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Retter des Planeten 1.

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Als ich mein Bewußtsein zurückerlangte, dachte ich, ich sei allein. Ich lag auf einer ledernen Couch in einem kahlen weißen Raum mit großen Fenstern und aus Glasziegeln bestehenden Wänden. Hinter den durchsichtigen Scheiben erblickte ich schneebedeckte Berggipfel, die dort, wo meine Sicht von den Glasziegeln behindert wurde, wie bleiche Schatten wirkten.

Die Gewohnheit und meine Erinnerungen wiesen dem kahlen Büro, dem orangefarbenen Leuchten der großen Sonne und den schimmernden Bergen sofort Namen zu. Aber hinter einem polierten Glastisch saß ein Mann und beobachtete mich. Ich kannte ihn nicht.

Er war pausbäckig, nicht mehr jung, hatte ingwerfarbene Augenbrauen und einen rotbraunen Haarkranz, der sich um seinen ansonsten kahlen, rosafarbenen Schädel zog. Er trug eine weiße Uniformjacke, und der verschlungene Äskulapstab auf der Tasche und seinem Ärmel wies ihn als Angehörigen des Medizinischen Dienstes aus, der zum zivilen Hauptquartier der terranischen Handelsstadt gehörte.

All diese Beurteilungen traf ich natürlich bei vollem Bewußtsein. Sie waren einfach ein Teil meiner Welt, als ich aufwachte, und sie nahmen auf ganz normale Weise um mich herum Form an. Die Berge und die Sonne waren mir bekannt, der seltsame Mann war es jedoch nicht. Aber dann sprach er mich auf eine derart freundliche Weise an, als sei es für ihn etwas ganz Normales, in seinem Büro auf einen völlig fremden Menschen zu treffen, der hier seinen Mittagsschlaf abhielt.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihren Namen zu sagen?«

Seine Frage war berechtigt genug. Hätte ich jemanden in meinem Büro vorgefunden, der es sich dort auf die gleiche Weise bequem gemacht hätte, hätte ich ihn ebenfalls nach seinem Namen gefragt. Ich machte Anstalten, die Beine über den Couchrand zu schwingen, mußte mich aber plötzlich abstützen, denn der Raum begann unerwartet um mich zu kreisen.

»Ich würde mich jetzt nicht aufsetzen«, empfahl mir der Mann, während der Boden sich unter mir allmählich wieder beruhigte. Dann wiederholte er in höflichem, aber bestimmtem Ton: »Ihr Name?«

»Oh, ja. Mein Name.« Er lautete ... Ich bahnte mir einen Weg durch etwas, das sich anfühlte wie eine graue Nebelwand, versuchte meine Zunge dazu zu bewegen, einige wohlbekannte Klänge zu erzeugen und meinen Namen von sich zu geben. Er lautete ... Nun ... Dann sagte ich mit sich beinahe überschlagender Stimme: »Was für ein verdammter Blödsinn.« Ich schluckte. Schluckte erneut. Und schwer.

»Verlieren Sie nicht die Nerven«, sagte der pausbäckige Mann sanft. Aber das war leichter gesagt als getan. Ich starrte ihn mit wachsender Panik an und verlangte zu wissen: »Aber ... aber ... habe ich einen Gedächtnisschwund erlitten oder so etwas?«

»Oder so etwas.«

»Wie heiße ich?«

»Sachte, sachte! Ich bin überzeugt davon, daß Sie sich früh genug daran erinnern werden. Sicher können Sie mir ein paar andere Fragen beantworten. Wie alt sind Sie?«

Hastig und schnell erwiderte ich: »Zweiundzwanzig.«

Der pausbäckige Mann kritzelte etwas auf eine Karte.

»Interessant. In-ter-es-sant. Wissen Sie, wo wir uns befinden?«

Ich sah mir das Büro an. »Im Terranischen Hauptquartier. Aufgrund Ihrer Uniform würde ich sagen, im achten Stock. In der Medizinischen Ebene.«

Er nickte, kritzelte weiter und schürzte die Lippen. »Können Sie mir ... äh ... sagen, auf welchem Planeten wir uns aufhalten?«

Ich mußte lachen. »Darkover«, kicherte ich. »Das hoffe ich zumindest. Und falls Sie auch noch die Namen der Monde oder die Jahreszahl der Gründung der Handelsstadt oder sonst etwas wissen wollen ...«

Er ging auf mich ein und lachte ebenfalls. »Erinnern Sie sich daran, wo Sie geboren wurden?«

»Auf Samarra. Ich kam hierher, als ich drei Jahre alt war. Mein Vater kartographierte und erforschte ...« Ich hielt schockiert inne. »Er ist tot!«

»Können Sie mir den Namen Ihres Vaters sagen?«

»Er hatte den gleichen Namen wie ich. Jay ... Jason ...« Der Blitz der Erinnerung erlosch mitten im Wort. Es war ein guter Versuch gewesen, aber er hatte nicht funktioniert. Der Arzt sagte gleichmütig: »Wir kommen ganz gut voran.«

»Sie haben mir noch gar nichts gesagt«, wandte ich ein. »Wer sind Sie? Warum stellen Sie mir all diese Fragen?«

Er deutete auf ein Namensschild, das auf seinem Tisch stand. Ich runzelte die Stirn und buchstabierte. »Randall ...Forth ... Leiter der Abteilung ...« Dr. Forth machte sich Notizen. »Es muß heißen ... Doktor Forth, nicht wahr?« sagte ich laut.

»Sie wissen es nicht?«

Ich sah an mir hinunter und schüttelte den Kopf. »Vielleicht bin ich Dr. Forth«, sagte ich und registrierte zum erstenmal, daß ich ebenfalls eine weiße Uniformjacke mit Äskulapstab trug. Aber ich hatte irgendwie ein falsches Gefühl und kam mir vor, als trüge ich die Kleider eines anderen. Ich war doch kein Arzt, oder doch? Ich schob vorsichtig einen Ärmel hoch und legte eine lange, dreieckige Narbe frei. Dr. Forth – inzwischen war ich mir darüber im klaren, daß er Dr. Forth war – folgte meinem Blick.

»Wo haben Sie die Narbe her?«

»Von einem Messerkampf. Eine dieser Banden, die die Städte nicht betreten dürfen, überfiel uns auf den Hängen, und wir ...« Meine Erinnerung verdünnte sich plötzlich wieder, und ich sagte verzweifelt: »Es ist alles so durcheinander! Was ist überhaupt los? Warum bin ich in der Medizinischen Abteilung? Habe ich einen Unfall gehabt? Gedächtnisschwund?«

»Nicht genau. Ich werde es Ihnen erklären.«

Ich stand auf und ging unsicher auf das Fenster zu, da meine Beine sich nur langsam bewegen wollten und ich das Gefühl nicht loswurde, in einem unsichtbaren Netz zu zappeln, das mich fest- und zurückhielt. Als ich das Fenster endlich erreicht hatte, erlangte der Raum seine Festigkeit zurück, und ich sog tiefe Atemzüge warmer, süßlicher Luft in mich hinein. »Ich könnte einen Drink brauchen«, sagte ich.

»Kein schlechter Einfall. Obwohl ich es üblicherweise nicht empfehlen würde.« Forth entnahm einer Schublade eine flache Flasche und füllte eine teefarbene Flüssigkeit in einen Wegwerfbecher. Eine Minute später schüttete er sich auch einen Drink ein. »Hier. Und setzen Sie sich hin, Mann. Es macht mich nervös, wenn Sie so herumlaufen.«

Ich setzte mich nicht, sondern ging zur Tür und öffnete sie. Forths Stimme klang verhalten und ruhig.

»Was soll das? Sie können rausgehen, wenn Sie das wollen, aber wollen Sie nicht lieber Platz nehmen und noch eine Minute mit mir reden? Außerdem – wohin wollen Sie überhaupt?«

Die Frage beunruhigte mich. Ich atmete mehrmals tief durch und kehrte dann in den Raum zurück. Forth sagte: »Trinken Sie das«, und ich schluckte es hinunter. Ungefragt füllte er den Becher erneut. Ich schluckte den zweiten Drink ebenfalls und spürte, wie sich der zähe Klumpen in meinem Magen aufzulösen und zu verschwinden begann.

»Klaustrophobie auch«, sagte Forth. »Typisch.« Er kritzelte wieder etwas auf seine Karte. Die ganze Sache ermüdete mich. Ich wandte mich um, um ihm das zu sagen, und hatte plötzlich ein amüsiertes Gefühl. Aber vielleicht war es auch nur der Alkohol, der in mir arbeitete. Er erschien mir nun wie ein lustiger, kleiner Mann, der sich in einem riesigen Büro aufhielt, mir etwas über Klaustrophobie erzählte und mich musterte wie einen bunten Hund. Ich warf den Becher in einen Papierkorb.

»Wäre es jetzt nicht an der Zeit, mir ein paar Erklärungen zu liefern?«

»Wenn Sie glauben, sie ertragen zu können? Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Ausgezeichnet.« Ich nahm wieder auf der Couch Platz, lehnte mich zurück und streckte der Bequemlichkeit wegen die Beine aus. »Was haben Sie in den Drink getan?«

Er lächelte. »Geheimrezept. Aber zur Sache. Der beste Weg, Ihnen eine Erklärung zu liefern, wäre, Sie einen Film anschauen zu lassen, den wir gestern gedreht haben.«

»Einen Film ...« Ich hielt inne. »Es ist ja schließlich Ihre Zeit, die Sie verschwenden.«

Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch und sprach in ein Mikrofon. »Aufsicht? Geben Sie uns einen Monitor aufs ...« Er rasselte eine unglaubliche Zahlenkette herunter, während ich es mir auf der Couch bequem machte. Forth wartete auf eine Antwort, dann drückte er einen anderen Knopf, und stählerne Läden legten sich lautlos über die Fenster und verdunkelten sie. Die Dunkelheit schien mir seltsamerweise normaler als das Licht zu sein, und so lehnte ich mich nach hinten und beobachtete das Geflacker, als eine Wand des Büros sich in einen großen Bildschirm verwandelte. Forth kam und setzte sich neben mich auf die Ledercouch. Auf dem Bildschirm saß er allerdings hinter seinem Tisch und beobachtete einen anderen Mann, einen Fremden, der in sein Büro kam.

Wie Forth trug auch der Neuankömmling eine weiße Uniformjacke mit Äskulapstäben. Er war mir auf den ersten Blick unsympathisch, ein großer, schlanker Bursche von stattlicher Figur mit strengen, eingekerbten Gesichtszügen. Ich schätzte ihn auf Mitte Dreißig. Der Forth im Film sagte: »Nehmen Sie Platz, Doktor.« Ich holte tief Luft und fühlte eine neugierige Spannung.

Ich bin schon einmal hiergewesen. Ich habe das schon einmal gesehen.

(Und ich fühlte mich eigenartig formlos. Ich saß da und schaute zu. Ich wußte, daß ich dort saß und zuschaute. Aber mein Zustand war wie der eines Traumes, in dem der Träumer seine Visionen gleichzeitig erlebt und mit ansieht.)

»Nehmen Sie Platz, Doktor«, sagte Forth. »Haben Sie die Berichte mitgebracht?«

Jay Allison zog sorgsam den für ihn bestimmten Stuhl heran und nahm nervös auf dem Rand der Sitzfläche Platz. Er saß gerade aufgerichtet und lehnte sich nur so weit nach vorn, wie er mußte, um einen dicken Schnellhefter über den Tisch zu reichen. Forth nahm ihn an sich, öffnete ihn aber nicht. »Was meinen Sie. Dr. Allison?«

»Es gibt keinen Grund für irgendwelche Zweifel.« Jay Allison sprach gewählt und in einem ziemlich gekünstelten, bedächtigen Tonfall. »Es folgt dem statistischen Muster aller aufgezeichneten Ausbrüche des 48-Jahr-Fiebers. Nebenbei bemerkt, Sir: Haben wir keinen besseren Terminus für diese Krankheit? Der Ausdruck ›48-Jahr-Fieber‹ weist doch eher auf ein achtundvierzig Jahre dauerndes Fieber hin, statt auf eines, das alle achtundvierzig Jahre ausbricht.«

»Ein Fieber, das achtundvierzig Jahre andauert«, sagte Dr. Forth mit einem grimmigen Lächeln, »hat wahrscheinlich die Bezeichnung Fieber verdient. Nichtsdestotrotz ist das bisher der einzige Ausdruck, den wir für die Krankheit haben. Erfinden Sie einen Begriff, dann haben Sie sie getauft. Vielleicht nennen wir sie die Allisonsche Krankheit?«

Jay Allison nahm die Spitze mit einem gequälten Stirnrunzeln zur Kenntnis. »Soweit ich es verstehe, hängt der Krankheitszyklus mit der Konstellation der Monde zusammen, die diese alle achtundvierzig Jahre einnehmen, was auch erklärt, weshalb die Darkovaner einen derartigen Aberglauben an den Tag legen. Die Monde verfolgen bemerkenswert exzentrische Umlaufbahnen. Ich weiß nicht sonderlich viel darüber, sondern zitiere lediglich Dr. Moore. Wenn es tierische Bazillenträger gibt, so haben wir sie bis jetzt noch nicht entdeckt. Im allgemeinen läuft die Sache nach folgendem Muster ab: Es gibt ein paar Fälle in den Gebirgsdistrikten, und im nächsten Monat sind es dann schon über hundert allein in diesem Sektor des Planeten. Dann kommt ein genau dreimonatiger Stillstand. Der nächste Aufschwung erhöht die Anzahl der bekannten Fälle auf einige tausend, und drei Monate danach hat das Fieber Ausmaße angenommen, die nicht nur erschreckend sind, sondern auch die gesamte menschliche Bevölkerung Darkovers dezimiert.«

»So ist es«, gab Forth zu. Sie beugten sich zusammen über den Schnellhefter, wobei Jay Allison, um den anderen nicht zu berühren, sich etwas zurückhielt.

»Wir Terraner«, sagte Forth, »haben seit einhundertzweiundfünfzig Jahren einen Handelsposten auf Darkover. Der erste Fieberausbruch tötete – von einem Dutzend Leuten abgesehen – alle Menschen der damals dreihundertköpfigen Besatzung. Den Darkovanern erging es noch schlechter als uns. Der letzte Ausbruch war zwar nicht so schlimm, aber noch immer schlimm genug, habe ich mir sagen lassen. Die Sterblichkeitsrate lag bei siebenundachtzig Prozent – für Menschen jedenfalls. Ich weiß, daß die Waldläufer nicht daran sterben.«

»Die Darkovaner nennen die Krankheit Waldläuferfieber, Dr. Forth, weil die Waldläufer tatsächlich gegen sie immun sind. Das Fieber ist für sie nichts anderes als eine Kinderkrankheit. Wenn sie alle achtundvierzig Jahre ausbricht und virulent wird, sind die meisten dagegen resistent geworden. Ich hatte die Krankheit als Kind übrigens selbst, vielleicht haben Sie davon gehört.«

Forth nickte. »Sie sind möglicherweise der einzige Terraner, der sie bekommen und überlebt hat.«

»Die Waldläufer sind diejenigen, die das Fieber ausbrüten«, sagte Jay Allison. »Man sollte annehmen, daß es logisch wäre, ein paar Wasserstoffbomben auf ihre Siedlungen zu werfen und sie ein für allemal auszurotten.«

(In Forths abgedunkeltem Büro auf dem Sofa sitzend, zuckte ich dermaßen entsetzt zusammen, daß er meine Schulter packte und »Beruhigen Sie sich, Mann!« murmelte.)

Der Dr. Forth auf dem Bildschirm schaute seinen Besucher verärgert an, und Jay Allison sagte, wobei er eine widerwillige Grimasse zog: »Ich habe das nicht wörtlich gemeint. Aber die Waldläufer sind nichtmenschlich. Es wäre kein Völkermord, sondern nichts anderes als Insektenvernichtung. Eine Maßnahme im Interesse der öffentlichen Gesundheit.«

Als Forth bemerkte, daß der jüngere Mann wirklich meinte, was er sagte, sah er schockiert auf und sagte: »Es würde der Obersten Galaktischen Behörde obliegen, darüber zu entscheiden, ob sie stumpfsinnige Tiere oder intelligente Nichtmenschen sind und den Status eines zivilisierten Volkes beanspruchen können. Alle bisherigen Erfahrungen auf Darkover deuten darauf hin, daß sie Menschen sind und – guter Gott, Jay, gerade Sie könnte man möglicherweise als Zeugen zu ihrer Verteidigung aufrufen! Wie können Sie, nach all den Erfahrungen, die Sie mit ihnen gemacht haben, behaupten, sie seien nichtmenschlich? Aber wie dem auch sei: Bis ihr Status entschieden ist, würde die Hälfte der erkennbar menschlichen Bevölkerung Darkovers bereits tot sein. Wir brauchen eine bessere Lösung als diese.«

Er schob seinen Stuhl zurück und sah aus dem Fenster.

»Ich wollte mich an sich gar nicht in die politische Seite der Situation hineinbegeben«, sagte er. »Sie sind an der terranischen Imperiumspolitik nicht interessiert – und ich bin in ihr kein Experte. Aber Sie müßten schon blind, taub und stumm sein, um nicht zu wissen, daß Darkover die Rolle eines unbeweglichen Objekts mit übermächtiger Kraft gespielt hat. In einigen der ursächlichen Wissenschaften sind die Darkovaner weiter fortgeschritten als wir. Und bis heute hätten sie uns niemals gestattet, daß wir einen Beitrag zu ihrer Wissenschaft leisten. Sie wissen allerdings – und geben es sogar zu –, daß unsere medizinische Wissenschaft der ihren überlegen ist.«

»Die ihre ist praktisch gar nicht existent.«

»Genau. Und das könnte den ersten Riß in der Barriere bedeuten. Es ist vielleicht noch nicht bis zu Ihnen durchgedrungen, aber der Legat hat von den Hasturs persönlich ein Angebot erhalten.«

»Sollte ich mich jetzt beeindruckt zeigen?« murmelte Jay Allison.

»Auf Darkover wäre es verdammt besser, sich beeindruckt zu zeigen, wenn die Hasturs sich erheben und Notiz von einem nehmen.«

»Ich habe gehört, sie seien Telepathen oder so etwas ...«

»Telepathen, Psychokinetiker, übersinnlich begabt. Sie können beinahe alles. Sie sind auf Darkover praktisch so etwas wie Götter. Und einer der Hasturs – ein ziemlich junger und vielleicht unwichtiger Mann, nehme ich an –, der Enkel des Alten, kam in das Büro des Legaten, einfach so. Er machte das Angebot, daß er eine ausgewählte Gruppe von uns zu den Matrixtechnikern bringen würde, falls die terranischen Mediziner Darkover vom Waldläuferfieber befreien würden.«

»Guter Gott«, sagte Jay. Das war eine Konzession, die die kühnsten Träume Terras noch übertraf, denn seit hundert Jahren hatte man versucht, sich einiges Wissen über die rätselhafte Wissenschaft der Matrixtechnik, die ohne kernspaltende Nebenprodukte Energie in Materie und umgekehrt verwandeln konnte, zu erbetteln, zu kaufen oder zu stehlen. Die Matrixtechnik hatte die Darkovaner in der Tat für die Verlockungen fortgeschrittener terranischer Technologien immun gemacht.

»Ich persönlich glaube, daß man die Wissenschaft Darkovers überschätzt«, sagte Jay. »Aber ich sehe die Propagandawirkung ...«

»Gar nicht zu reden von der humanitären Seite des Heilens.«

Jay Allison hatte für diese Bemerkung lediglich ein kühles Schulterzucken übrig. »Die Hauptsache scheint mir folgende zu sein: Wie bekämpfen wir das 48-Jahr-Fieber?«

»Noch nicht. Aber wir haben die Leitung. Während der letzten Epidemie entdeckte ein terranischer Wissenschaftler in den Waldläufern ein Blutteilchen, das Antikörper gegen das Fieber enthält. Zu einem Serum abgesondert, könnten sie die Virulenz der epidemischen 48-Jahr-Form in eine mildere Version verwandeln. Unglücklicherweise starb er an der Epidemie, ohne seine Arbeit beenden zu können, und bis zu diesem Jahr hat niemand einen Blick in seine Aufzeichnungen geworfen. Wir haben jetzt achtzehntausend Männer mit ihren Familien auf Darkover, Jay. Ehrlich gesagt, wenn wir allzu viele verlieren, müssen wir uns von Darkover zurückziehen. Die Großkopfeten auf Terra würden zwar den Verlust einer Siedlung professioneller Händler hinnehmen, aber nicht den einer ganzen Handelsstadt-Kolonie. Und dabei habe ich noch nicht einmal das Prestige mit einbezogen, das wir verlören, wenn es unserer weithin gepriesenen medizinischen Wissenschaft nicht gelingt, Darkover vor einer Epidemie zu bewahren. Wir haben genau fünf Monate. In dieser Zeit können wir aber ein Serum nicht synthetisieren. Wir müssen einen Kontakt mit den Waldläufern herstellen. Deshalb habe ich Sie auch rufen lassen. Sie wissen mehr über die Waldläufer als jeder andere Terraner. Und das müssen Sie. Sie haben acht Jahre in einem Nest zugebracht.«

(In Forths verdunkeltem Büro straffte sich meine Gestalt in einem Blitz zurückkehrender Erinnerung. Jay Allison, schätzte ich, war einige Jahre älter als ich, aber eines hatten wir gemeinsam: Dieser kalte Fisch von einem Mann teilte mit mir die Erfahrung, wundersame Jahre auf einer fremdartigen Welt zugebracht zu haben!)

Jay Allison runzelte unwillig die Stirn. »Das ist Jahre her. Ich war kaum mehr als ein Säugling. Mein Vater baute während einer Kartographierexpedition über den Hellers eine Bruchlandung – und Gott allein weiß, was ihn dazu trieb, den Versuch zu unternehmen, mit einem dieser Segelflugzeuge zu fliegen. Ich hätte den Absturz um ein Haar nicht überstanden und lebte fortan unter den Waldläufern – das hat man mir erzählt –, bis ich dreizehn oder vierzehn war. Ich erinnere mich nicht mehr an allzuviel. Kinder sind meistens keine guten Beobachter.«

Forth lehnte sich über den Tisch und starrte ihn an. »Sie sprechen ihre Sprache, nicht wahr?«

»Ich sprach sie damals. Ich nehme an, daß ich mich unter Hypnose an sie erinnern würde. Aber warum? Wollen Sie, daß ich etwas für Sie übersetze?«

»Nicht unbedingt. Wir haben daran gedacht, Sie selbst auf eine Expedition zu den Waldläufern zu schicken.«

(Im abgedunkelten Büro beobachtete ich Jays überraschtes Gesicht und dachte: Gott, was für ein Abenteuer! Ich fragte mich – ich fragte mich, ob sie wollten, daß ich ihn begleite.)

Forth meinte: »Es würde eine schwierige Reise werden. Sie wissen, wie es in den Hellers ist. Aber bevor Sie in den medizinischen Dienst gingen, war Bergsteigen Ihr Hobby.«

»Ich habe diese kindische Phase bereits vor Jahren hinter mich gebracht, Sir«, sagte Jay steif.

»Wir würden die besten Führer bekommen, sowohl Terraner als auch Darvokaner. Aber eines können auch sie nicht, im Gegensatz zu Ihnen. Sie kennen Waldläufer, Jay. Sie sind möglicherweise in der Lage, sie dazu zu bewegen, etwas zu tun, was sie nie zuvor getan haben.«

»Und was meinen Sie damit?« Jay Allisons Stimme hörte sich mißtrauisch an.

»Aus den Bergen herauszukommen. Uns Freiwillige zu schicken – Blutspender. Wenn wir genug Blut bekämen, mit dem wir arbeiten könnten, und es uns gelänge, genügend dieser Teilchen zu isolieren und zu synthetisieren, könnten wir in absehbarer Zeit die Epidemie daran hindern, katastrophale Formen anzunehmen, Jay. Es ist eine harte Mission, und sie ist gefährlich wie eine Reise in die Hölle, aber irgend jemand muß sie ausführen, und ich fürchte. Sie sind der einzige geeignete Mann dafür.«

»Mein erster Vorschlag gefällt mir besser. Bomben Sie die Waldläufer – und die Hellers – einfach von diesem Planeten weg.« Jays Gesicht zeigte deutlichen Abscheu, aber eine Minute später hatte er sich wieder unter Kontrolle und fügte hinzu: »Ich ... ich habe es nicht so gemeint. Theoretisch kann ich die Notwendigkeit einsehen, nur ...« Er hielt inne und schluckte.

»Sagen Sie bitte das, was Sie sagen wollten.«

»Ich frage mich, ob ich wirklich so qualifiziert bin, wie Sie denken. Nein – unterbrechen Sie mich nicht –, ich halte die Eingeborenen von Darkover für widerwärtig, selbst die, die Menschen sind. Und was die Waldläufer angeht ...«

Ich wurde von einer ungeheuren Wut und Ungeduld erfaßt und flüsterte Forth durch die Dunkelheit zu: »Schalten Sie diesen gottverdammten Film ab! Diesen Kerl können Sie doch nicht mit einer solchen Aufgabe betrauen. Ich würde eher ...«

Forth fauchte: »Halten Sie den Mund und hören Sie zu!«

Ich tat, was von mir verlangt wurde.

Jay Allison schauspielerte nicht. Er fühlte sich verletzt und beleidigt. Forth ließ ihn nicht einmal zu Ende erklären, warum er es abgelehnt hatte, im Medizinischen Kolleg, das vom Terranischen Imperium für die Darkovaner gegründet worden war, zu lehren. Er unterbrach ihn, und seine Stimme klang entrüstet, als er sagte: »All das wissen wir. Ist Ihnen eigentlich niemals klargeworden, Jay, welche großen Ungelegenheiten es uns bereitet, daß das ganze Wissen, das wir benötigen, ausgerechnet – durch puren Zufall – in einem Mann verankert ist, der zu stur ist, es auch zu benutzen?«

Ich hätte mich gewunden, aber Jay zuckte nicht einmal mit einem Augenlid. »Das ist mir zu jeder Zeit bewußt gewesen, Doktor.«

Forth atmete tief ein. »Ich muß Ihnen eingestehen, daß Sie im Moment nicht ertragbar sind, Jay. Aber was wissen Sie über angewandte Psychodynamik?«

»Sehr wenig, muß ich gestehen.« Allisons Worte klangen jedoch nicht bedauernd. Ihn schien die ganze Diskussion offensichtlich zu Tode zu langweilen.

»Darf ich ein wenig direkter sein – und persönlicher?«

»Nur zu. Ich bin nicht besonders empfindlich.«

»Dann muß ich Ihnen grundsätzlich sagen, Dr. Allison, daß eine Persönlichkeit, die so unzugänglich und repressiv ist wie Sie, in der Regel über eine klar erkennbare Unterpersönlichkeit verfügt. In neurotischen Individuen bricht dieser Persönlichkeitskomplex gelegentlich auseinander, und wir erleben dann ein Syndrom, das man mit dem Begriff der multiplen oder gespaltenen Persönlichkeit bezeichnet.«

»Ich habe ein paar Vorlesungen über klassische Fälle besucht. Gab es nicht sogar einmal eine Frau, die vier Persönlichkeiten in sich trug?«

»Genau. Sie sind allerdings nicht neurotisch, und unter normalen Umständen gäbe es nicht die geringste Chance, daß Ihre unterdrückte Zweitpersönlichkeit Sie übernehmen könnte.«

»Vielen Dank«, murmelte Jay ironisch. »Ich wäre sonst wohl nicht mehr zum Einschlafen gekommen.«

»Trotzdem vermute ich, daß Sie eine solche Zweitpersönlichkeit besitzen, obwohl sie normalerweise irgendwie zum Vorschein kommen müßte. Diese Persönlichkeit – wir wollen Sie J nennen – würde alle Charakteristiken aufweisen, die Sie unterdrücken. Sie würde dort, wo Sie zurückhaltend sind und sich auf den Beobachterstandpunkt zurückziehen, lebhaft sein; das Abenteuer suchen, wo Sie vorsichtig sind; gesprächig, wo Sie schweigsam sind; sie würde vielleicht die Aktion um ihrer selbst willen genießen, wo Sie Leichtathletik betreiben, um ihre Gesundheit zu erhalten. Sie könnte sich sogar mir Vergnügen statt mit Widerwillen an die Waldläufer erinnern.«

»Kurz gesagt – sie wäre ein Ausbund aller nicht erstrebenswerten Charaktereigenschaften?«

»So könnte man es auch sehen. Ganz bestimmt wäre es eine solche Persönlichkeit, die alle Charaktereigenschaften, die Sie, Jay Allison, für nicht erstrebenswert halten, in sich vereinigte. Aber – wenn man Sie durch Hypnose und Suggestion zum Vorschein brächte, wäre sie genau die richtige, um die nötige Arbeit zu erledigen.«

»Aber woher wollen Sie wissen, daß ich über eine solche Zweitpersönlichkeit verfüge?«

»Ich weiß es eben nicht. Aber man kann es annehmen. Die meisten repressiven ...« Forth hüstelte und fuhr fort: »... die meisten disziplinierten Persönlichkeiten besitzen eine solche Zweitpersönlichkeit. Stellen sie nicht hin und wieder fest – auch wenn es selten vorkommt –, daß Sie ab und zu Dinge tun, die gar nicht zu Ihrem Charakter passen?«

Ich konnte beinahe fühlen, wie unangenehm es Allison war, dies zugeben zu müssen. »Nun ja. Neulich zum Beispiel überraschte ich mich dabei, wie ich ...« Er warf einen raschen Blick auf seine Uniformjacke. »... obwohl ich konservative Kleidung bevorzuge ...« Er hielt erneut inne, und sein Gesicht wurde puterrot, als er schließlich murmelte: »... wie ich mir ein geblümtes, rotes Sporthemd kaufte.«

In der Dunkelheit sitzend, empfand ich ein schwaches Mitleid mit dem armen Tölpel, der sich der einzigen menschlichen Regung, die ihn je verunsichert hatte, schämte. Allison runzelte verzweifelt die Brauen. »Es war ein ... verrückter Impuls.«

»Das könnte man sagen. Man könnte diesen Impuls aber auch als eine Aktion des unterdrückten J werten. Was halten Sie davon, Allison? Sie sind vielleicht der einzige Terraner auf Darkover, der in das Nest eines Waldläufers Vordringen könnte, ohne umgebracht zu werden.«

»Sir – als Bürger des Imperiums habe ich doch gar keine andere Wahl, oder doch?«

»Schauen Sie, Jay«, sagte Forth – und ich hatte das Gefühl, daß er den Versuch unternahm, eine Barriere zu durchstoßen und diesen kalten, beherrschten jungen Mann wirklich zu berühren –, »wir könnten keinem Menschen befehlen, einen solchen Auftrag zu übernehmen. Abgesehen von den natürlichen Gefahren, könnte es Ihr persönliches Gleichgewicht zerstören, und das vielleicht für immer. Ich bitte Sie, sich für etwas freiwillig zu melden, das weit über Ihre Pflicht hinausgeht. Von Mann zu Mann – was sagen Sie dazu?«

Ich wäre von diesen Worten bewegt gewesen. Selbst mich, den unbeteiligten Beobachter, bewegten sie. Jay Allison schaute zu Boden, und ich sah, wie er seine wohlgepflegten Chirurgenhände knetete und mit einer fahrigen Bewegung die Knöchel knacken ließ.

Schließlich sagte er: »Wie man es auch dreht und wendet, Doktor, ich habe keine Wahl. Aber ich will es versuchen und zu den Waldläufern gehen.«

Retter des Planeten

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