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Erster Tag

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1. Kapitel

Schreie hallen durch die Nacht. Ausgelöst von schmerzenden, nicht heilenden Wunden. Gleich werden sie kommen. Ich darf mich nicht bewegen. Ich schlafe tief und fest. Eine Tür springt auf. Musik und lautes Gegröle tönen von weit her. Der Geruch von Zigaretten, Alkohol und Schweiß füllt den Raum. Angewidert von ihren Stimmen, ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Warum sind sie immer so laut? Ihre Schuhsohlen schlürfen über den kalten Laminatboden. Schritte nähern sich meinem Bett. Stimmen. Schon wieder ihre ewig streitenden Stimmen. Schranktüren klappern. Schubladen werden aufgezogen.

„Verdammt! Wo hat der Bengel die Kohle gebunkert?“

Ben schläft. Sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Schreie. Höre nicht auf sie! Schlafe tief und fest, Ben! Die Schreie und das Weinen wollen nicht verstummen. Sandra! Sandra, bitte hör auf zu weinen! Sie tun dir weh.

„Stell endlich das Geplärr ab! Das macht einen ja kirre im Kopf.“

Ich stelle mich tot. Ich bin tot. Die Schreie werden immer leiser, so als würden sie von einer Haube abgedeckt.

„Was machst du da?“

Das Weinen ist kaum noch zu hören, bald ist es nur noch ein ersticktes Wimmern. Die Schritte entfernen sich.

„Verdammt, was machst du?“

Das Weinen verstummt.

„Ich sorge für Ruhe. Hast du doch gesagt.“

Die Schritte kommen wieder näher. Ich bin schon tot. Ich atme nicht mehr, kriege keine Luft, ersticke gleich.

„Markus! Markus!“

Ich höre eine Stimme. Ich ersticke. Lasst mich in Ruhe!

„Markus!“

Bitte helft mir! Hilfe! Neeiiin.

„Markus, wach auf! Markus! Hey, Markus!“

Die Rufe kommen von Ben, der vor dem Toilettentopf steht und seinen Morgenurin mit kräftigem Strahl in die Porzellanschüssel schickt. Markus öffnet die Augen. Er versucht sich zu orientieren, blickt auf die Metallfederung des Bettes über seinem Kopf und dann an die Wand zwischen den Etagenbetten, von der ihn eine nackte Frau mit großen Brüsten anlächelt. Sie sitzt mit gespreizten Beinen in der Hocke und scheint ihn geradezu in sich aufzusaugen.

Er hatte schon wieder diesen grässlichen Traum. Es war jene Nacht, in der seine kleine Schwester gestorben ist. Erstickt? Niemand wusste etwas. Todesursache: plötzlicher Kindstod. Ende. Aus. Und er war dabei. Er hatte geschwiegen. Aus lauter Angst. Er war sieben, oder vielleicht schon acht oder neun. Aber das war für ihn im Nachhinein kein Grund, es tatenlos geschehen zu lassen. Und es war erst recht kein Grund, zu schweigen. Zeitlebens würde er sich Vorwürfe machen, weil er sich mitschuldig fühlt, an dem Tod seiner Schwester.

Markus richtet sich auf, und er muss aufpassen, dass er nicht mit dem Kopf am oberen Bettrahmen anstößt. Er setzt sich auf die Bettkante und streicht seine langen Haare zusammen. Obwohl er erst siebzehn ist, wirkt er erwachsen, eher wie Mitte zwanzig.

Ben betätigt die Toilettenspülung und geht zum Waschbecken. Schmunzelnd beobachtet Markus die Katzenwäsche seines jüngeren Bruders.

Ein Königreich für ein bisschen Gras. Er könnte einen Joint gebrauchen. Ganz dringend. Seine Hand sucht tastend den Fußboden ab und findet eine angebrochene Schachtel Lucky Strike. Geübt entlockt er der Packung eine Zigarette und zündet sie an. Ein tiefer Lungenzug umnebelt seine Gedanken. Kräftig stößt Markus den Rauch aus, so als wolle er sich die Seele aus dem Leib blasen.

Ein lautes Schließgeräusch unterbricht die morgendliche Ruhe. Niemals werden sie sich daran gewöhnen können. Es ist die Sicherheitsverrieglung ihrer Zellentür, mit deren morgendlichen Öffnung beginnt der durchgetaktete Gefängnisalltag, der mit der Schließung um 19.00 Uhr endet.

Morgen ist es endlich soweit, dann dürfen sie diese Zelle für zwei Tage verlassen. Und dann gibt es ausreichend Dope. Das hatte Mathilda versprochen.

Ben hängt das Handtuch an den Haken und fängt mit seinem morgendlichen Training an. Mit der rechten Hand umfasst er ein Stuhlbein und stemmt den Stuhl einhändig zur Decke und zurück.

Markus drückt seine Zigarette durch die Öffnung einer Cola-Dose. Er schüttelt sie kurz, um sicher zu gehen, dass die Glut der Zigarette durch die in der Dose verbliebene Flüssigkeit erlischt.

„So ist richtig, Ben. Immer schön dran bleiben. Machst du nix, hast du in spätestens vier Wochen statt Muckis Wackelpudding in den Armen.“

Das Lob seines Bruders spornt Ben an. Mit gleichmäßigen Bewegungen stemmt er den Stuhl von seiner Brust weg und wieder zurück.

An gut zwei Dutzend Werkbänken bearbeiten Männer in schwerer Schutzkleidung mit Schweißbrennern, Feilen, Sägen und Schmiedehämmern ihre Werkstücke aus Industriestahl oder rohem Eisen.

Wir sehen einem Arbeiter über die Schulter. Funkensprühend hinterlässt der glühende Strahl seines Schweißbrenners eine holprige Naht auf einer Metallplatte mit angesetztem Rohrstück. Der Mann dreht den Regler an seinem Arbeitsgerät und der Schweißbrenner erlischt. Ein dunkles Kopfhauben-Visier klappt nach oben und wir blicken in das schweißnasse Gesicht von Markus. Seine schulterlangen, dunkelblonden Haare kleben wie angekleistert an seinem Gesicht. Markus gibt sich lethargisch, nimmt sein Werkstück auf und betrachtet es lustlos.

Ernst Grüning, ein friedvoller Mann Mitte sechzig, tritt mit ebenfalls hochgeklapptem Visier heran und begutachtet Markus' Arbeit. Er nimmt das Werkstück entgegen und prüft es von allen Seiten. „Das ist keine Verbesserung, Markus. Hier!“ Grüning zeigt auf die Schweißnaht. „Siehste? Da zu viel und da zu wenig. Nimmste zwei neue Bleche, Rohr drauf, heften, und dann zeigst es mir noch mal!“

Markus verfügt über einen etwas angestaubten Sprachschatz und glorifiziert den Freiheitskämpfer William Wallace, besitzt aber nicht ansatzweise die Besonnenheit seines Kinohelden. Heute muss er sich zusammenreißen. Unbedingt. Er nickt gleichgültig. Aus ein Meter neunzig Höhe sieht er auf seinen um einen Kopf kleineren Gruppenleiter herab. „Alles klar, Chef. Ich steh mehr so auf Schwerter, wissen Sie? Das hier“, dabei zeigt er auf sein Werkstück, „ist nicht so meins.“

Markus versucht seinen Ärger zu verbergen, was ihm nicht gelingt. Missmutig wirft er die Arbeit eines ganzen Tages auf einen Haufen Metallschrott. Er sieht zu seinem Bruder Ben rüber, der am Nachbartisch ein Metallstück mit einer Feile bearbeitet.

Der untersetzte Ben mit pubertärem Narbengesicht ist mit seinen sechzehn Jahren der klassische Mitläufer, dazu verunsichert durch einen Sprachfehler, der sich in Drucksituationen verstärkt. Er sieht Markus grinsend an.

„Was gibt’s zu lachen, Schröder?“, erkundigt sich Grüning bei Ben. Der Gruppenleiter ist stolz auf seine Werkstatt, die innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern der Justizvollzugsanstalt einen exzellenten Ruf genießt. Und er ist stolz auf seine Jungs, wie er seine Schützlinge gerne nennt. Deshalb pflegt er entgegen der Anstaltsregeln den väterlichen Umgangston. Schallend klatscht er in die Hände. „Na, dann lasst mal gut sein für heute. Feierabend!“

Sie haben ihre Körper in Form gehalten, das sticht sofort ins Auge. Noch tropfnass von der abendlichen Körperreinigung kommen Markus und Ben aus der Dusche. Die Badelaken haben sie um ihre Hüften gewickelt und sehen damit aus wie die Bewohner einer Südseeinsel.

Auf dem Weg zu ihrer Zelle kämpfen sie sich durch den dicht bevölkerten Flur. Hie und da beobachten sie die üblichen Neckereien unter den überwiegend jugendlichen Mithäftlingen, die sich mit ihren Badetüchern schlagen oder sich gegenseitig in den Schritt fassen und dabei ausgelassen lachen. Markus und Ben kümmern sich nicht um derartige Albernheiten und wirken fast wie Sonderlinge.

Die Brüder haben die blauen Einheitsjeans und graue Muskelshirts angezogen.

An einem winzigen Spiegel unternimmt Ben den Versuch, seine widerspenstigen Haare in Form zu bringen.

Markus schlägt seine Mähne mehrmals nach vorne aus, um den Trocknungsprozess zu beschleunigen. Anschließend frisiert er die Haare mit einer Drahtbürste zu einem Seitenscheitel.

Ben sieht auf seine klobige Taucheruhr. „Oh, sch... schon Abendessenszeit.“

Hinter einem aufgebauten Tisch mit Verpflegung für die Abendmahlzeit thront der für die Essensausgabe eingeteilte Kemal auf einem dreibeinigen Hocker.

Markus begutachtet das dürftige Angebot, das aus mehreren Sorten Brot, Wurstaufschnitt und Schnittkäse, in Stücke zerteilte Schlangengurke, unreifen Tomaten und einem nicht gerade appetitlich aussehenden Klumpen Mett besteht. Nachdenklich tastet er seine muskulösen Oberarme ab und wirkt wenig entschlossen.

Ben hat seine Auswahl schnell getroffen. Wahllos packt er sich seinen Teller mit Brot, Wurst und Käse voll.

Kemal zeigt Markus grinsend seine Zahnlücken.

Einige Jungen bleiben neugierig stehen, als erwarten sie, dass in den nächsten Sekunden ein Schaukampf zwischen den beiden Dauerstreithähnen beginnt.

Kemal ist siebzehn und spricht lupenreines Kiezdeutsch. „Oh, Susi! Hast dein Haare schön gemacht. Los, du Penner! Willst übernachten? Ha? Hab isch Wichtiges vor. Mach schon!“ Lustlos klatscht er eine Kelle Schweinemett auf einen Teller, den er Markus unter die Nase hält. „Hier hastu Mett.“

Markus verzieht gelangweilt den Mund. Warum überschätzt der Türke seine Kräfte, fragt er sich. Denn im Grunde genommen hätten fünf Kemals zusammen nicht die geringste Chance gegen ihn und Ben. „Mach keinen Stunk, Kemal!“

Kemal streckt die Hand mit dem Teller aus und berührt Markus' Brustkorb. „Kaviar ist heute alle. Wallah, ihr fresst doch rohes Fleisch von stinkenden Schweinen. Nimm was du willst und verpiss dich endlich!“

Ben geht einen Schritt auf Kemal zu. „Was willst du Kameltreiber?“

Markus starrt Kemal kalt an und hält Ben zurück.

Am Ende des Ganges sieht Kemal einen Gefängnismitarbeiter, der, weil die Situation zu eskalieren droht, um die Ecke verschwindet. Typisch, sagt sich Kemal. Immer schön weggucken, wenn es brenzlig wird. Jetzt wendet er sich Ben zu. „Guck mal, guck mal, der kleine Ben. Ey, Lan, Alter. Fühlst dich stark mit dein große Bruder, was?“

Markus bleibt seelenruhig. Für diese Witzfigur würde er seinen Urlaub nicht aufs Spiel setzen. „Glaub, ich muss mal mit dir Schlitten fahren“, sagt Markus gepresst.

Kemal sieht sich nach allen Seiten um. „Pah! Ohne Schnee? Siehst du so Schnee oder so? Isch seh kein Schnee.“

Markus grinst Kemal breit an und angelt, ohne ihn aus den Augen zu lassen, ein paar Brotscheiben vom Tisch. „Wenn ich in drei Tagen wieder zurück bin, ist hier alles zugeschneit.“

Kemal guckt verwirrt, dann geht ihm endlich ein Licht auf. „Ah, machst du so Urlaub? Besorgst du’s den Bräuten mit dein klein Schwanz? Häh? Schiebst für mich so ein Gruß mit rein?“ Er hat die Lacher auf seiner Seite.

Markus hindert Ben erneut daran, eine unbedachte Handlung zu begehen. Ganz souverän und mit einem süffisanten Grinsen entgegnet Markus: „Eigentlich mach ich so was ja nicht. Aber bei deiner Fatma werd ich mal 'ne Ausnahme machen.“

Kemal springen fast die Augen aus dem Kopf. Nur mit Mühe behält er die Kontrolle und winkt zwei seiner Kumpane heran, die Markus daraufhin in die Zange nehmen. Dann sagt er: „Du rührst meine Fatma nicht an, Lan. Du nich. Kapiert? Hab isch noch Blutspendentermin frei. Ischschwör, Alter, hau isch dir so ein ganze Liter aus dein Nase. Was?“

Markus zeigt sich unbeeindruckt, deutet nach rechts und links auf Kemals Komplizen. „Kannst du das auch ohne diese beiden Affen hier?“

Kemal gibt seinen Leuten ein Zeichen, die Markus daraufhin loslassen.

Markus wendet sich ab. Doch dann dreht er sich noch einmal um, zieht die Lippen hoch wie ein irrer Ackergaul und deutet mit dem Zeigefinger auf seine Frontzähne. „Ach, Kemal ... Putz mal deine Zähne! Morgen ist Pferderennen.“

Den muss Kemal erst mal verarbeiten. Nachdenklich tastet er mit den Fingern seine weit auseinander stehenden Schneidezähne ab.

Markus geht mit Ben die Treppen zu den Zellen hoch. Hinter ihrem Rücken vernehmen sie Kemals Stimme.

„Der war gut, Alter. Wallah, echt stark, Mann. Muss mir merken.“

Ohne sich umzudrehen hebt Markus die Hand zum Gruß.

Vergitterte Fenster, ein Etagenbett, Pin-up-Girls und ein Braveheart-Plakat an der Wand. Auf der Mattscheibe des Mini-Fernsehers läuft die x-hundertste Folge irgendeiner Soap.

Markus und Ben nehmen, an einem Tisch hockend, schweigsam ihre Abendmahlzeit ein. Morgen haben sie Heimaturlaub, zwei Tage lang, von Mittwochmorgen bis Donnerstagabend. Wie sich das anhört: Heimaturlaub. Dabei wissen sie gar nicht, wo ihre Heimat genau liegt. Sie kommen aus zerrütteten Verhältnissen, hatte der Richter immer wieder hervorgehoben, der sie schließlich wegen schwerer Körperverletzung in drei Fällen, diverser Diebstähle, Drogen- und Waffenbesitzes zu zweieinhalb Jahren Jugendhaftstrafe verurteilt hat. Davon haben sie drei Monate abgesessen, die ihnen unendlich lange vorgekommen sind, so als habe man ihnen ihre ganze Jugend weggenommen. Sie sehnen sich nach Freiheit, und wenn es nur diese lächerlichen zwei Tage sind.

Zu ihrem alten Herrn müssen sie fahren. Lächerlich! So sind halt die Vorschriften bei Minderjährigen.

Scheiß drauf. Wenn sie ihre Strafe hier abgesessen haben, sind sie volljährig. Dann kann ihnen niemand mehr vorschreiben, wo sie sich zu melden haben. Sie werden ein neues Leben beginnen. Mit 'ner geliehenen Karre runter in den Süden brausen und die düsteren Erinnerungen ablegen wie ein zerschlissenes Kleidungsstück. Der richtige Zeitpunkt für den Absprung, der wird sich schon noch ergeben.

Ihr hängt alle mit drin

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