Читать книгу Das Zauberschwert - Marion Zimmer Bradley - Страница 7

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Er hatte sich den Abstieg nicht so schwierig vorgestellt.

Den ganzen Tag war Andrew Carr um die scharfen Felsen des Hangs geklettert, gekrochen und gerutscht. Er hatte in eine unglaublich tiefe Schlucht hinuntergeblickt, wo die zerschmetterten Überreste des Kartografierungsflugzeugs lagen, und jede noch vorhandene Hoffnung aufgegeben, Essen, Schutzkleidung und Identitätsplaketten seiner Gefährten zu bergen. Jetzt wurde es dunkel, und ein leichtes Schneetreiben setzte ein. Andrew hockte in seinem dicken Pelzmantel da und lutschte seine letzten Süßigkeiten. Er suchte den Horizont unter sich nach Lichtern oder irgendwelchen anderen Zeichen von Leben ab. Es mussten welche da sein. Dies war ein dicht besiedelter Planet. Aber hier draußen in den Bergen mochten Meilen oder sogar hunderte von Meilen zwischen den bewohnten Gebieten liegen. Was er sah, war ein blasses Schimmern vor dem Horizont, eine einzige dicht gedrängte Gruppe von Lichtern, die ein Dorf oder sogar eine Stadt sein mochten. Also war sein einziges Problem, nach dort hinunterzugelangen. Das würde noch allerhand Mühe kosten. Er wusste nichts – eigentlich noch weniger als nichts – über das Leben als Waldläufer oder Überlebenstechniken. Schließlich grub er sich in der Erinnerung an etwas, das er gelesen hatte, zur Hälfte in einen Haufen toter Blätter ein und zog sich den Rockschoß des Pelzmantels über den Kopf. Warm hatte er es nicht, und seine Gedanken verweilten sehnsüchtig beim Essen, großen dampfenden Schüsseln Essens. Dann schlief er ein. Fast stündlich erwachte er schaudernd und wühlte sich tiefer in seinen Blätterhaufen, aber er schlief. Und nirgendwo in seinen verworrenen Träumen tauchte das Gesicht des geisterhaften Mädchens auf, das er mit seiner Vision identifizierte.

Den ganzen nächsten Tag und den übernächsten quälte er sich durch verfilztes dorniges Unterholz einen langen Hang hinunter. Zweimal verirrte er sich in dem bewaldeten Tal am Fuß des Berges, und schließlich arbeitete er sich auf der anderen Seite wieder bergauf. Von unten hatte er keine Möglichkeit, sich über die einzuschlagende Richtung zu vergewissern, und er sah kein Zeichen von menschlicher oder anderer Besiedlung. Einmal geriet er an Überreste eines ganz zerfallenen Zauns aus halbierten Stämmchen und verschwendete zwei Stunden damit, an ihm entlangzuwandern – das Vorhandensein eines Zauns bedeutete für gewöhnlich, dass etwas hatte eingezäunt oder draußen gehalten werden sollen. Der Weg endete jedoch in einer Wirrnis von trockenen Schlingpflanzen, und Andrew sagte sich, welche seltsame Art von Vieh hier auch irgendwann gehalten worden sein mochte, Vieh und Hüter mussten lange, lange verschwunden sein. Nahe der Stelle, wo er den Zaun entdeckt hatte, lag ein trockenes Bachbett. Andrew nahm an, es werde ihn aus dem Gebirge führen. Siedlungen, besonders bäuerliche, wurden immer an Wasserläufen angelegt, und dieser Planet würde kaum eine Ausnahme darstellen. Wenn er dem Lauf des Baches folgte, gelangte er sicher in die Ebene und wahrscheinlich zu den Wohnstätten der Leute, die den Zaun gebaut und das Vieh gehalten hatten. Aber nach ein paar Meilen war das Trockenbett von einem Bergrutsch verschüttet, und so viel Mühe Andrew sich auch gab, er konnte es auf der anderen Seite nicht wieder finden. Vielleicht war das der Grund, warum die Zaunbauer ihr Vieh an einen anderen Ort gebracht hatten.

Gegen Ende des zweiten Tages fand er ein paar verschrumpelte Früchte an einem knorrigen Baum. Sie sahen aus und schmeckten wie Äpfel, trocken und hart, aber essbar. Er aß die meisten auf und verwahrte ein paar für später. Er fühlte sich kläglich. Wahrscheinlich existierten rings um ihn andere essbare Dinge, von der Rinde bestimmter Bäume bis zu den Pilzen und Schwämmen, die er auf totem Holz wachsen sah. Das Problem war, dass er die bekömmlichen Pflanzen nicht von den tödlich giftigen zu unterscheiden vermochte, und deshalb quälte er sich nur, indem er darüber nachdachte.

Spät am Abend, als er nach einem windgeschützten Platz zum Schlafen suchte, begann es wieder zu schneien, und zwar mit einer so merkwürdigen Beharrlichkeit, dass es ihn beunruhigte. Er hatte von den Blizzards der Berge gehört, und der Gedanke, im Freien von einem überrascht zu werden, ohne Essen und Schutzkleidung und Obdach, brachte ihn vor Angst fast um den Verstand. Es dauerte nicht lange, und der Schnee fiel so dicht, dass Andrew kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Seine Schuhe waren durch und durch nass und verklumpt von der kalten, klebrigen Masse.

Es ist aus mit mir, dachte er bitter. Das war es schon, als das Flugzeug abstürzte, nur hatte ich nicht Verstand genug, es zu erkennen.

Meine einzige Chance war gutes Wetter, und damit ist es jetzt vorbei.

Es blieb ihm nichts weiter übrig, als sich ein Plätzchen zu suchen, möglichst geschützt vor dem verdammten Wind, der um die Felsklippen über ihm heulte, es sich bequem zu machen und im Schnee einzuschlafen. Das wäre dann das Ende von allem. So verlassen, wie dieser Teil der Welt aussah, mochte es eine solche Zahl von Jahren dauern, bevor jemand über seine Leiche stolperte, dass niemand mehr sagen konnte, ob er ein Terraner oder ein Eingeborener dieses Planeten gewesen war.

Verdammt sei dieser Wind! Er heulte wie ein Dutzend Windmaschinen, wie ein Chor verlorener Seelen aus Dantes Inferno, und er brachte eine merkwürdige Illusion mit. Es hörte sich an, als riefe jemand ganz weit weg seinen Namen.

Andrew Carr! Andrew Carr!

Natürlich war es eine Sinnestäuschung. Niemand im Umkreis von dreihundert Meilen um diesen Ort wusste, dass er hier war, ausgenommen vielleicht das Geistermädchen, das er nach dem Absturz des Flugzeugs gesehen hatte. Falls sie sich tatsächlich innerhalb von dreihundert Meilen Entfernung befand. Andrew hatte keine Ahnung, ob sie seinen Namen kannte. Verdammt sollte sie sein, wenn es sie überhaupt gab. Was er bezweifelte.

Carr stolperte und fiel der Länge nach in den tiefen Schnee. Er wollte aufstehen, dann dachte er: Ach, zum Teufel, was soll’s?Er ließ sich wieder fallen.

Irgendwer rief tatsächlich seinen Namen.

Andrew Carr! Komm hier entlang, schnell! Ich kann dir den Weg zu einem Obdach zeigen, aber mehr vermag ich nicht. Hingehen musst du selbst.

Er hörte sich der leisen Stimme, die wie ein Echo in seinem Gehirn war, verdrießlich antworten: »Nein. Ich bin zu müde. Ich kann nicht mehr weitergehen.«

»Carr! Sieh mich an!«

Widerwillig, die Augen mit der Hand vor dem heulenden Wind und den scharfen Schneenadeln schirmend, hob Andrew Carr den Blick. Er wusste bereits, was er sehen würde.

Natürlich war es das Mädchen.

Sie war nicht wirklich da. Wie konnte sie auch da sein in ihrem dünnen blauen Gewand, das wie ein zerrissenes Nachthemd aussah, barfuß, das Haar unbewegt von dem eisigen, schneebeladenen Wind?

Laut sagte er, und der Wind riss ihm die Worte vom Mund und trug sie fort, so dass das Mädchen sie aus einer Entfernung von zehn Fuß unmöglich hätte hören können: »Was hast du jetzt vor? Bist du wirklich hier? Wer bist du?«

Mit dieser gedämpften Stimme, die immer nur gerade bis an sein Ohr und keinen Zoll weiter zu tragen schien, setzte sie ihm auseinander: »Ich weiß nicht, wo ich bin, sonst wäre ich nicht dort, denn es ist kein Ort, an dem zu sein ich mir wünsche. Wichtig ist, dass ich weiß, wo du bist und wo sich der einzige sichere Ort für dich befindet. Folge mir, schnell! Steh auf, du Dummkopf, steh auf!«

Carr stolperte auf die Füße und raffte den Mantel um sich. Sie schien etwa acht Fuß von ihm entfernt im Sturm zu stehen. Immer noch war sie in das dünne, zerrissene Nachthemd gekleidet, aber obwohl ihre bloßen Füße und Schultern blass durch Risse in dem Gewand schimmerten, zitterte sie nicht in der Kälte.

Sie winkte – jetzt, wo sie seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, wollte sie anscheinend keine Mühe mehr darauf verwenden, sich mit Worten verständlich zu machen – und begann, leichtfüßig über den Schnee zu wandern. Ihre Füße, so stellte er mit einem unheimlichen Gefühl der Irrealität fest, berührten den Boden nicht ganz. Ja, das passt, wenn sie ein Geist ist.

Mit gesenktem Kopf taumelte er der entweichenden Gestalt des Mädchens nach. Der Wind riss an seinem Mantel und ließ ihn wild hinter ihm herflattern. Seine Schuhe waren dicke, halb gefrorene Klumpen aus nassem Schnee, und sein Haar und die Bartstoppeln stachen ihn eisig ins Gesicht. Der Boden war jetzt mit einer gleichmäßigen weißen Decke versehen, die Unebenheiten verdeckte. Zwei- oder dreimal stolperte er über eine verborgene Wurzel oder trat in ein Loch und fiel der Länge nach hin. Aber er kämpfte sich wieder hoch und folgte dem ihm vorauseilenden Schatten. Das Mädchen hatte ihm schon einmal das Leben gerettet. Sie musste wissen, was sie tat.

Die Zeit, die er durch den Schnee taumelte, kam ihm sehr lang vor, obwohl er später schätzte, dass wahrscheinlich nicht mehr als drei viertel Stunden vergangen waren, als er mit voller Wucht gegen etwas stieß, das sich wie eine Ziegelmauer anfühlte. Ungläubig streckte er die Hand aus.

Es war eine Ziegelmauer. Oder jedenfalls hatte es den Anschein. Andrew befand sich an der Seitenwand eines Gebäudes. Nach einigem Herumtasten fand er eine Tür aus gehobeltem Holz, glatt vom Alter. Geschlossen war sie mit steifen Lederriemen, die durch eine hölzerne Öse gezogen und verknotet waren. Es dauerte einige Zeit, den nassen Lederknoten zu lösen. Andrew musste schließlich die Handschuhe ausziehen und mit den erstarrten bloßen Fingern arbeiten. Sie bluteten und waren blau gefroren, bis er die Riemen aufgeknüpft hatte. Quietschend öffnete sich die Tür, und Carr trat vorsichtig ein. Er hätte gern Licht, Feuer und Leute um einen Abendbrottisch vorgefunden. Doch das Haus war dunkel und kalt und verlassen, aber es war drinnen nicht halb so kalt wie im Freien, und wenigstens war es hier trocken. Es lag etwas wie Stroh auf dem Fußboden, und das von dem Schnee draußen reflektierte Licht zeigte ihm deutliche Umrisse, die Viehstände oder Möbel sein mochten. Er hatte keine Möglichkeit, Licht zu machen, aber es war so still, dass weder die Tiere, die einmal hier ihren Stall gehabt hatten, noch ihre Besitzer anwesend sein konnten.

Wieder hatte das Mädchen ihn in die Sicherheit geführt. Er ließ sich auf den so herrlich trockenen Fußboden niedersinken, wühlte sich gemütlich ins Stroh ein, zog seine durchweichten Schuhe aus, trocknete seine gefühllosen Füße an dem Stroh und legte sich zum Schlafen hin. Er hielt Umschau nach der geisterhaften Gestalt des Mädchens. Wie er es erwartet hatte: Sie war fort.

Stunden später erwachte er aus dem tiefen Schlaf der Erschöpfung in einer tobenden weißen Welt, einem heulenden Inferno. Hagel trommelte gegen die Mauern. Durch die fest verrammelten hölzernen Läden sickerte genug Licht, dass er das Innere des Gebäudes, in dem er lag, erkennen konnte: leer bis auf eine dicke Strohschicht und die Pfosten zum Anbinden der Tiere. Es roch ganz schwach nach lange getrocknetem Dung, ein stechender, nicht unangenehmer Geruch.

Neugierig untersuchte Andrew eine dunkle Masse in der hinteren Ecke. Er fand ein paar seltsam geschnittene Kleidungsstücke. Eins davon, einen warmen, deckenähnlichen Mantel aus zerlumptem und verblichenem kariertem Tuch, nahm er an sich. Unter der Kleidung – die abgetragen, aber wegen der Trockenheit des Gebäudes frei von Schimmel und Stockflecken war – kam eine schwere Truhe zum Vorschein, mit einer Haspe verriegelt, nicht verschlossen. Andrew öffnete sie und entdeckte Nahrungsmittel – vergessen oder vielleicht eher von den Besitzern der Tiere, die hier gehalten worden waren, für die nächste Weidezeit zurückgelassen. Eine Art getrocknetes Brot – eigentlich eher wie Zwieback oder Crackers – war in Ölpapier eingewickelt. Ein ledriges Zeug musste wohl getrocknetes Fleisch sein, nur konnten weder seine Zähne noch sein Gaumen damit fertig werden. Eine aromatische Paste erinnerte ihn an Erdnussbutter, und sie schmeckte gut auf dem Zwieback, der aus gemahlenen Samenkörnern, vermischt mit getrockneten Früchten, gebacken war. Das vorhandene Trockenobst war ebenfalls zu hart, obwohl es gut roch. Andrew sagte sich, dass es lange in Wasser, vorzugsweise heißem, eingeweicht werden musste, um einigermaßen essbar zu werden.

Er stillte seinen Hunger mit dem Zwieback und der Nuss- und Obst-Paste, und nach einigem Suchen entdeckte er einen primitiven Wasserhahn über einem Becken, aus dem offenbar die Tiere getränkt worden waren. Er trank und spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht. Es war viel zu kalt für eine gründlichere Wäsche, aber danach fühlte er sich doch wohler. Eingehüllt in die karierte Decke, erforschte er das Gebäude von einem Ende zum anderen. Er war sehr erleichtert, als er noch eine notwendige Einrichtung fand, eine am hinteren Ende abgeteilte primitive Erdlatrine. Der Gedanke, sich, und sei es auch nur für einen Augenblick, in den Sturm hinauswagen oder den Innenraum des Gebäudes, dessen Besitzer zurückkehren mochten, beschmutzen zu müssen, hatte ihm gar nicht gefallen. Es schoss ihm durch den Kopf, dass man bei der Anlage des Bauwerks und der Einlagerung von Lebensmitteln sicher an Blizzards wie diesen gedacht hatte, wenn weder Mensch noch Tier ohne Obdach überleben konnten.

Diese Welt war also nicht nur bewohnt, sie war zivilisiert, zumindest auf eine Art. So gemütlich wie zu Hause, dachte er und kehrte zu seinem Strohbett zurück. Jetzt hatte er nichts weiter mehr zu tun, als auf das Ende des Blizzards zu warten.

Nach dem tagelangen Klettern und Marschieren war er so müde, und ihm wurde so warm unter der dicken Decke, dass er gar keine Schwierigkeiten hatte, wieder einzuschlafen. Als er erwachte, war das Licht im Schwinden, und das Tosen des Sturms hatte ein bisschen nachgelassen. Aus der zunehmenden Dämmerung schloss er, dass er den größten Teil des Tages verschlafen hatte.

Und es ist früher Herbst. Wie musste es hier im Winter sein! Dieser Planet würde vielleicht einen großartigen Wintersport-Kurort abgeben, aber sonst eignet er sich für nichts. Mir tun die Leute Leid, die hier leben!

Andrew nahm eine weitere magere Mahlzeit aus hartem Zwieback und Nuss- und Obst-Paste zu sich (recht gut, aber als ständige Diät langweilig), und weil es zu kalt und zu dunkel war, um irgendetwas anderes zu tun, wickelte er sich wieder ein und streckte sich im Stroh aus.

Er hatte sich gründlich ausgeschlafen, er fror nicht mehr, und er hatte auch keinen großen Hunger. Es war zu dunkel, als dass er viel hätte sehen können, aber viel zu sehen gab es sowieso nicht. Müßig überlegte er: Zu schade, dass ich nicht als Xenologe ausgebildet bin. Noch nie ist ein Terraner auf dieser Welt frei herumgelaufen. Er wusste, ein fähiger Soziologe oder Anthropologe hätte anhand der Artefakte, die er gesehen (und gegessen) hatte, den genauen Stand der Kultur dieses Planeten oder zumindest der Bewohner dieses Gebietes bestimmen können. Die starken, ordentlich vermörtelten Ziegel- oder Steinmauern, die aus Holz gebauten und mit Holzpflöcken zusammengefügten Viehstände, der Wasserhahn aus Hartholz über dem Steinbecken, die nur mit festen Holzläden verschlossenen scheibenlosen Fenster sagten zusammen mit dem Weidezaun und der primitiven Erdlatrine aus, dass es sich um eine Agrargesellschaft auf niedrigem Niveau handelte. Doch Andrew war sich nicht sicher. Schließlich war das hier die Unterkunft eines Viehhirten, eine Schutzhütte bei schlechtem Wetter, und keine Zivilisation verschwendete auf so etwas viel an technischen Errungenschaften. Es war auch die kluge Vorausschau zu berücksichtigen, mit der solche Dinge überhaupt gebaut, für Notfälle mit haltbaren Lebensmitteln versehen und sogar dafür eingerichtet wurden, dass man eines natürlichen Bedürfnisses wegen nicht nach draußen musste. Die Decke war herrlich gewebt. So viel handwerkliches Können war in dieser Zeit der synthetischen Stoffe und Wegwerf-Artikel selten geworden. Es mochte also durchaus sein, dass die Bewohner dieses Planeten weitaus zivilisierter waren, als es den ersten Anschein hatte.

Andrew verlagerte sein Gewicht auf dem knisternden Stroh und blinzelte, denn da war das Mädchen wieder in dem zerrissenen, dünnen blauen Gewand, das in dem dunklen Raum mit einem blassen eisartigen Glitzern schimmerte. Obwohl er immer noch halb und halb glaubte, sie sei eine Halluzination, entfuhr ihm die Frage: »Frierst du nicht?«

Dort, wo ich bin, ist es nicht kalt.

Das, sagte Carr zu sich selbst, war absolut verrückt. Langsam fragte er: »Dann bist du nicht hier?«

Wie könnte ich da sein, wo du bist? Wenn du glaubst, dass ich da – nein, hier – bin, dann versuche, mich zu berühren.

Zögernd streckte Carr die Hand aus. Jetzt musste er ihren bloßen runden Arm berühren, aber da war nichts. Hartnäckig erklärte er: »Das alles verstehe ich nicht. Du bist hier, und du bist nicht hier. Ich kann dich sehen, und du bist ein Geist. Du sagst, dein Name sei Callista, aber das ist ein Name von meiner eigenen Welt. Ich glaube immer noch, dass ich verrückt bin und mit mir selbst rede, und doch würde ich gern hören, ob du mir das irgendwie erklären kannst.«

Das Geistermädchen gab einen Laut von sich, der wie ein leises, kindliches Lachen klang. »Ich verstehe es auch nicht«, sagte sie ruhig. »Wie ich dir schon einmal klarzumachen versuchte, habe ich nicht dich erreichen wollen, sondern meine Verwandten und meine Freunde. Aber wo ich auch suche, sie sind nicht da. Es ist, als seien ihre Seelen von dieser Welt weggewischt. Lange Zeit bin ich an dunklen Orten umhergewandert, bis ich plötzlich in deine Augen sah. Mir war, als kenne ich dich, obwohl ich dich noch nie erblickt hatte. Und dann zog mich irgendetwas in dir ständig zu dir zurück. Irgendwo, nicht in dieser Welt, haben wir einander berührt. Ich bedeute dir nichts, aber ich hatte dich in Gefahr gebracht, deshalb bemühte ich mich, dich zu retten. Und ich komme zurück, weil ...« – einen Augenblick sah es aus, als wolle sie anfangen zu weinen – »... ich so sehr allein bin, und ein Fremder ist immer noch besser als gar keine Gesellschaft. Möchtest du, dass ich wieder weggehe?«

»Nein«, antwortete Carr schnell, »bleib bei mir, Callista. Aber ich verstehe das alles nicht.«

Sie schwieg eine Minute lang, als überlege sie. Gott, dachte Carr, wie real sie wirkt! Er sah sie atmen, sah ihre Brust unter dem dünnen, zerrissenen Gewand sich leicht heben und senken. Ihre eine Wange war schmutzig – nein, das waren blaue Flecken und Blut. »Bist du verletzt?«

»Eigentlich nicht. Du fragst mich, wie ich bei dir sein kann. Sicher weißt du doch, dass wir in mehr als einer einzigen Welt leben und dass die Welt, in der du dich jetzt befindest, die feste Welt ist, die Welt der Dinge, die Welt stofflicher Körper und physischer Schöpfungen. Doch in der Welt, in der ich bin, lassen wir unsere Körper zurück wie ausgewaschene Kleidung oder abgeworfene Schlangenhäute, und was wir Ort nennen, existiert nicht. Ich bin an jene Welt gewöhnt, ich habe gelernt, mich in ihr zu bewegen. Nur werde ich in einem Teil gefangen gehalten, wo mich die Gedanken meiner Leute nicht finden können. Als ich über die graue, konturlose Ebene wanderte, berührten deine Gedanken die meinen, und ich nahm dich deutlich wahr, als hätten wir uns im Dunkeln die Hand gereicht.«

»Bist du im Dunkeln?«

»Wo mein Körper gefangen gehalten wird, ist es dunkel, ja. In der grauen Welt kann ich dich ebenso sehen, wie du mich siehst. Auf diese Weise sah ich deine Flugmaschine abstürzen und erkannte, dass sie in die Schlucht fallen würde. Und ich sah dich verirrt im Schneesturm und wusste, dass du in der Nähe dieser Hütte warst. Jetzt bin ich gekommen, um dir zu zeigen, wo Lebensmittel liegen, falls du sie noch nicht gefunden hast.«

»Ich habe sie gefunden«, berichtete Andrew. »Und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hielt dich für einen Traum, und du benimmst dich, als seist du wirklich.«

Wieder klang das leise Lachen auf. »Oh, ich versichere dir, ich bin ebenso wirklich und stofflich wie du. Und ich würde viel darum geben, wenn ich bei dir in dieser kalten, dunklen Hütte sein könnte, denn sie ist nur wenige Meilen von meinem Zuhause entfernt, und sobald der Sturm aufhörte, wäre ich frei und an meiner eigenen Feuerstelle. Aber ich ...«

Mitten im Wort verschwand sie, ging aus wie ein Licht. Aus irgendeinem seltsamen Grund überzeugte das Andrew mehr von ihrer Realität als alles, was sie gesagt hatte. Wäre sie eine Halluzination gewesen, erzeugt von seinem Unterbewusstsein, so wie Männer in Gefahr, frierend und allein, tatsächlich nach ihren verborgensten Wünschen fremde Gestalten erscheinen lassen, dann hätte er sie dabehalten. Zumindest hätte er sie ihren letzten Satz beenden lassen. Die Tatsache, dass sie mittendrin verschwunden war, bezeugte nicht nur, dass sie auf unfassliche Weise hier gewesen war, sondern auch, dass eine unbekannte dritte Partei Macht über ihr Kommen und Gehen hatte.

Sie hatte Angst, und sie war traurig. Ich bin so allein, und ein Fremder ist immer noch besser als gar keine Gesellschaft.

Frierend und allein in einer merkwürdigen und unbekannten Welt, verstand Andrew Carr sie nur zu gut. So fühlte er sich auch, genau so.

Nicht etwa, dass es nicht schön wäre, sie tatsächlich zur Gesellschaft zu haben ...

Sehr viel Befriedigung gibt einem eine Gefährtin, die man nicht berühren kann, nicht gerade. Und trotzdem ... obwohl seine Hand sie nicht gespürt hatte, war etwas überraschend Zwingendes an dem Mädchen.

Er hatte massenhaft Frauen gekannt, zumindest im biblischen Sinn. Hatte ihre Körper und ein bisschen von ihrer Persönlichkeit gekannt, und was sie sich vom Leben wünschten. Aber niemals hatte ihm eine von ihnen so nahe gestanden, dass es ihm Leid tat, wenn der Zeitpunkt gekommen war, in entgegengesetzter Richtung davonzugehen.

Ich will ehrlich sein. Von dem Augenblick an, als ich dies Mädchen in der Kristallkugel sah, ist sie für mich so real gewesen, dass ich bereit war, mein ganzes Leben umzukrempeln, nur auf die geringe Wahrscheinlichkeit hin, sie könne mehr sein als ein Traum. Und jetzt weiß ich, sie ist real. Sie hat mir einmal, nein, zweimal das Leben gerettet. In diesem Blizzard wäre es bald mit mir vorbei gewesen. Und sie ist in Not. Sie wird im Dunkeln gefangen gehalten, sagt sie, und sie weiß nicht einmal, wo sie ist.

Wenn ich hier lebend herauskomme, werde ich sie finden, und wenn ich den Rest meines Lebens dazu brauche. In seinen Pelzmantel und die Decke gewickelt, in einem muffigen Strohhaufen liegend, allein auf einer fremden Welt, wurde Andrew Carr plötzlich klar: Die Kehrtwendung in seinem Leben, die begonnen hatte, als er das Mädchen in der Kristallkugel sah und seinen Job hingeworfen hatte, um auf ihrer Welt zu bleiben, war jetzt abgeschlossen. Er hatte seine neue Richtung gefunden, und der Weg führte ihn zu dem Mädchen. Zu seinem Mädchen. Zu seiner Frau, jetzt und für sein ganzes Leben. Callista.

Er war zynisch genug, um sich selbst ein bisschen zu verhöhnen. Ja, ja. Er wusste nicht, wo sie war, wer sie war oder was sie war. Sie mochte verheiratet sein und sechs Kinder haben (na, das kaum in ihrem Alter), sie mochte eine schreckliche Person sein – was wusste er schon über die Frauen dieser Welt? Alles, was er über sie wusste, war ...

Alles, was er über sie wusste, war, dass sie ihn aus irgendeinem Grund brauchte. Das, was er über sie wusste, war vollauf genug: Sie brauchte ihn. Sie hatte niemanden als ihn, und wenn sie sein Leben wollte, konnte sie es haben. Er würde sie aufspüren, würde sie von dem Ort wegholen, wo sie im Dunkeln gefangen saß, wo man ihr wehtat und ihr Angst machte. Er würde sie befreien. (Genau wie der Held, spottete sein zynisches zweites Ich, der für seine schöne Dame Drachen erschlägt. Schnell erstickte er diese innere Stimme.) Und dann, wenn sie frei und glücklich war ...

Diese Brücke wollen wir überqueren, wenn wir bei ihr angelangt sind, sagte er sich fest und rollte sich wieder zum Schlafen zusammen.

Der Sturm dauerte fünf Tage lang, wenn seine Schätzung stimmte. (Sein Chronometer war bei dem Absturz beschädigt worden und für immer stehen geblieben.) Am dritten oder vierten Tag erwachte er bei trübem Licht und sah die schattenhafte Gestalt des Mädchens dicht neben ihm schlafen. Schlagartig wurde er sich ihrer körperlichen Nähe bewusst. Da lag sie, weiblich, schön, in diesem dünnen, zerrissenen Hemd, das alles zu sein schien, was sie anhatte – er wollte sie in die Arme nehmen, und dann kehrte er in die enttäuschende Wirklichkeit zurück. Es war ja nichts da, was er berühren konnte. Die Intensität seiner Gedanken musste sie erreicht haben, denn der Ausdruck ihres Gesichts zeigte, dass sie erwachte, und die großen grauen Augen öffneten sich. Erstaunt und ein wenig bestürzt sah sie ihn an.

»Es tut mir Leid«, murmelte sie. »Du ... hast mich erschreckt.«

Carr schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu orientieren. »Ich bin es, der sich zu entschuldigen hat. Ich muss wohl gedacht haben, dass ich träume und es keine Rolle spielt. Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Ich bin nicht beleidigt«, stellte sie einfach fest und sah ihm gerade in die Augen. »Wenn ich hier so neben dir läge, hättest du jedes Recht zu erwarten – ich meinte nur, es tut mir Leid, dass ich unwissentlich ein Begehren erregt habe, das ich nicht befriedigen kann. Ich habe es nicht mit Absicht getan. Ich muss im Schlaf an dich gedacht haben, Fremder. Doch ich kann an dich nicht immer als Fremder denken.« Über Callistas Gesicht huschte leichte Belustigung.

»Mein Name ist Andrew Carr«, sagte er, und sie wiederholte den Namen leise.

»Andrew. Es tut mir Leid, Andrew. Ich muss im Schlaf an dich gedacht haben und deshalb zu dir gekommen sein, ohne aufzuwachen.« Ohne Hast oder Verlegenheit zog sie das Gewand dichter um ihre bloßen Brüste und glättete die durchsichtigen Falten des Rockes um ihre runden Schenkel. Sie lächelte, und jetzt war fast so etwas wie Schelmerei in ihrem Gesicht zu lesen. »Ach, ist das traurig! Das erste Mal, das allererste Mal liege ich bei einem Mann, und ich bin nicht im Stande, es zu genießen! Aber es ist gemein von mir, dich zu ärgern. Bitte, glaube nicht von mir, dass ich schlecht erzogen bin.«

Tief gerührt von ihrem tapferen Versuch zu scherzen, entgegnete Andrew sanft: »Ich könnte nie etwas anderes als Gutes von dir denken, Callista. Ich wünschte nur ...« – und zu seiner eigenen Überraschung brach ihm die Stimme – »... ich wünschte, ich könnte dir irgendeinen echten Trost geben.«

Sie streckte die Hand aus – beinahe als habe auch sie, dachte Andrew verwundert, einen Augenblick lang vergessen, dass er für sie nicht körperlich anwesend war – und legte sie über sein Handgelenk. Er sah seinen Arm durch ihre zarten Finger, und doch war die Illusion irgendwie tröstlich. Sie sagte: »Es ist doch schon etwas, dass du mir Gesellschaft leistest und ...« – ihre Stimme schwankte; sie weinte –»... und mir, die ich allein im Dunkeln bin, das Gefühl einer menschlichen Präsenz gibst.«

Der Anblick ihrer Tränen zerriss ihm das Herz. Als sie sich ein bisschen beruhigt hatte, fragte er: »Wo bist du? Kann ich dir irgendwie helfen?«

Sie schüttelte den Kopf »Sie halten mich im Dunkeln, denn wenn ich genau wüsste, wo ich bin, könnte ich anderswo sein. Da ich es aber nicht weiß, kann ich diesen Ort nur im Geist verlassen. Mein Körper muss bleiben, wo sie ihn eingekerkert haben, und das wissen sie. Verflucht sollen sie sein!«

»Wer sind sie, Callista?«

»Auch das weiß ich nicht genau«, antwortete sie, »aber ich vermute, dass sie keine Menschen sind, denn sie haben mir außer Schlägen und Fußtritten keinen körperlichen Schaden zugefügt. Das ist das Einzige, wofür eine Frau der Domänen dankbar sein kann, wenn sie sich in den Händen des anderen Volkes befindet – da braucht sie wenigstens keine Vergewaltigung zu befürchten. Die ersten paar Tage war ich Tag und Nacht außer mir vor Angst. Als nichts geschah, wusste ich, dass ich nicht von Menschen gefangen gehalten werde. Jeder Mann in diesen Bergen wüsste, wie er mich meiner Macht berauben könnte ..., wohingegen dem anderen Volk nichts übrig bleibt, als mir meine Juwelen wegzunehmen, für den Fall, dass ein Sternenstein dabei ist, und mich im Dunkeln zu halten, damit ich ihnen mit dem Licht der Sonne oder der Sterne nichts antun kann.«

Andrew begriff nichts davon. Nicht von Menschen gefangen gehalten? Von wem dann? Er stellte eine weitere Frage.

»Wenn du im Dunkeln bist, wie kannst du mich dann sehen?«

»Ich sehe dich im Überlicht«, erklärte sie ruhig. Ihm sagte das gar nichts. »So, wie du mich siehst. Nicht im Licht dieser Welt. Du weißt doch sicher, dass die Dinge, die wir fest nennen, nur Erscheinungen sind, winzige Partikel, die wild herumwirbeln, und der leere Raum zwischen ihnen ist viel größer als die Masse.«

»Ja, das weiß ich.« Es war eine seltsame Art, molekulare und atomare Energie zu erklären, aber es war klar, was sie meinte.

»Gut. Diese Energienetze halten deinen festen Körper mit deinen anderen Körpern zusammen, die du, wenn du darin unterwiesen worden bist, in der Welt jener Ebene benutzen kannst. Wie soll ich es dir erklären? Du befindest dich auf der Ebene der Stofflichkeit. Dein fester Körper geht auf dieser Welt, diesem festen Planeten unter deinen festen Füßen, und du brauchst das Licht unserer festen Sonne. Dein Körper wird durch deinen Geist mit Energie versorgt. Dein Geist bewegt dein festes Gehirn, und das feste Gehirn schickt Botschaften, die deine Arme und Beine bewegen und so weiter. Ebenso versorgt dein Geist deine leichteren Körper mit Energie, jeden Einzelnen mit seinem eigenen elektrischen Nervennetz. In der Welt des Überlichts, wo wir jetzt sind, gibt es so etwas wie Dunkelheit nicht, weil das Licht nicht von einer festen Sonne kommt. Es kommt von dem Energienetz-Körper der Sonne, der – wie soll ich es beschreiben? – durch den Energienetz-Körper des Planeten scheinen kann. Der feste Körper des Planeten kann das Licht der festen Sonne ausschließen, aber nicht das Energienetz-Licht. Ist das klar?«

»Ich glaube schon.« Er versuchte, ihr zu folgen. Es klang wie die alte Geschichte von den Astral-Duplikaten des Körpers und den Astralebenen, umgesetzt in ihre Sprache, die ihr Geist, wie er vermutete, direkt in seinen Geist sandte. »Wichtig ist, dass du hierher kommen kannst. Es hat Zeiten gegeben, wo ich mir gewünscht habe, aus meinem Körper hinauszugelangen und ihn hinter mir zurückzulassen.«

»Oh, das tust du ja auch«, meinte sie. »Jeder tut es im Schlaf, wenn die Energienetze auseinander fallen. Du bist nur nicht darin ausgebildet, es willentlich zu tun. Vielleicht kann ich dich eines Tages lehren, wie man es macht.« Sie lachte ein bisschen kläglich. »Falls wir beide am Leben bleiben, heißt das.«

Das Zauberschwert

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