Читать книгу Odersumpf - Marina Scheske - Страница 5

1.

Оглавление

September 2019

Selbstmörderburg, so nannten die Friedrichsfelder das Hochhaus am Wald. Drei Menschen waren hier vor langer Zeit vom Dach gesprungen. Frau Hanke aus dem vierten Stock sprach oft und gern davon. Sie war es auch, die die kleinen schwarzen Käfer entdeckt hatte.

Sie tauchten auf, nachdem der Mann ohne Gesicht verschwunden war. Die Kinder, die draußen spielten, nannten ihn so, weil sein Gesicht einer zerstörten Maske glich. Sie hatten Angst vor ihm. Wenn er kam, rannten sie kreischend davon.

An einem Donnerstag, einem heißen Tag Ende August, da sah Frau Hanke den Mann zum letzten Mal. Er schlurfte mit seinem Gehwagen die Straße entlang und ging zum Kiosk, um sich die »Oderzeitung« und zwei Brötchen zu kaufen.

»Die Käfer sind mir erst am Abend aufgefallen, auf meinem Fensterbrett. Auf dem Fensterbrett unter mir war auch schon alles voll! Am anderen Morgen waren sie ja überall, auf den Müllcontainern, auf den Fahrradständern und sogar im Sandkasten auf dem Spielplatz, ekelhaft!«

»Die Käfer haben nichts damit zu tun«, unterbrach Herr Schmidt von der Kripo Frau Hankes Redefluss.

»Ach nee! Und ich dachte, es hat was mit der Leiche zu tun!«

Herr Schmidt überhörte es. »Donnerstag. Sie haben also Herrn Grams am 29. August das letzte Mal gesehen.«

»Ich glaub schon! Grams? Hieß der so? Ich kannte den gar nicht, er wohnt ja erst seit Mitte August hier.«

Herr Schmidt reichte ihr seufzend seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch was einfällt, melden Sie sich bitte, Frau Hanke.«

Hinter den Gardinen wisperte und raschelte es. Zwei Männer in weißen Schutzanzügen betraten gerade das Haus. Im vierten Stock flatterte Absperrband am Treppengeländer. Eine Wohnungstür stand weit auf, vom Hausflur aus konnte man bis ins Wohnzimmer schauen. Auf dem Boden lag der tote Holger Grams, er hatte sich an der Heizung erhängt.

»Wenn ich so aussehen würde, dann hätte ich mich auch erhängt«, sagte einer der Männer in Weiß.

»Halt die Klappe!« Sein Kollege riss sich den Mundschutz herunter. »Ich muss hier raus.«

Herr Schmidt beugte sich über den Toten. »Eindeutig Suizid. Routinemäßig Pathologie. Der Wagen kommt gleich, ihr könnt abziehen.«

Sein Blick glitt durch den Raum. Auf einem Tisch standen eine rote Thermoskanne und ein Kaffeebecher. Daneben lag ein Exemplar der »Oderzeitung«.

Herr Schmidt kannte den Fall, der dieser Zeitungsausgabe die Schlagzeile geliefert hatte. Fast jeder in Friedrichsfeld und Umgebung wusste, was vor einigen Wochen in Creywitz passiert war.

Sehr schnell sollte die Sache nun vor Gericht kommen. Von einem Herrn Graf war die Rede, einem Herrn Graf, der so hieß, aber keiner war.

Herr Schmidt schaute auf die Zeitung. Rattenfänger, las er. Ganz schön mutig, dieser Schreiberling. Dafür kann der Graf ihn verklagen, der hat sicher einen guten Anwalt.

Herr Graf hatte seinen Hund auf Holger Grams gehetzt.

Er sah das Bild von Holger Grams, ein Vorher-nachher-Vergleich, wie man ihn aus Frauenzeitschriften kannte, wenn aus grauen Mäusen dank moderner Kosmetik und raffinierter Frisierkunst sexy Ladys wurden. Hier war die Reihenfolge umgekehrt. Bild eins zeigte einen gut aussehenden Mann Anfang sechzig mit ebenmäßigen Zügen, Bild zwei ein zerfetztes Gesicht ohne Konturen, das rechte Ohr fehlte. Ein schwarzer Balken verbarg die Augen. Das einzig Schöne im zerstörten Antlitz des Holger Grams, was ihm vermutlich geblieben war, seine blauen Augen, hatte man aus Gründen des Datenschutzes unkenntlich gemacht.

Herr Graf würde Schmerzensgeld zahlen müssen, las Herr Schmidt. Und dabei würde es nicht bleiben. Ferner werde Holger Grams’ Tochter weiterhin vermisst. Herr Grams behaupte, Herr Graf habe damit etwas zu tun. Sie sei seine Freundin gewesen, habe sich aber im Frühjahr von ihm getrennt.

»Eine heiße Geschichte«, murmelte Herr Schmidt. Er schaute auf seine Uhr. Es war siebzehn Uhr dreißig, unten fuhr gerade der Leichenwagen vor.

Zwei Aufgänge weiter stand eine Frau am geöffneten Fenster. Ihr Haar leuchtete in der Abendsonne rot wie eine Feuerlohe, ihr Gesicht war sehr blass. Auf dem Rücken ihrer Nase blühten Sommersprossen. Ihre mandelförmigen grünen Augen erinnerten an einen Fuchs, einen schlauen Fuchs, der sich nicht so schnell hinters Licht führen ließ.

Laura Wieland hatte ihre Kindheit in dieser Kleinstadt verbracht. Vor zwanzig Jahren war sie nach Berlin gezogen und eigentlich wollte sie nie zurückkommen.

Die kleine, zierliche Gestalt lehnte sich weit hinaus. Ihr Blick schweifte über den Parkplatz, wanderte hinüber zum Einkaufszentrum und verweilte am Rande des Waldes. Es duftete nach Kiefern. Irgendwo schrie ein Vogel, nebenan öffnete sich die Haustür, Männer trugen einen Sarg hinaus.

»Konrad! Komm mal her, ein Leichenwagen, das bringt Glück!«

Ihr Mann kam brummelnd aus den Tiefen der Wohnung herbei.

»Was ist los, Schnecke?« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, sie schmiegte sich an ihn.

»Ach Schnecke! Du mit deinem Aberglauben.«

»Aber das hat meine Oma immer gesagt! Und es stimmt! Erinnerst du dich? Damals, am Tag, als ich erfuhr, dass ich mit Max schwanger bin, da habe ich auf dem Weg zum Arzt auch einen Leichenwagen gesehen.«

»Leichenwagen hin oder her, ich mach mir jetzt ein Bier auf. Und du, ein Glas Rotwein?«

»Rotwein und Bier? Haben wir doch gar nicht da.«

»Ich war schnell einkaufen, hast du nicht gemerkt, nicht wahr? Und die Pizza, die steht schon im Ofen, die habe ich auch geholt.«

»Ohne dich würde ich glatt verhungern. Aber wir haben ja gar keine Teller! Ich weiß nicht, in welchem Karton die sind.«

Konrad grinste. »Im Handgepäck sind zwei Teller, Tassen, Besteck und zwei Gläser.«

Wie immer, wenn es um das leibliche Wohl ging, hatte er an alles gedacht. Laura wusste das sehr zu schätzen. Und so saßen sie zwischen Umzugskartons, aßen und tranken schweigend, bis sie sagte: »Ich wollte nie wieder zurück nach Friedrichsfeld.«

Konrad kaute, spülte mit Bier nach und schwieg.

»Ich auch nicht«, antwortete er schließlich, »das weißt du doch. Aber wir haben momentan keine Alternative! Es gibt kaum noch bezahlbare Mietwohnungen in den Städten der Region. Sei froh, dass wir hier untergekommen sind.«

Laura stellte ihr Glas zurück. Etwas zu heftig, der Wein schwappte über den Rand. Sie stand auf, um einen Lappen zu holen.

»Ich bin nicht froh, Konrad!«

Sie wischte, wo es nichts mehr zu wischen gab, tief beugte sie sich über den Tisch, ihr Haar fiel ihr wirr ins Gesicht. Dann schaute sie auf und flüsterte heiser: »Wir haben uns vertreiben lassen. Von denen! Das muss man sich mal vorstellen!« Achtlos warf sie den Lappen auf die Tischplatte, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und trank hastig einen Schluck Wein.

»Bitte heute kein Drama mehr, Laura! Ich bin total kaputt. Du wolltest nach Creywitz und du wolltest wieder weg. So ist es doch, oder?«

»Ach, jetzt bin ich schuld! Wer hat denn immer gesagt, er will ein Haus auf dem Land haben, ein Häuschen mit Garten? Wie der Urvater und so weiter und so fort! Du doch! Du hast gesagt, Berlin mit Kindern, das passt nicht! Und jetzt bin ich ganz allein schuld. Du weißt, ich wollte es auch wegen der Kinder. Damit sie endlich mal was anderes kennenlernen als Spielplätze voller Hundekot und Glasscherben! Damit sie sehen, dass es da draußen viel schönere Dinge gibt als Einkaufszentren! Hast du vergessen, dass die Dealer anfingen, im Viertel herumzustreichen? Und nun bin ich schuld!«

Hastig lief sie im Raum hin und her, viel Platz hatte sie nicht zwischen den Umzugskartons. Sie stieß sich prompt, fluchte und schwang sich schließlich auf das Fensterbrett. Da hockte sie nun wie ein kleiner rothaariger Troll und schleuderte wütende Blicke.

Ich liebe diese Frau, dachte Konrad. Besonders, wenn sie wütend ist. Aber jetzt darf ich nichts Falsches sagen, sonst geht das ewig so weiter. Stress hatten wir heute genug.

Er stand auf, ging zu ihr und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn.

»Keiner von uns ist schuld«, sagte er leise. »So was weiß man doch nicht vorher. Wir hatten einfach Pech, Laura. Nun sind wir hier und wir werden das Beste draus machen. Es muss ja nicht für immer sein. Morgen holen wir die Kinder. Alles wird gut.«

Laura umarmte ihn. »Ja, natürlich wird alles gut. Wir werden das schon hinkriegen. Bisher haben wir immer alles geschafft. Ich bin nur froh, dass wir das Haus noch nicht gekauft hatten.«

»Das war so abgemacht, erst mieten, dann eventuell später kaufen. Außerdem zahlen wir hier dreihundert Euro weniger Miete und zwei Autos brauchen wir auch nicht mehr. Ich muss nur um die Ecke gehen, dann bin ich auf Arbeit. Weißt du, was wir da alles sparen?«

»Ach Konrad, du musst mir jetzt nichts schönreden. Ich denke, wir haben es richtig gemacht. Allein der Kinder wegen.«

»Laura, überall gibt es irgendetwas, du kannst sie nicht in Watte packen. Aber hier haben sie wenigstens eine Oma vor Ort.«

»Ich bin gespannt, wie meine Mutter mit ihnen zurechtgekommen ist. Mit Ronja versteht sie sich ja gut, aber mit Max?«

»Da mach dir mal keine Gedanken, die wissen genau, dass sie sich bei Oma benehmen müssen. Ich finde, ein wenig mehr Konsequenz würde ihnen ganz guttun.«

»Ach, fängst du jetzt auch schon so an wie meine Mutter?«

»Laura, komm, lass es gut sein.«

»Ja, ist ja gut! Max ist nun mal besonders, das weißt du.«

»Jeder Mensch ist besonders, auch deine Mutter.«

Laura erinnerte sich an das, was zu Ostern passiert war. Sie sah die Schrift an der Hauswand, die rot in der Sonne leuchtete. »Verräter«, stand dort, eilig hingeschmiert. Sie sah das fassungslose Gesicht ihrer Mutter und sie sah Konrad, wie er sich über die weinende Ronja beugte. Und sie sah den lachenden Max.

»Meinst du, Grafs Anhänger haben unser Haus besudelt?«

»Nein! So was machen die nicht, darüber haben wir doch schon oft gesprochen! Du weißt, wie die ticken. Sie verkaufen sich als Biedermänner, als brave Volksgenossen. Die beschmieren keine Wände. Die gehen viel subtiler vor. Ich bin fest davon überzeugt, dass es jemand aus dem Dorf war.«

»Sie gehen subtil vor. Da hast du recht, besonders ihre Kinder können sehr subtil sein, subtil grausam.«

Laura erinnerte sich, wie Ronja schluchzend unterm Johannisbeerstrauch lag, ihre Kleider und ihr Haar waren voller Jauche. »… fass mich nicht an, Mama, ich bin so schmutzig …«

»Die Sache mit dem Interview, das war der Auslöser, Laura, danach ging es richtig los.«

»Warum soll ich schweigen, wenn ich reden muss? Ich lass mich nicht mundtot machen, ich nicht!«

»Und? Was hast du nun davon? Der Kerl von der Zeitung, der hat seine Story gehabt, der hat sich wieder in sein Auto gesetzt und ist abgedampft in den Westen. Wie schön, all diese arroganten Wessis konnten eine Woche später lesen, was in den ostdeutschen Provinzen so los ist. Zieht die Mauer wieder hoch, werden sie sagen, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Aber weißt du, was sie vergessen? Vergessen und verdrängen? Dass in ihrem schönen Westdeutschland fast alle Nazis gut überlebt haben und in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wieder in einflussreichen Positionen saßen! Und dass sie die ganze braune Scheiße an ihre Kinder weitergereicht haben. Da hat auch der neue Aufbruch 1968 nicht viel gebracht. Das war nicht die Mehrheit, das kam nicht von unten aus der breiten Bevölkerung. Nein, das waren die Kinder des Bildungsbürgertums, die gegen ihre Eltern protestierten. Der braune Dreck blieb und jetzt importieren sie ihn in den Osten. Die Rattenfänger nutzen die Unzufriedenheit der Leute und die Strukturschwäche unserer Gegend aus. Du weißt, die DDR war nie mein Land. Aber eines steht fest, hier wurde der Faschismus konsequent bekämpft.«

»Von oben, Konrad! Der Antifaschismus wurde von oben verordnet.«

»Aber immerhin, das haben wir denen voraus. Bei uns gab es keine Nazirichter und Naziärzte, die einfach weitergemacht haben. Bei uns gab es keinen Herrn Globke, einen Nazi, der Regierungsberater wurde! Und jetzt tun sie so, als hätten wir die AfD erfunden. Es kotzt mich an. Dieses Land ist in mehrfacher Hinsicht zutiefst gespalten. Am liebsten würde ich auswandern, aber ich denke, ein Abenteuer reicht. Ich werde in zwei Jahren fünfzig.«

»Konrad, reg dich nicht so auf. Wir müssen langsam mal runterkommen und das alles vergessen. Denk einfach positiv, wir sind gesund, wir haben Arbeit, zu essen, zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Alles wird gut. Nur den Garten, den werde ich vermissen. Den muss ich mir richtig aus dem Herzen reißen.«

»Wir können ja einen Kleingarten pachten, was hältst du davon? Hier werden immer welche angeboten, für ganz wenig Geld.«

*

Der Vollmond schien ins Zimmer und warf gespenstische Schatten an die Wände. Laura hatte in Ermangelung eines Vorhangs ein Laken vor das Fenster gehängt, dennoch hatte sie das weiß und silbern glänzende Licht nicht aussperren können.

Davon ließ sie sich nicht stören, sie schlief tief und traumlos. Konrad beneidete sie um diese Gabe, sie konnte immer und überall schlafen. Er wälzte sich oft schlaflos hin und her, stand auf, wanderte herum und war manchmal sogar ein kleines bisschen wütend auf die seelenruhig schlummernde Frau an seiner Seite. Vielleicht lag es an ihrem unterschiedlichen Temperament. Bei Laura musste alles immer gleich raus. Aufbrausend verschaffte sie sich Luft, wenn ihr etwas nicht passte, und trat dabei gern in alle Fettnäpfchen. Ins Bett nahm sie nichts mit. Konrad hingegen fraß tagsüber vieles in sich hinein. Es blieb in seiner Seele liegen wie ein Stein, den er nachts wälzen musste.

Doch nun, nach einem anstrengenden Tag, schlief auch er, ein paar Oktaven tiefer und gehörig lauter schnarchend als seine Frau.

Konrad hatte einen beunruhigenden Traum:

Er sieht sich im Garten seines Urgroßvaters. Er steht unter einem mächtigen, alten Nussbaum und er ist so alt wie seine Tochter Ronja. Er trägt eine blaue Latzhose, sie ist ihm zu kurz, er wächst zu schnell. Sein Haar ist fast weiß, ausgeblichen von der Sonne. Das ist ein Traum, denkt er, ich bin kein kleiner Junge mehr und der Garten meiner Kindheit ist nichts weiter als eine schöne Erinnerung.

Für einen kurzen Moment tauchte er auf aus den Tiefen seines Traumes und öffnete die Augen. Dann drehte er sich auf die andere Seite und träumte weiter:

Der Nussbaum. Konrad sieht die zahlreichen noch unreifen Früchte in grüner Schale, es wird eine große Ernte geben. Die Nüsse auf dem bunten Teller zu Weihnachten, dazu die Lebkuchen, mit Urvaters eigenem Honig werden sie gebacken, daneben liegen die rotbackigen Äpfel.

Plötzlich steht der Urvater vor ihm, taucht einfach so aus dem Nichts auf. Er trägt einen Imkerhut, der Schleier verhüllt sein Gesicht. Jetzt nimmt er den Hut ab und wischt sich mit einem rotkarierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Schweigend stehen sie sich gegenüber und Konrad fühlt, der Urvater möchte hören, was er ihm zu sagen hat. Er muss Rechenschaft ablegen, aber er bringt kein Wort über seine Lippen. Er ist doch tot, denkt er, er kann nicht hier sein. Es ist nur ein Bild, er ist gar nicht da.

Sein Urvater schaut nun in die entgegengesetzte Richtung und er folgt seinem Blick. Dort vorn an der Pforte, genau unter dem Spalier mit den blühenden Rosen, da steht der Graf. Er muss sich täuschen, das geht nicht, denkt Konrad, er ist in der falschen Zeit.

Der Graf trägt eine schwarze Zimmermannstracht. Die silbernen Knöpfe der Weste blitzen in der Sonne, das Hemd ist schneeweiß. Auch er sieht unwirklich aus, wie ein Bild.

Der Graf lächelt. Nein, das ist kein Lächeln, sondern ein zynisches Grinsen. Ein Grinsen, von dem Laura sagt, es würde ihr zeigen, wie gefährlich dieser Mann sei. Wie eingemeißelt wirkt es, dieses Grinsen, das die Überlegenheit des Stärkeren ausdrücken soll. Es ist die Überlegenheit einer Stärke, die er sich nicht selbst erworben hat, sondern zufällig durch Geburt besitzt, die er jedoch weidlich zum eigenen Wohle und zum Nachteil anderer Menschen ausnutzt.

Konrad sucht seinen Blick, er schaut direkt in seine dunklen, tiefstehenden Augen. Plötzlich weiß er, dass dieser Mann sich nicht in der falschen Zeit befindet. Er war schon immer da, immer und ewig, zu jeder Zeit, an jedem Ort.

Der Drang, dem Urvater mitzuteilen, wie gefährlich dieser Mann ist, steigt übermächtig in ihm auf und er bemüht sich um Worte. Alles will er ihm sagen. Was passiert ist im letzten Jahr und warum es passiert ist, was er wollte für seine Familie und weshalb er es nicht geschafft hat. Er muss Rechenschaft ablegen vor dem Urvater.

Urvater, so nennt er ihn, »Urgroßvater« ist zu lang für den kleinen Jungen, der sich schwertut mit der Sprache, dem die Zunge nicht gehorchen will.

Der Urvater dreht sich um und geht ins Haus, dann kommt er mit seinem alten Luftgewehr zurück und zielt auf den Grafen. Konrad schaut zu, wie der Kopf des Mannes von den Schultern fällt und über den Weg kullert, eine bizarre Szene. Urvater hat den Grafen ermordet! Wieder bemüht er sich, etwas zu sagen. Es fühlt sich an wie damals, als er vier war und seine Mutter mit ihm zu einem Logopäden gehen wollte. Aus lauter Angst vor diesem ominösen Mann rang er sich die Worte aus der Kehle und konnte plötzlich sprechen.

»Kein Land«, stößt er hervor, die anderen Worte sind nur ein dumpfer, unverständlicher Sprachbrei.

»Kein Land!«, ruft sein Urvater zurück. Oder war es ein Echo? Ein Schwarm Spatzen fliegt aufgeregt zwitschernd aus dem Holunderbusch neben ihm. Der Himmel dunkelt, alles flieht, der Garten ist fort und hat den Urvater mitgenommen.

Konrad saß aufrecht im Bett, sein Herz schlug wie ein Trommelfeuer.

Hellwach stand er am Fenster und presste die Stirn an die kühle Scheibe. Urvater, dachte er und wieder hörte er seine Stimme. »Kein Land«, rief sie, »kein Land für dich, Konrad. Du schaffst es nicht, der Graf ist stärker als du. Du bist zu weich. Dabei bist du doch ein Wieland, hast du das vergessen?«

»Leck mich, Urvater«, sagte er laut. Er schluchzte wie ein Kind. Ich habe versagt, dachte er, auf der ganzen Linie. Ich habe mich von diesem rechten Pack verjagen lassen. Es ist eine Schmach, so nennt man das doch, Schmach und Schande, nicht wahr, Urvater? Ich bin kein Kämpfer, ich wollte nie einer sein, weil ich fand, dass genug gekämpft wurde und immer noch mehr gekämpft wird auf diesem Planeten. Meine Welt war harmonisch und überschaubar, da gab es nichts zu kämpfen, und das fanden wir gut so, Laura und ich und unsere Freunde. Wir wollten eine Welt des Friedens und der Liebe, eine Welt ohne Hass und Vorurteile, eine Welt der Toleranz. Aber während wir unsere friedlichen Feuer hüteten und unseren Kindern die Liebe lehrten, da waren sie schon längst wieder da, krochen aus ihren Löchern und gebärdeten sich, als wären sie nie weg gewesen. Zwei, drei Jahre wird es noch dauern, dann sind sie wieder das, was die Leute früher »gesellschaftsfähig« nannten. Wir haben es verpennt und die da oben erst recht.

Wie soll ich mich denn wehren, Urvater? Ich kann doch keine Flinte nehmen und ihn erschießen, dann komme ich in den Knast. Rein juristisch gesehen hat er mir nichts getan! Jeder Richter würde das so beurteilen und auch jeder Bürger.

Wenn sie jemanden schikanieren, um ihn zu vertreiben, machen sie das verdeckt, in aller Stille.

Sie können ihren Widersachern sehr wohl das Leben zur Hölle machen, ohne auch nur ein einziges Gesetz zu übertreten. Sie sitzen auf ihren Höfen, kaufen alles Land, was sie kriegen können, und instruieren ihren Nachwuchs.

Ihre Kinder wachsen auf im elitären Bewusstsein einer Heilslehre, die jeden, der anders als sie ist, rigoros aus der Gemeinschaft ausschließt. Kalt, gnadenlos. Die würden dich im tiefsten Winter irgendwo nackt aussetzen und wären davon überzeugt, dass sie das einzig Richtige tun. Wie weit ist es dann noch bis zur Gaskammer?

Konrad ging ins Bad und hielt den Kopf unter die Dusche. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. In der Küche stand noch der Wein, er setzte sich an den Tisch und griff zur Flasche. Hastig wie ein Säufer trank er und dachte dabei, das ist auch keine Lösung. Sich besaufen, wenn man wütend ist, das bringt nichts, davon wird es noch schlimmer.

»Nein, Urvater«, flüsterte er, »ich werde nicht schießen. Ich bin nicht wie du, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Du hast doch mal gesagt, es stehe in der Bibel. Ich bin nicht wie du, wir leben in einer anderen Zeit. Aber ein Teil von dir, von dem, was du mir erzählt hast, ist immer bei mir. Und ich weiß, es ist wertvoll, es ist so kostbar wie ein Schatz. Es ist in mir und deshalb wollte ich dieses Land, diesen Garten und das Haus besitzen. Nicht um so zu werden wie du. Ich wollte etwas Bleibendes haben, weil alles so flüchtig und schnell geworden ist. Ich wollte mir das zu eigen machen, was du mir vorgelebt hast. Den natürlichen Kreislauf des Lebens. Und die Erde, die ich in meine Hände nehmen kann. Meine Erde, die mich und meine Familie ernährt. Die Erde, für die ich Verantwortung trage.

Und die, die nach mir kommen, sie werden sagen: Das war der Konrad, der erste Wieland, der sich hier angesiedelt hat. Im Herbst 2018, da hat er diesen Nussbaum gepflanzt.

Das hatte er zu Laura gesagt, an jenem ersten Abend in Creywitz. Sie waren trunken vor Glück gewesen, lagen alle vier auf der Wiese und schauten zu den Sternen, die sie nun endlich richtig sehen konnten, weil es so schön dunkel war. So dunkel, wie es in Berlin nie sein konnte.

Laura hatte entgegnet: »Das passt nicht mehr, Konrad, das ist ja das reinste Patriarchat. Konrad Wieland, der Erste! Er hat diesen Baum gepflanzt! Also weißt du!«

Das sei doch nur symbolisch gemeint, hatte er ihr geantwortet, und seinetwegen könne es ja später auch heißen, dass Laura, die erste Frau des Stammes, diesen Baum gepflanzt hatte.

»Das Matriarchat ist gerade dabei, das Patriarchat abzulösen«, hatte sie lachend erwidert und sie hatten sich über die Wiese gekugelt und sich gebalgt. Max und Ronja hatten vor Vergnügen geschrien …

Konrad nahm die Flasche und goss sich den Wein in ein Glas. Nun trank er nicht mehr aus Frust. Seine Gedanken schweiften durch die Welt seiner Kindheit, durch den Garten des Urvaters, wo er etwas suchte. Nicht den Trost der schönen Erinnerung, sondern den Sinn, den Gehalt dessen, was sein Urvater ihm vorgelebt hatte.

Ein kleiner Vogel sitzt still auf Urvaters Arm. Er spricht zu ihm. Er wärmt die Gurkensamen im Mund an, bevor er sie in die Erde legt. Er nimmt einen Mund voll Wasser und wärmt es auf diese Weise an, um damit die kleinen Tomatenpflänzchen vorsichtig zu begießen. Er macht ein Feuer unter den Aprikosenbäumen und bewacht nachts die schwelende Glut, um den Frost abzuwehren.

Konrad sitzt vor dem Bienenhaus. Er hat gelernt, sich so zu verhalten, dass er nicht gestochen wird. Der Urvater spricht vom arbeitsreichen Leben der Bienen, von der Königin und der sinnvollen Hierarchie ihres Volkes.

Sie sitzen im Schatten des Frühapfelbaumes und saugen den frischen Honig aus den Waben, bis nur das Wachs übrigbleibt. Dazu essen sie frisches Weißbrot und trinken Ziegenmilch mit Johannisbeersaft. Der Urvater spricht biblisch vom Land, in dem Milch und Honig fließen.

Eine der größten Sünden im Kanon des Urvaters war die der Verschwendung. Konrad sieht sich, wie er über ein abgeerntetes Getreidefeld geht, gebückt, den Blick nach unten. Ähren stoppeln, Futter für die Hühner aufsammeln, eine mühevolle Kleinarbeit.

Kam ein Fuhrwerk durch die Straße, die nur ein Sommerweg war, also Erde, Modder oder Eis und Schnee, dann rannte er auf Geheiß des Urvaters mit der Schippe hinaus, um die kostbaren Pferdeäpfel aufzusammeln, der beste Dünger für die Erdbeeren.

Mit Korb und Sichel zog er los, um für die Kaninchen Löwenzahn vom Straßenrand zu holen.

Nichts ließ der Urvater umkommen, jeder krumme Nagel wurde wieder glatt geklopft.

Hatte er dieses Verhalten nicht auch bei den völkischen Siedlern beobachtet? Alles wurde verwertet, sie lebten sparsam und möglichst autark. Hatte es sich nicht heimelig angefühlt, als er hörte, dass sie unter Betten schliefen, die gefüllt waren mit den Federn ihrer eigenen Gänse?

Federnreißen im Haus des Urvaters. Eigentlich darf er nicht dabei sein, da sind die Frauen nach altem Brauch unter sich. Sie dulden ihn nur in der Stube, weil er ein Schlafgast ist. Wie so oft übernachtet er beim Urvater, von der Schwiegertochter, seiner Großmutter, liebevoll umsorgt. Urvaters Frau ist gestorben, als Konrads Mutter mit ihm schwanger war. Da auch Konrads Großvater schon seit einigen Jahren tot ist, ist sie zum Urvater gezogen, um ihm »die Wirtschaft zu machen«, wie Konrads Mutter es nennt.

Der Tisch ist voller Federn, an ihm sitzen die Frauen mit hochroten Gesichtern, lachend und schnatternd wie die Gänse, deren weiße Pracht sie flink durch ihre Hände gleiten lassen. Konrad hockt auf der Bank am bullernden Kachelofen, er schaut zu, wie seine Großmutter Eierlikör eingießt. Wenn das Geschnatter gar zu arg wird und von Kuckuckskindern, gehörnten Ehemännern, Sechsmonatskindern und anderen skandalösen Sensationen die Rede ist, dann sagt Großmutter: »Der Fußboden hat Löcher!«

Was das heißen soll, weiß er. Hier sind zwei allzu junge Ohren zu viel in der Stube, seine Ohren. Darum gilt es an diesen Abenden, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Am besten, man kriecht unter den Tisch.

Ging es nicht beim Federnreißen zu wie in einem Geheimbund, weil die Männer nicht dabei sein durften? Und gab es früher nicht noch viel mehr solcher Bräuche, die davon lebten, bestimmte Menschen auszuschließen, so wie es heute die Völkischen machten? Sich einmal ganz besonders fühlen, sich separieren von der Masse.

Er erinnerte sich, wie stolz er gewesen war, als er endlich das blaue Halstuch der Jungpioniere tragen durfte und nun mit einer gewissen, wenn auch diskreten, Verachtung auf die jüngeren Kinder herabschaute, die ohne Halstuch im Sandkasten saßen.

Leute wie Graf machten sich diese zutiefst menschliche Eigenschaft zunutze.

Waren nicht gerade die Menschen, die es nicht geschafft hatten, sich aus eigener Kraft nach dem Zusammenbruch der DDR eine neue Existenz aufzubauen, extrem anfällig für die Ideologie der Nazis? Kommt alle her zu uns, wir geben euch zurück, was ihr verloren habt, euren Stolz, eure Ehre, euren Wert. Und wir zeigen euch, wer schuld ist an eurer Misere. Wir werden sie jagen.

Was hätte Urvater über Grafs Vormachtstellung in Creywitz gesagt und wie hätte er sich ihm gegenüber verhalten? Er war kein Bauer gewesen, sondern ein Eisenbahner, der sich auf seinem Besitz eine kleine Landwirtschaft aufgebaut hatte. Sie ermöglichte es ihm, seiner Familie auch in schlechten Zeiten einen gut gedeckten Tisch bieten zu können. Außerdem verfügte er über eine beträchtliche Fläche gepachtetes Land, um sein Vieh zu ernähren. Der Keller des Hauses barg all die nahrhaften Schätze, eingeweckt oder eingepökelt standen sie in den Regalen. Es duftete nach Äpfeln, die in den Stiegen ganz oben auf den Regalen lagen. In der Abseite lagerten die Kartoffeln. So waren sie abgesichert, komme, was wolle.

Hatte sich nicht auch Urvater ein Leben lang abgeschottet vor der Welt da draußen?

Aus den Tiefen der Erinnerung tauchte jenes Gespräch mit dem Urvater auf, welches Konrads Denken, Fühlen und Handeln nachhaltig beeinflusst hatte. Ehe jedoch die Saat dieser Worte aufging, vergingen viele Jahre.

Urvater breitet den Stammbaum der Familie vor ihm aus, ein großformatiges vergilbtes Blatt aus Büttenpapier, welches er in der Bibel aufbewahrt. Er streicht es vorsichtig glatt, bevor er seine Stimme bedeutungsvoll erhebt und sein Zeigefinger hoch hinauf in die luftige Krone wandert: »Da bist du, Konrad. Und hier, ganz unten, da siehst du unsere Wurzeln. Ein Konrad!« Seine breite Hand tastet fast zärtlich über das Wurzelwerk des mächtigen Baumes.

»Ein Konrad Melchior Wieland, er ist der Erste, von dem wir Kunde hatten. Also ist er der Stammvater unseres Geschlechts. Er wurde 1550 in Franken geboren, dann ist er vermutlich ausgewandert, kam hierher in die Uckermark und erwarb dieses Land. Unser Land, auf dem wir bis heute sitzen. Er starb 1610 und hinterließ seiner Frau und den Söhnen Konrad und Friedrich ein ansehnliches Gut.«

Konrad fragt, wo dieses Gut geblieben sei. Ein Gut, das weiß er, ein richtiges Gut wie das volkseigene Gut am Rande der Stadt, ist viel größer als Urvaters Grundstück.

Auf dem volkseigenen Gut »Frohe Zukunft« gibt es eine Schweinemastanlage, die infernalisch stinkt, eine große Schafherde, Weiden mit schwarzbunten Kühen und vor allem Pferde.

Der Vater seines Freundes ist Kutscher auf jenem Gut und es bereitet Konrad große Freude, wenn er die Jungen mit auf den Bock steigen lässt. Ein Gut, das ist Land ohne Ende, bis zum Horizont wogt das Weizenmeer, blüht der gelbe Raps, steht der Mais wie eine Armee Soldaten.

Urvater räuspert sich gedankenvoll, er nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen.

»Der erste Krieg«, stößt er zornig hervor, »der kam uns teuer zu stehen, den haben unsere Leute nicht nur mit ihrem Leben bezahlt. Als wenn der Blutzoll nicht genug gewesen wäre, pressten sie das Letzte aus uns raus, um Deutschlands Schmach zu tilgen. Die hohen Steuern ruinierten uns. Reparationen musste Deutschland zahlen an die Siegermächte, da ging es an die Substanz. So manches Gut kam unter den Hammer. Von den kleinen Leuten ganz zu schweigen, die hungerten.«

Er hält einen Moment inne, eine steile Falte steht zwischen seinen Brauen. Vorsichtig schlägt er den Stammbaum zusammen und legt ihn zurück in die Bibel.

»Das ist nicht die ganze Wahrheit, Konrad. Man muss sich der Wahrheit stellen. Sie haben den schönen Besitz kaputt gemacht. Die Erben stritten sich und teilten das Gut in vier Hälften. Das war ein großer Fehler. Drei Hälften davon wurden verjuxt und verschwendet! Auch das waren Wielands, auch unser Baum trug faule Früchte. Merk dir, Konrad, nur wenn man an einem Strang zieht, kann man etwas erreichen. Einigkeit macht stark!«

Er bekräftigt seine Worte, indem er mit der Faust auf den Tisch schlägt.

»Den Rest habe ich von meinem Onkel übernommen. 1920, in der schlimmsten Zeit, da war ich dreißig. Die Leute in der Stadt fraßen ihren Dreck, da lernt man zu schätzen, was die eigene Scholle wert ist. Es war nicht leicht. Früher war man mit dreißig Jahren ein Mann, der das Leben schon geschmeckt hatte. Ich hatte einen Beruf, war verheiratet und wir erwarteten unser zweites Kind. Und ich war im Felde gewesen.«

Urvater spricht nie über den Krieg, nicht über den ersten, nicht über den zweiten. »Im Felde gewesen«, das ist alles, was zum Thema Krieg über seine Lippen kommt.

»Es waren schwierige Zeiten. Erst die Weltwirtschaftskrise, dann die Nazis. Kapitalismus, Sozialismus, Nationalsozialismus, Kommunismus! Merk es dir gut, Konrad, alles, was mit ›mus‹ endet, ist schlecht! Diese ganzen Ideologien, sie säen nichts weiter als Neid, Hass und Zwietracht. Ich gebe dir einen Rat, Junge, halt dich da raus. Gehst du in eine Partei, hast du deine Seele verkauft. Du bist kein freier Mann mehr, du musst machen, was die Funktionäre der Partei wollen. Das war früher so und ist heute nicht anders. Schau sie dir an, diese Funktionäre, wer sind sie denn? Schwätzer und Fantasten. Leute, die nichts weiter können als Sprüche klopfen. Wer nichts gebacken bekommt im Leben, der geht in die Politik. So war es und so bleibt es. Bevor der Hitler an die Macht kam, da haben sie sich geprügelt, hier in Friedrichsfeld, die Roten und die Braunen, das ganze Lumpenproletariat. Das konnten sie gut, das war alles, was sie konnten. Parolen schreien, die Wände beschmieren und sich prügeln. Wenn du groß bist, Junge, dann such dir einen Beruf, in dem du ungestört arbeiten kannst. Eine Arbeit, in die dir kein Funktionär reinreden kann. Lerne ein Handwerk oder was Technisches wie dein Vater. Da haben die keine Ahnung von, da kannst du schalten und walten, wie es dir beliebt, und bist ein freier Mann.«

Konrads Vater war Ingenieur im hiesigen Wasserwerk gewesen und Konrad hatte später den Beruf eines Elektrikers erlernt. Keiner aus der Familie war in die SED eingetreten. Hatte Urvaters Einfluss die Familie so nachhaltig geprägt?

Alles, was mit »mus« endet, ist schlecht.

Konrad war fast acht Jahre alt und hatte gerade das erste Schuljahr beendet, als er diesen Satz aus dem Munde des Urvaters hörte. Natürlich wusste er noch nicht, was sich hinter dem Begriff »Ideologie« verbarg. Aber was Urvater sagte, musste wahr und recht sein, weil er der Urvater war. Er sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen, war sein Gesprächspartner an langen Winterabenden, wenn die Großmutter in der Küche mit dem Geschirr rumorte oder mit ihrem Strickzeug schweigend auf der Ofenbank saß. Seine Worte fielen auf den fruchtbaren Boden eines Kindergemüts, das ganz unbewusst nach einer absoluten Wahrheit suchte. Lag es daran, dass er in einer Welt der Doppelzüngigkeit aufwuchs? Schon als Fünfjähriger wusste er, dass er im Kindergarten nicht alles erzählen durfte, was zu Hause gemacht und besprochen wurde, und das ging in der Schule so weiter.

Nun verstand er. Wenn die Lehrerin vorn an der Tafel vom ruhmreichen Kommunismus sprach, lehnte er sich zurück und ein kleines überlegenes Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste, dass sie log. Kommunismus ist ein »mus-Wort«, also kann er nur schlecht sein. Er bringt den Menschen Not, Krieg und Hass. Konrad darf das nicht in der Schule sagen, denn sie haben den längeren Arm und können ihm die Zukunft versauen. Auch das hatte der Urvater gesagt. Aber die Gedanken sind frei und deshalb hatten die Kommunisten das Lied von den freien Gedanken verboten.

Hielten sich nicht auch die Kinder der völkischen Siedler für etwas Besseres? Hatten sie ihnen nicht das Leitbild einer elitären Gemeinschaft eingepflanzt, die allen anderen Menschen überlegen war? Nicht umsonst bezeichneten sie ihre Kinder als ihren größten Reichtum. Bei dieser Aussage ging es nicht nur um das Band der Liebe, das in jeder Familie Eltern und Kinder vereint. Es ging vor allem um die Zukunft ihrer Ideologie. Die Kinder waren der fruchtbare Boden, den sie bestellten, um zu Ende führen zu können, wozu sie sich berufen fühlten. Entsprach nicht genau dies Urvaters Motivation, dem achtjährigen Jungen sein eigenes Weltbild zu vermitteln?

Der Urvater hatte Konrads geistiges Potenzial und seine schon früh ausgeprägte Suche nach dem Sinn des Lebens als Einziger in der Familie erkannt. War Konrad die Hoffnung seines Alters, wie kein anderer seiner Nachkommen es je gewesen war? Zu Hause bei seinen Eltern, auch bei allen anderen Verwandten, galt er als ein eher langweiliges Kind ohne große Interessen, ein Kind, das keine Fragen stellte. Zwar erhielt er gute Noten in der Schule, war aber schweigsam und schien ohne jegliche Originalität, ohne besondere Fähigkeiten und Neigungen zu sein. Sein inneres Erleben sahen sie nicht, das sah und begleitete einzig der Urvater, und er wurde nicht müde, es zu nähren. Kurz vor seinem Tod setzte er ein Testament auf und trug Konrad als seinen Universalerben ein.

Die innere Freiheit und das Wissen, selbstständig denken, entscheiden und handeln zu können, auch wenn der Handlungsspielraum in einem Land wie der DDR begrenzt blieb, das war das wichtigste immaterielle Erbe des Urvaters und es lebte still in Konrad weiter.

Er konnte als Heranwachsender nicht durchschauen, dass dies die Saat des Urvaters war, so wie auch die Kinder der völkischen Siedler nicht durchschauten, dass sie nie die Fußstapfen ihrer Väter verlassen würden, es sei denn, etwas Besonderes geschähe. Diese Weitergabe von Generation zu Generation wurde seit Menschengedenken nur durch Katastrophen unterbrochen, die sich entweder extern vollzogen, durch Kriege oder Naturereignisse, oder intern durch persönliche, psychische Krisen ausgelöst wurden.

Der Tatsache, dass der Urvater nicht über seine Kriegserlebnisse sprechen will, haftet etwas Mystisches an. Dadurch wird der Krieg für den Jungen in das Land der Märchen und Sagen verbannt. Konrad weiß nur, dass er im ersten Krieg an der Westfront gewesen ist, ein abstrakter Begriff für einen Jungen seines Alters. Und er weiß, dass sein Cousin, der Hans, in diesem Krieg gefallen ist.

»Hans war nicht nur mein Cousin, er war mein bester Freund«, sagt der Urvater, kneift die Lippen zusammen und schweigt. Damit ist das Thema eigentlich beendet.

Doch Konrad gibt keine Ruhe, er fragt ihn, weshalb er nicht im zweiten Krieg gekämpft habe.

»Gott sei Dank war ich dafür schon zu alt«, antwortet er, »und außerdem war ich kriegswichtig. Räder sollen rollen für den Sieg, so hieß das damals.«

Es folgt eine stolze Erläuterung, die darin gipfelt, dass alles, aber auch alles, ob im Krieg oder Frieden, mit der Eisenbahn steht oder fällt. Diese Lobpreisung des Eisenbahnwesens kennt Konrad auswendig, er hört nicht mehr richtig zu, bis der Urvater sagt: »Aber dann, im Herbst 44, da wollte mich die Saubande doch noch an die Front schicken.«

Konrad holt tief Luft und schaut den Urvater gespannt an, darüber hat er noch nie gesprochen.

»Was meinst du wohl, Konrad? Ob sie das geschafft haben?«

»Nee!«, antwortet er schnell. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, in Erwartung einer spannenden Geschichte.

»So war es, mein Junge!« Der Urvater zaust ihm das Haar. »Sie haben es nicht geschafft. Weil ich nämlich krank wurde, ganz schwer krank! Todkrank sozusagen.«

Urvater schaut ihn eindringlich an, dabei zwinkert er listig. »So krank wie du, wenn du keine Lust hast, zur Schule zu gehen.«

»Du hast den Krieg geschwänzt, Urvater!«

Der Urvater hebt theatralisch beide Hände und schaut himmelwärts, als wollte er dort oben einen Zeugen anrufen. »Aber nein, Konrad, was denkst du denn von mir! Ich erhielt ein ärztliches Attest. Ich habe es aufbewahrt, man weiß ja nie. Natürlich war ich krank, sterbenskrank! Ja, so kann man es sagen, ich war dem Tode sehr nah, denn wenn sie mir auf die Schliche gekommen wären, hätten sie mich an die Wand gestellt und abgeknallt.«

Urvater hält inne, holt tief Luft und fügt dann mit entrüsteter Stimme hinzu: »Ja glaubst du denn, ich wäre für diesen Drecksack aus Braunau noch kurz vor dem Zusammenbruch ins Feld gezogen?«

Darauf schweigen sie, der Urvater weilt sinnend in der Vergangenheit und der Junge sortiert die Informationen.

Klar, die Front ist der Krieg, da standen sich die Soldaten gegenüber und kämpften. Und das Feld ist kein Kartoffelfeld, es heißt Schlachtfeld, weil dort die Schlacht stattfand. Das hat etwas mit dem Schlachten zu tun, weil da auch viel Blut geflossen ist und getötet wurde. Vom Schlachten hält der Urvater ebenfalls nichts. Die Hühner überlässt er der Großmutter. Das geht flink bei ihr, schnell das Huhn gepackt, rauf auf den Holzklotz und dann schwingt sie die Axt. Sollen andere Tiere geschlachtet werden, Kaninchen oder mal eine Ziege, kommt ein richtiger Schlachter und der Urvater verzieht sich. Er taucht erst wieder auf, wenn alles vorbei ist, um den Schlachter zu bezahlen und einen Schnaps mit ihm zu trinken.

Hans, der Cousin, der ist nicht nur hingefallen, einfach so, sondern der ist gestorben. Erschossen oder so. Und der Drecksack aus Braunau, das ist natürlich dieser Hitler. Der ist an allem schuld. Millionen Menschen hat der in den Tod getrieben. Das muss man sich mal vorstellen, ein einziger Mann! Das war so ungeheuerlich, das gibt es in keinem Märchenbuch! Immer haben die Guten gesiegt, Gretel befreite ihren Bruder Hänsel und verbrannte die Hexe, der Wolf stürzte in den Brunnen, weil er den Bauch voller Steine hatte, und die Bremer Stadtmusikanten verjagten die Räuber. Nur gegen Hitler, den Mann aus diesem Braunau, das sicher ein ganz schlimmer, finsterer und schmutziger Ort ist, gegen den kam keiner an. Noch nicht mal der Urvater.

Sein großes Vorbild als Verlierer, welch ein ungeheuerlicher Gedanke. Konrad findet sich schließlich damit ab, denn Hitler ist allmächtig gewesen, so scheint es ihm, ein böser Zauberer, ganz wie der Zauberer im Märchen vom gestiefelten Kater. Der Kater hat ihn dann doch noch besiegt, weil er sehr schlau war, und auch den Hitler haben sie besiegt. Aber da sei es leider schon zu spät gewesen, meint der Urvater. Da sei nichts mehr zu retten gewesen, das hätte ein Jahr vorher passieren müssen, in der Wolfsschanze. Dann murmelt er etwas von einem Stauffenberg. Doch Konrad hört nicht mehr hin, das Wort »Wolfsschanze« beflügelt zu sehr seine Fantasie.

Trotz der Sache mit Hitler blieb der Urvater die höchste Instanz im Kinderleben Konrads. Einen lieben Gott, an den man zu glauben hatte, gab es für ihn nur der Form halber. Seine Eltern waren eigentlich Atheisten, nur dem Urvater zuliebe hielten sie an der Kirche fest.

Die Bibel im Haus des Urvaters war für ihn ein Buch der Märchen und Sagen mit vielen schönen bunten Bildern. Manchmal las er ihm aus diesem dicken alten Buch vor, stets aus dem Alten Testament, das Neue interessierte ihn nicht. Immer ging es um Gottes Volk, das Volk Israel, welches die seltsamsten Abenteuer bestand auf der Suche nach Land, das ihnen Schutz und Nahrung bot. Konrad verstand, vor vielen Tausend Jahren waren schon Menschen durch die Welt gezogen, um Land in Besitz zu nehmen. Ohne Land ging nichts. Sogar seine Eltern, die im Plattenbau wohnten, hatten einen Kleingarten. »Eigene Ernte«, das war ein stolzer Begriff, es klang aus dem Munde seines Vaters wie »der Sieg ist unser«.

Und dann war da noch Gott, der stets den Zug der Israeliten begleitete, aus den Wolken auf sie herabschaute und es Nahrung regnen ließ, wenn sie Not litten. Sogar das Meer teilte er vor ihnen, damit sie trockenen Fußes weiterkamen auf der Suche nach ihrem Land.

In Konrad stieg die Ahnung auf, dass dieser Gott für den Urvater eine Macht darstellte, die einzige, absolute Macht, vor der er sich beugen musste. Oft sagte er: »Der Mensch denkt und Gott lenkt.«

Gott hielt also die Zügel in den Händen, er bestimmte, wohin die Reise ging. So verstand er es, doch es blieb für ihn abstrakt, es war nicht greifbar wie die Sache mit dem Land. Viele Jahre später begriff er, dass beides für den Urvater zusammengehörte. Das Land kam von Gott, dem Weltenlenker, er gab es denen, die es sich redlich verdient hatten. Die Guten hatten es sich verdient, die Gerechten, die Fleißigen, die Bescheidenen und nicht die Lügner, Prasser und Hohlschwätzer. Die faulen Äpfel am Stammbaum, sie hatten es verwirkt. Schwarz und weiß, gut und böse, fleißig und faul, so einfach war Urvaters Weltbild gewesen.

War nicht auch das Weltbild der völkischen Siedler von der gleichen naiven Schlichtheit? Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

In einer Zeit, in der das Alte zerfiel und das Neue noch nicht ausgereift war, in dieser Zeit der Orientierungslosigkeit und Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch versuchten sie, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie gebärdeten sich, als hätte es alle politischen Umbrüche, Kulturkämpfe und Reformen der vergangenen Jahrhunderte nie gegeben.

Wie oft hatte er anfänglich in jenen Creywitzer Tagen gedacht, sollen sie doch machen, was sie wollen, solange sie uns in Ruhe lassen. Leben und leben lassen, das hatte er von seinem Vater und auch das hatte er verinnerlicht. Es dauerte lange, bis er begriff, dass er auf dieser Basis nicht mit ihnen zusammenleben konnte. Ihre Ideologie basierte auf Abgrenzung und daraus entstand Ausgrenzung. Es ging ihnen nicht nur um Land und Nahrung, um die Familien und ihren blühenden Fortbestand, es ging vor allem um Macht und Herrschaft, um eine Wiederherstellung der Verhältnisse, die laut Urvater dieses Land ins Verderben gestürzt hatten.

Ihre ganze folkloristische und ökologische Umtriebigkeit war ein Etikettenschwindel, eine grüne Tarnung, so gut, dass selbst der Urvater auf sie hereingefallen wäre, davon war Konrad überzeugt. Weil er gutgläubig gewesen war, ehrlich und davon ausging, die anderen wären es auch.

Umso härter traf es ihn, als er enteignet wurde. Einfach so, fast konnte man sagen, über Nacht. Man hatte Großes vor mit der kleinen Stadt in der Uckermark. Industrie siedelte sich an, Wohnblocks wurden gebaut für die arbeitenden Werktätigen. Junge Familien kamen und mit ihnen die Kinder. Die wenigen Schulen der Stadt platzten bald aus allen Nähten. Und so beschlossen die Funktionäre, neue Schulen und Kindergärten zu bauen. Ein Schwimmbad musste her, ein Kulturzentrum und eine Bücherei. Dazu noch eine Umgehungsstraße, die sich mitten durch die Gärten und Bauerngehöfte am Stadtrand ihren Weg bahnen sollte. Die Stadt fraß sich in das Land und fraß Urvaters Grund und Boden. Sie war jetzt eine sozialistische, dagegen kam auch der Urvater nicht an.

Das erklärte ihm der Vater, als er Urvater aus dem Krankenhaus abholte. Nein, er habe keinen Herzinfarkt bekommen, als ihm per Brief mitgeteilt wurde, was geschehen würde. Er sei nur vom Heuboden gefallen an jenem Tag und habe sich die Schulter ausgekugelt, die ihm flugs wieder gerichtet worden war.

Eine angemessene Entschädigung sollte für Land und Haus gezahlt werden. »Da scheiß ich drauf«, schimpfte der Urvater und sagte weiter nichts über die Angelegenheit.

Konrad weilte währenddessen im Ferienlager. Als er zurückkam, war der Urvater tot. Er konnte nicht recht glauben, dass er wirklich und wahrhaftig in dieser Holzkiste lag, die man einfach so in die Erde senkte. Sicher ist er da gar nicht drin, dachte er, als sie am Grab standen. Er verarscht sie, er ist schlau. Er hat einen Plan, er will sie alle überlisten, um sein Land behalten zu können.

Die Kapelle der Eisenbahner spielte »Ich hatte einen Kameraden«. Vater zischte der Mutter zu: »Ist das nicht verboten?«

»Wie er das wohl gemacht hat«, sagte sein Vater zur Mutter, als sie den Friedhof verließen.

»Er war fast einundneunzig. Das hat ihm den Rest gegeben.«

Worauf der Vater meinte: »Eigentlich ist das ja ein schöner Tod. Einfach abends einschlafen und nicht mehr aufwachen.«

So hatte es sich zugetragen. Als die Großmutter ihn zum Frühstück wecken wollte, lag er da und war einfach tot. »Der Herr war ihm gnädig«, sagte sie beim Leichenschmaus und dem war nichts mehr hinzuzufügen.

Alle waren sie gekommen, die ganze buckelige Verwandtschaft, wie sein Vater es ironisch kommentierte. Ein letztes Mal saßen sie in seiner Wohnstube, danach verstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen und kamen nie wieder so zahlreich zusammen. Eigentlich kamen sie überhaupt nicht mehr zusammen. Die Großmutter zog in die Platte, später in ein Altersheim. Damals hieß es noch »Feierabendheim« und war gar nicht so übel.

Nach Urvaters Tod fiel die Familie auseinander. Die Auflösung vollzog sich schleichend. Nicht nur die Großmutter zog ins Heim, andere Senioren in der Verwandtschaft folgten ihr. Es war keiner mehr da, der ihnen »die Wirtschaft machen« konnte. Inzwischen gingen alle Frauen arbeiten, Stellen gab es genug. Die Kinder waren in der Krippe oder im Kindergarten untergebracht, später als Schulkinder gingen sie in den Hort. Jeder war versorgt, um im sozialistischen Sinne erzogen zu werden.

So vergingen die Jahre und Konrad erkannte die Nachkommen seiner Sippe nicht mehr, wenn sie sich zufällig in der Stadt begegneten. Früher, wenn sie beim Urvater in großer Runde am Sonntag im Garten unterm Apfelbaum gesessen hatten, hieß es: »Weißt du eigentlich, dass Martin dein Cousin zweiten Grades ist? Nun geht mal schön spielen.« Martin, mit dem er allen möglichen Blödsinn veranstaltet hatte, war nur noch eine Erinnerung, so wie all die anderen auch.

Als die Großmutter starb, nahm sie auch die Geschichten mit, die Familienanekdoten, die sie meisterlich erzählen konnte und in denen der Urvater meist der Hauptakteur war.

Die nächste Stufe des familiären Zerfalls vollzog sich nach der Wende. Die jungen Leute gingen in den Westen, um dort zu arbeiten, oder nach Berlin, wo vorher ohne Zuzugsgenehmigung kein Hineinkommen gewesen war.

Auch Konrad zog der Arbeit wegen nach Berlin. Er arbeitete im Berliner Westen und lebte in einer alten Mietskaserne im Berliner Osten, weil es dort billiger war. Heimat jedoch, das war für ihn nach wie vor Friedrichsfeld. Dort lebten die Eltern, dort lagen die Gräber der Familie, die Orte seiner Jugend, Erinnerungen und Landschaft, Duft und Traum seiner ersten Liebe. All dies hatte er dort zurückgelassen, so wie den Nussbaum. Der stand, wo er immer gestanden hatte, verwurzelt in der verlorenen Erde des Urvaters. Wenn Konrad zu seinen Eltern fuhr, stattete er ihm einen Besuch ab. Er hatte als einziger Baum den Kahlschlag des Fortschritts überlebt. Er stand vor der Bücherei. Das Gebäude zeigte bereits deutliche Spuren des Zerfalls, es wurde längst nicht mehr genutzt. Vom Nussbaum aus aber gingen Konrads Erinnerungen spazieren.

Und dann kam jener Tag, an dem Konrad auch den Nussbaum verlor. Nicht, dass er gefällt worden wäre. Konrad hatte ihn nur seitdem nie wieder besucht, hörte auf, sich dort seinen Erinnerungen hinzugeben. Es geschah an seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag. Er war in Begleitung seiner damaligen Freundin zu seinen Eltern gefahren und sie eröffneten ihm ausgerechnet an diesem Tag, dass sie Friedrichsfeld verlassen wollten. Das ist Verrat, hämmerte es in seinen Schläfen, während er hörte, was sie schon alles in Gang gesetzt hatten, hinter seinem Rücken. Sie wollten nach Köln ziehen, Köln war für Konrad so fern wie der Mond. Zwar war er inzwischen einige Male gereist, war in Italien, in England und Frankreich gewesen, aber Köln, das lag im tiefsten Westen.

Im Ausland war er ein Fremder, aber was war er in Köln? Ein Ossi, ein Mensch zweiter Klasse.

Sein Vater wollte in Köln machen, was er sein ganzes Leben lang gemacht hatte – etwas mit Wasser. Nur mit dem Unterschied, dass dieses nun aus dem Rhein kam und nicht aus der Oder, wie er launig bemerkte. Sie hätten da ein lukratives Angebot, berichtete er, und zwar in einem Umweltinstitut, er als Wasserspezialist, die Mutter in der Verwaltung.

Seinen Einwand, dass sie dafür doch viel zu alt seien, seine Mutter war damals siebenundvierzig, sein Vater fast fünfzig, lachten sie weg. »Wir wollen einfach raus, Konrad«, meinte die Mutter, »hier passiert nichts mehr, wir wollen noch ein bisschen leben!«

»Ihr nehmt mir meine Heimat.« Das war alles, was ihm dazu einfiel, sie stritten sich und vertrugen sich wieder, aber der Umzug war beschlossene Sache und so geschah es dann auch.

Was ihn immer mehr befremdete, war die Veränderung seiner Eltern. Sie vollzog sich schleichend. Hatten sie anfänglich noch bekundet, dass sie eventuell als Rentner wieder in die Heimat zurückkehren würden, so war nach einem Jahr davon keine Rede mehr. Auch veränderte sich ihr Äußeres, ihre Art zu sprechen, ihre ganze Art zu leben. Es schien ihm, als würden sie sich verjüngen, und das machte ihm Angst. Die Mutter hatte plötzlich ihre alte Liebe zur Malerei entdeckt, sie pinselte in ihrer Freizeit, was das Zeug hielt. Konrad wusste, dass sie in ihrer Jugend gemalt hatte, aber in all den Jahren in Friedrichsfeld war das kein Thema mehr gewesen. Nun besuchte sie Kurse und ging zu irgendwelchen Vernissagen. Konrad lernte ihre neuen Freunde kennen, die ihm alle ein bisschen verstrahlt vorkamen. Er hatte den Eindruck, sie würden nicht auf dem Boden der Realität stehen. Selbst sein Vater, den er immer als einen recht nüchternen Menschen wahrgenommen hatte, veränderte sich. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich neben diverser Fachliteratur jede Menge Magazine, Zeitschriften und Bücher, die er Konrad empfahl.

»Das musst du unbedingt lesen, es wird deine Welt verändern!«, rief er enthusiastisch. Er sprang von einem Thema zum anderen. Führte sich auf, als hätte er jahrelang im Knast gesessen und nun endlich die langersehnte Freiheit wiederentdeckt.

Was war passiert? Wo waren seine alten Eltern geblieben, die Eltern seiner Kindheit, deren Leben sich zwischen Wohnung, Arbeit, Kaufhalle und Kleingarten abgespielt hatte, wenn man von der Sommerreise an die Ostsee einmal absah?

Mutter mit Dauerwelle und Kittelschürze, sie bereitet das Abendbrot vor, Vater im Fernsehsessel, in der Hand das Lokalblatt. Im Fernsehen läuft das Sandmännchen. Mutter verkündet aus der Küche, sie hätte heute drei Gläser mit ungarischem Paprika in der Kaufhalle ergattert. Jeder Kunde bekomme aber nur drei Gläser, das sei ja auch gerecht, wo würden wir denn da hinkommen, wenn nur noch gehortet würde. »Ich bringe sie nachher in den Keller«, sagt der Vater, worauf sie ihm antwortet: »Du musst unsere Vorräte mal wälzen, hörst du!«

Nun legten die Eltern keine Essvorräte mehr an, sondern sammelten Bekanntschaften mit Menschen, Reiseeindrücke und Bücher. Vorbei waren die Zeiten, in denen sie Lebensmittel horteten und alles aufhoben. Bevor sie Friedrichsfeld verließen, hatten sie gründlich aussortiert. Ihre neue Wohnung in Köln erschien Konrad seltsam kahl.

»Wo ist eigentlich Urvaters Sessel?« Suchend schaute er sich um, als er das neue Wohnzimmer betrat.

»Aber der war doch schon so schäbig«, meinte die Mutter verlegen.

Der Sessel hatte seit Urvaters Tod in der Friedrichsfelder Wohnung neben dem Bücherregal gestanden, sein schlechter Zustand war diskret durch eine übergeworfene Decke verhüllt worden.

»Wir haben einen neuen Lesesessel gekauft. Setz dich mal rein, der ist superbequem, ergonomisch geformt!«

Konrad verzichtete darauf, obwohl seine Form dem Sessel des Urvaters nachempfunden war, was er unterschwellig als Betrug empfand, als eine werbewirksame Vorspiegelung falscher Tatsachen. Er murmelte nur: »Und wo ist das Büfett?«

Die Mutter tat so, als hätte sie es nicht gehört, und ihm war klar, dass sich diese Frage damit selbst beantwortete. Urvaters Büfett hatte schon in Friedrichsfeld jahrelang im Keller gestanden. Sicher war es auf dem Sperrmüll gelandet. Jahre später sah er ein ähnliches Teil bei einer Haushaltsauflösung in Berlin und Laura konnte ihn nur mit großer Mühe davon abhalten, es zu kaufen.

»Entweder das Büfett oder ich, Konrad!«

Über Geschmack ließ sich streiten. Dabei ging es ihm gar nicht um den geschnitzten Adler, der das altehrwürdige Teil krönte, es in seinen Krallen hielt und seine Schwingen schon zum Flug ausbreitete, um sich samt Schrank, Gläsern und Geschirr in die Lüfte zu erheben. Nein, es ging ihm nicht um diese gemütliche deutsche Geschmacklosigkeit aus Eiche, es ging um viel mehr, um Erinnerung, die man anfassen konnte.

Mit dem Büfett des Urvaters war für ihn eine ganze Welt verschwunden. Die Welt des ehrlichen Fleißes, die Welt der Sparsamkeit und Genügsamkeit, die Welt der Tugenden des Urvaters.

Wenn er zu Besuch nach Köln kam, machten die Eltern mit ihm Ausflüge, sie fuhren nach Straßburg, nach Luxemburg, an die Mosel und an den Mittelrhein. Dabei gebärdeten sie sich zu seinem Befremden, als wäre das ganze Leben ein Sonntagsspaziergang. Früher waren sie weniger euphorisch gewesen, sondern nüchtern und ernst.

Während dieser Ausflüge beobachtete er die Menschen, wie sie bei jedem Wetter vor den Cafés saßen, ständig lächelnd oder laut fröhlich lachend und scherzend, immer gut gelaunt, gepflegt und gut gekleidet. Wie sie sich aufmerksam miteinander unterhielten, sich ganz ihrem Gesprächspartner zuwandten und ihm ihre volle Konzentration schenkten, selbst wenn es nur um Banalitäten ging. Und meist ging es nur um Banalitäten, wie er feststellte, wenn er ihre Gespräche belauschte. Hätten an ihrer Stelle lauter Konrade gesessen, wäre das große Schweigen ausgebrochen. Er sah, wie sie sich mit einem Glas Wein in der Hand in Szene setzten und sich zuprosteten, als hätten sie gerade eine Heldentat vollbracht.

Er sah auch die Bettler, viele waren es nicht, aber sie waren unübersehbar. »Bettler gab es früher bei uns nicht«, sagte er zu seiner Mutter.

»Weil Bettelei verboten war«, antwortete sie gereizt.

Seine Eltern genossen ihr neues Leben und es schien ihm, als wollten sie nur die schönen Seiten davon sehen. Sie mutierten zu rheinischen Frohnaturen, wie ein Chamäleon hatten sie die Farbe gewechselt, sich angepasst. Sie waren Wessis geworden. Das hätte er noch verkraften können, sie lebten ja jetzt da drüben. Aber ihre Freude daran nahm er ihnen übel. Besonders bei seiner Mutter fiel ihm auf, dass sie schon nach wenigen Jahren den Dialekt der Region angenommen hatte. Mit ihm sprach sie zwar weiterhin in Friedrichsfelder Mundart, waren jedoch Einheimische dabei, dann kopierte sie deren Sprache. So glaubte Konrad es jedenfalls zu hören. Für ihn war es Verrat, ein Verrat an der Heimat. Verleugnete die Mutter damit nicht ihre Herkunft? War es denn nichts mehr wert, ein Brandenburger zu sein?

Zurück in Berlin kaufte er sich einen preußischen Wimpel.

Er stellte ihn auf seinen Schreibtisch. Dort lag die Bibel des Urvaters, in ihr befand sich noch immer der Stammbaum, in dem Konrad handschriftlich dessen Todesdatum eingetragen hatte.

Er wusste, dass er recht tat, wenn er das Andenken seines Urvaters in lebendiger Erinnerung behielt. Die Welt hatte sich verändert, aber hatte ihm der Urvater nicht ewig geltende Werte vermittelt? Er dachte daran zurück, wie er ihm mit feierlicher Stimme die Zehn Gebote aus dem Alten Testament vorgelesen hatte, die Moses auf einem Berg empfangen hatte. Handelte es sich dabei nicht um universelle ethische Grundsätze, nicht nur für das Christentum geltend, Grundsätze, die das Zusammenleben der Menschen überhaupt erst möglich machten? Eines Tages würde er sie seinen Kindern vorlesen.

Kinder. Spätestens dann musste ein neuer Stammbaum her, der alte bot keinen Platz mehr für Eintragungen. Es war nicht so, dass Konrad sich dem Neuen gegenüber verschloss, es floss unmerklich in ihn ein, jedoch maß er alles Neue am Wertekanon seines Urvaters.

Und dann waren da noch die materiellen Werte, die er ihm hinterlassen hatte. Er war Universalerbe, dreißigtausend Ostmark gingen nach vollendeter Enteignung auf das Konto seiner Eltern, von ihnen treu verwaltet bis zu seiner Volljährigkeit. Dort blieb es unangetastet auf einem Sparkonto bis zur Währungsunion. Bis auf einen Betrag von knapp fünftausend Mark, der eins zu eins umgetauscht wurde, war es nun nur noch die Hälfte wert. Ein Kollege riet ihm damals, in Aktien zu investieren. Natürlich tat er das nicht. Aktien waren Kapitalismus, ein Wort, das mit »mus« endete. Das Geld blieb auf der Sparkasse und warf magere Zinsen ab.

Schließlich kam die zweite Geldentwertung. Nun betrug sein Sparguthaben noch knapp über dreizehntausend Euro. Konrad kaufte sich davon ein gebrauchtes Auto.

In den folgenden Jahren verblasste das geistige Erbe des Urvaters, so wie auch der materielle Nachlass dahingeschwunden war. Weggespült vom Strom der täglichen Ereignisse, überlagert vom Geröll einer schnelllebigen Zeit verschwand es aus seinem wachen Bewusstsein. Erst viele Jahre später, als er Laura heiratete und die Kinder geboren wurden, tauchte es wieder auf. Er befand sich in einer anderen Lebenssituation. Nun galt es, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen.

Was hatte er in Creywitz gesucht? Natur, frische Luft für seine Kinder? Ruhe nach dem lärmenden Getöse der Großstadt? Sicher, auch das. Aber darüber hinaus trieb ihn etwas ganz anderes an. Er wünschte sich, dass seine Kinder so aufwachsen würden, wie er aufgewachsen war, in einem weitestgehend geschützten Raum, in einer überschaubaren Welt ohne schädliche Einflüsse, die er nicht verhindern konnte. War es das, was er wollte? Kontrolle über seine Kinder im Sinne eines patriarchalischen Familienbildes? War es ihm, wie den völkischen Siedlern, vor allem um Kontrolle und Macht gegangen?

Das konnte und wollte er sich nicht eingestehen, denn dann hätte er sich mit ihnen auf eine Stufe gestellt. Dabei wusste er, genau dies ruhte auf dem Bodensatz seiner Seele und es kam vom Urvater. Nur, dass Kontrolle nun »informiert sein« hieß und Macht »Verantwortung übernehmen«. Er wusste genau, in einer Zeit, in der sich alte Rollenbilder auflösten, lag es an ihm selbst, inwieweit er davon Gebrauch machte.

Was er in den letzten beiden Jahren erlebt hatte, war so überraschend und vollkommen absurd gewesen, dass er sich in dieser ersten Nacht nach dem Umzug wieder einmal die Frage stellte, wie so etwas in diesem Land überhaupt möglich war. Es erschütterte sein Weltbild und sein Rechtsempfinden in hohem Maße. War er naiv gewesen? Hatte er sich nicht genug informiert? Inzwischen hatte er sich belesen und Informationen erhalten, die man in keiner Tageszeitung und in keiner Nachrichtensendung fand. Wenn es wirklich stimmte, dass sie überall im Land Höfe in die Hand nahmen und versuchten, ganze Dorfgemeinschaften für ihre Ideologie zu vereinnahmen, dann war nicht nur er naiv gewesen, sondern ein ganzes Land. Schlimmer noch, die Politiker dieses Landes, von den Kommunen bis zum Bundestag, die Justiz und der Verfassungsschutz, alle hatten weggeschaut und dieses Treiben stillschweigend geduldet.

Als Konrad diese Erkenntnis erreichte, stand das Rad seiner Gedanken endlich still. Er fühlte sich erleichtert, weil es hier um eine Kollektivschuld ging. Fast alle verschlossen die Augen vor dem, was da vor sich ging. Und auch er ging gern Kompromisse ein um des lieben Friedens willen. War dieses Raushalten nicht auch ein Relikt aus der DDR-Zeit?

Wir sind, wie wir sind, dachte er. Das Leben hat uns so geformt. Was können wir schon ausrichten, wir kleinen Leute? Wir müssen zusehen, wie wir klarkommen.

Das war sein letzter Gedanke, bevor er endlich einschlief. Dieser Gedanke war eine Generalamnestie für all seine Landsleute, die wegschauten, weil sie in Frieden leben wollten. Ganz so, wie es auch ihre Urväter getan hatten, als in Deutschland die Synagogen brannten.

*

Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf dem Tisch. »Bin Brötchen holen.«

Er wartete lange auf Laura. Mit seinem Kaffee stand er am Fenster und beobachtete den kleinen Parkplatz. Er schätzte ab, ob er dort abends noch einen Platz finden würde, bis ihm einfiel, dass er ja nun zu Fuß zur Arbeit gehen konnte.

Als sie endlich kam, goss sie sich schweigend Kaffee ein und stellte sich zu ihm ans Fenster. »Holger Grams ist tot. Er hat sich erhängt.«

»Woher weißt du das? Mein Gott, Laura, wie siehst du denn aus? Setz dich doch erst mal hin!«

»Ich muss was essen«, murmelte sie. Hastig schnitt sie sich ein Brötchen auf, Konrad schaute ihr zu. Er sah, wie sie sich in die Hand schnitt und das Blut tropfte. Tränen liefen über ihr Gesicht.

»Nun mach doch was!«, rief sie.

Es war nicht so schlimm, wie es ausgesehen hatte. Konrad verband ihre Wunde, nahm sie in den Arm und wiegte sie wie ein Kind. »Laura, Schnecke, es ist nur ein kleiner Ritz.«

»Er hat hier gewohnt!«, stieß sie schließlich hervor. »Keiner in Creywitz wusste, dass er hierhergezogen ist. Direkt aus der Klinik. Oder wusstest du das etwa?«

»Woher denn? Sicher wusste es der eine oder andere, aber sie sprachen nicht mehr über Holger. Was da passiert ist, hat ein schlechtes Licht auf ihren schönen Ort geworfen.«

Er erinnerte sich an Holgers Worte, als er ihn in der Klinik besucht hatte: »Ich muss weg aus Creywitz! Ich kann nicht mehr, Konrad. Ich kann die ganzen Hackfressen nicht mehr sehen! Dieser Graf hat Kathi auf dem Gewissen, aber ich kann es nicht beweisen! Die von der Kripo, die denken, ich bin bekloppt. Ich werde wegziehen, der Hof wird verkauft, mein Bruder erledigt alles für mich. Und dann werde ich einen Detektiv beauftragen. Dieser Lump hat sie bestimmt irgendwo verscharrt!«

»Zu mir hat er mal gesagt, er zieht vielleicht zu seinem Bruder nach Jahnswalde. Hörst du mir überhaupt zu, Konrad? Dabei ist er nach Friedrichsfeld gezogen. Hier hat er gewohnt, hier in diesem Haus! Ausgerechnet in der Selbstmörderburg. Er hat sich an der Heizung erhängt, stell dir das mal vor! Ich halte das nicht aus, das verfolgt uns, Konrad.«

»Woher weißt du das?«

»Ich war beim Bäcker. Und Kathi wird immer noch vermisst. Meinst du, der Graf hat sie umgebracht? Inzwischen traue ich es ihm zu.«

»Nie im Leben! Ich denke, sie ist untergetaucht, geflohen vor Graf. Klar, er ist vielleicht ein Psychopath, aber ein Mörder? Nee, da steht für ihn zu viel auf dem Spiel. Er hat doch einen Ruf zu verlieren. Es geht um ihre Sache, Laura, und diese Sache ist ihnen heilig.«

»Aber wenn sie wirklich untergetaucht ist, warum hat sie ihrem Vater nichts gesagt? Ich meine, sie hätte ihm ja nicht sagen müssen, wohin, aber wenigstens, dass sie weggeht, damit er sich keine Sorgen macht. Stell dir vor, deine Tochter würde einfach so verschwinden!«

»Sie hatten kaum noch Kontakt.«

»Vielleicht ist sie ja wirklich regelrecht geflohen und wollte sich später bei ihm melden. Aber später war zu spät. Ach, Scheiße! Jetzt sitzt sie irgendwo und weiß nicht, dass ihr Vater tot ist!«

Laura schluchzte laut auf. »Ich kann nicht mehr, Konrad. Warum ist er ausgerechnet hierhergezogen? Wusste er, dass wir auch hierherziehen wollen?«

»Ich glaube nicht. Ich hatte ihn ja lange nicht gesehen.«

»Gestritten habt ihr euch! Und dann warst du ewig nachtragend. Ich mache mir große Vorwürfe, wir hätten uns mehr um ihn kümmern müssen.«

»Laura, beruhige dich doch. Wir hatten genug mit uns selbst zu tun. Was immer geschehen ist, uns trifft keine Schuld. Es tut mir leid, dass Holger tot ist. Es tut mir sehr leid! All das tut mir sehr leid, aber ich kann nichts dafür und ich kann es nicht ändern. Wir gehen natürlich zu seiner Beerdigung. Aber wir wollen hier neu anfangen! Jetzt muss ich die Betten der Kinder aufbauen.«

Laura stand am Waschbecken und ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen.

Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit. Sie sah, wie sie aus dem Haus rannte und vergeblich nach Max Ausschau hielt. Plötzlich stand er vor ihr.

»Feuerwehr! Mama, die Feuerwehr ist da. Holger, ganz viel Blut. Der große Hund! Holger kommt ins Krankenhaus!« – »Max! Ich habe mir solche Sorgen gemacht, du warst einfach weg!« – »Mach dir keine Sorgen, Mama, die Feuerwehr ist da.« – »Oh Gott, was ist passiert?«

Max war der einzige Zeuge gewesen. Was hatte er gesehen und wie tief waren die Spuren, die dieses grausame Geschehen in seiner Seele hinterlassen hatte? Später erfuhren sie, dass ein zufällig vorbeikommender Mann, der am See angeln wollte, den schwer verletzten Holger kurz vor dem Vorwerk gefunden hatte.

Laura ließ keine beschwichtigenden Rechtfertigungen gelten. Wenn etwas schiefgelaufen war, dann haderte sie vor allem mit sich selbst. Sie warf sich vor, sich nicht genug um Holger gekümmert zu haben. Während Konrad nebenan seelenruhig die Betten der Kinder aufbaute und dabei leise eine Melodie pfiff, stand sie in der Küche vor den Umzugskartons und fühlte sich außerstande, etwas zu tun. Endlich nahm sie das Messer und schnitt wütend den ersten Karton auf, ihre verletzte Hand schmerzte.

Was wollen wir überhaupt hier, dachte sie. Am Rand von Friedrichsfeld, in dieser gottverlassenen Gegend, die als sozialer Brennpunkt bekannt ist.

Die Mieten waren günstig. Hier wohnten alte Leute mit kleinen Renten und junge Familien, die sich nichts anderes leisten konnten. Es gab eine Kaufhalle, eine Grundschule, eine Kita, eine Arztpraxis und einen Kinderspielplatz, das war alles. Wer mehr wollte, musste weit laufen oder fahren, um in den Ortskern der Kleinstadt zu kommen. Sicher hätten sie auch woanders etwas gefunden, aber es sollte schnell gehen. Das war kein normaler Umzug gewesen, sondern eine Flucht.

Warum haben wir uns vertreiben lassen? Weil wir keine Nerven mehr hatten für ihre Spielchen. Und nach dem Interview, da waren wir die Nestbeschmutzer. Gebracht hat dieses blöde Interview nichts. Es erschien in einer Zeitung, die hier im tiefsten Osten ganz sicher nur einen sehr kleinen Leserkreis hat. Leser, die in einer Blase leben.

Und dann der Artikel im Schaukasten des Bürgermeisteramts, wie sie davorstanden und aufgebracht diskutierten. Wir haben versagt. Da gibt es nichts, was man schönreden kann, der Traum vom Haus auf dem Land ist ausgeträumt.

Wann war das eigentlich losgegangen, dass sie alle aufs Land wollten, die Freunde in Berlin-Mitte? Als sie Kinder bekamen und ihnen plötzlich auffiel, wie laut und dreckig diese Stadt ist, von anderen Gefahren ganz abgesehen. Als sie Familien gründeten und sich ihr Leben völlig änderte.

Nun wollten sie plötzlich raus aus dieser Welt der grenzenlosen Freizügigkeit, der unendlichen kulturellen Möglichkeiten, weg vom Partyleben. Sie suchten auf einmal ihr inneres Kind und sehnten sich nach einer Zeit, in der die Uhren noch tickten, das Telefon eine Wählscheibe hatte und Oma für die Enkel Kirschsuppe mit Klieben kochte. Landlust, so hieß das neue Zauberwort.

Als die erste Familie es geschafft hatte, feierten sie Einweihung.

Laura erinnerte sich an die Gespräche der Frauen am Küchentisch. Plötzlich redeten alle von selbst gekochter Marmelade. Es schien, als würden alle Ängste, alle Sorgen, alle Reibereien unter ihnen, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten, von einem endlosen Strom süßer, fruchtiger, klebriger Marmelade überdeckt werden. Von der fortschreitenden Gentrifizierung der Großstadtquartiere war an diesem Tisch keine Rede mehr und das Scheitern der Mietpreisbremse mutierte zur bedeutungslosen Randnotiz. Noch nicht einmal über Flüchtlingsströme diskutierten sie mehr. Die Männer taten es den Frauen gleich. Sie redeten über einen fachgerechten Baumschnitt und darüber, wo es eine ordentliche Heckenschere zu kaufen gab. Und dann begutachteten sie den alten Schuppen im Garten unter dem Aspekt einer nützlichen Verwendung. Met sollte hier gebraut werden, eventuell, das wäre doch was! Oder lieber Obstwein ansetzen?

Konrad jedenfalls war Feuer und Flamme, halbe Nächte verbrachte er am Laptop, um nach Immobilien zu suchen. Laura zögerte noch, ihr Leben verlief eigentlich in gut eingespielten Bahnen, vor allem wollte sie ihren Arbeitsplatz nicht aufgeben. Bis jener Sommerabend kam.

Eine weitere Familie aus ihrem Bekanntenkreis entschied sich für ein Leben auf dem Land.

In einem kleinen Dorf in der Uckermark hatten sie sich einen Resthof gekauft. Für Handwerker, so hieß es ironischerweise in der Anzeige. Die Familie hatte sich vorerst in der Ruine, wie sie das Haus mit seinen zahlreichen Nebengebäuden nannten, provisorisch eingerichtet. Sie luden die Freunde zu einem Grillfest ein.

»Das Dach ist jedenfalls dicht«, meinte der Hausherr, während er die Besucher über den Hof führte.

»Alles andere kommt so nach und nach. Wir haben Zeit!« Es hörte sich an, als würde er sagen: Jetzt sitzen wir hier, und wo wir sitzen, da bleiben wir.

Konrad nahm es neidvoll zur Kenntnis, obwohl er diesen Hof wirklich nicht haben wollte. Er trottete hinter den anderen her. Nun sollte es einen Schnaps geben, und zwar in der Scheune, »aus der man was machen könnte, mal sehen«.

Er horchte auf, als der Begriff »eigene Scholle« fiel, den kannte er vom Urvater. Auf die eigene Scholle tranken sie einen klaren Schnaps und noch einen und noch einen.

Als Laura in die Scheune kam, konnte Konrad nicht mehr gerade stehen, er saß im Heu. Laura war sauer, so kannte sie ihn nicht, er betrank sich nie. Sie hatten abgemacht, dass sie fahren sollte, sie hatte natürlich nichts getrunken, dennoch war sie wütend, als sie ihn so sah.

Gestützt von seinen Freunden stand er schwankend auf und torkelte, das Glas in der Hand, auf sie zu. »Prost, Schnecke, auf die eigene Scholle!«

»Wir fahren jetzt, Konrad! Halte deinen Kopf unter die Pumpe, damit du wieder nüchtern wirst, ich hole die Kinder!«

Die Männer johlten hinter ihr her. Alle waren sie betrunken und sie konnte sich nicht erinnern, auch nur einen von ihnen jemals in so einem Zustand erlebt zu haben.

Die Frauen saßen auf der Veranda und redeten über Hühnerhaltung. Laura informierte sie über das Gelage in der Scheune, sie nahmen es mit ihrer neuen ländlichen Gelassenheit auf. Die Frau des Hauses bot ihr an, doch einfach bei ihnen zu übernachten, Decken, Zahnbürsten und Handtücher hätten sie genug. Laura lehnte dankend ab, ihre Wut war noch nicht verraucht. Und wo waren eigentlich die Kinder?

Die Frauen schwärmten aus, fanden aber nur die Kinder der anderen Familien, die es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten und Gummibärchen aßen. Ihren Bedarf an frischer Landluft hatten sie offensichtlich für heute gedeckt. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, murmelten sie was von draußen und Wiese. Laura rannte los.

Die Wiese, die früher eine Kuhweide gewesen war, auf der in Zukunft Schafe grasen sollten, lag am Rande eines weiten Tals. Das ganze Anwesen befand sich auf dem Hügel einer eiszeitlichen Endmoräne. Wer hier oben stand und herabschaute, der hatte den Überblick. Er schaute auf das Leben aus einer Perspektive herab, die ihm das Gefühl einer überschaubaren Welt vermittelte. Einer ländlichen, wohlgeordneten, heilen Welt.

Am Rande der Wiese stand eine Bank. Dort saßen Max und Ronja unter ihrer Kuscheldecke. Seltsam still saßen sie da. Schon wollte Laura sie rufen. Sie tat es nicht, sie schaute auf das, was ihre Kinder so still gemacht hatte. Am Horizont, direkt über den Wipfeln eines Waldes, sah sie die untergehende Sonne. Ihr warmes Glutrot tauchte die Landschaft in ein magisches goldenes Licht. Langsam, ganz langsam verging die Zeit.

Sie ging vorsichtig einen Schritt zur Seite, um in die Gesichter ihrer Kinder zu schauen. Max lief der Rotz aus der Nase, ab und an leckte er ihn mit der Zunge ab. Sein Blick aber war unentwegt auf den glutroten Ball gerichtet. Ronjas Gesicht wirkte in dieser warmen Lichtfülle noch blasser als sonst. Sie atmete tief und langsam.

Sie rührten sich nicht. Laura konnte sich nicht erinnern, ihre temperamentvollen Kinder jemals so still gesehen zu haben. Ihre Kinder, die abends regelmäßig hyperaktiv wurden und durch die Wohnung galoppierten wie eine Horde Affen, wilde Schreie ausstießen und dabei dieses und jenes Spielzeug ziellos griffen und wieder fallen ließen.

Ob das denn ginge, ob sie wirklich hier übernachten könnten, fragte sie in der Küche.

Konrad schlief in der Scheune in einem Schlafsack, sie und die Kinder unterm geheimnisvoll knarrenden Dachgebälk auf Luftmatratzen.

Bevor Max einschlief, versicherte sie ihm mehrmals, dass die Sonne am nächsten Tag wieder da sein würde und auch am übernächsten Tag, immer und ewig. Selbst wenn man sie nicht sähe, wäre sie da, hinter den Wolken versteckt, ganz bestimmt.

»Max ist ein Baby«, sagte Ronja. Sie drehte sich um und schon hörte Laura sie leise schnarchen. Sie konnte nicht fassen, dass sie so schnell eingeschlafen war.

Am nächsten Tag auf der Heimfahrt sprach sie kein Wort mit Konrad. Vorsichtig tastete er sich vor. Ob sie ihm noch böse sei, fragte er. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, dabei hatte ihr Blick etwas seltsam Abwesendes. Er konnte es offenbar nicht deuten, es schien ihn noch mehr zu verunsichern. Doch dann, als sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und ihre Tasche im Flur fallen ließ, wandte sie sich zu ihm um und sagte: »Lass uns aufs Land ziehen, Konrad.«

Während Konrad seine Motivation für einen Umzug aufs Land in der Rückschau fand, in der nostalgischen Erinnerung an seine Kindheit, schaute Laura nach vorn. Sie wollte das Beste für ihre Kinder. Was das bedeutete, hätte sie nicht in Worten ausdrücken können, aber sie sah jeden Tag, dass es so nicht optimal war. Sie hatte das Gefühl, ihre Kinder einzusperren, ihnen nicht genug Möglichkeiten geben zu können, sich draußen an der frischen Luft auszutoben. An den Wochenenden machten sie zwar Ausflüge in die nähere ländliche Umgebung, aber letztendlich waren es nur wenige Stunden, in denen die Kinder draußen herumtollen konnten. Und die Ausflüge auf die Spielplätze des Stadtviertels waren alles andere als ein Naturerlebnis.

Laura war kein Landkind gewesen. Sie hatte auch keinen Urvater gehabt, der den Spaten in die Erde stieß und mit seinen Bienen sprach, sie wuchs in einem Frauenhaushalt auf. Gemeinsam mit der Großmutter wohnte sie mit ihrer Mutter im Plattenbau mitten in Friedrichsfeld.

Ihren Vater hatte Laura nie kennengelernt. Als sie vierzehn war, hörte sie zum ersten Mal aus dem Munde ihrer Mutter von seiner Existenz. Zwar hatte sie die Tatsache, dass da irgendwo ein Vater sein musste, auch in frühester Kindheit nie angezweifelt, dennoch blieb dies in all den Jahren abstrakt und nicht fassbar, so entfernt, wie für Konrad der Gott seines Urvaters gewesen war. Nun erfuhr sie von ihrer Mutter, dass es sich bei ihrem Vater um einen ehemaligen Kommilitonen handelte, der wie sie an einer Moskauer Universität studiert hatte, ein gebürtiger Russe. Lauras Mutter hatte das letzte Studienjahr an dieser Universität verbracht. Sie kam zurück, machte ihre Abschlussprüfungen, brachte Laura zur Welt und wurde Lehrerin für Deutsch und Russisch. Später arbeitete sie freiberuflich als Übersetzerin. Laura interessierte sich herzlich wenig für diesen nebulösen Vater in einem sehr fernen Land. So wie ihre Mutter war sie es von klein auf gewöhnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Eine väterliche Leitfigur war ihr ebenso fremd wie eine höhere Instanz in Form eines Gottes. Laura hatte keine Projektionsflächen, auch war da niemand, dem sie die Schuld für etwas zuweisen konnte, weil sie ihre Entscheidungen stets völlig eigenständig traf. Konrad nannte das eigensinnig, womit er nicht unrecht hatte. Die Kehrseite dieser Eigensinnigkeit war ihre Härte gegen sich selbst.

Und so verhielt es sich auch jetzt, an diesem Vormittag in Friedrichsfeld. Umgeben von Tellerstößen und Tassen, Schüsseln und Papier stand Laura in der Küche, starrte aus dem Fenster, nagte am Daumennagel und ärgerte sich. Wie konnte ausgerechnet ihr so etwas passieren? Und wie konnte es sein, dass in diesem Land, im Land der ehemaligen DDR, plötzlich überall diese braune Brut auftauchte, sich bei der Bevölkerung anbiederte und von den Alteingesessenen geduldet wurde?

War dieses Land nicht immer das Land des konsequenten Antifaschismus gewesen? War das nicht das Einzige, was über den Zusammenbruch der DDR hinaus Wert und Gültigkeit behalten hatte?

Lauras Mutter war Genossin der SED gewesen. Sie fand das selbstverständlich, denn als Arbeiterkind hatte sie der Staat gefördert und sie hatte auf Kosten der Arbeiterklasse studiert. Dennoch, erinnerte sich Laura, hatten die Freunde ihrer Mutter nie ein Blatt vor den Mund genommen. Alles, was die da oben, die Greise im Politbüro, anzettelten, wurde von ihnen heftig diskutiert und angezweifelt, wenn auch nur im privaten Kreis. Doch eines wurde nie angetastet: die antifaschistische Grundhaltung, sie war heilig.

Und so schien es Laura nach ihren Creywitzer Erlebnissen, als wäre erst jetzt das vollzogen worden, wovon ihre Mutter in den ersten Jahren nach der Wende oft gesprochen hatte, die Vereinnahmung durch den Westen.

Laura hatte das nie so empfunden. Vielleicht, weil sie vor dreißig Jahren, als die Mauer fiel, noch ein Kind war, jedoch wohl besonders deshalb, weil sie den Wert einer Demokratie zu schätzen wusste als ein Instrument, das dem Individuum viel Platz zur Selbstverwirklichung einräumte. Das kam ihrem Naturell sehr entgegen, sie konnte und wollte sich nicht bevormunden lassen. Nun aber dachten sie beide, dass zu wenig Staat da war und diese Freiheit aufs Übelste missbraucht wurde. Konrad war es, der an dieser Stelle am lautesten nach dem Staat rief, was Lauras immerwährenden Verdacht bestärkte, dass er selbst sich nach einer Leitfigur sehnte, zumindest nach einer Staatsführung, der man vertraute und zutraute, dass sie die Werte ihrer Verfassung unter Schutz stellte und konsequent diejenigen bestrafen würde, die diese Werte in den Dreck zogen.

Das war natürlich recht und billig, dennoch widerstrebte es ihr. Ihr Gefühl und ihr Charakter sagten ihr, dass das auf Dauer keine Lösung war, weil es die Gefahr der Bevormundung in sich trüge. Was war richtig, was falsch? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, die braune Pest hatte das Land bereits wie Mehltau überzogen.

Odersumpf

Подняться наверх