugen, so wie es üblich ist? Oder unterschrieb er eine Verpflichtungserklärung?

Sie werden ihn holen, gleich von der Arbeit weg. Er muss seine Kollegen bespitzeln und der Stasi Bericht erstatten. Er kann nicht bleiben, jetzt nicht mehr. Und wenn sie ihm schon auf den Fersen sind?

Hastig steht er auf und schaut sich um. Weit und breit ist niemand zu sehen. Der kleine Kiosk öffnet erst am Nachmittag und auch dahinter scheint sich niemand zu verbergen. Nach Hause will er, ein paar Sachen holen. Nein, das ist riskant, bei diesem Wetter sind zu viele Leute in der Stadt unterwegs. Niemand darf ihn sehen.

Wieder flammt der verdammte Schmerz auf. Diesmal fühlt es sich an, als würde jemand mit einem Messer in seiner Schläfe bohren. Tief atmet er ein und stößt pustend die Luft aus, während er überlegt, wie er am unauffälligsten zum Bahnhof kommt. Er geht in Richtung Schlachthof, fernab von allen Geschäften fühlt er sich sicherer. Auf einmal hält er inne, bleibt stehen und seine Hand fährt in die Brusttasche des Parkas. Ein breites Grinsen zeigt sich auf seinem Gesicht. Ich habe Glück, denkt er und das verdanke ich meiner Liederlichkeit.

In seiner Tasche befindet sich eine größere Geldsumme, fast sein ganzes Monatsgehalt trägt er bei sich, es steckt noch in der Lohntüte. Auch den Brief von Susanne, ihr Bild und sein kleines Notizbuch findet er, doch das Wichtigste fehlt.

„Schöne Scheiße“, flüstert er, „damit haben sie dich. Du sitzt in der Falle.“

Sein Personalausweis liegt auf der Polizeiwache.

Wut steigt in ihm auf, er kickt einen Stein, kollernd fliegt er auf die Fahrbahn. Während er hinterher schaut, breitet sich plötzlich ein ungeheuerlicher Gedanke in ihm aus. Er ist ein Nichts, ein Niemand. Wie sollen sie ihn finden, wie ihn kriegen, wenn sie ihn jagen?

Er verschwindet für immer. Kein Ausweis, kein Name, keine Identität. Namenlos wird man zu nichts und Nebel. Man ist frei wie der Wind, vogelfrei.

Sein Blick streift über die Straße und tastet hastig die Fenster eines alten Mietshauses ab. Alles ist still, kein Mensch, kein Fahrzeug weit und breit. Schnell zerreißt er die Seiten seines Notizbuches und dann, nach anfänglichem Zögern, mit zitternder Hand auch Susannes Bild und ihren Brief.

Es ist ganz einfach, denkt er. Ich nehme den Zug nach Berlin. Von da aus fahre ich bis Dresden und dann gehe ich über die Grenze. Möglichst in der Nacht. Und dann ab nach Prag.

... Da ist ein Abfallkübel. Ich muss hineinlangen, es nützt ja nichts. Ich muss den Dreck beiseiteschieben und schnell die Schnipsel hineinwerfen ... Sie dürfen nicht oben liegen, der Kübel ist fast voll. Überall haben sie ihre Leute, sicher auch bei der Müllabfuhr.

Auf der Bahnhofstoilette trinkt er in gierigen Zügen kaltes Wasser aus dem Hahn.

Dann kämmt er sein schulterlanges Haar mit feuchtem Kamm und bindet es mit einem Gummi im Nacken zusammen. Nun noch die Sonnenbrille, gut, dass er sie bei sich hat. Zufrieden betrachtet er sich im Spiegel. Für einen kleinen Moment steigt Abenteuerlust in ihm auf, alles erscheint ihm nun als ein Spiel und er bedauert, keinen Hut zu besitzen. So einen schwarzen, breitkrempigen, dann wäre die Maskerade perfekt.

Eine knarrende Ansage aus dem Lautsprecher reißt ihn aus seiner selbstgefällig träumerischen Betrachtung.

Überall auf den Bahnhöfen treibt sich Bereitschaftspolizei herum. Gerade jetzt, wo so viele abhauen. Und auf Typen wie mich sind sie besonders scharf. ... Er nimmt die Brille wieder ab und schiebt den Haarschwanz unter den Kragen seines Parkas. Sein Blick durchstreift den Schalterraum. Er ist allein, dennoch fühlt er sich äußerst unbehaglich. Hinter den Säulen scheint niemand zu lauern, aber man weiß ja nie, die sind doch überall. Besser wäre es, er könnte in der Menge untertauchen. ... Noch besser, dies alles wäre nie geschehen.

Aber dieser blöde Bulle hat ihn provoziert, vom ersten Moment an. Er wartete doch nur darauf, ihn in die Pfanne zu hauen. Vom Arbeiter- und Bauernstaat faselte er, betrachtete dabei seine gefeilten Fingernägel, und dann dieses arrogante Lächeln.

Arbeiter- und Bauernstaat. Dieser Arsch hat nie gearbeitet und wir Malocher schaffen die Werte. Dafür treten sie uns in den Dreck, diese Schweine. ... Ich muss mich zusammenreißen, da vorn ist der Fahrkartenschalter.

Löse ich durch bis Dresden? Nein, das ist zu auffällig, lieber bis Alex. Die Frau hinterm Schalter, die kennt mich vielleicht. Wenn sie mich fragt, dann sage ich, ich will einkaufen fahren zum Alexanderplatz. Das machen ja viele. Ich werde ihr was von Jeans erzählen, die es dort im Warenhaus geben soll. ... Oder noch besser, ich will mir einen Farbfernseher holen. Nein, das geht nicht. Da fährt man schon mit dem ersten Zug um vier Uhr nachts, sonst sind die Guten ausverkauft.

Endlich steht er am Bahnsteig und schaut auf die Anzeigentafel. Eigentlich wollte er nur bis Berlin lösen, doch dann sagte er spontan: „Bitte einmal Dresden/Hauptbahnhof.“

Die Frau am Schalter fragte ihn neugierig, ob er in den Urlaub fährt, worauf er hastig antwortete, dass er Verwandte besuchen will. Es kam ihm so ein und er wundert sich nun über die merkwürdige Antwort, die sie ihm daraufhin gab.

„Wie schön“, meinte sie lächelnd, „das freut mich aber! Da habt ihr also wieder Kontakt nach all den Jahren. Das freut mich besonders für deine Mutter.“

Sie wird mich verwechselt haben, denkt er, und das kann nur zu meinem Vorteil sein.

Der ankommende Zug ist fast leer, schnell steigt er ein. Er fühlt sich nun sicherer als auf dem Bahnhof, die Abteile sind klein und überschaubar. Wo man von einer Wand zur anderen greifen kann, da hat man Rückendeckung und sie können unmöglich in jedes Abteil einen Stasi-Mitarbeiter setzen. In Berlin muss er aufpassen und schnell umsteigen, Augen zu und durch. Da wird es nur so wimmeln von Transportpolizei, die sind noch einen Zahn schärfer als die gewöhnlichen Bullen. Das Gute ist, sie sind uniformiert. Man sieht sie. Die Stasi sieht man nicht. ... Obwohl, wenn man genau hinschaut. ...

Ihm gegenüber sitzt eine ältere Frau. Ihr geblümtes Kleid und ihre Art zu lächeln erinnern ihn an seine Mutter. Er meidet ihren Blick, schaut hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft und denkt daran, dass er seine Mutter vielleicht nie wiedersehen wird. Auch wenn sie irgendwann reisen darf, sein Vater würde sie nicht fahren lassen.

Mutter, denkt er, warum hast du ihm immer alles recht gemacht? Und warum standest du mir nie bei, wenn er mich niederbrüllte? Die Angst vor diesem Mann beherrscht dein Leben, beherrschte es immer, solange ich mich erinnern kann. Warum verhältst du dich ihm gegenüber so unterwürfig. ... Er verlässt das Abteil, niemand soll seine Tränen sehen. Wenn er drüben ist, wird er ihr schreiben. Alles wird er ihr schreiben, was ihm schon seit Jahren auf der Seele brennt.

Während Gerhard Erdmann im Zug nach Dresden sitzt, findet im Polizeipräsidium Schwedt eine kleine Dienstbesprechung statt.

Klaus Bäumert streicht verlegen seine Uniformjacke glatt. Er weiß nicht, wohin mit seinen schwitzenden Händen und ihm ist nicht wohl. Verstohlen beobachtet er den Mann in Zivil.

Er sitzt ihm gegenüber und liest aufmerksam ein Protokoll. Nur mühsam gelingt es Klaus Bäumert, seine Angst zu verbergen.

„Ich wusste nicht, dass er der Sohn vom alten Erdmann ist“, sagt er und seine Stimme klingt seltsam belegt.

„Das spielt auch keine Rolle, wo kämen wir denn dahin. ... Darum geht es hier nicht. Verdammt, Klaus, wie konntet ihr ihn laufen lassen. Das hier reicht, um ihn einzulochen! Aber sicher ist er schon über alle Berge, so wie all die anderen, jeden Tag werden es mehr. Was soll man dazu sagen, da fehlen mir die Worte! Das hat Konsequenzen, Genosse, das ist dir doch klar.“

Klaus Bäumert schluckt und nickt stumm, er meidet den Blick des Mannes.

„Aber wir ... Wir hatten doch keinen Haftbefehl“, stammelt er.

„Der ist gut! Der beste Witz, den ich seit Langem gehört habe! Ich kann dich beruhigen, seit einer Stunde läuft die Fahndung. Den kriegen wir, soweit kann er noch nicht sein. Ich schätze mal, er hat den Zug nach Dresden genommen.“

Laut seufzend lehnt sich der Mann in Zivil zurück.

„Und wenn wir ihn nicht kriegen, mal ganz unter uns, spielt das noch eine Rolle? Einer mehr oder weniger von diesem asozialen Pack. Sollen sie doch gehen, alle! Ich bin es leid, verstehst du, mir steht es bis zum Hals! Hast du was zu trinken da?“

Klaus greift in das Schreibtischfach und stellt eine Flasche Weinbrand auf den Tisch. Erleichtert atmet er auf, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich habe alles aufgenommen. Das ganze Gespräch ist im Kasten. Beweismaterial gibt es genug.“

„Dein Eifer in Ehren, Klaus, aber was soll das, seit wann brauchen wir Beweise? Hör es dir selbst an, wenn du mal Langeweile hast. Prost!“

Klaus nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Angenehm wärmend rinnt der Weinbrand durch seine Kehle und ein wohliges Gefühl der Ruhe breitet sich in ihm aus.

„Wir sehen uns.“

Der Mann in Zivil steht auf und verlässt den Raum.

Auch Klaus Bäumert steht auf und schließt die Tür, dann geht er zum Waschbecken und dreht den Hahn auf. Während das Wasser über seine Hände läuft, schaut er in den Spiegel.

Ich kann nicht mehr... Ich bin so blöd, warum habe ich ihn nicht gleich kassiert, dann wäre die Sache für mich vom Tisch. Dieser freche kleine Gammler. Sein Alter bläst ihm doch sicher Zucker in den Arsch, der hat doch alles, was will der denn drüben. ... Ich muss mir das noch mal anhören, die ganze Aufnahme. Gut, dass es eine gibt, da kann ich beweisen, dass ich mich korrekt verhalten habe. Wer weiß, was da noch hinterherkommt. ...

Er legt die Kassette ein. Ein Rauschen tönt aus dem Aufnahmegerät, schließlich hört er seine Stimme: „Warum wollen Sie in die BRD ausreisen, gibt es dafür einen konkreten Anlass? Zum Beispiel einen Verwandtenbesuch, da haben wir hier ein Formular, das füllen Sie aus und dann kommen Sie wieder.“

„Ich will nicht zu Besuch, ich will für immer raus.“

„Für immer. Das geht aber nicht mit diesem Antrag.“

„Womit dann? Mit meinem Personalausweis komme ich ja wohl nicht raus!“

„Werden Sie nicht frech. In diesem Fall gibt es ein anderes Formular. Wir hindern keinen daran, auszureisen. Die DDR ist ein Rechtsstaat, junger Mann.“

„Ein Rechtsstaat. Soll das ein Witz sein? Ein Rechtsstaat lässt seine Bürger reisen, wohin sie wollen. Na klar, ein Rechtsstaat, deshalb wird an der Grenze geschossen.“

„Woher haben Sie diese Information, das ist ja ungeheuerlich! Ich warne Sie.“

„Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte einen Antrag stellen, einen Antrag zur ständigen Ausreise. Ich denke, nun habe ich mich korrekt genug ausgedrückt.“

„Was korrekt ist, das überlassen Sie gefälligst mir. Name, Geburtsdatum?“

„Erdmann, Gerhard Erdmann, geboren am 10.04.1959.“

„Erdmann. Ach, jetzt verstehe ich. ... Susanne Riedel, so heißt doch ihre Verlobte, nicht wahr? Dann war das wohl ein abgekartetes Spiel und Sie wollen ihr folgen. Eine sogenannte Familienzusammenführung also. Das haben Sie sich ja fein ausgedacht.“

„Ich möchte ausreisen, das ist mein gutes Recht.“

„Da könnte ja jeder kommen, junger Mann.“

„Ich bin nicht Ihr junger Mann. Haben Sie schon mal was von der KSZE-Schlussakte gehört? Jeder hat das Recht, dieses Land zu verlassen!“

„Kommen Sie mir nicht so und nicht in diesem Ton! Bis jetzt bestimmen immer noch wir, wer ausreisen darf und wer nicht.“

„Ich denke, Sie bestimmen gar nichts, Sie sind doch nur ein mieser kleiner Handlanger.“

Klaus schaltet das Tonband aus, geht zum Fenster und öffnet es. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

„Ein mieser kleiner Handlanger“, sagt er leise, „genau das bin ich.“

Im Zug fühlte er sich sicherer. Er konnte sehen, wie er vorwärts kam, weg von Schwedt, raus aus dem Dunstkreis der Stadt. Unschlüssig bleibt er stehen, schaut sich um und findet, was er sucht. Ein Zeitungskiosk, dort wird es Landkarten geben. Es ist zu gewagt, weiter mit dem Zug zu fahren, in den Grenzbezirken gibt es Kontrollen. Jeder weiß es, auch in Schwedt reden die Leute darüber.

Ein Mann steht am Kiosk. Er trägt eine schwarze Lederjacke und eine graue Hose. An seinem Handgelenk hängt ein kleines Täschchen, sein Haar ist korrekt geschnitten und ordentlich gescheitelt. Gerhard beschleunigt seinen Schritt und macht einen großen Bogen um den Kiosk. Auch ohne Karte werde ich ankommen, denkt er. Immer nach Süden, irgendwie.

Sein Magen knurrt. Ziellos läuft er in die nächste Gasse hinein. Erst muss er was essen, dann sich ein bisschen ausruhen, nur ein paar Minuten, vielleicht an der Elbe auf einer Bank sitzen. Nein, da ist er allein, das ist zu gefährlich. Dort vorn ist ein Wochenmarkt, farbenprächtige Astern werden zum Kauf angeboten und beim Anblick der Blumenpracht denkt er an Susanne. Er erinnert sich an jenen Tag vor einem Jahr. Es war Spätsommer und er kam zu ihr mit einem bunten Strauß Astern, um sie zu fragen, ob sie seine Frau werden möchte. In Ermangelung eines Ringes schenkte er ihr ein Kettchen aus Bernstein. Gold konnte er nicht auftreiben und Trauringe erhält man nur gegen Goldabgabe.

Er denkt an diesen Tag voller Glück und seine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell setzt er die dunkle Brille auf, geht zu einem Bratwurststand und stellt sich in die Schlange.

Am Rande des Marktes steht eine Bank. Müde setzt er sich hin und lehnt sich zurück.

Die Sonne streichelt sein Gesicht und er schließt die Augen. Nur ein bisschen ausruhen will er sich und dann laufen, immer weiterlaufen. Bald wird es dunkel, er hat keine Taschenlampe dabei, noch nicht mal ein Feuerzeug besitzt er, seit einem Jahr raucht er nicht mehr.

Egal, es wird schon klappen, Hauptsache erst mal raus aus der Stadt. Vielleicht dann irgendwo in einer Scheune übernachten, zur Not im Wald. Ich schaffe das, andere schaffen das auch.

Beim Aufstehen wird ihm schwindelig, schnell setzt er sich wieder hin. Erneut meldet sich der pochende Schmerz. Ihm wird übel und er denkt, das kommt sicher vom hastigen Essen.

Einen seltsamen, metallischen Geschmack hat er im Mund, es ist der Geschmack des Blutes. Hastig spuckt er seinen Speichel aus und schaut zu Boden. Offensichtlich hat er einen Backenzahn verloren.

„Den habe ich nicht einfach so verloren, meine Zähne sind in Ordnung. Den haben sie mir ausgeschlagen, diese Schweine“, murmelt er.

Schnell schaut er sich um, doch niemand nimmt Notiz von ihm. Die Wut mildert seinen Schmerz und er schließt erneut die Augen. Die Sonne tut ihm gut und er beschließt, noch eine Weile zu bleiben. Einfach nur dasitzen will er und an nichts denken.

Am Marktstand gegenüber steht eine ältere Dame. Während sie wartet, bis sie an der Reihe ist und ihr Korb mit Äpfeln gefüllt wird, lässt sie ihren Blick über den Platz schweifen. Sie sieht den jungen Mann auf der Bank. Ein seltsames Gefühl steigt in ihr auf. Übermächtig freudig und gleichzeitig schmerzvoll überfällt es sie. Sie denkt an Herfried, an ihren toten Sohn.

Die Verkäuferin reicht ihr den Korb und wieder schaut sie hinüber zur Bank. Sie sieht, wie der Mann die Augen aufschlägt, sich reckt und streckt und dann zusammenfährt. Mit beiden Händen hält er seinen Kopf fest, sein Gesicht ist schmerzverzerrt.

Unter einer Linde bleibt sie stehen. Sie hofft, dass er sie im Schatten des Baumes nicht bemerkt. Nachdem er die Augen geöffnet hat, ist sie sich ganz sicher, wer dieser junge Mann ist, der ihrem Sohn so sehr ähnelt.

„Gerhard Erdmann“, flüstert sie, „du bist Gerhard, Annelieses Sohn.“

Ihre Gedanken überstürzen sich. Es kann nur einen Grund geben, weshalb Gerhard Erdmann in Dresden ist und aussieht, als hätte er ein Problem. Er will raus, so wie all die anderen, die jede Nacht durch die Stadt ziehen. Und es ist etwas passiert mit ihm, es geht ihm nicht gut.

Er sieht nicht aus wie ein Tourist, der gemütlich durch die Stadt bummelt und den Zwinger besuchen will. ... Doch vielleicht irrt sie sich und es handelt sich um einen Fremden, der Herfried zufällig ähnlich sieht, so etwas gibt es ja. Aber wenn er es wirklich ist, was sagt sie zu ihm, wie soll sie ihn ansprechen nach all den Jahren? Er kennt sie ja gar nicht mehr, er war ein Kleinkind, als sie ihn das letzte Mal sah.

Kurz entschlossen geht sie zu ihm, fragt hastig, ob sie auch nicht stören würde und setzt sich lächelnd. Dabei hofft sie, dass er nicht bemerkt, wie aufgeregt sie ist.

Während sie ihren Blick über den Markt schweifen lässt und nach Worten sucht, mustert er sie verstohlen. Es scheint keine Gefahr von ihr auszugehen. Eine sympathische, gut gekleidete ältere Dame sitzt neben ihm und sicher wäre es absurd zu denken, man hätte sie geschickt, um ihn zu beobachten.

Inzwischen ist es weit nach Mittag, die Händler bauen ihre Stände ab und die Käufer haben den Platz verlassen. Seine rechte Wange pocht schmerzvoll, erneut füllt sich sein Mund mit Blut. Hastig schluckt er es hinunter.

„Geht es Ihnen nicht gut, haben Sie Schmerzen?“

Sie beugt sich zu ihm und berührt flüchtig seinen Arm.

„Ich glaube, ich habe gerade einen Backenzahn verloren“, nuschelt er verlegen.

Er schaut auf das, was vor ihm im Schmutz liegt und offensichtlich sein Zahn ist.

„Es sieht wohl so aus“, sagt sie hastig, nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und bückt sich. Geschickt klaubt sie mit Hilfe des Tuches den vermeintlichen Zahn auf und betrachtet ihn.

„Mein Mann ist Zahnarzt, wissen Sie. Es macht mir nichts aus.“

Beide schauen sie nun auf das blutverschmierte Bröckchen.

„Die Wurzel muss noch drin sein. Sie haben sicher große Schmerzen, nicht wahr?“

Er nickt stumm. Sicher will sie wissen, wie das passiert ist, denkt er. Ich hätte lieber gleich gehen sollen, als sie kam.

„Ich bin nur auf der Durchreise“, sagt er hastig. Dabei legt er seine Hand auf die rechte Wange und fühlt eine deutliche Schwellung.

„So können Sie nicht reisen, junger Mann, vorher müssen Sie sich behandeln lassen. Kommen Sie mit mir, mein Mann ist ein guter Zahnarzt.“

Er schweigt und vermeidet es, sie anzuschauen.

„Vertrauen Sie mir“, flüstert sie, „ich bin mir sicher, Sie wollen nicht lange in Dresden bleiben, aber erst muss Ihr Zahn behandelt werden. Kommen Sie, wir wohnen nicht weit von hier. Sie sind nicht der Erste, der unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Damit meine ich Hilfe in einer besonderen Situation. Verstehen Sie?“

Auch er steht nun auf. „Ich weiß nicht, ob ich einfach so mitkommen kann. Heute ist doch Sonnabend, haben Sie da nicht geschlossen?“

Er mustert sie verstohlen und bemerkt, dass sie ganz anders aussieht als die älteren Frauen in seiner Heimatstadt. Ihr weißes, korrekt geschnittenes Haar schmiegt sich wie ein Helm um ihr feines Gesicht, ihre Lippen sind dezent geschminkt. Sie trägt einen marineblauen Blazer, einen grauen Kostümrock und feine Wildlederpumps. Sehr elegant erscheint sie ihm.

„Aber sie sind doch ein Notfall, machen sie sich keine Gedanken! Ach, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau Seewaldt. ... Und Sie, junger Mann, mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich heiße Gerhard Erdmann.“

Sie versucht, ihre Erregung zu verbergen und beugt sich über den Apfelkorb, als würde sie die Qualität der Äpfel prüfen. Dann schaut sie ihn an, ein strahlendes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht. Es geht ihm ins Herz und er fühlt sich wunderbar geborgen.

Er nimmt ihr den Korb ab und folgt ihr. Sie überqueren den Markt und biegen in eine schmale Seitenstraße ein. Vor einem Torweg hält sie inne. Er öffnet ihr die schwere Tür und sie gehen hinein. Eine weitere Tür führt zum Hof. Sie steht offen und lässt die Sonne in den düsteren Hausflur scheinen. Zwei kleine Jungen jagen einem Ball hinterher. Er hört das scheppernde Geräusch einer Mülltonne und schreckt nervös zusammen.

„Es ist alles in Ordnung.“ Frau Seewaldt legt ihre Hand sacht auf seinen Arm. „Das sind nur die Kinder.“

Eine steile Treppe führt hinauf in den zweiten Stock und endet vor einer weiß lackierten Wohnungstür. Sein Blick gleitet über ein kleines Bogenfenster im oberen Teil. Es zeigt ein elegantes Buntglasmotiv. Auf blauem Grund sieht man die schlanke Silhouette einer Frau. Ihr blondes, gewelltes Haar fällt herab bis zur Taille. Sie spielt auf einer Harfe und eine winzige Elfe schaut ihr dabei zu.

„Gefällt es Ihnen? Es ist original Jugendstil, mein Mann hat es aus einem Abbruchhaus gerettet.“

Er nickt wortlos, während er auf das Namensschild schaut.

So ein Zufall, sie heißen Seewaldt, denkt er. Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Sicher ist das ein gutes Omen, ich kann jetzt jede Menge Glück gebrauchen.

Frau Seewaldt führt ihn ins Wartezimmer.

„Machen Sie es sich bequem, setzen Sie sich! Ich sage nur schnell meinem Mann Bescheid.“

Er ist allein und schaut sich um. Auf einmal ist ihm zumute, als hätte er alle Angst und Hast draußen vor der Tür gelassen. Die dunkle Holzvertäfelung, das alte Parkett und die gemütlichen Korbsessel, all das hat einen liebenswert altmodischen Charme und gibt ihm das Gefühl einer Auszeit. Nun spürt er auch keinen Schmerz mehr, entspannt schließt er seine Augen und öffnet sie erst wieder, als er Schritte nahen hört. Ein älterer Herr im weißen Kittel steht vor ihm und reicht ihm die Hand.

„Sie sind also Herr Erdmann. ... Herzlich Willkommen, junger Mann. Meine Frau sagte mir, Sie hätten da ein kleines Zahnproblem. Eigentlich ist die Praxis am Sonnabend um diese Zeit schon geschlossen, aber für Sie machen wir mal eine Ausnahme. Kommen Sie gleich hier entlang, bitte sehr.“

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände mache, aber da ich auf der Durchreise bin, wäre es besser, wenn Sie mal nachschauen. Es blutet andauernd.“

„Entspannen Sie sich erst einmal. Lehnen Sie sich einfach zurück und machen Sie den Mund auf. ... In der Tat, da haben wir noch Arbeit. Ich werde Ihnen eine Spritze geben und dann entferne ich die Wurzel. Jetzt können Sie den Mund wieder schließen, ich muss Ihnen noch einige Fragen stellen.“

Der große alte Mann im weißen Kittel setzt sich auf einen Schemel und seufzt. Ihre Blicke treffen sich. Du tust mir nichts, denkt Gerhard, nein, du nicht. Ich weiß nicht warum, aber ich vertraue dir, so wie ich auch deiner Frau vertraue.

„Haben Sie eine Allergie, ein Anfallsleiden oder sind Sie vielleicht Bluter?“

Gerhard schüttelt den Kopf. „Nein. Soviel ich weiß, ist mit mir alles in Ordnung!“

„Wirklich alles? Was haben Sie da für ein Hämatom an der rechten Schläfe, junger Mann? Das sieht aber nicht gut aus.“

Herr Seewaldt reicht ihm einen Spiegel und er sieht, dass sich die kleine rote Stelle, die er heute Morgen im Spiegel der Bahnhofstoilette sah, um das Dreifache vergrößert hat.

Im Schein der hellen Lampe leuchtet sie purpurrot.

„Ach das! Das ist nichts. Ich habe mich gestoßen, wissen Sie. ... Gestern, in der Werkstatt. Ich bin Schlosser in einem Landmaschinenbetrieb.“

Herr Seewaldt schmunzelt. „Ich weiß.“

Gerhard schickt sich an, den Stuhl zu verlassen. Schon setzt er seine Beine auf den Boden, doch Herr Seewaldt greift nach seiner Hand.

„Ich sehe es an deinen Händen, du bist Handwerker. Hände können viel. Sie reparieren Traktoren oder auch Zähne. Sie bauen Mauern, dem Menschen zum Wohl und manchmal auch zum Übel. Und sie können zuschlagen, um Menschen daran zu hindern, Mauern einzureißen. ... Du bekommst jetzt eine kleine Betäubung, dann ziehe ich den Zahn. Die Schläfe behandeln wir mit einer Heparin-Salbe. Danach musst du dich allerdings eine Weile ausruhen, bevor du weiterkannst. Nebenan steht eine Liege, Decken sind auch da. Schlaf ruhig, bei uns bist du sicher wie in Abrahams Schoß.“

„In Ordnung“, murmelt Gerhard verlegen und lehnt sich zurück. Er duzt mich, denkt er, er kennt mich doch gar nicht. Aber es stört mich nicht, es ist in Ordnung. Obwohl er ein Fremder ist, vertraue ich ihm. …

Noch betäubt von der Spritze macht er es sich nach der Behandlung auf der Liege bequem und schläft sogleich ein.

Als er erwacht, ist es bereits dunkel. Tastend bewegt er sich im Raum, findet endlich den Lichtschalter und schaut auf seine Armbanduhr. Noch in dieser Nacht will er über die Grenze. Leise öffnet er die Tür zum Flur. Er wird einfach gehen, ohne sich zu verabschieden. Eigentlich ist das nicht richtig, man stiehlt sich nicht einfach so davon. Aber länger kann er nicht warten, er muss die Dunkelheit nutzen, um unauffällig aus der Stadt zu kommen. Sie sind bestimmt noch wach, ältere Leute schlafen nicht mehr viel. Wenn sie hören, dass er aufgestanden ist, werden sie ihn sicher bitten, bis zum Morgen zu bleiben. Aber das ist zu gefährlich.

Er bückt sich, um seine Schnürsenkel zu binden. Als er sich wieder aufrichtet, stößt er gegen einen kupfernen Schirmständer. Gegenüber öffnet sich eine Tür, Frau Seewaldt steht vor ihm.

„Es tut mir leid“, stammelt er, „ich wollte Sie nicht aufwecken. Aber jetzt muss ich endlich los. Vielen Dank für alles und grüßen Sie ihren Mann.“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage, wir lassen Sie doch nicht mitten in der Nacht gehen. Außerdem müssen Sie etwas essen. Kommen Sie, sie sind unser Gast. Mein Mann wartet schon auf Sie.“

Gern nimmt er die Einladung an. Er hat Hunger, seit der Bratwurst am Mittag hat er nichts mehr gegessen.

„Na endlich, junger Mann“, begrüßt ihn Herr Seewaldt. „Ich dachte schon, Sie schlafen gleich durch bis Morgen. Haben Sie noch Schmerzen?“

„Nur noch ein bisschen, es geht.“

Frau Seewaldt kommt mit einem Tablett herein, stellt ihm einen Teller mit Schnitten hin und gießt Tee ein. Er bedankt sich verlegen.

Das glaubt mir keiner, denkt er. Wenn ich das jemandem erzähle. Fremde Menschen helfen mir. Einfach so, ganz uneigennützig.

Er schaut in das prasselnde Feuer des antiken Kamins und eine wohlige Wärme breitet sich in ihm aus. Es riecht würzig nach Holz. Auch das Ehepaar Seewaldt schaut still dem Spiel der Flammen zu, doch hin und wieder richten sie ihre Blicke zum Fenster und es sieht aus, als würden sie lauschend auf etwas warten. Helles Scheinwerferlicht fällt plötzlich in den Raum. Frau Seewaldt steht auf, schiebt den Vorhang beiseite und schaut hinaus. Man hört Motorengeräusch. Laute, brüllende Männerstimmen gellen durch die Nacht.

„Zieh die Vorhänge zu und setz dich um Gottes Willen hin, Eva.“

Herr Seewaldt steht auf und tut es selbst. Frau Seewaldt setzt sich wieder und Gerhard sieht, dass ihre Hände zittern.

„Sie kommen jede Nacht“, flüstert sie, „immer zur gleichen Zeit. Ich kann das nicht mehr ertragen.“

„Vielleicht sollte ich doch besser gehen.“

Auch er steht nun auf und lauscht. Man hört das Bellen einer Hundemeute, jemand brüllt etwas und das Gebell verstummt.

„Wenn du ihnen direkt in die Arme laufen willst“, sagt Herr Seewaldt, „dann musst du jetzt gehen. Aber gleich, sonst sind sie weg! Sie fahren jede Nacht durch die Neustadt, sie machen Razzia. Hier wohnen viele junge Leute und sie haben oft Gäste, die auf der Durchreise sind. ... Bleib nur ruhig, Junge, und setz dich schön wieder hin. Wir sind alt, zu uns kommt keiner. Eva, du bringst uns jetzt eine schöne Flasche Wein, nicht wahr, meine Liebe?“

Schweigend räumt Frau Seewaldt die Teetassen auf das Tablett. Gerhard steht auf, um ihr die Tür aufzuhalten und folgt ihr in die Küche.

„Du hast etwas unterschrieben, nicht wahr“, flüstert sie. „Ich habe gehört, wie du im Traum geredet hast. Mach dir keine Gedanken, ihre Zeit ist vorbei. Du gehst in die Botschaft, wir kennen da jemand in Prag, der dir helfen wird. Du wirst sehen, es ist ganz einfach.“

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

„Aber dafür doch nicht, das ist selbstverständlich“, antwortet sie hastig, während er zuschaut, wie sie die hauchdünnen Porzellantassen behutsam auf den Küchentisch stellt.

„Man muss sie wie rohe Eier behandeln, das Porzellan ist ganz fein und sie sind sehr alt. Sie stammen aus dem Haushalt meiner Schwiegermutter. ... Mein Mann sagt, sie sind kitschig. Aber das ist mir egal. Was zählt, ist einzig die Erinnerung.“

„Ja“, sagt er leise, „Erinnerungen sind wichtig.“

Früh erwacht er am nächsten Morgen und die Zeit zwischen Traum und Tag schenkt ihm eine Illusion. Er schlägt die Augen auf und schaut auf ein Regal. Mineralien sieht er, Steine verschiedener Art, Tannenzapfen und einen Strauß getrockneter Blumen, deren Namen er nicht kennt. Noch einmal schließt er seine Augen und sieht eine Gebirgslandschaft. Ein klarer Bach plätschert über Gestein, dunkle Tannen säumen einen Pfad. ...

Er setzt sich auf die Bettkante und seufzt. Nein, das hier ist kein Urlaub und er wird nicht gemütlich wandern, auch wenn Herr Seewaldt meint, nur so würde er unauffällig bis Prag gelangen. Schnell steigt er in seine Hose, um ins Bad zu gehen. Die fürsorgliche Frau Seewaldt hat ihn mit allem versehen, was er braucht, sogar ein elektrischer Rasierapparat liegt auf der Kommode. Kein Wunder, dass man denkt, man erwacht in einer Ferienpension.

Er kommt aus dem Bad, kämmt schnell sein Haar vor dem Schrankspiegel, doch dann hält er inne und dreht sich um. Über dem Bett hängt ein Bild. Es ist das Porträt eines jungen Mannes, eine Fotografie im Postkartenformat. Ein schwarzes Band, quer über die linke untere Ecke gespannt, gibt dem Betrachter darüber Auskunft, dass er einen Toten anschaut.

Sein Blick wandert zurück zum Spiegel und er fühlt, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichten, etwas Kaltes scheint durch ihn hindurchzugehen. Noch einmal geht sein Blick vom Spiegel zum Bild, der tote junge Mann sieht ihm sehr ähnlich, er könnte sein Bruder sein.

„Es wäre gut, wenn du dein Äußeres etwas verändern würdest, bevor du dich auf den Weg machst“, sagt Frau Seewaldt nach dem Frühstück zu ihm. „Deine Frisur ... Das lange Haar ist einfach zu auffällig, geradezu provozierend. Sicher verstehst du, was ich meine. Dein langes Haar reiht dich in die Kategorie derer ein, die ihnen verdächtig erscheinen und die sie argwöhnisch beobachten. Wenn du einverstanden bist, schneide ich es dir ab, meinem Mann schneide ich auch immer die Haare. Was meinst du?“

„Ich weiß nicht so recht. Sicher ist es auffällig. Wissen Sie, das lange Haar ist für mich so etwas wie ein Markenzeichen. Na ja, das klingt vielleicht blöd, schließlich bin ich ja keine siebzehn mehr. ... Aber irgendwie ist es auch ein Protest. Ich glaube, Sie verstehen das.“

„Natürlich. Du willst damit ausdrücken, dass du ein Individualist bist.“

„Ja“, sagt er hastig, „das bin ich vielleicht. Aber ich bin kein Einzelgänger.“

„Aber nein, so meine ich es nicht. Ich denke, du bist jemand, dem seine Freiheit viel wert ist und sicher hast du dich deshalb dafür entschieden, dieses Land zu verlassen.“

„Sie haben Recht, da ist was dran.“

Nein, denkt er, mehr werde ich ihr nicht sagen. Kein Wort von Susanne und dieser ganzen Geschichte mit dem Ausreiseantrag. Es ist besser, wenn sie es nicht wissen.

„Und? Was ist nun mit den Haaren?“

„Ehrlich gesagt, es fällt mir schwer. Aber Sie haben mich überzeugt, es muss wohl sein.“

Er hört das Geklapper der Schere, spürt den leichten Druck des Kammes auf seiner Kopfhaut und sieht, wie die Strähnen zu Boden fallen. Ein eigentümliches Gefühl breitet sich in ihm aus. Ihm scheint, als würde sich mit den fallenden Haaren auch sein altes Leben von ihm verabschieden. Seltsam ist ihm zumute und schuld daran sind nicht die Haare, die vor ihm auf dem Boden liegen, sondern die Erinnerung an eine Zeit, als zwischen ihm und Susanne noch nicht die Rede davon war, dieses Land zu verlassen. Sein Leben war überschaubar und er hatte es sich ganz bequem darin eingerichtet. Doch jetzt ist alles anders und kein Weg führt mehr zurück. Ihm ist nun klar, dass er mehr verliert als nur ein paar Büschel Haare.

Sein altes Leben existiert nicht mehr und ein Neues ist noch nicht in Sicht.

Frau Seewaldt hält ihm einen Spiegel vor.

„Fertig! Na, was sagst du nun? Ich finde, es steht dir gut.“

Im ersten Moment glaubt er, das Gesicht eines Fremden zu sehen. Dieser Fremde sieht aus wie der junge Mann auf dem Foto.

Älter erscheint ihm nun sein Gesicht. Ein Gesicht mit herben Konturen sieht er, ein Gesicht, in dem das Leben erste Spuren hinterlassen hat. Er nahm sie bisher nicht wahr, wenn er sich im Spiegel anschaute, sein langes Haar verlieh seinem Äußeren eine gewisse jugendliche Unbeschwertheit.

„Du musst dich erst daran gewöhnen, nicht wahr? Aber nun siehst du ganz anders aus und darum geht es ja! Wenn du jetzt noch was Anderes anziehst. ... Ich habe da eine Wetterjacke von meinem Sohn, die müsste dir passen.“

Er folgt ihr in das Zimmer, in dem er schlief und sie öffnet den Schrank. Eine kleine Weile steht sie still davor, dann nimmt sie eine Jacke heraus.

„Das ist eine gute Jacke“, sagt sie leise. „Ein englisches Fabrikat, die hält was aus. Mein Sohn hat sie in Prag gekauft.“

„Ist ihr Sohn tot?“

„Ja“, antwortet sie hastig, „das ist lange her, mehr als zwanzig Jahre. ... Aber so etwas trägt man immer, diese Jacke ist zeitlos. Es ist eine Barbourjacke. Gewachst, da geht nichts durch. Kein Regen, kein Wind, nicht einmal Feuer, wenn man dem Hersteller glauben darf.“

„Es tut mir leid, das mit ihrem Sohn“, sagt er leise. Er sieht die Trauer in ihren Augen und er denkt an seine Mutter, von der er sich nicht verabschieden konnte.

„Zieh sie an, sie müsste dir passen.“

Er schlüpft in die Jacke und sie schaut ihm lächelnd zu.

„Perfekt! Und vor allem nicht so auffällig wie der Parka. Damit meine ich, mit dem Parka ist es so wie mit den langen Haaren.“

„Ich weiß. ... Und Sie haben ja recht. Aber werden Sie die Jacke nicht vermissen? Ich meine, weil es doch die Jacke Ihres Sohnes war.“

„Ach ... Eine Jacke ist nur eine Jacke! Ich glaube, Herfried würde sich sehr darüber freuen, dass diese Jacke noch eine Verwendung findet.“

„Wenn Sie es so sehen, dann nehme ich sie gern. Sie haben recht, ich sehe mit den kurzen Haaren und dieser Jacke ganz anders aus. Ich möchte mich noch einmal für alles ganz herzlich bedanken.“

Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Herr Seewaldt kommt herein und bringt einen Schuhkarton mit.

„Na? Wird das hier eine Modenschau? Die Jacke sitzt ja wie angegossen. Aber mit deinen Turnschuhen wirst du nicht weit kommen! Hier, zieh die mal an, das sind Wanderschuhe und sie sind so gut wie neu. Ich denke, sie werden dir passen.“

„Ja, das ist genau meine Größe.“

„Na dann, worauf wartest du noch!“

Er schlüpft in die robusten Schuhe und schnürt die Senkel. Dann richtet er sich auf und setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

„In neuen Schuhen in ein neues Leben“, sagt Herr Seewaldt und es klingt seltsam feierlich.

„Unser Sohn würde sich freuen, wenn er wüsste, dass du in seinen Schuhen in eine bessere Zukunft gehst. Und nun setz dich und hör gut zu.“

Herr Seewaldt reicht ihm einen Zettel.

„Wo du über die Grenze gehst, haben wir ja besprochen. Du meldest dich bei dieser Adresse und fragst nach Hans Rosenbaum. Sag ihm, dass dich Eva schickt und du möchtest einen Fiaker mieten. Der Fiaker ist das Kennwort. Natürlich könntest du auch auf eigene Faust über den Zaun der Botschaft steigen. Aber wieso solltest du dich unnötig in Gefahr begeben, das ganze Viertel wimmelt nur so von Stasi-Leuten. Hans Rosenbaum kennt sich gut aus. Du bist nicht der Erste, dem er hilft. Er wird dich unbemerkt in die Botschaft bringen. Hier hast du unsere Adresse und die Telefonnummer. Melde dich, wenn du drüben bist, wir würden uns freuen!“

Herr Seewaldt kramt eine Klarsichthülle aus seiner Westentasche und schiebt einen kleinen Zettel hinein. „Unsere Telefonnummer. Die legst du in den Schuh, unter die Einlegesohle. Man weiß ja nie ...“

Gerhard steht am Torweg und schaut unschlüssig die Straße hinauf.

Frau Seewaldt drückt seine Hand. „Und grüß mir das goldene Prag“, flüstert sie. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

An der Ecke wechselt er die Straßenseite und weicht den Menschen aus, die vor einem kleinen Geschäft in langer Schlange anstehen. Schnell hat er die kopfsteingepflasterte Straße hinter sich gelassen, passiert eine Elbbrücke und läuft den Weg hinauf in die Berge. Noch einmal schaut er hinab ins Tal, dort liegt die Stadt im warmen Licht des Spätsommertages.

„Du hast mir Glück gebracht, Elbflorenz“, flüstert er. „Es ist nur schade, dass ich keine Zeit habe, um dich richtig kennenzulernen.“

Am anderen Ufer sieht man all das, was er schon immer mal sehen wollte, den Zwinger, das Grüne Gewölbe, die Trümmer der Frauenkirche, die Semperoper. Nun war er in Dresden und hat nichts von all dem gesehen.

Während sein Blick über die Elbe schweift, denkt er daran, welche Konsequenzen diese Flucht für ihn hat. Wenn sich das Tor der Botschaft hinter ihm schließt, dann wird die Welt hinter diesem Tor für ihn in Zukunft unerreichbar sein. Für immer? Das kann nicht sein, denkt er. Es kann doch nicht sein, dass ich nie wieder zurückkommen kann. Er denkt an seine Heimatstadt, an all die Plätze, die er liebt. Hilflosigkeit paart sich mit Wut, er schließt die Augen und spürt wieder den pochenden Schmerz in der rechten Schläfe. Herrn Seewaldts Worte fallen ihm ein.

„Die Dinge sind in Fluss“, sagte er in der Nacht zu ihm. „Glaube mir, dieser Fluss wird zum reißenden Strom. Nichts kann ihn mehr aufhalten.“

Was meinte er mit seinen dunklen Andeutungen? Vom Strandgut sprach er, das der Fluss an die Ufer spülen wird und von einer neuen Zeit ohne Mauern und Stacheldraht. ...

Schnell wendet er sich ab und läuft hinauf in den Wald. Eintauchend ins dunkle Tannengrün läuft er höher und höher, bis hinauf zur Kuppe des Berges. Er orientiert sich am Stand der Sonne und sein Blick gleitet über das weite Tal. Dort drüben liegt der Berg, über dem er nach Einbruch der Dunkelheit gehen wird. Bis dahin wird er durch den Wald hinab ins Tal laufen.

„Ich habe keine Wahl“, flüstert er, „ich muss jetzt da rüber.“

Zur gleichen Zeit steht Frau Seewaldt am Fenster und lauscht. An diesem Abend ist es still in der Dresdener Neustadt. Herr Seewaldt steht auf und geht zu ihr.

„Nun komm und setz dich endlich hin, Eva. Heute passiert hier nichts mehr.“

Sie wendet sich zu ihm und er sieht die Angst in ihren Augen.

„Wenn sie nicht hier sind, dann sind sie oben im Wald. Sie werden ihn dort finden!“

„Aber nein! Setz dich hin, du machst mich ganz nervös. Sie sind heute alle am Bahnhof.“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Ich habe meine Quellen, Liebste. Möchtest du ein Glas Wein?“

„Ja gern, es wird mich beruhigen. Dann kann ich schlafen.“

„Mach dir keine Sorgen, er schafft es. Ich weiß, das hat dich alles sehr mitgenommen. Ich bekam ja auch einen tüchtigen Schreck, als ich ihn sah. Sie sind sich ähnlich wie Brüder. Na ja, schließlich sind sie Cousins, da hat man den gleichen Stammbaum.“

„Aber warum dieses ganze Versteckspiel, Adrian? Ich finde das irgendwie unwürdig, wir haben doch nichts vor ihm zu verbergen! Warum hast du darauf bestanden? Ich habe es akzeptiert, aber ich muss schon sagen, es verwirrt mich und ich verstehe dich absolut nicht.“

„Eva, er befindet sich in einer akuten Stresssituation. Was er mir erzählt hat, das will ich dir ersparen. ... Ich denke, du hast Fantasie genug, um dir vorstellen zu können, wie sie mit ihm umgegangen sind. Es ist ein Wunder, dass sie ihn gehen ließen, aber sicher stehen sie spätestens Montag früh mit einem Haftbefehl vor seiner Tür. Beten wir zu Gott oder zu wem auch immer, dass er dann schon einen Fiaker gemietet hat. ... Einen Fiaker. ... Originell, nicht wahr? Typisch Hans. Nun schau doch nicht so ängstlich, Eva, entspann dich mal. Ich konnte ihn doch in seiner Situation nicht mit unseren familiären Problemen belasten!“

„Ich habe keine Ruhe. Sollten wir nicht wenigstens seine Mutter benachrichtigen? Wenn ich mir vorstelle, was sie sich für Sorgen macht! Und sein Vater. ... Ach, jetzt muss ich lachen, der wird sich vor Scham winden! Sein Sohn, ein Republikflüchtling! Da bin ich richtig schadenfroh. Ist das schlimm? Es gehört sich jedenfalls nicht.“

„Sei nur ruhig schadenfroh, Eva, das erleichtert. Und was sich gehört oder nicht gehört, das lassen wir mal hübsch beiseite. Dieses Land befindet sich zurzeit im Ausnahmezustand und wenn die Obrigkeit Jagd auf das Volk macht, dann müssen wir uns auch nicht mehr an Anstandsregeln halten!“

„Du machst mir Angst, wovon sprichst du eigentlich? Meinst du, es gibt einen Bürgerkrieg?“

„Das wollen wir doch nicht hoffen.“

Schweigend schauen sie in die Flammen, Adrian greift sacht nach ihrer Hand.

„Versprich mir, vorläufig kein Wort zu Anneliese, ja? Weder telefonisch noch brieflich. Wir würden ihm nur schaden. Wenn er sich meldet, dann kannst du sie benachrichtigen. Oder besser erst, wenn wir wissen, dass er drüben gut angekommen ist.“

„Wieso? Meinst du etwa, sie sind auch in der Botschaft?“

„Was denkst du denn! Sie sind überall, das weißt du doch. Sie wissen genau, dass ihre Zeit bald zu Ende sein wird und das macht sie noch gefährlicher.“

„Du hast recht, man kann nicht vorsichtig genug sein.“

„Außerdem hat er mir versprochen, dass er sich bei seinen Eltern meldet, wenn er drüben ist.“

„Ach! Sag bloß, ihr habt über Schwedt geredet?“

„Ja. Heute Nacht, nachdem du zu Bett gegangen warst. Nicht, dass du jetzt denkst, ich hätte ihn ausgefragt. Er erzählte von ganz allein. Er stand so unter Druck, er musste einfach reden. Sein Vater nannte ihn einen ehrlosen Vaterlandsverräter, als er erfuhr, dass er ausreisen will.“

„Das sieht ihm ähnlich, etwas anderes hätte ich auch nicht von ihm erwartet. Aber sag mal, hast du dir denn nicht die Zunge abgebissen, als er von Schwedt sprach?“

„Als er meinte, das wäre ja ein Zufall, seine Mutter sei eine geborene Seewaldt, da war ich nahe dran, es ihm zu sagen. Aber du kennst mich doch, ich spiele gern mit verdeckten Karten. Lass ihn erst einmal in Sicherheit sein, Eva. Dann werden wir ihm alles erzählen.“

„Du bist gut! Höchstwahrscheinlich sehen wir ihn nie wieder.“

„Glaubst du das wirklich Eva? Hör mir mal zu, bald ist der ganze Spuk vorbei und jeder kann reisen, wohin er will!“

„Mal sehen, vielleicht. ... Ob wir das noch erleben? Ich würde gern mal nach Italien, Adrian. Guck mich nicht so an, man muss auch ein bisschen träumen dürfen! Was hat er denn von Anneliese erzählt, hat er gar nichts über seine Mutter gesagt?“

„Nichts Persönliches. Sie lebt noch, Eva.“

„Das weiß ich ja wohl selbst, schließlich bin ich es ja, die den Kontakt hält! Sei doch nicht so herzlos, sie ist deine Schwester.“

„Er war mit sich selbst beschäftigt und mit dem, was er gerade erlebt hatte. Was hätte ich denn sagen sollen! Ich hielt es für klüger, vorerst zu schweigen.“

„Erinnerst du dich, wie wir uns damals mit Anneliese in Berlin trafen? Karl-Heinz war zu einem Lehrgang, er durfte ja nichts davon wissen. Da hatte sie Gerhard dabei. Es war das einzige Mal, dass wir ihn gesehen haben. Wir trafen uns in Friedrichsfelde und gingen in den Tierpark. Er war ja noch ein Knirps, höchstens drei Jahre alt. Aber er sprach schon sehr gut und Anneliese hatte Angst, dass er seinem Vater was erzählt. Es ist so lange her, wo ist nur die Zeit geblieben, Adrian. ... Als ich ihn auf dem Markt sah, das war so unwirklich, fast wie ein Traum. Diese Ähnlichkeit. ... Es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich ihn dort traf. Man könnte fast glauben, eine höhere Macht hatte ihre Hände im Spiel.“

„Zufälle gibt es nicht, meine Liebe. Je älter ich werde und je öfter ich rückschauend auf mein Leben blicke, desto mehr drängt sich mir der Gedanke auf, es gibt einen großen Plan. ... Hast du eigentlich Annelieses Briefe aufbewahrt?“

„Ja, natürlich. Warte, sie sind hier im Sekretär.“

Sie reicht ihm ein Bündel vergilbter Briefe und spürt in diesem Augenblick, wie schnell ihr Herz schlägt. Alles längst Vergangene ist wieder gegenwärtig, befindet sich jetzt hier im Raum.

„Hier schrieb sie über ihn. ... Soll ich es dir vorlesen?“

„Ja, bitte.“

„Schwedt/Oder, den 12.12.1963. Meine Lieben, eure Post erhielt ich gestern auf dem üblichen Umweg. Ich habe mich sehr über die Fotos gefreut, aber schickt lieber keine mehr. Ihr wisst ja, wie er ist und wenn er sie sehen würde, dann ist hier die Hölle los. Euer Herfried ist ja tüchtig gewachsen und ich finde, dass Gerhard ihm nachkommt. Sie sehen sich ähnlich, als wären sie Brüder.“

Er lässt den Brief sinken und sucht ihren Blick. Sie hört das trockene Rascheln des Papiers, riecht den faden Staubgeruch, der dem alten Brief anhaftet und denkt an jene Zeit, als sie noch nicht ahnte, wie bald sie Herfried verlieren würde.

„Haben wir noch die alten Bilder, Eva?“

„Ja, ich hebe doch alles auf. Aber ich finde, für heute ist es genug. Lass uns schlafen gehen.“

In dieser Nacht steht sie wieder am Ufer der Moldau, der alte Traum sucht sie heim. Wenn sie ihn träumt, dann fühlt es sich an, als wäre sie selbst dabei gewesen. Doch was ihrem Sohn in Prag geschah, wurde ihr nur erzählt und sie weiß, es war heller Tag, als er tot am Ufer der Moldau lag. In ihrem Traum aber ist es Nacht und sie schaut hinüber zur Karlsbrücke.

Im Licht der alten Laternen erscheinen ihr die vertrauten, imposanten Skulpturen kalt und fremd. Bedrohlich wie mahnende Zeigefinger ragen sie in den Nachthimmel.

Ihr Blick tastet sich am Ufer entlang, sie sucht ihren Mann und erkennt ihn inmitten einer kleinen Gruppe Menschen. Auch sie schaut nun auf das, worauf alle schauen. Neben einer Trauerweide liegt ein Körper, liegt dort ganz still unter einer Wolldecke, auf deren Mitte ein rotes Kreuz leuchtet. Ja, es leuchtet in der Dunkelheit grell und schrill im Licht eines Scheinwerfers. Das laute Geheul einer Sirene fällt ein in die Stille. Sie schaut hinauf zum Himmel und dann dreht sich plötzlich die Erde unter ihr. Sie dreht sich schnell, immer schneller, bis eine mächtige Kraft sie zu Boden schleudert. ...

Als sie erwacht, ist weit nach Mitternacht. Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer. Lauschend steht sie am Fenster. Nein, denkt sie, sie sind nicht da, heute nicht. Aber wo sind sie? Sind sie wirklich alle am Bahnhof oder durchkämmen sie mit ihren Hunden den Wald. ... Herrgott im Himmel, bitte hilf, dass sie ihn nicht finden.

Sie geht zum Sekretär. Mit fliegenden Fingern öffnet sie ihn hastig und findet das kleine Kästchen, in dem sie die Briefe aufbewahrt, deren Botschaft ihr bis zum heutigen Tag absurd erscheint. Obwohl sie weiß, dass Herfried tot ist, lässt sie es nur selten zu, dass die Wahrheit sich wie ein Dolch in ihr Herz bohrt.

„Euer Schmerz ist auch unser Schmerz. Wir haben Herfried geliebt wie unseren eigenen Sohn. Seid stolz auf ihn, er war ein wunderbarer Mensch, ein Held des Prager Frühlings und alle, die ihn kannten, liebten ihn. Hans und Martha.“

Sie lässt den Briefbogen sinken und schließt die Augen.

„Keiner wird mehr sterben, weil er ein freier Mensch sein will“, sagt sie leise, „Adrian hat recht, ihre Zeit ist abgelaufen.“

Er läuft über die Karlsbrücke und vergisst dabei den Grund seiner Reise nach Prag. Die Angst der letzten Nacht, die gefahrvolle Fahrt im überfülltem Zug, all das ist ausgelöscht in dieser Stunde, verdrängt vom staunenden Bewusstsein hier auf dieser Brücke zu sein. Er folgt dem Strom der Fußgänger, doch ab und an hält er inne, um den Straßenmalern über die Schulter zu schauen. Schnell skizzierte, elegante Porträts sieht er auf ihren Staffeleien, duftige Aquarelle und großformatige Acrylbilder, auf denen man die Prager Burg vielfarbig leuchten sieht.

Verlockend der Gedanke, selbst hier zu sitzen und zu malen. Ihm scheint, als würde es am Ufer der Moldau ewig Sommer sein und jeder Tag ein Ferientag, wenn man sich hinsetzt, malt und alles andere vergisst. Und abends geht man angeln, weiter stromaufwärts ... Und dann ein Feuerchen machen, um den Fisch zu braten.

Ich kann auch malen, denkt er, und sogar ganz gut. Wenn ich mich nur trauen würde, wie als Kind mit dem Tuschkasten. Zeichnen war mein Lieblingsfach in der Schule und Mutter hat meine Bilder einrahmen lassen, auch wenn Vater sich darüber mokierte. Weshalb war er eigentlich immer so sauer, wenn ich lieber malen oder lesen wollte, statt mit ihm auf den Sportplatz zu gehen? ... Weil ich Offizier werden sollte, so wie er.

Am Ende der Brücke setzt er sich auf eine Bank und während er die Schokolade isst, die ihm Frau Seewaldt fürsorglich eingepackt hat, betrachtet er die flanierenden Touristen. Fremde Sprachfetzen dringen an sein Ohr, er schnuppert dem Parfüm einer eleganten Frau nach und bestaunt das extravagante Aussehen zweier Männer. Sie tragen Schottenröcke, Kniestrümpfe und derbe Wanderschuhe.

Er schließt seine Augen und spürt eine übermütige Freude in sich aufsteigen. Ich werde mir die Welt anschauen, denkt er. Alles werde ich sehen und es dann malen. Ja, malen werde ich wieder, jetzt habe ich Lust drauf. Und niemand kann mir mehr verbieten, irgendwohin zu gehen, um zu leben, wie es mir passt. So wie damals, als ich nach Berlin wollte und sie mir die Zuzugsgenehmigung verweigerten.

Im Strom der Touristen lässt er sich treiben und steht schließlich vor dem Veitsdom, umringt von einer Gruppe junger ausländischer Touristen. Ihre Fröhlichkeit ist ansteckend, doch der Anblick eines grimmig dreinschauenden Polizisten erinnert ihn daran, warum er nach Prag gekommen ist. Der Gedanke, dass die Freiheit dieser Stadt nur eine trügerische Illusion ist und er den Ort, wo Freiheit für ihn greifbar sein wird, noch nicht erreicht hat, überfällt ihn mit kalter Nüchternheit. Seine Euphorie fliegt so schnell fort wie ein Schwarm Tauben vom Platz. Schnell verlässt er den belebten Ort und geht zu einem kleinen Geschäft, dessen Auslage verrät, dass hier außer mit Tabakwaren auch mit anderen nützlichen und weniger nützlichen Kram gehandelt wird. Im altmodisch dekorierten Schaufenster entdeckt er zwischen neongrünen Dauerlutschern, vergilbten Zeitschriften und aufgetürmten Zigarrenkisten, wonach er sucht. Landkarten und Stadtpläne liegen dort zwischen toten Fliegen und einem Sortiment nostalgisch anmutender Pfeifen.

„Trafik“ steht auf der Fensterscheibe und er erinnert sich an Herrn Seewaldts Worte: „Geh in einen Tabakladen, die Inhaber sprechen meist deutsch. Dort fragst du, wie du in die Josefstadt kommst. Du sagst einfach, dass du ein Tourist bist und zum jüdischen Friedhof willst. Aber bevor du hineingehst, schau dich genau um, du musst vorsichtig sein.“

Der Ton des Ladenglöckchens reißt ihn aus seinen Gedanken. Ein junger Mann kommt heraus, er trägt einen hellen Sommerblouson, sein fahles, blondes Haar ist akkurat gescheitelt. Beim Anblick der dezenten Farblosigkeit des Fremden steigt ein gewisses Unbehagen in ihm auf. Ihre Blicke begegnen sich. Hastig öffnet der Fremde die eben erworbene Packung Zigaretten und sucht in seinen Taschen nach dem Feuerzeug. Während er das würzige Aroma des aufsteigenden Qualms riecht, hat er auf einmal wieder große Lust, zu rauchen. Susanne zuliebe gewöhnte er es sich ab. Ich geh jetzt endlich da rein, denkt er. Ich kaufe Zigaretten, das ist ganz unauffällig. Und dann frage ich nach der Josefstadt. Mehr so beiläufig. Es nützt ja nichts, ich darf jetzt keinen Schiss haben.

Der Fremde überquert die Straße, anscheinend hat er nur auf das Signal der Ampel gewartet. Wieder läutet das Glöckchen an der Tür, ein älterer Mann kommt aus dem Hinterzimmer und nickt ihm freundlich zu.

Gerhard zeigt auf eine Packung der DDR-Marke „F6“.

„Eine Schachtel bitte und ein Feuerzeug.“

„Sehr wohl, der Herr.“

Er überlegt, ob er mit Ostgeld oder lieber mit den Kronen zahlt, die ihm Frau Seewaldt beim Abschied in die Jackentasche steckte. Schließlich legt er die Kronen auf den Tresen.

„Haben Sie vielleicht ... Ich brauche einen Stadtplan. Ich will in die Josefstadt.“

Der hellwache Blick des alten Mannes irritiert ihn, Unbehagen steigt in ihm auf. Er wendet sich ab und schaut durch die kleine Schaufensterscheibe. Draußen ist niemand, kein Mann im hellen Sommerblouson, keine Menschenseele.

„Selbstverständlich, der Herr, nehmen Sie diesen, der ist gut. ... Große Schrift und es ist alles eingezeichnet. Der hier ist zwar billiger, aber ein bisschen ungenau, wenn ich das mal so sagen darf.“

„Ich dachte, die sind alle gleich, liegt das nicht in der Natur der Sache?“

Der Alte macht eine abwägende Handbewegung.

„Oh nein, mein Herr, da gibt es schon gewisse Unterschiede. Aber bei mir haben Sie noch die Auswahl. Am Bahnhof sind sie bereits alle ausverkauft.“

Natürlich ahnt er, weshalb Stadtpläne zurzeit in Prag ausverkauft sind, doch nun will er so schnell wie möglich weg und geht nicht auf die Anspielung des alten Mannes ein.

„Nehmen sie auch Ostmark?“

Der Alte nickt, er schaut dabei aus dem Fenster. Eine Gruppe junger Leute hat sich vor seiner Schaufensterscheibe versammelt. „Deine Landsleute“, sagt er leise. Er streicht das Geld ein, gibt das Wechselgeld heraus, dann beugt er sich über den Tisch und auf seinem gemütlichen Gesicht zeigt sich ein breites Grinsen. „Sie sehen alle gleich aus.“

„Mag sein“, antwortet Gerhard, nickt ihm zu und verlässt schnell den Laden.

Während das Glöckchen hinter ihm klingelt, geht er durch die einförmig gekleidete Menge. Jeanshosen und Jacken, blau verwaschen, soweit das Auge reicht. Im Stillen dankt er Frau Seewaldt für die Verwandlung, die sie ihm angedeihen ließ. Sicher hat ihn nur das Ostgeld verraten.

An der Ecke bleibt er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie schmeckt ihm nicht, ihm wird schwindelig und er wirft sie in den Rinnstein.

Er nimmt die Straßenbahn. Der alte Mann im Laden hat recht, dieser Stadtplan ist gut, da kann nichts schief gehen. Hinter dem Altstädter Ring steigt er aus und liest das Straßenschild, „Staromeski Namesti“. Er beschließt, von hier aus zu Fuß weiterzugehen.

An einem kleinen Verkaufskarren kauft er sich eine Wurst im Brötchen, die sich hier nicht Bockwurst nennt, sondern weltläufig englisch „Hot Dog“. Enttäuscht dreht er den ersten Bissen im Munde um. Die Wurst schmeckt nicht und das Brötchen ist pappig, beides nicht vergleichbar mit der Bockwurst am heimischen Bahnhofskiosk. Gegenüber auf einem kleinen Platz sieht er einen Biergarten. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht. Aber er kann sich hier nicht hinsetzen, auch wenn der Gedanke sehr verlockend ist. Noch weiß er nicht, was ihn erwartet.

Dennoch bleibt er eine kleine Weile im Schatten der Kastanien vor dem Lokal stehen.

Was er hört und sieht, gefällt ihm sehr. Eine kleine Kapelle spielt für die Gäste. Sicher sind es umherziehende Straßenmusikanten, denkt er. Es könnten Roma sein. Klein und gedrungen sind die drei Männer von Gestalt. Sie tragen schwarze, enge Hosen und weiße, bauschige Hemden. Schwere Goldketten sieht er aufblitzen und ihr dunkles langes Haar glänzt in der Sonne, als hätten sie es mit Gel glatt gekämmt. Der Älteste spielt auf einer Geige, er tut es mit Hingabe und Meisterschaft. An seiner Seite steht ein Akkordeonspieler, ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind. Unentwegt schaut er den Älteren an und ab und zu huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Der Dritte gibt mit einem Tamburin den Takt an und singt dazu in einer fremden Sprache. Seine Augen sind geschlossen und er singt seltsam verhalten. Es klingt, als hielte er es mühsam zurück, dieses Große, Wuchtige, Leidenschaftliche, das wie ein Vulkanausbruch über den Platz schallen würde, wenn er es voll aus seiner Kehle ließe.

Er versucht, sich zu erinnern, wann er je in seinem Leben Roma gesehen hat. Es muss in Berlin gewesen sein und sicher ist es sehr lange her, er war wohl noch ein Kind. In Schwedt nennt man sie Zigeuner und das Musizieren auf den Straßen ist dort sicher verboten. Auch in den umliegenden Orten hat er nie Menschen dieses Volkes gesehen. Natürlich nicht, sie sind ja nicht sesshaft, das weiß er und so etwas gibt es nicht in Schwedt und auch nicht in der Kreisstadt Angermünde. Denn wie sollte man ihr Tun und Lassen kontrollieren, wenn sie durch das Land ziehen, wie es ihnen gefällt.

Ein kleines Mädchen unterbricht seine Gedanken. Sie trägt ein buntes Sommerkleid und ihre Augen blitzen fröhlich. Verlegen kramt er in seiner Tasche nach den Kronen und legt etwas in den Hut, den sie ihm hinhält. Die Kleine macht einen niedlichen Knicks und läuft schnell davon.

Er wendet sich ab, um nun endlich Hans Rosenbaums Adresse zu finden. Schon zwei Straßen weiter scheint er am Ziel zu sein. „Parizska“, liest er auf dem Straßenschild, „Pariser Straße“. Dort gegenüber, das muss die Synagoge sein, Herr Seewaldt sprach von ihr. Er sieht den Stern der Juden über dem Tor, darunter fremde Schriftzeichen. Das ist sicher Hebräisch. Ob man dort wohl hineingehen kann? Sicher nicht, es ist ein Gotteshaus für die Juden. ... In Schwedt gibt es keine Juden, so wie es auch keine Roma gibt und keine Männer, die einen Schottenrock tragen. Das passt nicht, für all diese Menschen wäre sicher kein Platz in seiner Heimatstadt, sie gehören da nicht hin. Sie sind einfach zu anders. ...

Auf einmal weiß er, warum es mit ihm soweit gekommen ist, dass er hier durch Prag läuft und in die Botschaft will. Es geht nicht nur um Susanne. Schon immer war er ein Außenseiter, war anders als seine Kollegen und Nachbarn und anders als seine Eltern. Vielleicht hat Frau Seewaldt recht, als sie sagte, er wäre ein Individualist.

Hier in Prag sieht er sein Leben aus einer neuen Perspektive. Stets fühlte er sich auf eine latente Weise schuldig, weil er nicht so war, wie sie ihn haben wollten. Sie gaben die Norm vor, die Norm für ein sozialistisches Leben. Die Lehrer, sein Vater und die Genossen im Betrieb, sie alle schienen überzeugt zu sein, dass nur richtig ist, was sie für richtig hielten.

Nie wehrte er sich gegen all diese Bevormundungen, vielmehr wandte er sich ab, blieb für sich und schlängelte sich still an ihrer Doktrin vorbei.

„Wenn man sich nicht wehrt, machen sie mit dir, was sie wollen“, murmelt er und ballt seine Fäuste in den Taschen. Doch dann schaut er hinauf in den blauen Himmel und eine erleichternde Gewissheit breitet sich in ihm aus.

„Es ist vorbei. Egal, was auf mich zukommt, ich geh keine Kompromisse mehr ein.“

Gleich neben der Synagoge findet er die Nummer fünf, er ist am Ziel. Bevor er hineingeht, schaut er sich noch einmal um, jedoch sieht er nichts Verdächtiges und steigt schnell die Treppe hinauf. Alles ist so, wie Herr Seewaldt es ihm beschrieben hat. Die Wohnungstür befindet sich hinter einem Gitter, dieser Herr Rosenbaum muss ein ängstlicher Mensch sein.

Auf sein Klingeln öffnet sich die Tür und ein alter Mann erscheint. Er trägt ein Käppchen auf seinem kahlen Kopf, sein rotblonder Bart reicht ihm bis auf die Brust. Wohlwollend lächelnd schaut er Gerhard an und schweigt.

„Guten Abend. Ich wollte zu Hans Rosenbaum. ... Frau Seewaldt schickt mich. Ich bin Gerhard Erdmann.“

„Und was willst du bei mir?“

Hans Rosenbaum reckt sein Kinn und zieht die rechte Braue hoch. Er sieht aus, als würde er sehr gespannt auf seine Antwort warten.

„Ich will einen Fiaker mieten.“

Laut dröhnt Hans Rosenbaums Lachen durch den stillen Flur.

„Aber junger Freund“, gluckst er, „woher soll ich einen Fiaker nehmen? Geschweige denn ein Pferdchen! Nun sag mir, wie soll ich das denn hier in der Wohnung halten? Und was das kostet, der ganze Hafer! Bei Hans Rosenbaum kannst du höchstens ein Fahrrad mieten. ... Ha, ha, ha! Nun komm endlich rein, ich warte schon den ganzen Nachmittag auf dich. Wo hast du dich denn herumgetrieben? Und ich sitze hier und mache mir Sorgen!“

Hans Rosenbaum drückt auf einen Knopf. Staunend schaut er zu, wie das Gitter im Fußboden verschwindet.

„Komm erst mal in die Küche, sicher hast du Hunger.“

Gerhard seufzt vor Erleichterung, nachdem er am Küchentisch Platz genommen hat.

„Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

„Ja, nicht wahr?“ Der Schalk blitzt aus den Augen des alten Mannes. „Das kann ich gut, das ist eine Spezialität von mir.“

Schwerfällig steht er auf und geht zum Küchenschrank, stellt Brot, Butter und Käse auf den Tisch, holt Bier aus dem Kühlschrank und Gerhard sieht, dass er hinkt.

„Danke für das Essen. Wann soll es denn losgehen?“

„Morgen früh. Jetzt um diese Zeit sind alle Fiaker ausgebucht.“

Hans Rosenbaum schneidet mit ernster Miene das Brot, dann schaut er Gerhard an und ein kleines verschmitztes Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht.

„Und außerdem ist um diese Zeit zu viel Verkehr“, flüstert er, „wir wollen ja nicht die Pferde scheu machen, nicht wahr?“

Nach dem Abendbrot steigen sie hinauf auf den Dachboden und sein Gastgeber öffnet die Tür zu einer kleinen Mansarde.

„Es ist nicht das „Hilton“, mein Sohn. Aber ich denke, für eine Nacht geht es.“

„Aber ja, natürlich. Und vielen Dank!“

Der alte Mann öffnet ein kleines Fenster. „Komm und schau dir das an.“

Der Blick über die Dächer der goldenen Stadt erscheint ihm märchenhaft schön und raubt ihm für Sekunden den Atem, so dass er hörbar die Luft ausstößt.

„Einfach fantastisch. Das ist ja traumhaft.“

„Bist du zum ersten Mal in Prag?“

„Ja. Ich verreise eigentlich selten, ich mag es lieber ruhig. Meist gehe ich am Wochenende angeln. Aber ich habe schon viel über Prag gelesen, ich interessiere mich für Architektur. Na ja, wo ich herkomme, da gibt es nur Plattenbauten. Das Alte ist im Krieg zerbombt worden und den Rest hat man abgerissen.“

„Willst du deshalb fort?“

„Ja, auch deshalb. Alles ist so grau bei uns zu Hause, so langweilig. Aber am wichtigsten ist mir meine Freiheit. Ich will ein freier Mensch sein.“

„Freiheit. Welch großes Wort, junger Mann. Wer ist schon frei? Überall auf der Welt muss man sich den Gegebenheiten anpassen, um zu überleben. Die Frage ist nicht, wie viel Freiheit der Einzelne braucht, sondern ob er bereit ist, Kompromisse einzugehen. Wo aber ist die Grenze? ... Eigentlich ist das ganz einfach mit der Freiheit, so wie alles Wahrhaftige schlicht und einfach ist. Der wahre Freie gehorcht einzig und allein seinem Gewissen. Glaube mir, wenn du das tust, dann bist du frei, auch wenn du in einem Gefängnis sitzt. Die einzig wahre Freiheit ist die innere Freiheit. Niemand kann dein Herz, deine Seele und deinen Geist einkerkern, auch wenn dein Leib hinter Stacheldraht sitzt. ... Nun schau mich nicht so an, junger Freund! Sicher denkst du jetzt, der meschugge Alte hat gut reden, er hat sein Leben gelebt. Aber ich, ich bin der junge Held und will hinaus in die Welt! Das sollst du auch. Doch es wird der Tag kommen, da wirst du verstehen, wovon ich rede. ... Weißt du, es ist seltsam. Dort drüben, da wo du hin willst, kann jeder nach seiner Fasson leben. Aber sie tun es nicht. Sie sind geradezu süchtig danach, sich in Abhängigkeiten zu begeben, Klischees zu erfüllen und sich anzupassen. Aber lassen wir das für heute, du musst schlafen, wir brechen morgen sehr früh auf. Gute Nacht!“

Hans Rosenbaum kann in dieser Nacht nicht schlafen. Er sitzt am Küchentisch und denkt an Herfried Seewaldt. Der Sohn seiner Cousine Eva stand ihm so nah wie ein eigenes Kind.

Eine Szene steigt aus seinem Gedächtnis auf. Seine Frau Martha steht am Herd und füllt ihnen die Teller voll. Herfried protestiert lachend und behauptet, er hätte schon drei Kilo zugenommen, weil alles so lecker schmeckt. Und überhaupt würde sie die besten Klöße der Welt machen. Martha aber meint grummelnd, wie soll denn einer zunehmen, wenn er sich den ganzen Tag in der Stadt herumtreibt. ... Seine Frau Martha starb im letzten Winter an einer Lungenentzündung, zwanzig Jahre nach Herfrieds Tod.

Er steht am Fenster, schaut hinab in den kleinen Hof und denkt an die, die vor ihm gegangen sind. Schließlich geht er ins Wohnzimmer und schaltet die Stehlampe an. Ein verblichenes, amerikanisches Magazin in deutscher Sprache liegt vor ihm. Er weiß, welche Seite er aufschlagen muss und er spürt sein altes Herz klopfen, als er über dem Artikel Herfrieds Bild sieht.

„Der Tag, an dem die Panzer kamen. Ein Bildbericht von Herfried Seewaldt.“

Am Mittag des folgenden Tages sahen sie ihn zum letzten Mal. Lebhaft war er immer, aber an diesem Tag schien er geradezu atemlos. Er nahm sich nicht die Zeit, mit ihnen zu essen und lief nervös in der kleinen Küche auf und ab. Aufgeregt gestikulierend berichtete er, was auf den Straßen geschehen war.

„Geht um Gottes Willen nicht vor die Tür“, sagte er zu Martha und dann nahm er sie in den Arm.

„Und du, Junge“, antwortete sie ihm mit bebender Stimme, „sei mir bloß nicht so waghalsig. Pass gut auf dich auf!“

„Mach ich, Tante Martha“, rief er ihr zu, schon unten am Treppenpodest und wie immer in Eile. „Was soll mir schon passieren, außerdem ist der Spuk bald vorbei.“

Du hattest recht, Herfried, der Spuk war schnell vorbei. Allerdings mit einem anderen Ausgang, als wir es uns erhofft hatten. Der Tag, an dem die Blüten des Prager Frühlings von einem Hagelschauer zerstört wurden, war jener Tag, an dem Herfried ermordet wurde und man ihn tot aus der Moldau barg. Seine Filme und Aufzeichnungen aber verließen auf wundersame Weise das Land. Dafür sorgte Hans Rosenbaum und so entstand dieser Artikel.

Hans nimmt seine Brille ab und reibt sich die müden Augen.

Und nun, so denkt er, schläft dein Cousin dort oben in deiner Mansarde. Eva hat recht, er sieht dir sehr ähnlich. Ich glaube, ihr hättet euch gut verstanden.

Gerhard Erdmann, Sohn eines Offiziers und offensichtlich tüchtig aus der Art geschlagen, will morgen in die Botschaft. Was wohl sein Vater dazu sagt? Und wenn er dann auch noch hört, bei wem er in Prag übernachtet hat, na das wird was geben in Schwedt an der Oder!

Karl-Heinz Erdmann. ... Nahtlos vertauschte er nach dem Krieg die Fronten, schlüpfte von einer Uniform in die andere, wechselte seine Gesinnung so schnell wie andere ihr Hemd. Wobei man sagen muss, die Verwandlung war rein äußerlich nicht besonders groß. Die Uniform der Nationalen Volksarmee hat eine geradezu penetrante Ähnlichkeit mit der Naziuniform. Und der Gerechtigkeit wegen muss man dem Mann zugutehalten, dass er sich, bevor er sich neuen militärischen Herausforderungen stellte, in russischer Gefangenschaft einer ordentlichen Gehirnwäsche unterzog. Nach mehreren Waschgängen verwandelte sich altes muffiges Braun in strahlend frisches Rot und anschließend wurde es im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ glatt gebügelt. Dort erhielt Karl-Heinz Gelegenheit, der Welt zu erzählen, welch ein guter Mann doch Stalin war. Und zwar solange, bis er es selbst glaubte.

Hans Rosenbaum geht zu Bett. Eine Woge köstlichster Genugtuung hüllt ihn ein wie ein warmes Tuch und er schläft in dieser Nacht so tief und gut wie schon lang nicht mehr.

Auch Gerhard Erdmann schläft nun oben in der kleinen Mansarde. Zuvor jedoch hat er einen Wachtraum, eine Vision seiner Wünsche zieht in farbigen Bildern an ihm vorbei. Susanne sieht er im weißen Hochzeitskleid. Sie schneidet die Torte an, ein dreistöckiges Monstrum aus Marzipan. Sie liebt Marzipan über alles. Und er sieht seine Mutter, wie sie lacht und wie stolz sie auf ihn ist. Sie trägt ihr Lieblingskleid, marineblau mit kleinen weißen Tupfen.

Allein ist sie gekommen und freut sich, dass sie die weite Reise ganz allein geschafft hat, denn ihr Mann Karl-Heinz weilt nicht mehr unter den Lebenden. Er starb an einem Herzinfarkt. ...

„Na ja, das wünsche ich ihm ja nun doch nicht“, flüstert er, bevor er einschläft.

„Beste Zeit, um einen Fiaker zu mieten“, meint Hans Rosenbaum.

Gerhard schaut auf seine Armbanduhr, es ist Viertel vor sechs und die Josefstadt schläft noch. Fast könnte man glauben, die Zeit wäre stehengeblieben. Kein Autolärm, keine Straßenbahn, die Straße gehört den Tauben, die eifrig nach den Bröckchen des gestrigen Tages suchen.

Ein junger Mann kommt aus einer Gasse, sein Äußeres veranlasst Gerhard, ihm hinterherzuschauen. Er trägt einen langen schwarzen Gehrock und einen steifen Hut, Schläfenlocken fallen über seine Wangen. Der Mann geht in die Synagoge. Gerhard spürt, dass Hans Rosenbaum ihn beobachtet. Verlegen wendet er seinen Blick ab.

„Und nun? Gehen wir zu Fuß oder nehmen wir den Bus?“

„Wieso mit dem Bus?“ Hans Rosenbaum grinst. „Wolltest du nicht einen Fiaker mieten? Guck mal, da kommt er schon!“

Tatsächlich hört man das näherkommende Geräusch von Hufschlägen. Ein Zweispänner fährt die Straße hinauf und hält direkt vor ihnen. Hans redet mit dem Kutscher, dann wendet er sich an Gerhard.

„Nun komm schon, steig ein, Junge. Zeit ist Geld und Geld ist knapp.“

„Ach so, jetzt verstehe ich, wir tarnen uns als Touristen. Und ich dachte, das mit dem Fiaker ist ein Witz!“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

Hans Rosenbaum lacht, doch dann verschwindet sein Lachen jäh. Aufmerksam schweift sein Blick über die leere Straße.

„Warum sind wir Juden wohl so erfindungsreich? Heutzutage nennt man das kreativ! Na, was denkst du, Gerhard Erdmann?“

„Ich weiß es nicht“, murmelt er verlegen, „ich habe da so meine Gedanken, aber ich will nichts Falsches sagen.“

„Nur zu, du musst dich jetzt daran gewöhnen, dass man auch mal was Falsches sagen darf!“

„Vielleicht hat es was mit der Verfolgung der Juden zu tun. Man muss erfindungsreich sein, wenn man überleben will.“

„So ist es! Schreib dir das hinter die Ohren, mein Sohn. Schau, da vorn ist der alte jüdische Friedhof.“

„Ich habe darüber ein Buch gelesen, über dieses Grab vom Rabbi Löw.“

„Rabbi Löw“, sagt Hans und es klingt fast ein wenig verächtlich. „Und was weißt du noch über unser Volk? Was hat man euch gelehrt in den Schulen der DDR?“

„Wir sprachen im Geschichtsunterricht über die Vernichtungslager. ... Über all diese schrecklichen Dinge.“

Worauf will der Alte bloß hinaus, denkt er, und warum macht mich das so verlegen? Ich kann doch nichts dafür.

„Ja, ja über die Lager! Aber was haben sie euch über unser Volk erzählt, über unsere Religion und Kultur? Herzlich wenig, denke ich. Und das ist nicht gut. Gar nicht gut.“

Nun schweigen sie beide. Grau ist der Morgen, die goldene Stadt wartet noch auf die Sonne, um sich in voller Pracht zu zeigen. Die Fahrt endet in einer Sackgasse. Während Hans den Kutscher entlohnt, schaut Gerhard sich um. Man könnte meinen, in einem der alten, prachtvollen Häuser findet ein großes Treffen statt, ein Treffen der Einwohner des Nachbarstaates DDR. Aus allen Bezirken sind sie nach Prag gekommen, man sieht es an den Kennzeichen der geparkten Wagen.

„Lassen sie die Autos einfach hier stehen?“

Hans Rosenbaum nickt.

„Aber das kann man doch nicht machen, die kosten ein Heidengeld. Und auf einen Trabant muss man sechzehn Jahre warten, wenn man keine Beziehungen hat. Einen Gebrauchten kann man sich erst recht nicht leisten, die werden immer teurer auf dem Schwarzmarkt. Die können sie doch nicht einfach hier stehenlassen, das sind doch Werte!“

„Werte, na du hast Nerven! So manch einer hat sein Leben gelassen, weil er noch schnell sein Hab und Gut vor dem großen Brand retten wollte. Da könnte ich dir Geschichten erzählen. ... Nun, vielleicht ein andermal, mein Lieber, wir werden uns gleich verabschieden. Pass auf, von jetzt an sagst du kein Wort mehr. Nicht nur die Miliz durchkämmt regelmäßig die Straßen, am gefährlichsten sind die in Zivil. Du weißt schon, wen ich meine. Siehst du die Mauer dort vorn? Gleich bist du drin.“

Hans biegt in eine Seitengasse ein. Es ist absolut still, sie begegnen keiner Menschenseele. Gerhards Herz klopft so laut, dass er sein Blut in den Ohren rauschen hört.

Schließlich bleibt Hans vor einem Tor stehen. Hinter einem kunstvoll geschmiedeten Gitter stehen kleine Apfelbäumchen, an denen rotbackige, reife Früchte leuchten. Es duftet nach Jasmin. Morgentau glitzert im Gras und man hört den Gesang einer Amsel.

„Das ist schön“, murmelt Gerhard, „ein richtiges kleines Paradies.“

Hans öffnet den linken Flügel des Tores und bittet ihn mit einladender Geste herein.

„Trau dich! Worauf wartest du noch? Ein Paradies ist es nicht, da muss ich dich enttäuschen. Aber es ist ja nur eine Durchgangsstation.“

Er zieht einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schließt hinter ihnen ab. Sie gehen einen schmalen Kiesweg entlang, der an einer Mauer endet. Seine Hand gleitet über einen bronzenen Türklopfer. Er stellt einen grimmigen Löwenkopf dar, aus dessen Maul ein Ring baumelt. Nun erst sieht Gerhard, dass sie vor einer kleinen Pforte stehen, die man im Gemäuer kaum wahrnimmt. Sie verschwindet fast ganz hinter Efeu. Verblüfft schaut er zu, wie Hans einen Schraubendreher aus seiner Tasche holt und den Löwenkopf abmontiert.

Eine Sprechanlage kommt zum Vorschein und Hans drückt auf einen Knopf. Seltsame Geräusche dringen an Gerhards Ohr und er ist sich nicht sicher, ob er ein Flugzeug hört oder einen Insektenschwarm.

„Hörst du sie? Es werden jeden Tag mehr, sie haben schon Zelte im Hof aufgebaut.“

Gerhard nickt stumm. Alles erscheint ihm nicht real, nicht zu ihm gehörig. Ihm ist, als würde er einen Film sehen.

Ein Mann steht plötzlich vor ihnen und redet mit Hans. Er spricht von chaotischen Zuständen und sagt, dass er nur noch damit beschäftigt wäre, die Schäden zu begrenzen.

Gerhard erwidert seinen Willkommensgruß mit einem schüchternen „Guten Tag“, mehr fällt ihm nicht ein.

Hans verabschiedet sich von ihm.

„Wenn du mal in Wien bist. ... Kann ja sein, Junge, jetzt wo du in die große weite Welt kommst. ... Dann miete dir einen Fiaker und denk an den Alten in Prag!“

„Ich vergesse Ihnen das nie“, flüstert Gerhard, „was Sie für mich getan haben, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Vielen tausend Dank noch mal!“

Hans umarmt ihn. „Ist ja gut“, sagt er, „nicht übertreiben. Los, geh endlich rein.“

Sein Blick wird dunkel und bevor er sich abwendet, murmelt er etwas. Gerhard versteht es nicht, doch es klingt, als würde Hans Rosenbaum ihm einen Segen mit auf den Weg geben.

Er sitzt auf einer Bank im Flur des Seitenflügels und wundert sich, wie erstaunlich ruhig es hier drinnen ist. Draußen auf der Wiese tobt das Leben und soeben stieg er eine Treppe hinauf, auf der die Leute dicht an dicht hockten und Suppe aus Plastikschalen löffelten. Warten soll er hier, hat man ihm gesagt. Gleich käme jemand, um ihn einzuweisen. Er schaut aus dem Fenster, sein Blick schweift über die Dächer der Zelte. Kinder spielen zwischen ihnen Verstecken und Frauen hängen Wäsche auf. Ein Toilettenhaus sieht er, davor stehen sie in langer Schlange an und ihre Füße versinken knöcheltief im schlammigen Boden. Vom gepflegten Rasen ist nichts mehr übriggeblieben.

„So ist das“, sagt plötzlich eine Frauenstimme hinter ihm, „nun stehen sie nicht mehr nach Bananen an, sondern um ihre Notdurft zu verrichten. Wie nennt man so etwas? Vielleicht Ironie des Schicksals. Und Sie? Worauf warten Sie?“

Er mustert sie überrascht, ihr Kommen hat er nicht bemerkt. Eine kleine zierliche Frau steht neben ihm am Fenster, ihr rotes Haar fällt wie eine Feuerlohe über ihre Schultern.

„Ich bin neu hier und warte auf meine Einweisung.“

Ihr Blick irritiert ihn. Ich lasse mich nicht auf ein Gespräch ein, denkt er. Bloß nicht so viel reden, sie sind überall, sicher auch hier.

„Na dann ... Dann warten Sie mal schön. Man sieht sich.“

Eine Stunde später hat er alles geklärt und läuft mit zwei Wolldecken im Arm über den Hof, um sein Zelt zu suchen. Vorn ist es laut, ein Kind schreit und Frauen kreischen. Jemand wuchtet gerade einen Kinderwagen über den Zaun. Er schaut schnell weg. Ich will das nicht sehen, denkt er, ich muss mich jetzt ausruhen, ich kann nicht mehr.

Obwohl es noch heller Nachmittag ist, legt er sich auf seine Pritsche. Er ist allein, alle sind am Zaun. Die Bilder seiner Flucht steigen in ihm auf. Wieder liegt er im nächtlichen Wald in einem alten Schützengraben und hört das knackende Geräusch von Holz, gefolgt von Tönen, die sich anhören wie menschliche Stimmen.

An Schlaf ist jetzt nicht zu denken. Er steht auf, zieht seine Schuhe an und während er am Eingang des Zeltes steht, erinnert er sich an die Zigaretten in seiner Tasche. Diesmal raucht er mit Genuss und er spürt die beruhigende Wirkung des Tabaks.

Die Stimme der rothaarigen Frau reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie sitzt vor dem Zelt gegenüber auf einer Kiste, umringt von einer Schar Kinder und erzählt ihnen etwas. Vorsichtig geht er ein paar Schritte näher, um sie zu verstehen, dabei achtet er darauf, nicht von ihr gesehen zu werden. Ihre Stimme klingt warm und melodisch. Sie erzählt mit guter Betonung, nicht ohne eine gewisse Theatralik und er denkt, vielleicht ist sie Schauspielerin. Viele Künstler verlassen jetzt das Land. Es soll Auftrittsverbote geben, wenn sie sich nicht regimetreu verhalten. Er erinnert sich an ein Fernsehinterview im ZDF mit einer in den Westen geflüchteten DDR-Schauspielerin.

Ein kleines Mädchen klatscht in die Hände, die anderen Kinder machen es ihr nach. Den Sinn ihrer Worte hat er nicht verstanden, er lauschte dem Klang ihrer schönen Stimme und sah auf ihre Hände, deren anmutige Gesten ihre Erzählung begleiteten.

„Und nun das Märchen vom Feuervogel! Erzähl doch noch mal vom Feuervogel, bitte!“

Wieder klatscht das kleine Mädchen in die Hände. „Bitte, bitte, das ist so schön.“

„Aber das habe ich doch heute schon erzählt, wollt ihr nicht lieber etwas anderes hören?“

„Es ist aber so schön! Du brauchst ja nur den Schluss zu erzählen, der ist am allerschönsten!“

„Na gut, noch mal den Schluss:

Endlich fand Marlene mitten im tiefsten Wald ihren geliebten Feuervogel. Wie schmerzlich hatte sie ihn vermisst und wie groß war ihre Freude! Doch was war mit ihm geschehen? Ihr fröhlicher Feuervogel, der sonst den lieben, langen Tag die wundervollsten Melodien zwitscherte, steckte müde den Kopf in sein Gefieder und nicht ein einziger Laut drang aus seinem Schnabel. Marlene nahm ihn auf den Arm und streichelte behutsam sein buntes Federkleid.

Mein herzallerliebster Feuervogel, so sprach sie zu ihm, endlich habe ich dich gefunden. Überall habe ich nach dir gesucht. Warum hast du mir das angetan, warum hast du mich verlassen? Ein ganzes, langes Jahr warst du fort und ich war krank vor Sorge um dich.

Es tut mir leid, sagte der Feuervogel, ich weiß, wie sehr du mich liebst und ich liebe dich auch so sehr, von hier bis zum Mond liebe ich dich! Aber die Sehnsucht trieb mich hinaus in die Welt. Alles erschien mir so eng, auch wenn ich in deinem Palast meine Körnchen von goldenen Tellern picken konnte. Fliegen wollte ich, nicht nur einmal kreuz und quer durch die Orangerie zur Belustigung der Diener, sondern fliegen bis zum Horizont und über das blaue Meer bis zum Morgenland. Freiheit wollte ich schmecken, ich konnte nicht anders.

Erzähl mir doch, mein Feuervogel, sagte Marlene, warst du wirklich im Morgenland? Und ist es wahr, dass dort jeden Tag die Sonne scheint und die Bäume sich unter der Last der köstlichsten Früchte biegen, so dass sie den Leuten von allein in den Mund fallen?

Oh ja, antwortete der schöne Vogel und Marlene hörte einen tiefen Seufzer, der aus seiner Brust kam. Auch sah sie unter dem Gefieder sein kleines Herz unruhig pochen, ganz als würde dort ein Vogelkind sitzen. Es ist sehr schön dort, Marlene, sagte er. Und wenn ich hierbleiben darf, wenn du mich nun noch haben willst, obwohl ich dir so untreu war, werde ich dir alles ganz genau berichten.

Ach du dummer Vogel, sagte die Prinzessin. ... Zwei Tränen rannen dabei über ihre Wangen und sie sahen aus wie Perlen, so fein schimmerten sie in der Sonne. Nun ja, es waren die Tränen einer Prinzessin. ... Natürlich darfst du wieder in den Palast, denn ohne dich langweile ich mich furchtbar und es ist mir ganz bange ums Herz. Oder willst du lieber wieder ins Morgenland, wenn es dort doch so schön ist? Dann musst du mich aber diesmal mitnehmen.

Nein, meine liebe Marlene, antwortete ihr der Feuervogel, ich will am liebsten bei dir bleiben! Wie habe ich mich gesehnt nach der Heimat! Wunderschön ist es in der südlichen Fremde, und es gibt dort keinen eisigen, kalten Winter, der uns armen Vögeln zu schaffen macht. Doch glaube mir, das Brot der Fremde schmeckt bitter, besonders wenn man allein ist. Was nützt mir alle Freiheit dieser Welt, wenn ich nicht mehr sehe, wie hinter dem Schlossturm die Sonne untergeht und meine Prinzessin Marlene im Schein des Abendrots am Fenster steht und ihr goldenes Haar bürstet. Was soll ich mit der Freiheit anfangen, wenn ich sie nicht mit dir teilen kann?

Oh, antwortete die Prinzessin, das hast du aber schön gesagt. Sie beugte sich zu ihm hinab und küsste ihn mitten auf seinen kleinen Schnabel. Da schüttelte das Vögelchen sein leuchtendes Gefieder und auf einmal, hast du nicht gesehen, stand ein stattlicher, junger Mann vor Marlene.

Wie groß war nun die Freude im Schloss und sie hörten, dass er ein verzauberter Prinz gewesen war, den nur die Liebe einer Prinzessin erlösen konnte. Als er sie verließ, behielt Marlene die Liebe zum kleinen Vöglein in ihrem Herzen und vergaß ihn nie. Dadurch aber konnte der böse Zauber gebannt werden, der den jungen Königssohn in einen Feuervogel verwandelt hatte und bald hielten sie fröhliche Hochzeit.

Ihre Hochzeitsreise führte sie mit einem Schiff in das Morgenland, damit auch Marlene all die Herrlichkeiten dort sehen konnte. Aber danach, liebe Kinder, da blieben sie in ihrem Schloss, bis an ihr Lebensende, denn in der Heimat ist es am schönsten.“

Die Kinder sind mäuschenstill und man sieht ihnen an, dass sie noch immer im Wald bei der Prinzessin Marlene und ihrem Feuervogel sind. Auch die Erzählerin schweigt nun und malt mit ihren Schuhen Kreise in den schlammigen Boden.

Ein Kind, denkt Gerhard, sie ist selbst wie ein Kind, so zerbrechlich sieht sie aus, so verletzlich.

Ein kleiner Junge fragt die rothaarige Kindfrau, was Heimat ist. Ihre Hände greifen nach den Händen des Kindes und sie sucht seinen Blick.

„Schau mich an“, sagt sie, „magst du mich ein bisschen leiden?“

Der kleine Junge nickt heftig, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Sehr!“

„Und ich mag dich auch sehr. Siehst du, so ist das mit der Heimat. Wo man dich mag und du dich sicher und geborgen fühlst, wo es dir gut geht, da ist deine Heimat.“

„Aber Mama sagt, die Heimat ist da, wo die Wiege stand und nirgends anders.“

„Ich kann deine Mama gut verstehen. Sie ist müde. ... Hab ein bisschen Geduld, wenn all das hier zu Ende ist und ihr ausreisen könnt, was denkst du, wie sie sich freuen wird. Ihr werdet eine neue, gute Heimat finden.

„Und das Brot? Ich meine das Brot in der Fremde, es schmeckt bitter. Das hast du doch gesagt, oder?“

„Das mag wohl sein, wenn man ganz allein in die Fremde geht, so wie der Feuervogel in meiner Geschichte. Dann hat man es in der ersten Zeit sicher nicht leicht. Aber du bist doch nicht allein hier, nicht wahr?“

„Ein bisschen schon. Meine Oma ist nicht hier. Sie wollte nicht mit.“

Wortlos nimmt sie den Kleinen in den Arm. Gerhard aber dreht sich um und geht. Das ist mehr, als er ertragen kann. Das rührselige Märchen, die Tränen des kleinen Jungen, der seine Oma vermisst und die rothaarige Frau, die nun neben ihm im Schlamm kniet und etwas in sein Ohr flüstert.

Tränen rinnen über sein Gesicht. Es ist ihm gleich, ob jemand sieht, dass er weint. Er spürt eine große Erleichterung, seine Tränen spülen fort, was in den letzten Tagen wie ein Stein auf seinem Herzen lag. In der Jacke des fremden, jungen Mannes findet er ein Taschentuch, es riecht tröstlich nach Lavendel und erinnert ihn an Frau Seewaldt.

„Ist es so schlimm?“

Die rothaarige Frau steht plötzlich an seiner Seite und legt ihre Hand auf seinen Arm.

„Ach, es ist nichts. Ich glaube, ich habe wohl eine kleine Bindehautentzündung, ich muss irgendwo im Durchzug gestanden haben.“

„Ich verstehe. Männer dürfen nicht weinen. Lassen Sie es ruhig raus, es erleichtert. Ich kenne das. Als ich vor drei Wochen hier ankam, da habe ich geheult wie ein Schlosshund.“

„Vor drei Wochen? Solange kampieren Sie schon hier? Wie haben Sie das ausgehalten, die vielen Menschen, der Lärm und der ganze Dreck!“

„Zu Anfang war es nicht so schlimm. Aber nun werden es immer mehr. Doch es dauert nicht mehr lange, dann lassen sie die Ersten ausreisen. Hast du von den Montagsdemonstrationen gehört? Die Menschen gehen auf die Straße, jeden Montag, überall, nicht nur in Leipzig, Dresden und Berlin, auch in den kleinen Städten.“

Gerhard zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Eigentlich interessiere ich mich nicht sehr für Politik.“

„Aber warum bist du dann hier? Lass mich raten, sicher willst du drüben ein schickes Auto fahren oder Urlaub machen Gott weiß wo!“

„Nein, es ist eine Familienangelegenheit. Ehrlich gesagt möchte ich nicht darüber reden.“

„In Ordnung. Wenn das so ist ... Na dann, bis ein andermal.“

Er sieht, wie sie langsam über den Hof schlendert. Sie bleibt stehen und redet lebhaft mit einer jungen Frau und er denkt, ich kann gar nicht vorsichtig genug sein. Er weiß nicht, warum er den vagen Verdacht hat, die Staatssicherheit hätte sie hier eingeschleust, es ist ein Bauchgefühl, mehr nicht.

„Na, alles in Ordnung? Du bist neu hier, nicht wahr?“

Ein junger Mann steht vor ihm. Er hat einen alten Parka an, der dem seinigen, den er nicht mehr trägt, sehr ähnelt.

„Ganz neu“, antwortet er und verspürt nicht die geringste Lust, sich jetzt auf ein weiteres Gespräch einzulassen.

„Ich will ja nicht aufdringlich sein“, sagt der junge Mann und schaut ihn ernst an. „Kennst du die Rothaarige, mit der du eben geredet hast?“

„Nicht wirklich. Eigentlich gar nicht. Ich habe zugehört, als sie den Kindern ein Märchen erzählte.“

„Märchen, das ist gut! Pass auf, es gibt hier Einige, die reden zu viel. Und mit der Wahrheit nehmen sie es auch nicht so genau. Vor denen sollte man sich in Acht nehmen. Entschuldige, wenn ich dich voll labere, aber du bist mir sympathisch, Kumpel.“

„Danke, nett von dir. ... Meinst du wirklich, sie ist von der Firma?

„Möglich ist alles. Was hat sie dir denn so erzählt?“

„Ach, nichts Besonderes.“

„Angeblich soll sie Lehrerin gewesen sein, irgendwo in Thüringen. Sie erzählt hier überall, dass sie Berufsverbot hat. Glaubst du so was? Das ist doch Käse! Seit wann gibt es denn in der DDR Berufsverbot!“

„Keine Ahnung. Ich bin Schlosser, Handwerker braucht man immer.“

„Lehrer auch. Auf jeden Fall ist sie nicht ganz koscher, das sag ich dir.“

„Wenn du meinst. Ich lass mich sowieso mit niemand ein, ist nicht meine Art. Tschüs denn und vielen Dank!“

Früh ist es dunkel geworden an diesem Herbstabend und dicht gedrängt stehen sie vor dem Balkon. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter, es wird gelacht und gelärmt. Ein Ruf pflanzt sich fort über die Köpfe, immer lauter wird er, schwillt an zum vielstimmigen Chor, kraftvoll und fordernd schallt er über den Hof.

„Rauskommen, rauskommen, rauskommen!“

Doch dann ist es still. Es ist eine magische Sekunde, in der ein jeder die Energie des anderen spürt und sie mit der eigenen verbindet, um sie in Kraft umzuwandeln.

Wie sie vor dem Balkon stehen und den Mann anschauen, der jetzt dort oben im Licht erscheint wie ein Messias. ... Sie ahnen bereits, dass endlich der Moment gekommen ist, der ihrem Warten ein Ende setzt.

„Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise ...“

Der augenblicklich folgende Lärm schluckt jedes weitere Wort. Gerhard aber findet sich in den Armen eines Fremden wieder, der sich mit ihm jubelnd im Kreise dreht.

Es wird geweint und gelacht und er denkt, wenn es wirklich wahr ist und wir alle ausreisen dürfen, dann hat dieser Mann auf dem Balkon mit seiner Verkündigung etwas Großes erreicht. Nie zuvor rüttelte jemand so vehement an den Grundfesten der DDR.

„Das ist das Ende!“, ruft jemand. „Diesen Staat wird es bald nicht mehr geben, weil er keine Bürger mehr hat! Ein Staat ohne Bürger, ha! Wie gönne ich es ihnen!“

Am nächsten Tag diskutieren sie über die Dinge, die da kommen sollen. Gerüchte machen die Runde. Sie werden alle mit dem Zug ausreisen, sagt man und die Fahrt wird über Dresden gehen. Er hört es und beschließt, dass er ganz sicher nicht in einen Zug steigen wird, der durch das Hoheitsgebiet der DDR fährt.

„Überlege es dir gut“, sagt der junge Mann im Parka zu ihm, „vielleicht ist es unsere einzige Chance, keiner weiß, was kommt. Vielleicht marschieren schon morgen die Russen ein, so wie damals. Genau hier in Prag, du weißt schon, 1968.“

„Quatsch“, mischt sich ein Dritter ein, „die Zeiten sind vorbei, da macht Gorbatschow nicht mit!“

Die Diskussionen gehen hin und her, stundenlang werden allerlei Möglichkeiten in Betracht gezogen.

„Und wenn sie nun den Zug stoppen“, meint eine Frau. „Stellt euch vor, sie holen uns da raus, dann sind wir auf ihrem Territorium und so gut wie vogelfrei! Die dürfen das, noch sind wir ja DDR-Bürger!“

„Ach, das ist doch lachhaft“, ereifert sich der junge Mann im Parka, „das können sie sich gar nicht mehr leisten, die ganze Welt schaut ihnen jetzt auf die Finger. Wer nicht will, kann auch über Österreich raus, das habe ich heute Morgen gehört. Raus kommt auf alle Fälle jeder, es ist nur eine Frage der Zeit.“

„Na klasse, also Weihnachten will ich hier nicht feiern.“

„Geh doch Heiligabend zurück, das merkt doch keiner mehr, jetzt geht doch sowieso alles drunter und drüber. Dann kannst du in deinem geliebten Saalfeld Weihnachten feiern und nach Mitternacht, wenn alle schlafen, fährst du wieder retour.“

„Mann, du bist dumm wie ein Konsumbrot!“

„Danke gleichfalls.“

Die größte Mühe gibt er sich, diesen fruchtlosen Diskussionen den Rücken zu kehren, doch das ist nicht leicht. Allein die räumliche Enge sorgt dafür, dass man alles hört und sieht, was in der Botschaft geschieht. So gut es geht, vermeidet er Kontakte und verliert auch nie die Beherrschung, wie es bei einigen Flüchtlingen in diesen Tagen durchaus vorkommt.

Jetzt, nachdem das Schlimmste ausgestanden ist, liegen die Nerven blank und es wird nicht nur über die bevorstehende Ausreise diskutiert, es gibt auch oft genug Streit um banale Nichtigkeiten.

Die rothaarige Frau sitzt eines Morgens im ersten Bus, der das Tor passieren soll und als er ihr blasses, müdes Gesicht sieht, bereut er seinen Verdacht. Sie winkt ihm zu und lächelt. Er sieht, wie hübsch sie ist, hübscher als alle jungen Frauen, die er auf diesem Hof gesehen hat und er winkt zurück. Dann wendet er sich ab, geht in sein Zelt und seine Gedanken weilen bei Susanne.

Wie sie wohl jetzt aussehen wird, denkt er und vergisst dabei, dass sie sich erst vor zwei Monaten das letzte Mal gesehen haben. Es scheint ihm eine Ewigkeit her zu sein und jeder Tag hier in der Botschaft dehnt sich endlos. Er versucht, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber es gelingt ihm nur schemenhaft. Es fehlt etwas, es fehlt das ganz Persönliche, das Unverwechselbare. Er kann es nicht mehr in seinem Gedächtnis finden und eine gewisse Schwermut breitet sich in ihm aus.

Als er die Nachricht erhält, dass er schon am nächsten Tag über Österreich ausreisen kann, geht es ihm so wie es all denen erging, die mit dem Zug über Dresden längst ausgereist sind. Die Schwermut weicht einer Hyperaktivität. Unruhig wandert er umher, kramt sinnlos in seinem Rucksack, als gäbe es etwas zu packen. Doch außer seinem alten Parka hat er nichts dabei. Seufzend hält er inne und setzt sich auf seine Pritsche.

„Ich habe nichts mehr“, murmelt er, „wie ein Bettler komme ich da rüber. Und mein Geld ist dort nichts wert.“

Vielleicht will Susanne ihn gar nicht mehr, wenn er dort aufkreuzt. Sie ist sehr hübsch, die Männer werden nach ihr schauen. Vielleicht kommt einer, der ihr was bieten kann, einer, der schon immer da drüben war. Wie nannte es gestern die Frau aus dem Zelt nebenan. ... Einer, der auf der richtigen Seite der Elbe geboren wurde. ...

In der letzten Nacht schläft er nicht. Sein Leben zieht wie ein Film an ihm vorbei. Szenen steigen in ihm auf, an die er sich längst nicht mehr erinnern konnte, Tage, die er lieber aus seinem Gedächtnis löschen würde und Erinnerungen, die seine Seele streicheln wie ein sanfter Sommerwind. Gerhard Erdmann zieht Bilanz und ihm wird klar, es war gut, dieses Leben, trotz aller Widrigkeiten. Er hat es richtig gemacht, auch wenn sie ihm immer einreden wollten, er wäre ein Außenseiter der Gesellschaft. Jemand, der nicht aktiv ist, wie sie es nannten, den sie nur so am Rande duldeten und der ihnen suspekt war. Der ihnen nicht nach dem Munde redete, nicht ihre Einheitskleidung trug und kein Parteiabzeichen an der Jacke hatte. Jemand, der amerikanische Schriftsteller las und die falschen Musiksender im Radio hörte.

Er geht hinaus auf den Hof. Noch ist es dunkel, nur ein fahler Streifen am östlichen Horizont lässt den neuen Tag erahnen. Es ist der Tag Null, der Tag, an dem er in die andere Welt fährt. Es nieselt leicht und am bewölkten Himmel zeigt sich kein einziger Stern. Gerhard schaut auf das Botschaftsgebäude, in der ersten Etage sieht er Licht hinter einem Fenster, das einzige Licht an diesem frühen Morgen.

Ein Mann kommt heraus und geht direkt auf ihn zu.

„Sie können wohl auch nicht schlafen.“

„Ich bin etwas aufgeregt, weil ich heute hier rauskomme. So ein bisschen neben der Spur, wissen Sie. Ich weiß nicht so recht, was da drüben auf mich zukommt.“

„Das kann ich gut verstehen.“

Sicher ist er ein Botschaftsmitarbeiter, denkt Gerhard. Er sieht so ordentlich aus. Der frisch rasierte Mann trägt einen gepflegten Anzug und ein hellblaues Oberhemd mit passender, dunkelblauer Krawatte.

„Meine Verlobte ist schon drüben“, sagt er leise.

Nun verspürt er den heftigen Drang, zu reden. So viele Gedanken und Gefühle bewegen ihn an diesem Morgen. Alles staute sich auf in den letzten Tagen. Es waren schweigsame Tage, er ging den Leuten aus dem Weg. Dieses Schweigen hatte er sich selbst auferlegt, um bloß nichts falsch zu machen.

„Was wissen Sie über die BRD?“

Der Mann schaut ihn an, sein Blick ist freundlich. Dennoch erscheint es ihm so, als würde von seiner Antwort abhängen, ob man ihn nun wirklich und wahrhaftig heute in den Westen reisen lässt.

„Ich war ja noch nie dort“, antwortet er hastig, „ich kenne dieses Land nur aus dem Fernsehen. Ich weiß, es ist eine Demokratie. Es gibt mehrere Parteien und der Bürger kann frei wählen, wer regieren soll. Es gibt Meinungs- und Pressefreiheit, Reisefreiheit und das Recht, zu demonstrieren und zu streiken. Und dann gibt es ein sogenanntes Grundgesetz und eine Verfassung. Die Inhalte sind mir aber noch nicht bekannt. Ich denke, dieses Land ist ein freies Land. Damit meine ich, jeder kann dort nach seiner Fasson leben ... Solange er den Anderen keinen Schaden zufügt. Ich meine damit, die Freiheit der Anderen darf man nicht beeinträchtigen. Das mit der Freiheit ist sicher nicht so einfach.“

„Da haben Sie recht. Sie sind ja gut informiert. Und wenn ich Sie so höre, glaube ich, Sie halten die Freiheit für ein begehrenswertes Gut.“

„Wenn man in einem Land lebt, in dem es keine Freiheit gibt, da muss man sich ganz schön abstrampeln, um sich ein paar kleine Freiheiten zu erkämpfen. Das kann auch nach hinten losgehen und auf einmal sitzt man hinter Gittern. Deshalb ist mir die Freiheit so wichtig.“

„Ich verstehe Sie sehr gut. Versprechen Sie mir etwas! Wenn sie drüben sind, erzählen sie den Leuten vom begehrenswerten Gut Freiheit. Sagen Sie ihnen, wie es sich angefühlt hat, hinter der Mauer zu leben. Leider weiß man oft den Wert der Freiheit nicht zu schätzen. Und so mancher nimmt sich seine persönliche Freiheit und missachtet dabei die Freiheit seines Nächsten.

Sie haben das gut gesagt, junger Mann. Ihr DDR-Bürger habt in einer Diktatur gelebt und es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder musste man sich bedingungslos anpassen oder man dachte und handelte selbstständig im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten. Das war eine gute Schule des Lebens. Ich weiß, wovon ich spreche, meine Eltern stammen aus Dresden. ... Was sind Sie von Beruf, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin Schlosser. Speziell für Landmaschinen.“

„Sehen Sie, auch das meine ich. ... Sie sind ein Mann aus der Mitte des Volkes. Ganz unter uns, fragen sie mal einen Schlosser in der BRD, was ihm Freiheit bedeutet und was sie ihm wert ist, er wird nur müde mit den Achseln zucken. Was selbstverständlich ist, das schätzt man oft nicht mehr sonderlich. ... Aber Sie, bleiben sie so wach, wie sie sind! Herzlich willkommen in der Bundesrepublik Deutschland.“

„Vielen Dank! Ich habe da noch eine Frage, ich würde gern jemand anrufen, bevor es heute losgeht. Eine Familie in Dresden. Geht das?“

„Selbstverständlich, kommen Sie morgen früh in mein Büro. Zimmer 5, im ersten Stock.“

„Das ist doch dort, wo die ganze Nacht das Licht brennt, nicht wahr?“

„Ja. Da, wo gewissermaßen das ewige Lämpchen glüht! Versuchen Sie noch ein bisschen zu schlafen. Oder wollen sie lieber mit mir einen Kaffee trinken? Ich habe gerade frischen gemacht.“

„Wenn ich Sie nicht störe, gern. Schlafen kann ich jetzt nicht mehr.“

„Na, dann kommen Sie! Da können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Ich schreibe nämlich gerade einen Artikel über den Wert der Freiheit im heutigen Deutschland.“

Hastig wählt er die Nummer, presst den Hörer an sein Ohr und während er dem Rufzeichen lauscht, schaut er hinauf zur Zimmerdecke. Ein großer Kronleuchter verleiht dem ansonsten nüchternen Büro etwas Nobles.

Und dann hört er Frau Seewaldts Stimme. Sehr weit entfernt scheint sie zu sein, es rauscht und knackt in der Leitung. Noch einmal verabschiedet er sich, bedankt sich für alles, was sie für ihn getan haben und er hört, wie sehr sie sich freut, dass er nun ausreisen kann. Versprechen muss er ihr, dass er sich meldet, wenn er drüben ist. Und er soll sich keine Sorgen machen, sagt sie, auch seine Mutter weiß nun Bescheid. Sicher würde ihn das wundern, doch sie hätte Kontakt zu ihr. Aber nun soll er zusehen, dass er nach Freiburg kommt, zu seiner Susanne. Und wenn er sich aus Freiburg meldet, wird sie ihm alles erklären.

Es klickt in der Leitung, Frau Seewaldt hat aufgelegt und Gerhard starrt auf den stummen Telefonhörer. Er kann sich nicht daran erinnern, Frau Seewaldt die Adresse seiner Mutter gegeben zu haben und auch von Susanne sprach er nicht. Woher kennen sie sich?

Langsam legt er den Hörer zurück. Verwandtschaft, dieses Wort ist plötzlich da, huscht durch sein Hirn und er erinnert sich an einen Tag seiner Kindheit. …

Jemand öffnet die Tür zum Büro. Er hört den Lärm im Hof und schaut auf die Uhr.

Drei Busse stehen draußen fahrbereit und nun klopft ihm sein Herz bis zum Hals und seine Gedanken überschlagen sich. Er weiß jetzt, wer die Seewaldts sind, er ist sich ganz sicher.

„Das ist der Wahnsinn“, murmelt er, „der blanke Wahnsinn.“

„Genau“, meint der Mann neben ihm, „ein einziger Wahnsinn ist das!“

„Stell dir vor, ich habe gerade meinen Onkel und meine Tante wiedergefunden. Wir hatten keinen Kontakt mehr, seit ich ein kleiner Junge war. Sie hatten sich mit meinem Vater zerstritten, der kann so ein richtiger Stoffel sein.“

„Sind die auch hier?“

„Nein, sie wohnen in Dresden.“

„Das versteh ich nicht.“

Gerhard lässt sich grinsend in den Sitz fallen.

„Musst du auch nicht. Das ist nämlich ganz schön kompliziert, ich kann es selbst noch nicht fassen.“

Die durchwachte Nacht fordert ihren Tribut. Er schläft ein und erwacht erst, als der Bus hält.

„Mensch“, sagt sein Nachbar zu ihm, „du bist mir ja ein Kunde, du hast alles verpennt. Wir sind schon längst drüben!“

Er schaut aus dem Fenster und sieht einen hässlichen Betonbau, der ihn fatal an die Schwedter Plattenbauten erinnert. Jedoch die bunte Leuchtreklame über dem Eingang gibt ihm Aufschluss darüber, dass der Bus vor einer westdeutschen Raststätte hält. Es ist Mittagszeit und man rüstet sich zum Aussteigen. Wie er von seinem Nachbarn erfährt, ist eine kleine Pause angesagt, eine Toilettenpause, danach soll es Kaffee geben. Verpflegungsbeutel werden auch gleich ausgeteilt, aber die heißen ja hier Lunchpakete, meint er und vielleicht wäre es besser, wenn man Englisch lernen würde, ständig diese englischen Worte. ... Er redet ohne Punkt und Komma.

Als das Gedränge an der Tür aufhört, verlässt auch er den Bus. Er beschließt, sich von nun an allein durchzuschlagen, vielleicht hat er Glück und kommt als Anhalter weiter. Auf keinen Fall wird er mit den anderen in ein Lager gehen. Er kann sie alle nicht mehr sehen, die Frau aus Sachsen, die ihm mit ihrem furchtbaren Dialekt auf die Nerven geht, den dicken Mann, der sich überall vordrängelt und auch nicht die ewig quengelnden Kinder.

„Ich muss hier weg, sonst platze ich“, sagt er zu seinem redseligen Nachbarn, der nicht von seiner Seite weicht, während sie den Parkplatz überqueren.

„Weg? Wie meinst du das?“ Verständnislos schaut er ihn an.

„Hör zu. Ich fahr jetzt allein weiter, jemand wird mich schon mitnehmen, ich bin schon öfter getrampt.“

„Aber wir müssen doch ins Aufnahmelager! Du kannst doch nicht einfach machen, was du willst!“

Gerhard schaut ihn an und er sieht, was er in Schwedt jeden Tag sah. Da steht jemand vor ihm, der stets darauf wartet, dass andere ihm sagen, wo es langgeht.

„Pass auf, wenn alle wieder im Bus sind, dann sagst du dem Obermacker da vorn, dass ich mich abgesetzt habe. Ich muss nicht in ein Lager, meine Verlobte wartet auf mich in Freiburg. Susanne Riedel, Hartkirchener Straße 8, das ist ihre Adresse. Wenn irgendetwas ist, dann können sie mich dort erreichen. Kannst du dir das merken?“

Der Mann zieht ein Notizbuch aus der Tasche und schreibt sich die Adresse auf. Er tut es langsam und bedächtig. Gerhard schaut hinüber zum Bus, die Ersten haben bereits wieder ihre Plätze eingenommen. Hastig verabschiedet er sich.

„Erdmann, Gerhard“, murmelt der junge Mann vorn im Bus, „ja, der fehlt. Alle anderen sind da.“ Wieder schaut er auf seine Liste. „Es tut mir leid, aber unter diesen Umständen können wir nicht weiter. Schließlich trage ich hier die Verantwortung.“

„Aber Sie haben es doch eben gehört, er ist weg! Er will zu seiner Verlobten nach Freiburg. Ich denke, wir sind hier in einem freien Land. Oder sind wir etwa vom Regen in die Traufe gekommen?“

Es fällt das Wort „Stasi-Methoden“. Der Mann mit der Liste versucht vergebens, die erhitzten Gemüter zu beschwichtigen. Erst nach einem schrillen Pfiff wird es still im Bus. Alle schauen auf den, der so ohrenbetäubend gepfiffen hat, es ist der Busfahrer. Der große kräftige Mann hat sich schwerfällig aus seinem Sitz erhoben.

„Augen rechts“, brüllt er. „Da ist er.“

Was sie draußen sehen, veranlasst den Mann mit der Liste, aus voller Brust zu seufzen.

„Okay“, sagt er zum Busfahrer, „du kannst fahren. Soll er doch sehen, wie er klarkommt.“

Gerhard ist soeben in einen grünen Kleinlaster eingestiegen. Eine schwungvolle Aufschrift verrät, dass es sich um das Auto eines Winzers handelt. Sie sehen, wie er seinen Arm winkend aus dem offenen Fenster hält und alle winken sie zurück. Es ist ein Moment, der den Frauen das Wasser in die Augen treibt und die Männer schlucken lässt. Da fährt einer von ihnen einfach so los in die Freiheit. Hier, in diesem fremden Land macht er sich allein auf den Weg in eine Zukunft, die er selbst gestalten wird.

„Bist du von drüben?“

„Merkt man das?“

„Man hört es am Dialekt. Kommst du aus Berlin?“

„Fast. Ich komme aus Schwedt an der Oder, das liegt hundert Kilometer nordöstlich von Berlin.“

„Ich bin geborener Berliner, habe hier eingeheiratet. Und du willst also nach Freiburg, zu deiner Verlobten.“

„Ja. Ich war in Prag, in der Botschaft. Bin gerade angekommen.“

„Hier sind schon viele von euch. Wenn das so weitergeht, haben die da drüben bald keine Leute mehr. Die meisten sind über Ungarn gekommen, bei mir in der Kelterei arbeiten zwei, die sind aus Sachsen. Und du? Was bist du denn von Beruf?“

„Ich bin Schlosser.“

„Ach, da könnte ich dir was besorgen. Mein Schwager hat eine Werkstatt, gleich hier nebenan in Waidlingen. Er braucht dringend jemand, er schafft es nicht mehr allein. Wir kommen direkt da vorbei. Wenn du Lust hast, können wir gleich zu ihm. Von da aus kannst du den Bus nach Freiburg nehmen, das Ticket schenk ich dir.“

„Danke. Ja gern, warum nicht. Klar brauche ich Arbeit, je eher, desto besser.“

„Das ist die richtige Einstellung. Eines kann ich dir nämlich sagen, hier fliegen dir keine gebratenen Tauben ins Maul! Als ich damals hierherkam, das war gar nicht so einfach. „Saupreuß“ haben sie mich genannt, obwohl ich hier eingeheiratet habe. Aber denen habe ich es gezeigt. ... Biss musst du schon haben und vor allem ein dickes Fell.“

„Haben sie hier einen Weinberg?“

„Einen?“ Der korpulente Mann grinst. „Schau dich um, das ist alles meins!“

Eine warme, goldene Herbstsonne leuchtet über dem Tal. Gerard schaut hinauf zu den Hängen, nie zuvor sah er Weinberge.

„Da oben“, sagt der Mann, „siehst du das Schild da? „Waidlinger Jungferntröpfchen“, der hat im vergangenen Jahr die goldene Kammerpreismünze bekommen. Komm doch mal vorbei zur Weinprobe und deine Braut bringst du natürlich mit. Ich gebe dir nachher meine Visitenkarte.“

Das Leben lässt sich hier ja ganz gut an, denkt er. Eine Einladung zur Weinprobe und mit der Arbeit klappt es bestimmt. Warum soll er nicht schaffen, was dieser Mann aus Berlin geschafft hat, er muss ja nicht gleich Weinbergsbesitzer werden.

Er schließt die Augen und sieht sich mit Susanne dort oben zwischen den Rebstöcken, dunkle Trauben leuchten verheißungsvoll im grünen Laub und sie trägt ein weißes Hochzeitskleid.

Lächelnd hebt sie ein Glas empor. Das Licht der Sonne glitzert im Wein, es funkelt und strahlt wie ihre Augen. ...

Ein kreischendes Geräusch dringt in sein Ohr. Er spürt den mächtigen Druck, der ihn nach vorn schleudert und bevor der Schmerz kommt und ihm das Bewusstsein raubt, sieht er das Feuer vor sich und hört den Schrei des Fahrers. Es wird dunkel. Gerhard Erdmann befindet sich in einem brennenden Autowrack auf einer Wiese unweit von Freiburg.

Neben ihm liegt der tote Weinbauer, der am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut hat.

Karl-Heinz Erdmann beschließt, einen kleinen Spaziergang zu machen. Wie es im Winter seine Gewohnheit ist, will er die Schwäne unten am Fluss füttern.

„Anneliese! Willst du nicht mit?“

Er steht schon fertig angezogen im Flur, in der Hand hält er den Beutel mit dem alten Brot.

„Wo bleibst du denn? Was ist? Kommst du nun mit, oder nicht?“

Anneliese setzt ein leidendes Gesicht auf.

„Geh allein“, sagt sie, „mir ist heute nicht gut, ich habe Migräne.“

„Das war mir ja gleich klar, dass du nicht mitwillst!“

„Sei doch nicht immer so patzig. Und binde deinen Schal um, es ist kalt draußen.“

Nun steht sie am Fenster, schiebt vorsichtig die Gardine beiseite und schaut ihm hinterher.

Er ist schon auf der anderen Straßenseite, gleich wird er in die Gasse einbiegen. Dann ist sie ihn los und kann zum Briefkasten gehen. Er geht nie zum Kasten, den einzigen Schlüssel hat sie. Hauptsache, er bekommt morgens sein „Neues Deutschland“, das legt sie ihn auf den Frühstückstisch. Die Post kommt erst am Mittag und interessiert ihn nicht sonderlich.

Vorsichtshalber wartet sie noch ein Weilchen, aber jetzt ist er bestimmt schon unten am Fluss. Kalt ist ihr, fröstelnd zieht sie ihre Strickjacke über der Brust zusammen.

„Du lebst“, flüstert sie, „da bin ich mir ganz sicher.“

Geträumt hat sie von Gerhard in der letzten Nacht. Ganz deutlich sah sie ihn, er stand vor ihr, direkt am Fußende ihres Bettes. Merkwürdig war ihr zumute und sie erschrak sehr. Sie schaute hinüber zu Karl-Heinz, der laut schnarchte und sich nicht stören ließ. Deutlich hörte sie seine Stimme. „Ich lebe, Mutter“, sagte er, „und alles andere wird sich finden.“

Dann war er fort. Seine Gestalt verschwand einfach im Dunkel.

„Mein Gott“, sagt sie laut, „das kann kein Traum gewesen sein, ich war doch wach!“

Sie lässt sich in den Sessel fallen und schaut auf ihre zitternden Hände. Parkinson, hat der Arzt gesagt, es könnte Parkinson sein, Frau Erdmann. Das müssen wir noch mal genauer untersuchen. ... Nein, es ist kein Parkinson, denkt sie, das ist mein Kummer. Er ist mein einziges Kind und ich habe ihn geboren, als andere Frauen in meinem Alter schon Großmutter waren.

Er lebt, ganz bestimmt lebt er. ... Sie denkt an den Tag, an dem die Männer von der Staatssicherheit vor der Tür standen. Ganz ruhig ist sie geblieben, obwohl ihr Herz so heftig klopfte. Als sie endlich wieder gegangen waren, da saß sie still im Sessel und eine zufriedene Genugtuung breitete sich in ihr aus.

Er war ihnen entwischt. Sicher war er schon längst in Freiburg und sein Brief noch nicht angekommen, weil jetzt alles drunter und drüber ging. Sie hatte es ja selbst gesehen, am letzten Montag. Da ging es Karl-Heinz nicht gut, er schlief auf der Couch ein und sie ging heimlich zum „Platz der Befreiung“. Sie sah die Transparente und die vielen Menschen, die er als „Abschaum“ bezeichnete. Soviel Abschaum kann es gar nicht geben in einer ordentlichen Stadt wie Schwedt, dachte sie. Die Welt steht Kopf, sie hat es selbst gesehen, wie soll denn da noch die Post funktionieren. ... Die Menschen liefen im langen Zug durch die Stadt, wie sonst nur am 1. Mai. Sie versammelten sich vor der Kirche und trugen brennende Kerzen und sie dachte, wenn so viele Menschen dort mitlaufen, dann kann es doch nicht falsch sein, was sie wollen.

Wie er gebrüllt hat, als sie zu Hause davon erzählte. Und dann fing er wieder an mit seiner ewigen Litanei. Von der Schande sprach er, die der eigene Sohn über sie gebracht hatte und wie er nun dastünde. Er steigerte sich hinein und drohte mit Selbstmord. Da platzte ihr der Geduldsfaden. Dann tu es doch, sagte sie. Wenn du deinen Sohn verstößt, der nie etwas Schlechtes getan hat und nur zu seinem Mädel will, dann geh doch und hänge dich auf, damit endlich Frieden ist.

Ein kleines, ironisches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie denkt an den Ausgang des Streits, als ihr die Pferde durchgingen und sie zu ihm sagte, im Flur hängt die Wäscheleine hinterm Vorhang, nun los. Allerdings weiß ich nicht, ob sie dein Gewicht hält.

Schrecklich wütend wurde er da, knallte die Tür und verschwand. Nein, denkt sie, ich muss mir nicht alles von ihm gefallen lassen. Das hat er mal gebraucht. Aber jetzt gehe ich schnell zum Briefkasten, ich habe so ein Gefühl.

Sie hat sich nicht geirrt, im Kasten liegt ein Brief von Eva. So sehr sie sich sonst über Evas Briefe freut, diesmal ist sie enttäuscht, hoffte sie doch auf eine Nachricht von Gerhard.

Als Karl-Heinz nach Hause kommt, riecht es in der Küche nach frisch gebackenen Kuchen. Schnuppernd steckt er seine Nase durch den Türspalt und schaut auf den Tisch. Ein leckerer Napfkuchen steht dort und Anneliese filtert gerade den Kaffee.

„Was ist denn los, Anneliese? Habe ich was verpasst? Gibt es einen Anlass?“

„Vielleicht“, antwortet sie trocken und vermeidet es, ihn anzuschauen, er soll ihr Glück nicht sehen. „Nun zieh schon deinen Mantel aus und komm Kaffee trinken.“

Er rumort im Flur, brabbelt Unverständliches und es hört sich sehr unfreundlich an.

Nein, beschließt sie, ich werde ihm nichts sagen, jetzt noch nicht. Was soll sie ihm auch erzählen? Wenn er erfährt, dass sie Kontakt mit Eva hat, dann fängt er bloß wieder an zu zanken. Sie weiß jetzt, dass Gerhard in der Prager Botschaft war und über Österreich ausgereist ist.

„Was grinst du denn die ganze Zeit so?“ Verunsichert schaut er sie an.

„Nun hör aber auf, du bist wirklich unausstehlich. Ich habe gute Laune, darf ich das nicht?“

„Doch“, lenkt er ein, „ist ja gut! Gib mir ein Stück Kuchen, der sieht ja richtig appetitlich aus!“

Namenlose Jahre

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