Читать книгу Domino II - Mario Worm - Страница 4

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1. Kapitel

Eins hatte er jedenfalls erreicht, er saß nicht mehr in diesem ostdeutschen Bunker fest, sondern war nach Westberlin, in die Justizvollzugsanstalt Moabit überführt worden. Das war ja auch sein gutes Recht als deutscher Staatsbürger! Oder doch Argentinier? Nein, Deutscher! Alles, bloß nicht in den Fängen des kränkelnden Kommunismus gefangen sein! Dabei war es doch schon ein Anflug von Ironie, dass ihn eben jetzt diese rote Bagage verfolgte. Zwei Jahre später würde man den sogenannten Staatsratsvorsitzenden vier Zellen weiter, abgeschirmt von den anderen Insassen, einquartieren. Die breite Masse wird am Bildschirm verfolgen können, wie sich der Volkszorn entlädt, indem man die Straße Alt Moabit säumt und wie wild auf das Dach des Autos klopft, worin der wohl populärste Gefangene sitzt, den dieser Knast jemals gesehen hat. Doch der Unterschied zwischen Erich Honecker und Christian Koch bestand zumindest in der Hoffnung, dass er, Koch, dieses Gemäuer wesentlich früher verlassen würde als der ehemalige Staatschef. Aber die geschichtlichen Abläufe sind an diesem Januartag für Koch noch nicht erahnbar. Er war nur von einem überzeugt, die Organisation würde ihn rausholen, über kurz oder lang. Schließlich wusste er zu viel, hatte aber dichtgehalten, dem Ehrenkodex gehorchend nur preisgegeben, was sie ohnehin schon wussten, geschwiegen, sowohl in den Verhören drüben, wie auch bei denen hier.

Sacht hatte sich die Sonne aus den Wolken hervorgeschoben und reflektierte mit ihren Strahlen das vergitterte Zellenfenster auf dem Fußboden. Christian resümierte. Was konnte man ihm eigentlich vorwerfen? Störung der Totenruhe. Allenfalls Grabschändung. Für alles was darüber hinausging, dürften die Beweise fehlen. Indizien, nichts weiter! Schon gar nicht, was seine Vergangenheit betraf. Außerdem, über das, was auf dem Friedhof geschehen war, gab es anscheinend nur Vermutungen. Er musste also nur schweigen, dann müsste man ihn gehen lassen. An anderer Stelle würde man seine Loyalität zu schätzen wissen. Christian Koch schaut in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Alt bist du geworden. Zu alt für diesen Quatsch.

Plötzlich sieht er es wieder vor sich, das kleine Waldstück bei Strausberg, die Lichtung, die im Dickicht getarnte Höhle, das extrem leicht gebaute Flugzeug, versteckt unter dem Waldboden, die Kisten, Hilde Germ, Stubbe, Alfred, erinnert sich an die Details, die er wohl sein Leben lang nicht vergessen kann. Ende April 45! Alfred hatte sich in Schweigen gehüllt. Erst als sie die beiden anderen in sicherer Entfernung wussten, weihte ihn sein Bruder in den Auftrag ein.

»Du wolltest doch unbedingt den Führer sehen. Jetzt wirst du die Gelegenheit dazu haben! Wir haben den Befehl, uns zum Führerbunker durchzuschlagen, wichtige Dokumente in Sicherheit zu bringen, bestenfalls sogar den Führer persönlich!« Er hatte tatsächlich erst die Dokumente und als Zweites den Führer erwähnt! Christian konnte es nicht fassen. Was gab es Wichtigeres als den Führer? Zu Fuß machten sich die Brüder auf den Weg. Vierzig Kilometer, den Russen und die näher kommende Front im Rücken, bis sie schließlich den Stadtkern von Berlin erreichten.

»Los! Wir marschieren durch die S-Bahn!«, kommandierte Alfred. Seit Anfang April waren immer mehr Linien eingestellt worden, so dass eine berechtigte Hoffnung bestand, schnell unterirdisch ins Stadtzentrum zu kommen. Unter Tage bot sich den Brüdern ein erschütterndes Bild. Frauen, Kinder, alte Greise und einfach nur des Kämpfens müde gewordene Soldaten, hatten sich hier unten verschanzt, Schutz vor den immer häufiger werdenden Bomben und Granateinschlägen gesucht. Dazwischen immer wieder SS-Trupps, die nach Drückebergern suchten. Schüsse, Schreie, ein einziges Bild des Grauens. Schließlich erreichten sie den tiefsten Punkt, den Stettiner Bahnhof, und stiegen wieder ans Tageslicht, hörten die Einschüsse. Christian sah sich um. Hier in der Nähe, zwei Straßen weiter, hatten sie mal gewohnt. Damals schien die Welt noch in Ordnung. Still vor sich hin lächelnd, erinnert er sich, wie er mit Paul die große Turmuhr auf dem Dach des Bahnhofs erklommen hatte. Ilse musste Schmiere stehen, während er und Stubbe geschickt die Tür mit einem Schraubendreher öffneten, hineinstiegen und so lange an einem kleinen Hebel hantierten, bis der kleine Zeiger zwei Stunden nach rechts wanderte. Die Zeit verging quasi wie im Fluge. Eines Tages hatte man sie fast erwischt. Christian kam nicht weiter dazu, seinen Erinnerungen zu frönen.

»Sag mal, pennst du? Mach flinke Füße jetzt!«, riss Alfred ihn aus seinen Gedanken. »Los! Die Invalidenstraße hoch! Aber zackig!«

Sie rannten, so schnell es ihnen möglich war. Vor einem der wenigen unzerstörten Häuser am Lehrter Bahnhof blieb Alfred plötzlich stehen, murmelte etwas wie »Gott sei Dank« und befahl in barschem Tonfall: »Du bleibst hier und passt auf! Ich bin gleich wieder da!« Dann verschwand er im Hausflur. Von Ferne grollte die russische Artillerie und Christian merkte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Ein komisches drückendes Gefühl im Magen und Darmbereich. Endlich, Christian waren die Minuten wie Stunden vorgekommen, steckte der große Bruder seinen Kopf durch die geöffnete Haustür und flüsterte: »Los, komm! Schnell, aber Ruhe. Uns darf hier keiner sehen!«

Christian ließ sich nicht zweimal auffordern. Bloß weg hier von der Straße. Obwohl er sich darüber bewusst war, dass das Haus auch keinen Schutz vor den Russen verhieß, versprühte das Innere des Gebäudes wenigstens etwas Sicherheit, wenn auch eine subjektive.

Alfred ließ keine Zeit zum Sinnieren, schob ihn unsanft in den Keller: »Nun mach schon! Mein Gott.« Vor einem kleinen Verschlag blieb er stehen: »Hier rein! Wegräumen!« Er zeigte mit der Hand auf rumliegendes Gerümpel. Mit einem kleinen Spaten, der in der anderen Ecke stand, kratzte Alfred so lange auf dem Sandboden herum, bis schließlich eine bis dato nicht sichtbare Eisenplatte zum Vorschein kam. Mit vereinten Kräften wuchteten die Brüder auch dieses Hindernis beiseite. »Da runter!« Alfred sprang in das mannshohe Loch, robbte durch einen kleinen Erdkanal, bis er endlich den eigentlichen Tunnelgang erreichte. »Brauchst du eine Extraeinladung?«, rief er mit erboster Stimme.

Christian gab keine Antwort, sondern folgte ihm. Der unterirdische Gang schien kein Ende zu nehmen, was auch bestimmt der Tatsache geschuldet war, dass die totale Finsternis die Brüder begleitete. Kein Lichtschimmer und keine Handlampe. Die einzige Orientierungsmöglichkeit, die sich den beiden bot, war sich krampfhaft an der Tunnelwand voranzutasten. Obwohl nur einige Minuten vergehen, kommt Christian der »Spaziergang« wie eine Ewigkeit vor. Dann endlich versperrt den beiden eine große Eisentür den Weg. Alfred gibt in einer bestimmten Reihenfolge Klopfzeichen. Nach jedem Klopfen lauscht er angestrengt, doch nichts passiert. Stille, Totenstille, nur Dunkelheit. Dann endlich, unter einem lauten Geräusch wird die Tür aufgerissen und grelles Licht, welches nun das Tunnelende flutet, beißt den Brüdern in die Augen, macht sie für Sekunden fast blind. Nur schemenhaft kann Christian die Kameraden der Waffen-SS erkennen, die ihnen die Mündungen ihrer durchgeladenen Maschinengewehre entgegenstrecken. »Hände hoch!« brüllte jemand aufgeregt. Das hätte er gar nicht in Worte fassen müssen. Christian hatte schon beim Anblick der Gewehre beide Arme nach oben gerissen.

Der Einzige, der anscheinend die Nerven behielt, war wieder einmal Alfred. »Ruhig Kameraden! Ruhig!« Betont langsam griff er in seine Hosentasche, fingerte eine Art Brief hervor und reichte es dem Wachhabenden hinüber. »Hier der Passierschein! Ausgestellt vom Reichsleiter!«

Mit kurzem Blick überflog der SS-Mann das Schreiben und kommandierte, ohne dabei auch nur eine kleinste Gefühlsregung preiszugeben: »Los, mitkommen!« Unter schärfster Bewachung ging man einen Flur entlang, stieg eine Treppe hinunter, durchquerte wiederum einen langen Flur, um erneut, diesmal eine Wendeltreppe runterzusteigen, die noch tiefer in das Berliner Erdreich führte. Vorbei an einer Art Eingang, hoch bewacht durch weitere SS-Posten. In einem Empfangsraum blieb man stehen. »Sie warten hier!«, schnarrte der Wachhabende und verschwand hinter einer Holztür.

Christian stockte der Atem. Endlich begriff er. Sie waren unter der Reichskanzlei, sie waren im Führerbunker. Er kam nicht weiter dazu, seinen Gedanken nachzuhängen, denn in diesem Augenblick wurde die Tür wieder geöffnet und ein älterer, sichtlich angetrunkener SS-Rangführer erschien. Sofort salutierten die Brüder: »Heil Hitler!«

Ihr Gegenüber winkte nur müde ab. »Sparen sie sich das! Hier gibt’s nichts mehr zu holen. Außer vielleicht noch einen kleinen Tropfen! Kommen sie, Schwachsinnige! Ich lade sie ein. Auf das Ende!« Vielsagend hob er eine Weinflasche in die Höhe. Man sah Alfred deutlich an, dass er nicht wusste, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. Auf der einen Seite der Befehl, auf der anderen sein ranghöheres Gegenüber. Was eigentlich eine Einheit sein müsste, schien sich in diesem Moment unabdinglich zu widersprechen. Egal, wie sich der Bruder jetzt verhielt, es würde falsch sein und könnte fatale Folgen haben.

Alfreds Gesicht war aschfahl. Für sein Gegenüber nicht sichtbar, tastet er seine linke Brusthälfte ab und registriert, dass der Umschlag, den ihm Bormann vor einer Woche mit genauesten Anweisungen gegeben hatte, noch in der Innentasche steckte. Nicht vorstellbar, wenn er verloren gegangen wäre. Alfred macht einen letzten Versuch: »Aber der Befehl, der Führer …«, stotterte er.

»Der Führer! Der Führer ist gefallen!«

»Und der Reichsleiter?« Das war der Moment, wo seinem Gegenüber der Kragen platzte:

»Der Reichsleiter?«, äffte er ihn nach, »der Reichsleiter! Was weiß denn ich, wo der steckt. Ist doch sowieso ein Kommen und Gehen …« Brüllend baute er sich vor Alfred auf: »Es gibt keinen Führer und keinen Reichsleiter mehr! Haben sie das endlich begriffen, sie Ignorant?! Machen sie, dass sie wegkommen oder bleiben sie wegen meiner hier. Ist mir scheißegal. Wie sie sich auch entscheiden, der Russe ist nur wenige Kilometer entfernt. Tage, Stunden, Minuten? Wer weiß das schon so genau. Der einzige Befehl, den ich ihnen noch erteilen kann, heißt ›Arsch retten‹! Und jetzt raus hier! Wegtreten!«

Die Brüder ließen sich das nicht zweimal sagen. »Heil Hitler!«, salutierte Alfred noch im Gehen, was dem Rangführer zu einem galgenhumorhaften Lachen inspirierte.

»Die haben’s immer noch drauf! Wie blöd muss man eigentlich sein? Ich wusste es und werde eines Tages auch begreifen warum!«

Auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, verließen sie die ungastliche Stätte. Gerade als sie im Begriff waren, zur Kellerluke emporzusteigen, bebte die Erde. Steine und Sand flogen umher und Christian schaffte es gerade noch seinen Kopf einzuziehen. Millisekunden später hätte ihn mit ziemlicher Sicherheit ein Mauerstein getroffen. Dem vorangegangenen Knall nach zu urteilen, musste ein Geschoss in das Haus über ihnen eingeschlagen sein. Christian merkte, wie sich seiner eine grenzenlose Panik bemächtigte. Hastig und mit bloßen Händen schaufelten sich die Brüder ins Freie. Richtig, es musste eine russische Artilleriegranate gewesen sein, die das Haus zertrümmert und einen großen Krater hinterlassen hatte. Am Rand des Einschlags liegen zwei Zivilisten in einer Blutlache. Christian kannte Martin Bormann nur von Fotos aus der Zeitung und trotzdem war er sich sicher. Da lag der persönliche Sekretär des Führers!

»Alfred, schau, der Reichsleiter!«

Der Bruder würdigte ihn keines Blickes.

»Das ist mir so was von scheißegal!«, antwortete er im gleichen ironischen Tonfall wie soeben der Rangführer und fügte noch hinzu: »Kannst ihn ja einbuddeln, wenn du willst. Ich will jetzt nur eins, raus hier! Also quatsch nicht, pass lieber auf, dass du nicht gleich daneben liegst!«

Der Rückweg erwies sich noch beschwerlicher, musste man doch die russische Kampflinie überwinden. Doch mit viel Geschick gelang den Brüdern auch dies. Endlich standen sie wieder vor dem Eingang des Stettiner Bahnhofs. Doch der geordnete Rückzug wird ihnen durch eine große Scherengittertür verwehrt.

»Halt! Stehenbleiben!« Schwerbewaffnete SS-Männer kommen auf sie zu.

»Hier! Passierschein! Geheime Reichssache!«, hält Alfred ihnen sein Schriftstück unter die Nase.

Der Truppführer grinst unverhohlen: »So, so. Geheime Reichssache! Von welchem Planeten kommt ihr denn? Na, auch egal. Jedenfalls, hier geht’s nicht weiter! Alles unter Wasser! Haben den Russen keine Möglichkeit geboten und dabei auch gleich alle Volksschädlinge mit weggespült!«

Christian war fast gewillt zu sagen: »Frauen und Kinder«, behielt es aber lieber für sich. Die sahen nicht gerade aus, als würden sie verstehen. Es war der 2. Mai 1945, als man in den Morgenstunden den Tunnel unter dem Landwehrkanal sprengte und damit die meisten Schächte unter Wasser setzte, um dem Russen ein schnelleres Vorstoßen zu verwehren. In Sekundenschnelle drangen die Wassermassen ein und rissen alles mit, was ihnen in die Quere kam. Ein völlig sinnloses Unterfangen, Tage vor der bedingungslosen Kapitulation, was zusätzlich tausenden Menschen das Leben kostete. Frauen, Kinder, verwundete Soldaten, die für ihr Vaterland gekämpft hatten, bis zum letzten Atemzug, bis zur letzten Patrone. Wie hatte der Führer doch in seinem Testament festhalten lassen: »Das deutsche Volk hat versagt, deshalb hat es auch kein Recht weiterzuleben!«

»Scheiße!«, kommentierte Alfred den Hinweis des Truppführers und Christian zugewandt befahl er: »Los, sehen wir zu wie wir weiterkommen!« Die beiden waren gerade ein paar Schritte gegangen, als mit einem ohrenbetäubenden Knall eine Granate dort einschlug, wo sie vor wenigen Sekunden noch gestanden hatten. Die Druckwelle des Geschosses war so stark, dass die Brüder mit aller Wucht zu Boden geschleudert wurden. Alfred richtete sich als erster wieder auf und schaute Richtung Bahnhof. Dort, wo eben noch der SS-Trupp stand, lagen blutüberströmte Leichenteile. Ein Bild des Grauens. Dann blickte er auf seinen Bruder, der immer noch auf dem Boden lag, zitterte, wimmerte, aber augenscheinlich unverletzt geblieben war.

»Reiß dich zusammen! Los steh auf, wir müssen weg hier!« Da Christian offensichtlich keine Anstalten machte sich zu bewegen, rannte Alfred auf ihn zu und zog seinen Bruder am Kragen in die Höhe. »Reiß dich zusammen!«, wiederholte er nochmals in harscherem Tonfall, als er das umgestürzte Krad der SS sieht. »Los komm! Vielleicht haben wir Glück.« Alfreds Mienenspiel erhellte sich merklich, als das Motorrad schon beim ersten Versuch ansprang.

Mit Vollgas fuhren sie in Richtung Stadtgrenze und es war nahezu ein kleines Wunder, dass kein Russe ihren Weg kreuzte. Die waren mit der Einnahme des Reichstages völlig überlastet. Die Kochbrüder fuhren geradewegs durch die russischen Kampflinien! Etwa drei Kilometer vor Strausberg ging dem Krad stotternd der Treibstoff aus. »Scheiße! Auch das noch!«, schrie Alfred in die immer noch nach Schießpulver riechende Luft. Rennend durch die Wälder erreichten sie mit letzter Kraft die kleine Lichtung und wurden wieder einmal mit Maschinenpistolen empfangen. Hilde und Stubbe waren wohl zu allem entschlossen.

»He, seid ihr verrückt geworden?! Wir sind’s!«

Sichtlich erleichtert senken die beiden ihre Waffen. »Man, ich dachte ihr kommt gar nicht mehr. Wie seht ihr eigentlich aus? Was ist passiert?« Mitleidig schaut Hilde auf die beiden blutverschmierten, in Schweiß gebadeten Brüder, deren Kleidung zerrissen und staubig ist. Es war offensichtlich, dass sie am Ende ihrer Kräfte waren.

»Ihr habt doch keine Ahnung!«, stellte Alfred fest: »In Berlin ist der Teufel los! Der Russe steht vor der Reichskanzlei, der Führer ist gefallen. Dass wir hier angekommen sind, grenzt an ein kleines Wunder!«

Als erste fand Hilde die Fassung wieder: »Und was passiert nun?«

»Es geht alles so weiter wie befohlen! Wir bereiten alles vor, laden, sind bereit und warten!« Auf wen oder was gewartet werden sollte, ließ Alfred offen. Hilde nickte nur. Offensichtlich waren ihr mehr Einzelheiten bekannt. Sie räumten eine Art Startbahn frei, befestigten Seile an den Tragflächen und zogen unter maximalem Kraftaufwand das Flugzeug ins Freie. Während Christian und Stubbe den Flieger mit den Kisten beluden, standen Hilde und Alfred wieder abseits und tuschelten. Es schien, als seien sie sich uneins über die weitere Verfahrensweise, und eine dunkle Vorahnung sagte Christian, dass es dabei um ihn und seinen Kameraden Paul Stubbe ging.

Als nur noch eine Kiste im »Bunker« stand, kam Alfred lässig auf sie zu, riss mit einem Ruck ein Maschinengewehr an sich und entsicherte. Fassungslos starrten die beiden Freunde ihn an.

»Was soll das?«, fragte Christian aufgeregt.

Alfred hatte einen versteinerten Gesichtsausdruck: »Los! Lauft vor mir her!«, dabei deutete er in eine Richtung abseits der Lichtung. Sie liefen ein paar Schritte, dann kommandierte er: »Stehen bleiben!«

»Alfred, was soll der Quatsch?«, fragte sein Bruder noch einmal, diesmal sehr eindringlich.

»Es tut mir leid, aber im Flugzeug ist nicht genug Platz für uns alle. Und ihr wisst leider zu viel. Das Risiko können wir nicht eingehen. Wie gesagt, es tut mir leid!«

Er zog die Waffe hoch, als es plötzlich wieder raschelte und zwei russische Soldaten, wie aus dem Nichts heraus auftauchten. »Waffe runter! Krieg vorbei! Hitler kaputt!«, stotterte der eine in gebrochenem Deutsch und machte eine dementsprechende Geste mit der Hand.

Keine Frage, die beiden waren ebenso erschrocken über das Aufeinandertreffen wie die drei Männer, die sie soeben überrascht hatten. Ruckartig drehte Alfred sich um und feuerte in Richtung der Russen, die nun ihrerseits das Feuer eröffneten. Geistesgegenwärtig sprangen Christian und Stubbe ins Dickicht, sahen wie Alfred unter dem Kugelhagel herumgewirbelt wurde, zogen ihre Pistolen. Die Russen waren angeschossen, gaben aber nicht auf.

Jetzt ging alles sehr schnell. Während Christian und Stubbe vor lauter Angst ihre Magazine leerschossen und die beiden Russen blutüberströmt zusammenbrachen, startete Hilde den Flieger und schickte sich an, diesen Ort schnellstens zu verlassen. Jeder ist sich eben selbst der Nächste. Christian sieht auf den toten Bruder, sieht wie ein Papierumschlag mit der Aufschrift »Geheime Reichssache« auf dem Waldboden liegt. Mehr instinktiv als überlegend greift er zu. Alfred und die Russen waren tot, nicht weiter darüber nachdenken.

»Russen! Die Russen kommen!«, schreiend rannten die beiden, die Sekunden zuvor selbst noch Opfer sein sollten, zurück auf die freigeräumte Lichtung. Das Flugzeug rollte bereits an, als Christian sich in die Luke schwang. Stubbe wollte es ihm gleichtun, kam jedoch ins Stolpern und fiel hin. Entsetzt musste er mitansehen, wie der Flieger sich in die Lüfte erhob. Panisch rannte er hin und her.

»Scheiße. Gottverfluchte Scheiße. In wenigen Augenblicken wird es vor Russen hier nur so wimmeln. Zwei von ihnen tot und ich mittendrin. Scheiße!« Er tat das einzig für diesen Moment Richtige, sprang zurück in die Höhle und zog hastig Äste vor den Eingang. Keine Minute zu früh, denn wie vermutet, rannten kurz darauf russische Soldaten auf die Lichtung und feuerten wie wild in die Luft, allerdings ohne jegliche Chance, das Flugzeug zu treffen, welches nach Osten abdrehte.

Hilde zog den Steuerknüppel mit aller Macht an ihren Körper und der Flieger schoss steil nach oben. Mit aller Intensität, die die Fliehkraft zu bieten hat, wurde Christian in den kleinen Frachtraum geschleudert und blieb benommen neben den Kisten liegen. Sekundenlang schleuderte alles hin und her, bis die Pilotin die Situation augenscheinlich in den Griff bekam. Mühevoll erhob sich Christian, zog seine Pistole und drang ins Cockpit vor, wo er auf eine Mischung aus Angst und Wut Hildes traf.

»Steck sofort das Ding weg, du Vollidiot!«, schrie sie ihn an, »du hast schon genug Scheiß fabriziert, hast alles verdorben!«

»Na klar! Hätte mich in Seelenruhe vom eigenen Bruder abknallen lassen sollen, oder wäre es dann doch besser, vom Russen?«

Verächtlich sieht sie ihn an: »Du bist wirklich so blöd! Du tust nicht nur so, du bist es! Glaubst du im Ernst, Alfred hätte dich erschossen? Glaubst du das wirklich?«

»Sah ja zumindest danach aus!«

Hilde schüttelt energisch den Kopf: »Schwachsinn! Diesen Stubbe sollte er für immer zum Schweigen bringen. Du solltest nur mit, damit das ruhiger vonstattengeht! Und du hast es vermasselt!« Sie deutet auf die Waffe, die Koch noch immer mit zittrigen Händen auf sie gerichtet hat. »Wie blöd du bist, zeigst du gerade mit dem Ding! Was meinst du eigentlich, was passiert, wenn du abdrückst?! Ich gehe davon aus, dass du das Teil hier nicht in der Luft halten kannst. Also sei wenigstens jetzt vernünftig und steck das weg!« Hin- und hergerissen zwischen Zweifel, Angst und Vernunft zaudert er. Hilde reicht’s. Wütend schreit sie ihn an: »Steck die Waffe weg oder ich drück den Steuerknüppel nach vorn und wir rasen runter! Du hast die Wahl!« Zur Bekräftigung ihrer Worte tippt sie leicht an dem Knauf, worauf sich die »Nase« des Fliegers erheblich nach vorn neigt. Zögernd folgt Christian ihren Anweisungen. Die bekommt das fertig und macht es wirklich. Die kennt keine Skrupel!

Fast eine Stunde saßen sie schweigend nebeneinander und starrten durch das Cockpitfenster. Dann erlaubt sich Christian die Frage: »Und wie nun weiter?«

»Erstmal so, wie es geplant war!«, zischte sie ihn an.

»Und wie ist es geplant?«

»Wir fliegen nach Bad Aussee und laden die Sachen ab. Dann geht jeder seiner Wege!«

›Jeder seiner Wege‹, klang gut. Christian verspürte auch nicht im Geringsten Lust, die Gegenwart dieser Dame länger zu genießen als irgend nötig. Schließlich landeten sie wieder auf einer kleinen Lichtung im Wald. Kaum war das letzte Motorengeräusch verstummt, umringten Männer in den bekannten schwarzen Uniformen das Flugzeug.

Etwas abseits stand ein Pferdewagen, dessen Kutscher nicht so recht ins Bild passte und der merklich vor Angst schlotterte. Es war ihm nicht zu verdenken. Zeitig hatte sich Bauer Schweigel zur Nachtruhe begeben, was auch nicht verwunderte, da er schon in den frühen Morgenstunden seinen Viehbestand zu versorgen, eben jenen Tagesablauf zu bestreiten hatte, der sich Tag für Tag wiederholte, in Friedens- wie in Kriegszeiten. Diese Nacht jedoch verlief anders. Kurz vor Mitternacht wurde Schweigel durch lautes Klopfen an der Tür hemmungslos aus dem Tiefschlaf gerissen. »Los! Anspannen. Mitkommen!« Der SS widersprach man nicht, man gehorchte! Dieser Spuk ist eh bald vorbei und Schweigel wollte sich nicht noch in den letzten Minuten eine Laus in den Pelz setzen. Also zog er sich widerspruchslos an und spannte seine zwei Ochsen vor den Karren.

»Und wo geht’s hin?«, wagte er zu fragen.

»Zum Toplitzsee!« Schweigel fuhr los, zwei der SS-Männer auf dem Wagen, während die anderen zwei mit Maschinenpistolen im Anschlag neben dem Gefährt liefen. In einem nahen Waldstück ließ man den Bauern anhalten und neben seiner Kutsche warten. Fast drei Stunden sah Schweigel in die Dunkelheit seines österreichischen Salzkammergutes, bis zuerst ein schwacher Lichtstrahl und schließlich ein unter lautem Getöse landendes Flugzeug den Bauern aus seinem Sekundenschlaf riss und seinen Adrenalinpegel heftig ansteigen ließ.

Als Erste stieg Hilde Germ aus dem Flieger. »Bleib hier stehen!«, schall ihr gewohnter Befehlston an Christians Ohren. Gehorsam stand er stramm, während Hilde zielgerichtet auf einen, augenscheinlich der Anführer, der SS-Leute zuging und ihn mit einem leichten Wangenkuss begrüßte. Die beiden gingen ein Stück abseits und schienen sich angeregt zu unterhalten. So sehr sich Christian Koch auch bemühte, verstand er dennoch nur einzelne Wortfetzen: »Russen … Kamerad Koch … Bruder … Kisten …« Endlich schien das Gespräch beendet und die zwei kamen auf ihn zu.

»Ich habe gehört, dass ihr Bruder im Kampf gegen den Feind gefallen ist. Mein Beileid!«

›Im Kampf gegen den Feind gefallen? Wie blöd war das denn?‹, dachte Christian, hielt aber vorsichtshalber den Mund und nickte nur stumm.

Der Obersturmbannführer fuhr fort: »Und ihr Kamerad Stubbe, nach aufopferungsvollem Kampf in den Händen der Russen! ...« War der tatsächlich so blöd, oder war es nur Taktik. Was hatte diese Germ ihm erzählt? »Na jedenfalls sind sie bei uns in Sicherheit. Sie werden sehen. Helfen sie mit, die Kisten zu entladen, desto schneller sind wir hier weg!«

Er wollte gerade noch etwas hinzufügen, als er von einem Soldaten unterbrochen wurde. »Entschuldigung, Herr Obersturm, aber es befinden sich nur elf Kisten im Flugzeug, eine fehlt!« Wortlos blickte der Obersturmbannführer die beiden Neuankömmlinge an und es schien Christian, dass das Gesicht seines Gegenübers gerade kreidebleich geworden war.

»Los! Mitkommen!«, befahl er barsch und fragte seinen Gefolgsmann: »Welche fehlt?«

»Die Nummer 44/80!«

»Scheiße! Habt ihr richtig nachgesehen?«, fragte er weiter und steckte, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, seinen Kopf in das Flugzeug. Doch der Frachtraum war leer! »Was ist hier los? Wie konnte das passieren?«, fauchte er Hilde an.

Auch sie hatte in diesem Moment ein kalkweißes Gesicht, zuckte mit den Schultern und stammelte: »Ich, ... ich weiß es nicht. Ging alles so schnell.«

»Ging alles so schnell!«, äffte er sie nach und deutete auf die bereits ausgeladenen Kisten: »Den Dreck da hättet ihr stehen lassen können! Ballast! Das Wichtigste hat jetzt der Russe! Prima! In eurer Haut möchte ich nicht stecken. Dafür werdet ihr euch verantworten müssen!«

»Aber Wilhelm ...«, stotterte Hilde, doch der Obersturmbannführer fuhr sie an:

»Wilhelm, Wilhelm! Es hat sich ausgewilhelmst! Wie blöd muss man sein?!« Dann wandte er sich seinem Sturm zu und rief im barschen Befehlston: »So, herhören! Die Kisten und den Rest aufladen und dann ab. Wir können nicht mehr warten.« Das war der Moment, auf den hier jeder der Anwesenden sehnsüchtig gewartet hatte. In aller Eile winkte man den fast schon eingeschlafenen Bauern heran, schmiss ziemlich unsanft die Kisten auf das Gespann und hieß ihn loszufahren.

»Ihr beiden steigt dort in das Auto! Ihr kommt mit mir!« Hilde und Christian befolgten den Befehl, während Bauer Schweigel mit seinem Gefährt langsam im Dickicht des Waldes verschwand. »Zum See!«, hatte einer der ihn begleitenden SS-Leute zugerufen, und nun ruckelte der Karren über unbefestigte Waldwege. Was würde Schweigel am Ende der Fahrt erwarten? Lieber keinen Gedanken daran verschwenden. Doch die Ahnung blieb und rieselte als kalter Schauer an seinem Körper herab.

Endlich ließ man den Wald hinter sich und das Ufer des Toplitzsees kam zum Vorschein. »Stehen bleiben!«, blökte der SS-Mann. Schweigel schnalzte mit der Zunge, fügte ein energisches »Brrr!« hinzu, und der Karren stand. Erst jetzt bemerkte der Bauer die drei Ruderbote im Schilf. Im Zeichen der einsetzenden Morgenröte lud man die Kisten um und Schweigel sah, wie die ersten beiden Boote, sich im Wasser spiegelnd, auf den See gerudert wurden. Dann war auch das letzte der Boote beladen. Bevor der anscheinend mit besonderen Befugnissen ausgestattete SS-Mann zu den Rudern griff, wandte er sich noch mal dem Bauern zu: »So Kamerad! Das war es! Kannst wieder ab zu deinem Hof! Aber überlege dir gut, ob du irgendjemandem von unserem Ausflug erzählst! Glaub mir, wir sind schneller wieder bei dir, als du denkst. Und dann …!« Er machte mit der Hand eine Geste des Halsabschneidens. Die Aufforderung brauchte er nicht zu wiederholen. Hektisch trieb Schweigel seine Tiere an. Bloß schnell weg hier, ehe die sich das anders überlegten! Nein, er würde nichts sagen! Um Gottes Willen, niemals! Schweigel hatte Angst. Bloß schnell weg hier, während das letzte der Ruderboote vom Ufer abgestoßen wurde.

Eigentlich war die Alpenfestung nur eine Fiktion, die man geschickt den Alliierten untergejubelt hatte und als uneinnehmbar galt. Dies sollte dazu dienen, eine gute Verhandlungsbasis mit den Amerikanern zu schaffen. Die Idee dazu hatte der Tiroler Gauleiter Hofer, der bereits 1941 den Ernst der Sache erkannte. In Wirklichkeit bestand das Gebiet zwischen Altaussee und Toplitzsee, zirka sechzig Kilometer von Salzburg entfernt und von Bergmassiven umgeben, aus einem riesigen Salzbergwerkstollen und einigen Häusern mit den dazugehörenden Höfen.

Eines dieser Häuser, hinter verdeckter Hand der Kuhstall genannt, weil es sich um den umgebauten Kuhstall des einstigen Prinzen von Hohenlohe handelte, gehörte dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Kaltenbrunner. Jetzt, in den letzten Kriegstagen hatte er hier seinen Befehlsstand eingerichtet, der aus einem Vorzimmer mit Telefon und dem eigentlichen Wohnzimmer bestand. Im Prinzip konnte Kaltenbrunner hier so gut wie gar nichts ausrichten, seine Daseinsberechtigung belief sich auf die Abfertigung von ranghohen Besuchern und der Verwaltung von Kunstgegenständen, die man wiederum als Faustpfand für die Amerikaner benutzte. Idealerweise herrschte im Inneren des Salinen-Werkes eine konstante Temperatur von 7° C und eine relative Luftfeuchtigkeit von 75 %.

Momentan war der Stollen vollgestopft mit Gemälden und Kunstgegenständen, geraubt aus privaten Sammlungen, Museen, Institutionen aus halb Europa, für diverse »Größen« des Regimes gestohlen. Im Moment beherbergte man hier Hitlers Spitzweg-Sammlung, die im Falle des Endsieges dem geplanten Reichsmuseum in Linz zugeführt werden sollte, diverse Sammlungen des »Kunstliebhabers« Hermann Göhring und anderes. Täglich kamen neue Transporte. Erst gestern hatte man geheimes Aktenmaterial aus Böhmen gebracht. Bis dato hatte es in Außig, nahe der Elbe, in dem geheimen Rundfunksender gelagert. Nun war auch diese Bastion gefallen und man hatte entschieden, es nach Aussee in die Alpenfestung zu verlagern.

Jetzt, wo es sicherer als das Amen in der Kirche war, dass der angestrebte Endsieg noch nicht mal auf dem Papier Bestand hatte, gaben sich die »Größen« in Kaltenbrunners Kuhstall die Klinke in die Hand. Kaltenbrunner verabscheute diese Besuche, liefen sie doch immer nur auf das eine hinaus, sich von ihm die in der Fälscherwerkstatt des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg hergestellten und vom Vatikan in Rom beglaubigten Ausweispapiere geben zu lassen. Skorzeny, Mengele, Eichmann, alle kamen sie, versorgten sich mit den Papieren und etlichen Dollarnoten, um damit die sogenannte Rattenlinie zu nutzen, über Rom, den italienischen Hafen Genua, aufs Schiff, hinüber ins neue gelobte Land, wo man dank Perón auf Aufnahme hoffen durfte.

Jetzt zahlte sich aus, was man schon 1941 »ins Leben« gerufen hatte, damals, als vier hochrangige Offiziere die Organisation der SS-Angehörigen gründeten. Einst war ODESSA nur zum Selbstzweck geschaffen worden. Man wollte den Angehörigen der Gefallenen mit finanziellen Mitteln zur Seite stehen. Dass diese Mittel aus dem erbeuteten Reichsvermögen gezahlt und damit eigentlich dem Reich unterschlagen wurden, tat nichts zur Sache! Man hatte sich ja schließlich die ewige Treue geschworen. Nun also hatte sich das Blatt gewendet, waren die Aufgaben der Organisation andere, weitaus schwierigere. Die Kameraden mussten raus, bedurften des Schutzes von ODESSA, ewige Treue bis in den Tod.

Er selbst, Ernst Kaltenbrunner, würde diesen Weg nicht gehen, er würde ausharren bis zum Schluss, den Kelch leeren bis zur bitteren Neige. Ein Kaltenbrunner kapitulierte nicht, schon gar nicht vor sich selber. Ein Kaltenbrunner würde mit den Westalliierten verhandeln, als freier Mann seines Weges gehen. Eigentlich konnte man die Bittsteller ihrer Feigheit wegen nur bedauern. Trotzdem fügte sich Kaltenbrunner. Man hatte Ehre und Treue geschworen auf eine Organisation, deren Gründung niemals auf einem Stück Papier festgehalten worden war, von deren Existenz nur ihre Mitglieder wussten.

Wieder klopfte es an der Eingangstür des Kuhstalls und ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat Kaltenbrunners Adjutant in den Raum: »Besuch aus Berlin. Schellenberg ist da!« Auf Floskeln der offiziellen Meldungen verzichtete man in dieser Zeit, worauf Kaltenbrunner nur träge mit dem Kopf nickte, als Zeichen der Zustimmung. Dann stand er vor ihm, Walter Friedrich Schellenberg, sein direkter Untergebener aus Zeiten des Reichssicherheitshauptamtes, gezeichnet durch den augenscheinlich schweren Weg von Berlin zur Alpenfestung. Kaltenbrunner deutete mit einer laxen Handbewegung seinem Adjutanten, das Zimmer zu verlassen.

Ohne jeglichen Willkommensgruß, ohne Umschweife auf den Punkt kommend, fragte er den Neuankömmling: »Nun, wie ist die Lage in Berlin?«

Schellenberg grinste unverhohlen: »Ich denke, mehr als beschissen!« Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ihn dieser Spruch das Leben gekostet, zumindest aber verstärkten Arrest eingebracht. Aber die Zeiten hatten sich geändert!

Kaltenbrunner räusperte sich: »Eigentlich interessiert mich das auch nicht wirklich! Was ist mit den Akten?«

»Alle Akten des RSHA sind vernichtet, im Hof verbrannt. … Ich habe mir erlaubt, die wichtigsten auf drei Mikrofilme zu bannen. Wer weiß schließlich so genau, wie sich das alles noch entwickelt.«

Aus Kaltenbrunners Augenpaar dringt Kälte, nicht ein noch so kleines Indiz, was er gerade denkt. In monotonem Tonfall fragt er: »Wer weiß noch von diesen Filmen?«

»Nur ich! Nur sie und ich!«

»Wo sind die Dinger?«

»Nun, es erschien mir zu gefährlich, die Filme hierherzubringen. Hab die Negative in eine Blechdose gesteckt und stillschweigend vergraben, als wir die Kisten nach Strausberg gebracht haben.«

»Und sie hat auch wirklich keiner dabei beobachtet?«

»Keiner. Ich war allein. Außer uns weiß niemand davon.«

Kaltenbrunner nickt zufrieden. Auf seinen Schellenberg konnte er sich verlassen. Einer von wenigen. »Was ist eigentlich mit dem Flugzeug?«

Schellenberg zuckt nervös mit den Schultern: »Müsste doch eigentlich schon hier sein.«

»Ist es aber nicht!«

»Ich weiß nur, dass alles vorbereitet war. Wir hatten die fähigsten Leute damit beauftragt. Reichsleiter Bormann sollte doch mit an Bord sein.«

Er hatte den Namen Bormanns in einem leicht verächtlichen Tonfall genannt, machte keinen Hehl daraus, dass er ihn verachtete, wie fast alle. Kaltenbrunner dachte ebenso. Auch ihm war Bormann, dieser Emporkömmling, gelinde gesagt, scheißegal. Wen interessierte schon dessen Schicksal. Was von Bedeutung ist, sind die Kisten, vor allem die eine! »Sie werden doch wohl durchgekommen sein?«, fragte Kaltenbrunner mehr für sich selbst.

»Wie schon gesagt, unsere fähigsten Kameraden … Wenn Bormann nicht wieder alles durcheinander gewürfelt hat …«

In diesem Moment klopfte es wieder: »Verzeihung! Höttl ist da. Der Flieger aus Berlin ist angekommen! Der Obersturm hat die Piloten gleich mitgebracht!«

Schellenberg war bereits beim Anklopfen verstummt. Bemerkungen über den Reichsleiter konnten tödlich sein, auch heute noch. Dieser Bormann hatte den bedingungslosen Rückhalt des Führers, was er auch regelmäßig auszukosten schien. Auf sein Betreiben hin waren schon etliche in Dachau gelandet. Nein, Respekt hatte man vor diesem Arschkriecher nicht, aber Angst. Der Typ war unberechenbar. Doch nur Höttl und seine zwei Begleiter betraten den Raum, der Sekretär des Führers fehlte.

»Na endlich!«, kommentierte Kaltenbrunner. Christian Koch kannte sein Gegenüber nur von Fotos und Berichten seines Bruders, aber das reichte, um ihm buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Dieser Mann, so wusste er, konnte eiskalt sein, weshalb er sich entschloss, lieber im Hintergrund zu bleiben und sich mit hängenden Schultern hinter Hilde und Höttl zu verstecken.

Obersturmbannführer Höttl erstattete Bericht und mit jedem vollendeten Satz verfinsterte sich das Mienenspiel Kaltenbrunners. »Lassen sie mich raten!«, brüllte er Höttl an: »Bei der fehlenden Kiste handelt es sich um die Kiste!«

Betreten nickte Höttl und schwieg. Während Schellenbergs Gesicht erblasste, lief Kaltenbrunners vor Wut rot an: »Das ist Hochverrat!«

»Aber … Aber, die Russen!«, stotterte Hilde.

»Die Russen, die Russen …«, äffte er sie nach, dann bemerkte er den nun noch ängstlicher schauenden Christian: »Sie da! Vortreten! Meldung!«

Gehorsam schoss Christian nach vorne, riss den Schwurarm in die Höhe und stammelte seine Meldung: »… zu Befehl, Herr Obergruppenführer! Koch, Christian …«

Kaltenbrunners Wut kannte keine Grenzen: »Man, sie scheißen sich ja gleich in die Hosen. Was sind sie denn für eine jämmerliche Gestalt? Da war ihr Bruder ja wohl aus anderem Holz geschnitzt. Hatten sie verschiedene Väter? So, nun verraten sie mir mal, ob sich das wirklich alles so abgespielt hat und warum drei deutsche Männer nicht mit ein paar versprengten Russen fertig wurden!« Wie gelähmt antwortet Koch nicht, sondern nickt nur bestätigend. Doch Kaltennbrunner lässt nicht locker, ist außer sich vor Wut.

»Haben sie nicht mal einen Eid geschworen? Vergessen? Los, aufsagen!«

Stotternd betet er ihn herunter: »Ich schwöre dir, Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches, Treue und Tapferkeit. Ich gelobe dir und den von dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe.«

»Noch einmal!«

»Ich schwöre dir, Adolf Hitler, als Führer …«

»Treue und Tapferkeit! Bitte schön, welche Eigenschaft besitzen sie davon?« Ernst Kaltenbrunner hatte genug von diesem Weichei, er wandte sich wieder Höttl zu: »Was ist mit dem Reichsleiter?«

Achselzuckend erwidert er: »War nicht da!«

»Wie, war nicht da?«

Das ist Christians Chance von sich selbst abzulenken. Gerade will Höttl antworten, da tritt er vor: »Zu Befehl, der Herr Reichsleiter ist tot.« Schweigen im Raum, alle Blicke sind auf Koch gerichtet: »Ich weiß es, habe seine Leiche gesehen, in Berlin! ...« Christian berichtet von dem Auftrag, dem Besuch im Führerbunker, erzählt, wie sein Bruder und er durch den Granateinschlag fast getötet wurden und er Bormann blutüberströmt im Granattrichter gesehen hatte.

»Und sie sind sich sicher, dass es sich um den Reichsleiter gehandelt hat?«

»Zu Befehl! Mein Bruder hatte doch kurz davor einen Briefumschlag erhalten, im Namen des Reichsleiters.«

Kaltenbrunners Neugier war geweckt: »Wo ist der Umschlag?«

»Als mein Bruder tot im Wald lag, hab ich das Ding eingesteckt, kurz bevor ich ins Flugzeug gesprungen bin. Hier! Hier ist er!« Zitternd reicht er das Kuvert dem Dienstherren, der es hastig aufreißt, kurz den Inhalt überfliegt, um es dann an Schellenberg weiterzureichen.

»Na, wenigstens etwas. Warum haben sie das nicht gleich erzählt?«

Verlegen antwortet Koch: »Hat mich ja keiner gefragt.«

Völlig falsche Antwort! Kaltenbrunner schäumt vor Wut: »Man, wie bescheuert sind sie eigentlich?! Höttl! Zeigen sie den beiden ihre Unterkunft! Alles weitere wird sich finden, aber befreien sie mich von diesem Anblick! Raus hier, aber zackig, ehe ich sie allesamt an die Wand stellen lasse. Raus!« Kaum haben die drei den Raum verlassen, wiederholt er noch mal: »Wenigstens etwas!«

»Verzeihung, aber das hier ist nur die Liste der Passwörter! Ohne die Kontenlisten, fast wertlos!«, er holt tief Luft: »Und die sind in der Kiste!«

Schon fast flehentlich sieht Kaltenbrunner ihn an: »Haben wir noch jemanden vor Ort?«

»Ich werde mich darum kümmern, aber … Hoffen wir mal, dass die Russen die Kiste nicht gefunden haben. Ich denke, der Zug ist abgefahren.«

»Das Einzige, was mich beruhigt, ist die Tatsache, dass der Russe ohne die Passwörter auch nichts ausrichten kann.«

»Wohl wahr. Haben wir aber auch nichts davon. Nur in der Einheit sind die Bücher nutzbar!« Kaltenbrunner sinniert: »Da war doch, wenn ich richtig unterrichtet bin, noch ein Vierter! Der große Koch ist tot, sein bescheuerter Bruder und das Weib der Werwölfe hier, wer war der Vierte?«

»Ein gewisser Stubbe. Paul Stubbe, Jahrgang 20, glaube ich. Der und der kleine Koch waren auch die Kuriere. Die Frage ist doch nur, ob die Russen ihn auch abgeknallt haben.«

»Oder ob er eventuell das Kontenbuch hat!«, fällt ihm Kaltenbrunner ins Wort.

»Wie schon gesagt, wenn Stubbe das Ding hat, ist es für ihn auch wertlos, die Passwörter haben wir. Außerdem haben wir von vornherein das Wissen der beiden Herren, sagen wir mal, sehr flach gehalten. Sie waren nur Boten, mussten an einen Mittelsmann abliefern und können den weiteren Weg nicht nachverfolgen. Die Frage ist nur, ob dieser Stubbe tatsächlich noch lebt.«

»Versuchen sie das rauszukriegen, besser noch, schaffen sie mir das Buch ran. Das hat höchste Priorität. Verstanden?«

»Verstanden, ich kümmere mich!«

»Und halten sie mich über jeden ihrer Schritte auf dem Laufenden.«

Es wird der letzte Dialog sein, den die beiden führten.

Ernst Kaltenbrunner wird am 11. Mai 1945 von einer amerikanischen Militärstreife verhaftet, nach England zum Verhör und letztendlich nach Nürnberg gebracht, wo er vor das Internationale Militärtribunal gestellt wird. Am 1.Oktober 1946 wird Kaltenbrunner in allen Anklagepunkten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und allgemeiner Kriegsverbrechen wie Deportation, Mord, Misshandlung und Plünderung für schuldig gesprochen und zum Tode durch den Strang verurteilt. Seine letzten Worte an seine Richter lauteten: »Ich fühle mich nicht schuldig an irgendwelchen Kriegsverbrechen, ich habe nur meine Pflicht als Sicherheitsorgan getan und weigere mich, als Ersatz für Himmler zu dienen.« Das Urteil wurde am 16. Oktober 1946 um 1.15 Uhr vollstreckt.

Walter Friedrich Schellenberg wurde im Juni 1945 verhaftet und im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess zu 6 Jahren Haft verurteilt. Bei diesem milden Urteil wurden maßgeblich seine Zeugenaussagen in den Nürnberger Prozessen berücksichtigt. Im Dezember 1950 wurde Schellenberg auf Grund eines Leberleidens vorzeitig aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen. Mit 42 Jahren starb er am 31. März 1952 im italienischen Turin an Krebs. Bis zu seinem Ende bewahrte Schellenberg den Ort, wo er die Filme vergraben hatte, für sich, weihte nicht einmal seine Frau in das Geheimnis ein. Da er die Mikrofilme, die er in verlötete Blechkanister gesteckt hatte, ohne Zeugen vergrub, nahm er sein Geheimnis mit ins Grab. Mit ziemlicher Sicherheit liegen sie noch heute dort, in der Nähe des Ortes Strausberg bei Berlin.

Es war ein winziges Zimmer, in einem kleineren neben dem Kuhstall gelegenen Gehöft. Das Inventar bestand aus zwei Feldbetten, einem alten klapprigen Holzschrank und einem gusseisernen Waschbecken, welches durch einen schmalen Sonnenstrahl erhellt wurde. »Das ist hier bis morgen eure Unterkunft! Ich komme nachher, bringe euch Papiere und erkläre wie es weitergeht. Morgen früh zieht ihr Leine! Das heißt …«, Höttl dehnte seine Stimme, um eine größere Wirkung zu erzielen: »… wenn euch der General nicht doch noch abknallen lässt! Meiner Meinung nach wäre das das einzig Richtige, für so viel Dämlichkeit.« Die Zimmertür laut zuschmeißend verlässt er den Raum.

Höttls Reaktion erzielte genau die beabsichtigte Wirkung. Minutenlang standen Hilde und Christian im Zentrum des Zimmers, unfähig sich zu bewegen, schweigsam, innerlich schlotternd, vor Angst. Die erste, die sich selbst wiederfand, war Hilde. Mit einem laut vernehmbaren Seufzer fuhr sie sich durch die zusammengesteckten Haare und schüttelte ihre lange, brünette, zerzauste Mähne. Christian wagte einen Blick. Hässlich war sie nicht!

»Was soll das?«, fauchte sie ihn an: »Nicht genug, dass ich dich auf dem Hals hab, jetzt muss ich mir auch noch mit dir diese Bude teilen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für dich, mal eine halbe Stunde zu verschwinden! Ich will mich endlich waschen. Das solltest du übrigens auch tun. Du riechst, sagen wir mal, streng, und das ist geschmeichelt. Also, raus jetzt! Und wage dich ja nicht, hier vorher zu erscheinen.«

Sie hatte also seine neugierigen Blicke bemerkt. Christian schoss eine leichte Röte ins Gesicht. Widerspruchslos verließ er den Raum, ging auf den Hof und schnorrte bei einem vorbeilaufenden Landser eine Zigarette. Hastig und tief inhalierte er den Rauch und genoss das Kratzen in seinem Rachen. Genussvoll stieß er den Rauch aus und bemerkte das hektische Treiben um ihn her. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, erinnerte er sich an ein altes deutsches Sprichwort. Endlich, er hatte ihr lange genug Zeit eingeräumt, ging Christian wieder hinein. Hilde hatte den schmalen Fensterschlitz mit einem Tuch verhangen, lag auf ihrem Bett und schlief anscheinend tief und fest. Ja, sie war schön, zu schön für ihre burschikose Art. Man hätte sich unter anderen Umständen kennenlernen müssen. Wer weiß, vielleicht…! Christian zieht sich aus, lässt das kalte Wasser über seinen Körper fließen. Jetzt erst bemerkt er, wie die Nervosität von ihm weicht und einer unwiderstehlichen Müdigkeit Platz macht. Die Erschöpfung fordert ihren Tribut. Kaum hat er es sich auf dem Feldbett bequem gemacht, schläft er ein.

Am Nachmittag erscheint Höttl wieder. In der einen Hand hält er einen Blechteller, auf dem sich zwei Marmeladenstullen befinden, die andere Hand umspannt irgendwelche Papiere. Als er die enttäuschten Blicke seiner Untergebenen bemerkt, faucht er wieder los: »Was habt ihr denn erwartet? Ein Fünf-Gänge-Menü? Seid froh, dass ihr überhaupt was zu fressen bekommt!« Mit diesen Worten stellt er den Teller auf die Fensterbank. Zwei Marmeladenbrote! Für jeden eins! Christian kommt nicht weiter zum Nachdenken, denn Höttl gibt seine Anweisungen:

»So, jetzt herhören! Ich erzähle das nur einmal! Hier sind zwei Passierscheine. Namen und Daten auswendig lernen! Wie ihr sehen könnt, seid ihr ab sofort argentinische Staatsbürger. Die Dinger sind vom Vatikan beglaubigt und sollen euch freies Geleit nach Genua verschaffen. Ihr schlagt euch auf dem kürzesten Weg nach Rom durch, sucht die deutsche Nationalkirche Santa Maria dell’Anima in der Via della Pace auf und verlangt nach Bischof Alois Hudal. Er wird euch weiterhelfen, Ausreisepapiere geben und euch ein Schiff benennen, mit dem ihr nach Argentinien schippert. Dort wird man euch in Empfang nehmen und alles weitere regeln. Hier auf diesem Zettel steht noch einmal alles drauf. Auswendig lernen und dann sofort vernichten!« Höttl schaut Christian durchdringend an: »Wie schon gesagt, auswendig lernen und vernichten, auf gar keinen Fall bei euch führen. Verstanden? ... Solltet ihr aus irgendwelchen Gründen den Dampfer nicht erreichen, dann sind hier Zyankalikapseln. Einfach draufbeißen, geht in Sekundenschnelle. Es erübrigt sich wohl darauf hinzuweisen, dass es das alles hier niemals gegeben hat. Zur Sicherheit geht ihr getrennt. Du …«, er zeigte auf Koch, »…gehst zuerst, noch heute Nacht. Um eins! Du, Hilde, wirst ihm morgen Mittag folgen. Auf gar keinen Fall dürft ihr euch vor dem Auslaufen des Schiffes treffen. Habt ihr das verstanden?«

»Jawohl!«, erschall es aus zwei Kehlen.

»Und vermasselt es nicht wieder! Noch eine Chance bekommt ihr ganz gewiss nicht.« Höttl schmiss wieder die Tür hinter sich zu.

Das laute Schließgeräusch an der Zellentür reißt ihn aus seinen Gedanken und Erinnerungen. »Herr Koch, kommen sie bitte mit zur Vernehmung!« Korrekt und höflich, diese Justizbeamten hier. Ganz im Gegensatz zu den Ostvopos! Christian war glücklich, das hinter sich zu haben. Siegfried Lenz, der Hauptkommissar, empfängt ihn in seinem Büro, deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch: »Bitte setzen sie sich!« So lässig tuend wie möglich, folgt Koch der Anweisung. »So, Herr Koch, oder meinetwegen auch Senior Wallenberg. Fangen wir noch mal von vorn an.«

»Herr Kommissar, ich weise noch einmal darauf hin, dass ich keine weiteren Aussagen ohne meinen Anwalt tätigen werde.«

Lenz schüttelt den Kopf: »Und ich wiederhole mich, dass sie jederzeit das Recht haben, ihren Anwalt anzurufen!«

›Das könnte euch so passen. Damit ihr in aller Seelenruhe das Telefonat zurückverfolgen könnt! So blöd muss man nun wirklich nicht sein.‹ Grinsend antwortet Koch: »Ich werde nicht telefonieren. Er wird sich von selbst melden.«

»Sie meinen, ihre Organisation wird sich melden.«

›Ihr seid doch wirklich blöd!‹ »Ich weiß nicht, was sie für eine Organisation meinen! Außerdem wünsche ich einem Haftrichter vorgeführt zu werden. Wenn ich es richtig verstehe, können sie mir nur Störung der Totenruhe, allenfalls Grabschändung nachweisen. Ob das für ein längeres Festhalten in ihrem ehrenwerten Haus reicht, wage ich zu bezweifeln.«

Leider zweifle ich auch daran, denkt Lenz, versucht aber, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen: »Nun, ich glaube, da sind noch andere Dinge.«

»Ach ja? Welche? Meinen sie einen Mord, der ein Unfall war und außerdem verjährt ist? Auch, so denke ich, fehlen ihnen jegliche Beweise. Alles was sie haben, sind die paar beschriebenen Blätter eines alten Greises, der zudem auch noch todkrank war.«

»Sie reden von Stubbe? Ich dachte es war ihr Freund und Kamerad?«

Koch winkt desinteressiert ab: »Ich sehe keinen Sinn, mich dazu zu äußern.«

»Zumindest gegenüber Herrn Kiefer, dem Enkelsohn des Stubbe haben sie sich geäußert.«

Wieder grinst Koch: »Sehr aussagekräftig! Außerdem, Worte sind Schäume. Taten! Taten sollten sie mir nachweisen!« und ironisch fügt er hinzu: »Also, wenn sie nicht mehr haben …, dann würde ich jetzt gerne gehen, ihre Gastfreundschaft nicht länger genießen.«

Siegfried Lenz sieht ihn verächtlich an. Der Mann hatte recht, mehr gab es dazu nicht zu sagen! Trotzdem bemüht sich der Kommissar, einen unverfänglichen Tonfall anzuschlagen: »Wann sie uns verlassen, bestimmen sie ganz bestimmt nicht. Und wie der Haftrichter das bewertet, werden wir sehen.« Er drückt einen Klingelknopf und ruft dem Schließer zu: »Abführen!«

Kaum hat Koch den Raum verlassen, greift Lenz zum Telefon und wählt die Nummer seines noch ostdeutschen Kollegen. Kurz, mit knappen Worten informiert er Peters über den Stand der Dinge und endet mit den Worten: »Ja, so ist es eben. Wir haben keine Zeit mehr. Wir werden ihn gehen lassen müssen. Keine Richter, ausgenommen eure, würden eine weitere Untersuchung billigen, nicht mit den Indizien. Schade eigentlich. Ach, und nicht ironisch gemeint, manchmal beneide ich euch um eure Gesetze.«

»Wer weiß, wie lange noch?!«

Krachend fällt die Zellentür zu. Das Knirschen des Schlüssels ist unüberhörbar. Christian Koch war wieder allein. Es wurde Zeit. So langsam musste die Organisation doch von seinem Aufenthaltsort Kenntnis haben! Wann endlich würde jemand handeln? Dass die Graue Eminenz das Zeitliche gesegnet hatte und die Villa erstürmt wurde, entzog sich seiner Kenntnis. Man würde ihn hier rausholen, es war nur eine Frage der Zeit. Die Organisation funktionierte und sie ließ nie einen Kameraden in Not fallen. Das war damals so und so blieb es bis heute, eben nur eine Frage der Zeit.

Damals! Er erinnert sich noch genau, viel zu einschneidend war das Erlebte, um es vergessen zu können. Gegen Mitternacht war er losmarschiert. Vor ihm lagen etwa 1000 Kilometer Fußweg, Kälte und Angst, die ihn allerdings auch immer wieder zur Eile antrieben. Nach zwei Tagen erreichte er Salzburg. Von hier aus waren es nur 15 Kilometer bis Berchtesgaden. Sollte er es wagen? Der Obersalzberg zog ihn magisch an. Dennoch erreicht er seinen »Abstecher« nicht.

»Just stopping! Hands hight!« erschallt es in seinem Rücken. Marktschellenberg! Keine 5 Kilometer vom Ziel entfernt! Und nun ausgerechnet der Ami!

Langsam hebt er die Hände und erwidert in fließendem Englisch: »Ich bin argentinischer Staatsbürger im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes. Darf ich in meine Brusttasche fassen und den Ausweis rausholen?«

Die beiden GIs wechseln ein paar Blicke. Irgendetwas stimmt mit diesem Typen nicht. »Sie lassen ihre Hände schön oben! Ich werde ihr Dokument aus der Tasche holen!« Während der eine, in sicherem Abstand, seine Maschinenpistole auf Koch richtet, tastet der andere vorsichtig seine Taschen ab, zieht den Schein heraus, wirft einen kurzen Blick darauf und nickt dem anderen zu. Der Sergeant ist immer noch nicht überzeugt.

»Waren sie SS-Mitglied?«

»Nein! Wie sie dem Papier entnehmen, ja wohl nicht!«

»Krempeln sie bitte ihre Jacke hoch und machen den rechten Arm frei!«

Christian ahnt, worauf das hinauslaufen soll. Jedes Mitglied der SS hatte seine Blutgruppe eintätowiert. Dies galt zum einen als Zeichen des Zusammenhalts, aber noch mehr, um bei Transfusionen das richtige Blut und unter keinen Umständen einen noch so kleinen Tropfen von fremden Rassen zu erhalten. Diese Tätowierung war Pflicht und Stolz zugleich! Christian war seinerzeit maßlos enttäuscht, dass Stubbe und er, aus Gründen der Geheimhaltung auf dieses Privileg verzichten mussten. Jetzt rettet ihm dieser Umstand wohl den Hals. Erleichtert tut er, was ihm geheißen.

»Okay! Sie können die Arme jetzt wieder runternehmen! Trotzdem dürfen wir sie nicht weiterlassen. Dieses Gebiet ist zur Sperrzone erklärt! Gehen sie wieder zurück!«

Das lässt sich Christian nicht zweimal sagen. Mit einem kurzen Kopfnicken und gemurmelten »Okay« läuft er wieder in Richtung Salzburg. Schön langsam, nicht noch im letzten Moment durch Hektik auffallen!

Die beiden Soldaten sehen ihm nach. »Ich weiß nicht, aber irgendetwas stimmt mit dem Kerl nicht. Ich hab so ein beschissenes Gefühl!« Zu diesem Zeitpunkt kennen die beiden den Begriff »Klosterroute«, die der amerikanische Geheimdienst später in »Rattenlinie« umtauft, noch nicht und später werden sie sich an Christian Koch auch nicht mehr erinnern. »Scheiß auf dein Gefühl. Lass ihn ziehen, wir sollten jetzt erstmal eine rauchen!«

In sicherer Entfernung schnauft Christian, sein Herz pocht, schlimmer als bei der Ausbildung. Haarscharf am Abgrund vorbei! Bloß schnell alles hinter sich lassend, macht er sich auf den Weg. Seiner ganz persönlichen Rattenlinie folgend, schläft er in Wäldern und Scheunen, überquert den Brenner und lässt Bologna hinter sich. Schließlich erreicht er, fast schon am Ende seiner Kräfte, die italienische Hauptstadt. Die Via della Pace ist bekannt in Rom! Rasch hatte er sich durchgefragt, mitleidige Blicke empfangen und gespürt, dass sein äußeres Erscheinungsbild irgendwie nicht stimmte. Endlich stand er dem Vorsteher der Kirche, dem Bischof Alois Hudal, einem gebürtigen Österreicher, gegenüber. Ausgerechnet ein Pfaffe sollte jetzt sein weiteres Geschick bestimmen!

Dass dieser Pfaffe Träger des Goldenen Ehrenabzeichens der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei war und bereits 1936 ein Buch über »Die Grundlagen des Nationalsozialismus« geschrieben hatte, welches er dem Führer mit der persönlichen Widmung »Dem Siegfried deutscher Größe« überreichte, war Koch nicht bekannt. Auch Hudals Einstellung, sein gesamtes Werk den Nationalsozialisten zu widmen, um so das rasende Verlangen der alliierten Sieger nach Rache und Vergeltung zu vereiteln, kannte er nicht. Im Moment stand Christian nur mit zitternden Knien vor der kirchlichen Obrigkeit.

»Tritt ein, mein Sohn! Hier in den Räumen bist du sicher. Wie war noch einmal dein Name?«

»Wallenberg oder Koch, ganz wie sie wollen, Hochwürden.«

Der Ehrwürdige musste lächeln, so kam ihm noch keiner. Er empfand von vornherein eine Art Sympathie für den Jungen, der anscheinend sehr naiv und gänzlich heruntergekommen war, jedenfalls was seine Erscheinung und seinen Körpergeruch betraf. Aber er musste auf Nummer sicher gehen, zu viel hing davon ab. »Können sie sich ausweisen?«

Christian reicht ihm den Papierschein. Der Bischof nickt zufrieden, dann zerreißt er das Papier genüsslich und weidet sich an den entsetzten Augen seines Gegenübers. »Alles in Ordnung. Sie waren mir angekündigt. Und das hier brauchen wir nicht mehr. Mit diesem Wisch könnten sie das Land nicht verlassen. Wir werden ihnen neue Papiere besorgen, wertvollere.« Hochwürden läutet eine kleine Klingel und ein Mönch erscheint. »Jetzt werden sie sich erstmal erholen! Bruder Fabrizio wird ihnen ihr Zimmer zeigen und ihnen etwas zu essen bringen. Machen sie sich frisch und genießen sie den Aufenthalt bei uns, allzu lange wird es nicht dauern, vielleicht zwei oder drei Tage, dann haben wir alles beisammen. Nur um eins bitte ich. Sie können sich hier im Haus frei bewegen. Wenn sie möchten, selbstverständlich auch an den Andachten teilnehmen, hilft der Seele, habe ich mir sagen lassen. Aber verlassen sie niemals das Haus, auch nicht kurzzeitig. Es wimmelt dort draußen nur so von Spitzeln. Jegliche Zuwiderhandlung würde dazu führen, dass sie keinen Schutz von uns mehr zu erwarten hätten. Was das für sie heißen würde, ist ja wohl klar?!«

»Ja, Hochwürden, ich werde mich selbstverständlich an die Regeln halten. Und danke für alles«

»Sie sind zu keinem Dank verpflichtet. Und jetzt gehen sie!«

Koch folgt Bruder Fabrizio und im Gehen ruft ihm Hudal noch hinterher: »Versuch es doch mal mit Beten, mein Sohn. Würde mich freuen, wo es doch schon immer mein Ziel war, den Katholizismus mit dem Nationalsozialismus zu verbinden.« Christian lächelt: »Ich werd’s versuchen. Versprochen.« Herrlich naiv, der Junge, denkt der Bischof und wendet sich wieder den überirdischen Dingen zu.

Fleisch! Nein, es war keine Sinnestäuschung, es war Fleisch, ein ganzes Stück, gebraten, saftig, garniert mit einer Scheibe Brot! Und ganz für ihn allein! Christian konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das Glück hatte, das letzte Mal so zu speisen, so königlich. Fabrizio bemerkte sein Zögern, seine großen Augen, und es schien, als könne er seine Gedanken erraten, worauf er ihm fröhlich zunickte als Bestätigung, dass dieses Mahl wirklich ihm zugedacht und tatsächlich real war. Sein Blick deutete ihm, doch nun endlich mit der »Verspeisung« zu beginnen, denn nichts schmeckte wirklich, wenn es kalt war. Zaghaft, übervorsichtig, um auch keine Sekunde des Genusses zu vergeuden, schob sich Christian den ersten Bissen in den Mund. Hmmm. Fabrizio verschwand. Nachdem er gegessen und sich gewaschen hatte, legte er sich in das bereit gestellte Bett. »So muss es im Himmel sein!«, stellte er für sich fest.

Christian erwacht durch das laute Läuten der Kirchenglocken und den schlürfenden Schritten der Mönche, draußen auf dem Flur. Ein Blick zum Fenster verrät ihm, dass er eingeschlafen sein musste, denn unterdessen hüllte die Dunkelheit ganz Rom ein. Die Mönche bewegten sich anscheinend zum Abendgebet. Vorsichtig öffnet Christian die Tür seiner Kemenate, um sich zu vergewissern. Richtig, die Mönche! Fabrizio erspäht er nicht, aber die Neugier ist geweckt. In gebührendem Abstand folgt er ihnen, bis hin zur Kapellenhalle, in der sich die Bruderschaft zum Gebet niederkniet. Mag sein, dass Gott die Geschicke aller Menschen lenkt, aber mit Sicherheit nicht seine. Christian ist überzeugter Atheist und dies aus Leidenschaft, worauf er beschließt, den gut gemeinten Ratschlag des Bischofs zu ignorieren, um sich in aller Stille zurückzuziehen. Seine Aufmerksamkeit gilt mehr der Ausgangstür und dem geheimen Wunsch, die Pforte zu öffnen und ins Freie zu treten. Die Klinke schon in der Hand, besinnt er sich der mahnenden Worte der ausgesprochenen kirchlichen Drohung Hudals und geht wieder in sein Zimmer, wo ihm eine Stunde später von Bruder Fabrizio das Abendbrot serviert wird. Wurst und Käse! Das muss der Himmel sein, eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Gleichzusetzen mit einem Nobelhotelaufenthalt! Dann deutet Fabrizio an, ihm zu folgen und führt ihn auf direktem Weg zum Zimmer des Bischofs, wo Hudal bereits wartet.

»So, Kamerad Koch«, beginnt er mit ungewohnt harter Stimme. »wir haben alles geprüft!«

»Geprüft? Was?«, ist Christian irritiert.

Der Bischof grinst: »Denkst du, hier wird auch nur ein kleiner Finger krumm gemacht, wenn irgendetwas unklar ist? Die Gefahr des Verrats ist allgegenwärtig! Und gerade in diesen Zeiten.« Er winkt ab. »Aber egal. Ich werde dir jetzt erklären, wie es weitergeht. Es ist für alles gesorgt. Eine Bahnfahrkarte nach Genua, Rot-Kreuz-Pass, Verpflegung, Visa für Argentinien und die Schiffspassage. Du musst spätestens am Sonnabend auf der ›Campana‹ sein. An der Pier von Buenos Aires fragst du nach dem Franziskanerpriester Blas Stefanic. Er wird dir weiterhelfen. Es ist für alles gesorgt. Du wirst von ihm erwartet. Schließlich werden auch wieder bessere Zeiten kommen. Der Nationalsozialismus wird niemals aussterben!«

»Danke!«, erwidert Christian, als er die Zugfahrkarte und seinen neuen Pass aus den bischöflichen Händen erhält. Dann stockt ihm der Atem, als er das Dienstsiegel des Vatikans entdeckt.

Hudal hebt seinen Kopf gegen die Zimmerdecke und grinst: »Ja, ja, von ganz oben abgesegnet.«

Erst Jahre später erfährt Koch, dass Bischof Hudal die zentrale Figur der Fluchthilfeoperationen des Vatikans ist. Hochrangige »Größen« des Systems wie Eichmann, Priebke sowie der Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, Franz Stangl, der für den Tod von zahllosen Menschen verantwortlich zeichnete, wurden mit dem »Segen« Hudals in Sicherheit gebracht. Die von Hudal telegrafierten Namenslisten landeten in der argentinischen Einwanderungsbehörde, wo sie auf persönliche Anweisung Peróns umgehend genehmigt und dementsprechende Ausweise ausgestellt wurden.

Am 19. September 1945 geht die »Campana« im Hafen von Buenos Aires vor Anker. Stefanic hält ein kleines Foto in der Hand, seine Augen suchen die Pier ab. Endlich kann der Franziskanerpriester den Gesuchten im heillosen Durcheinander der Ankömmlinge ausmachen und geht spontan auf ihn zu.

»Senior Wallenberg?«

Christian muss sich erst an den neuen Namen gewöhnen, er wird ihn schließlich sein weiteres Leben lang begleiten. Doch dann nickt er dem ihm gegenüberstehenden, kleinwüchsigen Mann zu, dessen verschmitzte Augen ihn aufmerksam mustern.

»Stefanic, Blas Stefanic. Willkommen in Buenos Aires. Hier sind sie in Sicherheit. Kommen sie, Senior! Hier ist es zu laut, um zu reden. Gehen wir dort rüber zum Zollhaus, dort sind wir ungestört.«

Stefanic sah so ganz anders aus als der Bischof, kleine Statur, die Haare strähnig, abgetragene Kleidung, nichts von Glitzer und Glamour der Römischen Kirche, eben so wie man sich in der Fantasie einen kleinen Dorfpriester vorstellt. Das ganze Gegenteil von Hudal. Dennoch strotzte dieser Zwerg vor Selbstbewusstsein, zumindest gegenüber Koch.

Mit sehr bestimmender Gestik begann er seine Instruktionen: »Sie werden sofort von hier in die Provinz Rio Negro, nach San Carlos de Bariloche fahren. Dort melden sie sich unverzüglich bei der Römisch-Katholischen Diözese in der weißen Kirche im Ort. Sie werden dort erwartet. Man wird ihnen fürs erste Unterkunft und Logie gewähren bis sie auf eigenen Beinen stehen. Wir haben für sie eine Arbeitsstelle bei einem Außenwerk von Siemens besorgt. Ein Hilfsjob, aber wohl besser als gar nichts. Hier sind 1000 amerikanische Dollar für den Neuanfang. Seien sie versichert, die Zeiten werden sich wie,der ändern, dann melden wir uns! Bis dahin sind sie dort sicher.« Stefanic wartet nicht auf eine Antwort, stattdessen fährt er grinsend fort: »Wissen sie eigentlich, was der Name Bariloche bedeutet? Menschen hinter dem Berg! Aber keine Angst, ein kleiner netter Ort am Fuße der Anden, direkt am Ufer des Nahuel Huapi, dem größten See des Landes.«

»Also dort, wo sich Hase und Fuchs ‚Gute Nacht‹ sagen.«

»Nein, nein. Sie werden sehen, es ist sehr schön dort. Außerdem ist es ja nicht für die Ewigkeit!« Kopfschüttelnd sieht der Franziskaner zu, wie Christian den Zug nach San Carlos de Bariloche besteigt. »Auch noch Ansprüche stellen!«, murmelt er vor sich hin.

Christian Koch alias Wallenberg sieht aus seinem Zellenfenster auf den pulsierenden Verkehr der Straße Alt Moabit. Die alljährliche Hektik des Vorweihnachtstrubels hatte begonnen, dieses Jahr verstärkt durch die Ossis mit ihren knatternden Trabbis, die auf der Suche nach den größeren Kaufhäusern wild durch Westberlin donnerten, um ihren Nachholbedarf zu befriedigen. Verdammt noch mal, Koch verspürte nicht die geringste Lust, den Heiligen Abend in dieser Kemenate zu verbringen! Verflucht, wann holten sie ihn hier raus. Wo blieben die Kameraden? Diese triste Straße unter ihm, in Grau gehüllt, farblich leer, nicht zu vergleichen mit Bariloche, dem kleinen Berchtesgaden, wie er damals den kleinen Ort nannte. Ja, die beiden Orte hatten sehr viel gemeinsam und waren doch so verschieden. Umgeben von meist schneebedeckten Bergen, dem Huapi, der seiner Schönheit wegen dem deutschen Königssee in keinster Weise unterlegen war. Und doch, es war nicht sein Land, er war der Fremde, der Immigrant. Christian kann sich nicht mehr genau erinnern, wie lange er dort geblieben war.

Urplötzlich holten sie ihn, brachten ihn zur Hazienda, weihten ihn in die Geschehnisse und die weiteren Aufgaben ein. Schon einmal hatte er einen Eid geschworen, nun zum zweiten Mal, einen Eid auf die Eminenz, auf die Organisation, dem gemeinsamen und doch so fernen Ziel. Er bekam einen deutschen Reisepass, durfte ausreisen und wurde von nun an wieder als Kurier eingesetzt, wenn auch unter anderen Vorzeichen, quasi als Verbindungsmann zu der von den Amerikanern geduldeten Organisation Gehlen, aus der dann schließlich der Bundesnachrichtendienst hervorging. Ja, die Organisation der SS-Angehörigen und die »Gehlentruppe«, wie sie scherzhaft auch genannt wurde, arbeiteten auf wundersame Weise zusammen, ergänzten sich durch Informationen und hatten mehr oder weniger das gleiche Ziel.

Dies war umso verständlicher, wenn man die Karriereleiter des Reinhard Gehlen kannte. Koch war 18 Jahre jünger als Gehlen und bewunderte ihn. Eintritt in die Reichswehr, Offiziersakademie, General der Wehrmacht und schließlich Leiter der Abteilung »Fremde Heere Ost« des deutschen Generalstabs. Gehlen war wohl der weitsichtigste von allen. Rechtzeitig hatte er seine geheimen Unterlagen, insbesondere über »Barbarossa«, dem Decknamen für den Überfall auf die Sowjetunion, in wasserdichte Fässern verpackt und weitläufig in den österreichischen Alpen versteckt. Er ahnte, dass die Zeit nach dem »Tausendjährigen Reich« vor allem Diskrepanzen zwischen den Russen und den Amerikanern bringen würde, zu groß war der Kommunistenhass der letzteren. Seine Rechnung ging auf. Gehlen übergab kurz nach seiner Verhaftung den westlichen Alliierten seine Unterlagen und überzeugte sie, eine Geheimorganisation aufzubauen, deren erste Aufgabe es war, Material über die Russen in die amerikanischen Hände zu spielen.

Da die Amerikaner über so gut wie gar keine Informationen verfügten, stimmten sie Gehlens Anliegen schließlich zu und unterstützten die Organisation Gehlen mit zirka 1,5 Millionen Dollar jährlich. Genug Kapital also, um Agenten und Mitarbeiter zu finanzieren und die Organisation, die ihren Sitz bei München hatte, stetig auszubauen. Dass dabei Wehrmachtsoffiziere und SS-Mitglieder integriert wurden, tat nichts zur Sache, verfügten sie doch über unschätzbare Kenntnisse und Kontakte. Gehlen selbst sorgte dafür, dass bestimmte Personen neue Identitäten erhielten, um sie so vor der Entnazifizierung durch die Alliierten zu bewahren. Die Amerikaner ordneten die neue Organisation anfänglich als Dienststelle der US-Armee zu, ab 1949 übernahm die CIA die Aufsicht und schließlich, ab dem 1. April 1956 in Bundesnachrichtendienst umbenannt, deren Chef immer noch Reinhard Gehlen war, unterstand man endlich der Souveränität der Bundesrepulik. Obwohl man von nun an ausschließlich aus Mitteln des Bundeshaushalts finanziert wurde, existierten lange Zeit keinerlei Rechtsgrundlagen, sodass Gehlen und seinem BND größte Handlungsfreiheit ohne Kontrolle gewährt wurden. Nur die Ergebnisse zählten! Und Gehlen »lieferte«! Wie und durch wen er an seine Informationen kam, interessierte niemanden und seine Akten waren permanent unter Verschluss!

Christian Koch hatte sich durch Zuverlässigkeit und Linientreue ausgezeichnet und pendelte, meist mit geheimen Unterlagen, zwischen Argentinien, der ehemaligen »Rudolf-Heß-Siedlung« in Pullach, wo seit dem 6. Dezember 1947 Gehlens Truppe residierte, und Berchtesgaden hin und her. Berchtesgaden hatte sich verändert. Keine Hakenkreuzfahnen, kein Führerkult, wie er es aus den Wochenschauen kannte. Ein zerstörter Berghof! Das Einzige, was noch an den Gröfaz, den größten Führer aller Zeiten, erinnerte, war die blanke Ironie. Im Berchtesgadener Rathaus wurden am schwarzen Brett noch 1956 Adolf Hitler und Eva Braun aufgefordert, sich bei den Behörden zu melden, da sie ansonsten offiziell für tot erklärt werden müssten.

Keine Frage, dieses Berchtesgaden zog Koch förmlich an. Sein größter Wunsch, den Führer einmal persönlich zu treffen, musste unerfüllt bleiben. Dafür wurde er entschädigt und traf öfter die einzig leibliche Schwester Hitlers, in deren kleiner Wohnung man bis zu ihrem Tod 1960 die geheimen Zusammenkünfte von Mitgliedern der bayrischen ODESSA-Gruppe abhielt. Es war die perfekte Tarnung. Die Frau wirkte alt, gebrechlich und arm. Kein Außenstehender erahnte auch nur ihre wirklichen Geheimnisse und Zielsetzungen. Fromm war sie, ging regelmäßig in die Kirche. Christian hatte sie begleitet, war ihr beim Aufstieg des Bergweges zu ihrem Lieblingsgotteshaus behilflich. Bescheiden und ehrfürchtig hatte er eine Reihe hinter ihr Platz genommen, beobachtete sie beim stillen Gebet.

Beim Verlassen der Kirche sprach sie ihn unvermittelt an: »Sie sind noch so jung an Jahren und das ist schön. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass dieses Deutschland, für das mein Bruder so aufopferungsvoll gekämpft hat, erhalten bleibt. Es wird kein einfacher Kampf. Wir sind umgeben von Feiglingen und Verrätern. Was wir brauchen, sind zuverlässige Leute wie sie.« Sie machte eine kurze Pause, änderte ihren Tonfall ins Energische: »Kümmern sie sich um das Buch! Es war ihr Kamerad!« Sie musste ihren Gedankensprung nicht erklären, Christian wusste auch so, welches Buch sie meinte.

Wieder ganz ruhig, freundlich, fast wie schizophren, fuhr sie fort: »Wir brauchen das Kapital, wenn unser Ziel erreichbar werden soll. Und das soll es doch, oder?« Dienstbeflissen und voller Ehrfurcht nickte er, schwer beindruckt. Die alte Dame lächelte. Er würde alles geben! Davon war sie überzeugt. Was Reinhard Gehlen mit der Bemerkung »Die Höhle ist leer. Ich denke, das haben die Russen!« abgetan hatte, ließ die rigorose Dame nicht gelten. Sie weigerte sich daran zu glauben, ihr Instinkt verbot es ihr. Dieser Koch wird es wiederfinden! Und er wird ein treuer Gefolgsmann für ihren Neffen werden, wenn die Zeit reif dafür ist.

Und Christian Koch enttäuschte sie nicht. Er suchte Stubbe, fand ihn, versuchte an sein Geheimnis zu kommen, wieder und wieder, sogar noch als die »Führerschwester« das Zeitliche bereits gesegnet hatte. Jedoch ohne Erfolg, Stubbe hielt dicht! Selbst Versuche, den Jugendfreund wieder für die gemeinsame Sache anzuwerben, fruchteten nicht besonders. Man brauchte ein Druckmittel, ein besonders starkes, dann würde es vielleicht klappen. Es gab nur eins, was Stubbe in dieser Zeit wirklich interessierte, seine Frau und seinen Sohn! Die Organisation wusste unterdessen von deren Aufenthaltsort, doch ohne wirklichen Erfolg würde Stubbe nicht reden, würde vielleicht sogar in den Osten fahren, Eigeninitiative ergreifen, im schlimmsten Fall den Russen in die Hände fallen und singen.

Nein, man musste ihm die beiden quasi auf dem silbernen Tablett servieren, um im Gegenzug Vertrauen und Taten einzufordern. Gehlen musste helfen! Und Gehlen half, gegen ein geringes Taschengeld von 50000 amerikanischen Dollars. Er warb die mittlerweile verheiratete Johanna und ihren Gatten zur »Republikflucht«. Diesen Mann würde man schon loswerden, wenn die Familie erstmal im freien Westen war! Doch der Plan scheiterte. Wer den Termin und den Ort des Grenzübertritts verriet, oder ob es einfach nur ein Zufall war, dass die ostdeutschen Grenzer schossen, konnte niemals geklärt werden, war auch unerheblich. Der engagierte Fluchthelfer, Johanna und ihr Ehemann blieben auf dem feuchten Erdboden liegen. Der einzige, der wie durch Geisterhand überlebte, war der vierjährige Stubbe-Enkel, den man kurzerhand in ein Kinderheim steckte. Gehlen bekam trotzdem sein Geld, es war vom Erfolg unabhängig.

Ab 1964 ging mit Stubbe gar nichts mehr. Er zog sich zurück, lebte sein Leben in Starnberg und auf Mallorca, unzugänglich bis zu seinem Freitod. Koch war davon überzeugt, dass Stubbe seinem Enkel das Buch seiner persönlichen Hinterlassenschaft hinzugefügt hatte. Dieser Verdacht erhärtete sich mit Pietschmanns Kopie des Abschiedsbriefes. Der Zonenbengel wusste, wo sich das Ding befand! Er würde reden, wenn man ihn gehörig unter Druck setzte! Aber der musste ja unbedingt den Helden spielen! So ein blöder Kerl. Alles hätte sich geregelt, wäre ein für alle Mal beendet gewesen! Stattdessen saß Koch hier fest und wartete ungeduldig, dass die Organisation Kontakt mit ihm aufnehmen würde. Dann aber würde er sich diesen Zonenbengel kaufen! Und wenn er es aus ihm rausprügeln müsste!

Die Chance dazu bot sich ihm mit dem Geräusch des klappernden Zellenschlüssels. In Begleitung des Vollzugsbeamten erschien Hauptkommissar Siegfried Lenz und stellte sich provokativ in den Türrahmen. Es kostete ihn mehr als Überwindung, aber es gab keine andere Möglichkeit, von oberster Richterhand angeordnet: »Herr Wallenberg, der Haftbefehl gegen sie ist vorübergehend ausgesetzt! Sie können gehen!« Koch grinst. Hatte die Organisation also doch interveniert. Endlich! Es machte schon Spaß, in das enttäuschte Gesicht seines Gegenübers zu sehen.

Christian Koch beschloss noch einen draufzusetzen, in der Seelengrube des Widerparts zu wühlen: »Sehen sie. Hab ich ihnen doch vorausgesagt, dass kein Gericht der Welt meinen etwas unfreiwilligen Aufenthalt hier sanktionieren wird. Den zerstörten Grabstein werde ich natürlich ersetzen, das bin ich ja meinem alten Freund schuldig! Alle anderen Anschuldigungen aber sind haltlos, die Fantasie eines vom Tode gezeichneten Greises und seines übereifrigen Enkels!«

Lenz hätte nicht übel Lust, ihm seine Faust ins Gesicht zu schlagen, aber er reißt sich zusammen und erwidert so gleichgültig wie möglich: »Verlassen sie sich darauf, wir werden uns wiedersehen, verlassen sie sich darauf!«

Hochnäsig schüttelt Koch mit dem Kopf: »Ich glaube nicht! Darf ich jetzt um meine persönlichen Sachen bitten?«

Endlich steht er auf der Straße Alt Moabit und saugt die kalte, vorweihnachtliche, aber zum Glück freie Luft in sich auf. So, und jetzt erstmal weg hier. Koch wirft noch einen kurzen Blick hinter sich. Dort oben war sein Zellenfenster. »Jetzt sehe ich das Ding mal von außen«, murmelt er ironisch vor sich hin und bemerkt nicht, wie ein Motorrad kurz hinter ihm am Straßenrand zum Stehen kommt. Ein dumpfes Plup, Plup, mehr hört man dank des aufgesetzten Schalldämpfers nicht. Einen Schmerz spürt Wallenberg nicht mehr. Von den Kugeln getroffen, sackt er zusammen, weißes Licht vor den Augen, bis zum Tod. Mit dem laut aufheulenden Motorrad rast der Schütze davon.

Knapp vier Jahre später beginnt unsere Geschichte.

Domino II

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