Читать книгу Fürstenkrone Box 14 – Adelsroman - Marisa Frank - Страница 6
ОглавлениеDie junge Prinzessin Diana von Buchenhain zuckte leicht zusammen, als dicht vor ihr eine Amsel aufflog. Sie horchte angespannt in die Stille hinein, die sie umgab, und wandte sich dann noch einmal zurück.
Am anderen Ende des Parks, hinter dem langgestreckten Bassin mit den Terrakottafiguren zu beiden Seiten, leuchtete das schneeweiße Schloss der Fürsten von Buchenhain in der Morgensonne.
Dianas Mund öffnete sich. Wie herrlich war alles, was sie umgab. Die uralten Buchen, deren Kronen sich über den beiden ebenerdigen Seitenflügeln des Schlosses wölbten, die dunkelgrünen Zypressen, die hinter dem spitzen Giebel des Hauptschlosses zu erkennen waren. Der Park mit seinen weiten Rasenflächen, den blühenden Buschgruppen. Das Singen der Vögel.
Ein Schauer des Glücks durchströmte Diana. Sie öffnete das kunstvolle schmiedeeiserne Tor, das den Besitz ihres Vaters von der Außenwelt abschloss. Mit leisem Klicken fiel es ins Schloss zurück.
Freiheit – solange Diana zurückdenken konnte, hatte die Welt hinter diesem Tor für sie Freiheit bedeutet. Heute, einen Tag nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, wollte sie diese Freiheit zum ersten Mal kennenlernen: Ohne eine Erzieherin, ohne den Vater, ohne Verwandte, die jeden ihrer Schritte beobachteten.
Niemand hatte die Flucht der jungen Prinzessin bemerkt.
Diana lief über die Asphaltstraße. Bald tauchte Buchenhain vor ihr auf, das Dorf, das seinen Namen vom Schloss her hatte.
Um von keinem seiner Bewohner erkannt zu werden, schlug Diana einen schmalen Weg ein, der von der Straße weg durch ein Tal führte.
Ein Dornenstrauch zerriss Dianas seidene Strümpfe. Sie kümmerte sich nicht darum. Herrlich war es, dieses Gefühl von Freiheit, dieses Abenteuer ihrer Flucht.
Etwa eine halbe Stunde später erreichte Diana wieder die Landstraße. Schloss und Dorf Buchenhain lagen hinter einem Wald und waren nicht mehr zu erkennen.
Diana berührte mit der rechten Hand die Geldbörse in der Tasche ihres weiten Rockes. Es war genug Geld, um in der etwa hundert Kilometer entfernten Großstadt durch die belebten Straßen zu bummeln, in einem Straßenrestaurant zu Mittag zu essen. Irgendetwas Unnützes zu kaufen.
Als ein Bus näherkam, hob Diana ihre Hand. Aber der Busfahrer achtete nicht auf sie und fuhr weiter.
»Dann eben nicht«, sagte Diana laut.
Zehn Minuten später keuchte ein uralter Personenwagen den Hügel hinauf. Einen winzigen Augenblick zögerte Diana, dann hob sie wieder winkend einen Arm.
Der Wagen keuchte, der Motor gab ein Blubbern von sich, dann hielt das Auto neben Diana.
Ein junger Mann neigte sich lachend heraus.
»Wollen Sie mitkommen?«
»Fahren Sie in Richtung Stadt?«
»Ja. Steigen Sie ein. Ich hoffe, meine alte Kiste streikt nicht.«
Der junge Mann hielt Diana die Tür auf, und sie nahm an seiner Seite Platz.
Der Motor ratterte. Er tat sich schwer, den Hügel bis zur Kuppe zu erklimmen.
»So, geschafft«, seufzte der junge Mann und betrachtete Diana von der Seite.
»Haben Sie denn gar keine Angst vor Räubern?«, fragte er lachend.
»Sind Sie vielleicht ein Räuber?«, fragte Diana lächelnd zurück.
»Nicht ganz. Obwohl ich eine Art Räuberleben führe.«
»Ich habe mir schon immer einmal gewünscht, einen richtigen Räuber kennenzulernen. Ich könnte dann seine Räuberbraut sein.«
In diesem Moment machte der Wagen einen Satz nach vorn, Diana und der junge Mann wurden kräftig durchgeschüttelt, dann stand das Auto.
»Er hat eben seine Launen. Nun müssen wir warten, bis sich der Motor abgekühlt hat. Wir könnten die Zeit ausnutzen und frühstücken. Oder haben Sie schon etwas gegessen?«
Diana schüttelte den Kopf. Plötzlich bemerkte sie, dass sie Hunger verspürte.
»Na also.« Der junge Mann hob einen Korb vom Rücksitz des Wagens und trug eine karierte Decke auf ein Rasenstück neben der Autostraße. Dort breitete er sie aus.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er, indem er eine Flasche Rotwein, Brötchen, Wurst und Käse dem Korb entnahm.
Diana überlegte rasch. Sie wollte nicht, dass der Fremde ihren Namen erfuhr.
»Diana Hain«, entgegnete sie und spürte, wie sie ein wenig rot wurde.
»Wir haben Glück, Diana, dass hier so selten ein Auto vorbeifährt. Hier ist ein Becher für Rotwein. Gut, dass mein Freund mir noch etwas zum Essen eingepackt hat. Dann brauchen wir wenigstens nicht zu verhungern.«
Als Diana den Becher mit Rotwein ergriff, betrachtete der junge Mann sie.
»Diana, wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?«
»Nein.«
»Im Salon meiner Mutter hängt neben vielen anderen Miniaturen ein kleines Bild, das entfernte Kusine meiner Mutter darstellt. Ich glaube, sie war Italienerin, eine Fürstin aus der Toskana. Als Junge war ich richtig verliebt in sie und untröstlich, als meine Mutter mir sagte, dass die Frau nicht mehr am Leben ist. Ach, was bin ich überhaupt für ein unhöflicher Mensch. Ich frage Sie nach Ihrem Namen und stelle mich selbst nicht einmal vor. Also, Hubertus von Homberg.«
Hubertus machte eine steife Verbeugung und lachte gleich darauf.
Hubertus von Homberg… Diana erinnerte sich an ein Gespräch ihres Vaters mit einem ihrer Onkel. Von dem Grafen von Homberg war die Rede gewesen. Von einem Streit zwischen dem Grafen und Dianas Vater, der schon lange zurückliegen musste. Und davon, wie wenig Glück der Graf mit seinen Kindern hatte. Den Jüngsten hatte man sogar ausgestoßen. Er führe das Leben eines Vagabunden, wollte Schriftsteller werden. Ein Unglück sei es, einen solchen Sohn zu haben.
Die beiden jungen Menschen sahen sich an. In dieser Sekunde geschah ihnen etwas Seltsames. Beide erschauerten. Ein nie gekanntes Gefühl ergriff sie. Eine starke Macht zog sie zueinander. Beide hatten das Empfinden, als würden sie sich seit langer Zeit kennen.
Ein Leben lang erinnerten sich Diana und Hubertus an diese Sekunde des Erkennens, als Liebe in ihnen aufgeflammt war.
Sie waren verwirrt, erschrocken und unendlich glücklich.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Hubertus leise.
Er betrachtete Diana, wie sie sich auf die karierte Decke niedergleiten ließ. Sie war nicht tot, die Frau auf dem Bild im Salon seiner Mutter. Sie saß hier auf der Decke neben ihm. War sie es selbst, oder war es nur ihr Ebenbild?
Diana besaß die gleichen schwarzglänzenden Locken, die in ihr schmales Gesicht fielen, die gleichen dunklen Augen mit den hohen Bogen der Augenbrauen, den feingeschwungenen Mund und die olivfarbene Haut. Wenn sie lächelte, veränderte sich ihr Gesicht. Es schien von innen heraus zu leuchten.
Hubertus verschränkte seine überlangen Beine unter seinem schlanken Körper. Er reichte Diana ein Brötchen.
Unten im Tal läuteten Kirchenglocken. Tiefer Frieden herrschte.
Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Diana im Freien frühstückte.
»Führen wir jetzt nicht schon ein bisschen ein Räuberleben?«, fragte sie und trank einen Schluck Rotwein.
Hubertus lachte. Er strich sich eine Strähne seines glatten dunkelblonden Haars aus der Stirn. Sein schönes Gesicht besaß die Offenheit eines Menschen, der sich vor nichts fürchtet und auf seine eigene Kraft vertraut. Sein Gesicht mit der feinen, ein wenig blassen Haut und den blauen Augen war das Gesicht eines Aristokraten. Die kräftigen Hände zeigten jedoch, dass er handwerkliche Arbeiten verrichtete. Seine blaue Jeans trug über jedem Knie einen großen Flicken, und sein Hemd mit dem offenen Kragen war nicht mehr so weiß wie es sein sollte.
»Was wollen Sie eigentlich in der Stadt, Diana?«, fragte Hubertus.
»Ich weiß es nicht.«
»Hm. Aber ich verstehe Sie gut. Wenn man nichts Bestimmtes vorhat, erlebt man die wunderbarsten Dinge. So, ich glaube, jetzt tut es unser Wagen wieder.«
Sie räumten die Sachen zusammen und stiegen ein. Der Wagen ratterte los.
»Na also!«, rief Hubertus strahlend.
*
Sie waren übereingekommen, dass Hubertus Diana seine »Höhle« zeigen wollte. Er erklärte sich auch bereit, sie später in die Stadt zu fahren.
Der Wagen hielt vor einem riesigen verwilderten Garten, in dessen Mitte ein grün und weiß gestrichenes Gartenhaus aus Holz stand.
»Das ist die Höhle, Diana.«
»Ach, ist das schön.«
Das Gras mit den unzähligen Margeriten reichte ihnen bis zu den Knien. Zwischen zwei Apfelbäumen hatte Hubertus eine bunte Hängematte gespannt.
Es war inzwischen sehr warm geworden. Bienen summten von Blüte zu Blüte. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen.
Hubertus öffnete die Tür zum Gartenhaus.
»Sehen Sie, Diana, auf dieser uralten Schreibmaschine schreibe ich meine Werke der Weltliteratur. Glauben Sie mir nicht?«
»O doch. Haben Sie schon etwas veröffentlicht?«
Hubertus zog ein bekümmertes Gesicht.
»Noch nicht. Aber mein erstes Buch werde ich Ihnen widmen, Diana. Setzen Sie sich einmal in die Hängematte. Ich lese Ihnen mein letztes Gedicht vor, ja?«
Diana legte sich in die Hängematte und stieß sich mit den Füßen am Baumstamm ab, so dass sie hin und her schaukelte.
Hubertus setzte sich neben sie ins hohe Gras. Er schlug das Heft auf, das er in der rechten Hand hielt und rief gleich darauf entsetzt: »Diana, jetzt habe ich gestern aus Versehen das falsche Heft in das Feuer geworfen. Das Heft mit meinen Gedichten. Sehen Sie, hier stehen nur Notizen, die ich nicht mehr brauche.«
Hubertus schlug sich gegen die Stirn.
»Aus mir wird nie etwas. Mein Vater hat ganz recht.«
Diana lachte laut auf.
»Lachen Sie nur, Diana. Glauben Sie mir, ich bin ein Dichter.« Mit komischem Ernst sah Hubertus sie eigenartig an.
Diana fühlte sich versucht, durch sein hellblondes Haar zu fahren. Sie wünschte sich plötzlich, irgendetwas Unsinniges, ganz Dummes zu tun.
»Woran denken Sie, Diana?«
»Dass ich gern fliegen oder schwimmen oder reiten oder irgendetwas Unvernünftiges tun würde. Segelfliegen wäre jetzt schön. Oder Ihr Gartenhaus neu anmalen. Ich weiß selbst nicht, was ich zuerst tun möchte.«
»Hm. Ein Flugzeug oder ein Pferd habe ich zwar nicht, aber hinter dem Garten ist ein See. Wir könnten das Ruderboot stehlen, das dort zwischen Schilf versteckt liegt und damit auf dem See fahren. Schwimmen können Sie doch?«
»Wollen Sie mich denn umkippen?«
»Eigentlich nicht.«
Diana schwang sich aus der Hängematte. Hubertus griff nach ihrer Hand, und Hand in Hand liefen sie zu dem See, in dessen Mitte eine Insel war.
Hubertus zog das Ruderboot aus dem Schilf. Diana ging schnell hinter einen Busch, um Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Barfuß stieg sie in das Boot. Hubertus gab dem Boot einen Stoß und sprang dann selbst hinein. Er begann zu rudern.
Als sie mitten auf dem See waren, sagte er: »Ich möchte Sie schrecklich gern küssen, Diana.«
Ich dich auch, dachte Diana, aber sie wagte nicht, es auszusprechen.
Hubertus stand auf, ging auf sie zu. Das Boot schwankte.
Mit strahlenden Augen sah Diana zu Hubertus auf. Wie schön er war. Alles an ihm war hell und klar.
Hubertus neigte sich zu ihr hinab, berührte mit seinen Lippen ihren Mund. Es war der erste Kuss, den Diana einem Mann schenkte.
Sie schloss die Augen. Nie empfundenes Glück durchströmte sie. Sie hatte das Gefühl, als verrate sich ihr endlich ein Geheimnis, von dem sie schon immer geträumt hatte.
»Diana«, murmelte er.
Nun saß er neben ihr auf der Holzbank. Die Sommersonne brannte auf sie nieder.
Wieder küssten sie sich voller Zärtlichkeit.
»Du?«, fragte Diana. War Hubertus wirklich der Mensch, der Prinz, der endlich gekommen war, um sie zu erlösen.
Diana neigte sich ihm entgegen, um seine Wangen zu berühren. Hubertus’ Haut war so weich und glatt wie die Haut eines Knaben.
In diesem Augenblick bemerkten sie am Rande des Ufers einen hochgewachsenen Mann, der ihnen etwas zurief. Diana zuckte zusammen. Hubertus hatte sich unwillkürlich erhoben.
Das Boot schaukelte einen Moment heftig hin und her. Diana verlor das Gleichgewicht. Hubertus wollte sie festhalten. Aber gleich darauf lagen Hubertus und Diana im Wasser.
Prustend kamen sie hoch.
»Halte dich am Bootsrand fest, Diana!«, rief Hubertus.
Der Mann schimpfte noch lauter. Diana lachte, Hubertus lachte auch, und der Mann schickte ganze Schimpfkanonaden zu ihnen auf den See.
Hubertus kletterte als erster zurück ins Boot und half dann Diana hineinzukommen.
Sie kehrten zum Ufer zurück, und Hubertus ließ das Boot in das Schilf gleiten.
Der Mann schimpfte, aber Hubertus ergriff einfach wieder Dianas Hand und lief mit ihr zurück in den Garten, ohne auf den Mann zu achten.
Sie schüttelten sich, dass die Wassertropfen flogen.
»Du musst eine Hose und ein Hemd von mir anziehen, Diana. Deine Sachen legen wir in die Sonne, damit sie trocknen.«
Diana stieg in eine geflickte Jeans von Hubertus und zog ein kariertes Hemd über.
»Jetzt siehst du aus wie ein Junge. Oder wie ein Page, Diana«, rief Hubertus, als sie aus dem Gartenhaus kam.
Er selbst trug inzwischen eine Badehose.
Sie legten ihre nasse Kleidung auf den Rasen.
Und plötzlich, als sie sich gegenüberstanden, fielen sie sich laut auflachend in die Arme. Hubertus schwenkte Diana herum.
»Wie leicht du bist, Diana.«
Sie legte sich in die Hängematte. Hubertus hatte seinen Arm um sie gelegt. Es war schön, wunderschön. Sie träumten in den klarblauen Himmel hinein. Sie waren sehr jung, und beide erfuhren zum ersten Mal die Liebe.
Eine geheime Scheu hielt Hubertus davor zurück, Diana noch einmal zu küssen. Das Glück, das er fühlte, war so übermächtig, dass er es nicht an einem einzigen Tag auskosten wollte.
Als die Sonne senkrecht über ihnen stand, bereitete Hubertus für Diana und sich auf einem einfachen Grillrost Fleisch zu. Das Mädchen richtete Tomatensalat an. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich als Hausfrau betätigte. Sie hoffte, Hubertus würde nicht merken, dass sie nicht einmal verstand, eine Salatsauce anzurühren.
Das Mittagsmahl war köstlich. Hubertus fand noch ein Stück französischen Käse. Dazu gab es Rotwein.
Im Schneidersitz saßen sie sich auf dem Rasen gegenüber.
»Na, du kleine Räuberbraut«, sagte Hubertus lächelnd und blickte auf die geflickte Hose, die Diana trug.
Nach dem Essen lagen sie wieder in der Sonne.
Als Dianas Kleidung trocken geworden war, sagte sie, dass sie nun nach Hause zurückkehren müsse. Ihren Wunsch, in die Stadt zu fahren, hatte sie ganz vergessen.
»Du kommst doch wieder?«, fragte Hubertus.
Sie neigte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Frage mich nicht.«
»Aber Diana, das kann doch nicht dein Ernst sein. Sag mir, wo du wohnst. Ich besuche dich. Und wenn du am Ende der Welt wohnen würdest, könnte mich das nicht abhalten.«
Diana legte erschrocken eine Hand auf die von Hubertus. »Du darfst mich nie suchen, Hubertus. Ich komme zu dir zurück, wenn ich kann.«
Hubertus küsste sie leidenschaftlich und voller Angst. Er wollte Diana niemals wieder verlieren. Dieser eine Tag mit ihr hatte sein Leben für immer verändert.
»Komm, Hubertus«, sagte das Mädchen leise.
Hand in Hand gingen sie durch den Garten zum Auto zurück. Sie sprachen wenig während der Fahrt.
Als sie von einem Hügel aus Schloss und Dorf Buchenhain erkennen konnten, bat Diana Hubertus anzuhalten.
»Ich muss allein weitergehen, Hubertus. Du darfst mich heute nichts fragen.«
Sein Gesicht, seine hellen Augen zeigten die Traurigkeit, die er empfand.
»Ich komme wieder, Hubertus.« Diana küsste ihn zum letzten Mal, dann sprang sie aus dem Wagen und lief über einen schmalen Waldweg den Hügel hinab.
Hubertus blickte ihr nach, bis er sie nicht mehr erkennen konnte.
*
Mit weit ausholendem Schritt ging Fürst Arnim von Buchenhain in der Bibliothek auf und ab. Die Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt.
Am Fenster der Bibliothek stand Fürst Friedrich von Großborn. Eine steile Falte war zwischen den farblosen Augenbrauen des jungen Fürsten zu erkennen.
»Wenn Diana in einer Stunde nicht zurückgekehrt ist, bin ich dafür, die Kriminalpolizei zu benachrichtigen«, sagte er mehr verärgert als verängstigt.
Dianas Vater blieb abrupt stehen.
»Ich kann das Verhalten meiner Tochter nicht billigen. Sicherlich, sie hat auf ihrem Sekretär eine Nachricht hinterlassen, aus der hervorgeht, dass sie einen Tag lang ›frei‹ sein wolle. Frei, als ob sie hier eine Gefangene wäre.«
»Sie haben recht, Fürst, ich stimme Ihnen ganz und gar zu, dass wir in spätestens einer Stunde die Kriminalpolizei benachrichtigen müssen. Was kann einem so unerfahrenen jungen Mädchen alles zustoßen.«
»Nein, nein, ich kann das Verhalten nicht billigen und werde ein sehr ernstes Wort mit meiner Tochter sprechen.«
Friedrich von Großborn strich sich sein schütteres Haar zurück. Die Winkel seines schmalen Mundes zogen sich kaum merklich herab.
»Sie müssen Nachsicht üben, Fürst. Schließlich kann es nicht ohne Folgen geblieben sein, dass Diana ohne Mutter aufwachsen musste.«
Die Erwähnung seiner verstorbenen Frau fügte dem Fürsten einen kurzen stichartigen Schmerz im Herzen zu. Dianas Mutter, eine geborene Fürstin Amalia von Caragiola, Nachkommin eines der edelsten Geschlechter Italiens, war die einzige Liebe seines Lebens geblieben.
Sie hatte seine Liebe nicht erwidert und in die Ehe nur gezwungenermaßen eingewilligt, weil ihr Vater sie ihr befohlen hatte. Denn die Caragiolas waren seit mehreren Generationen verarmt, und der Fürst hatte gehofft, seiner Tochter einen Dienst zu erweisen, wenn er sie standesgemäß verheiratete.
Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit – Diana war gerade neun Monate alt gewesen – war Fürstin Amalia gestorben. Niemand wusste zu sagen, was ihren Tod herbeigeführt hatte. Es war wohl einfach Heimweh und unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach Liebe gewesen.
»Meine Tochter hat die beste Erziehung genossen, die ein junges Mädchen haben kann«, entgegnete der Fürst nach längerem Zögern ein wenig frostig.
Sein Gast stimmte sogleich übereifrig zu.
»Da stimme ich völlig mit Ihnen überein, Fürst. Aber niemand weiß zu sagen, was in den Köpfen unerfahrener junger Mädchen vor sich gehen mag. Sie können den romantischsten und verstiegensten Vorstellungen erliegen. Es ist notwendig, dass sie weiterhin sicher geführt werden. Sie kennen die Neigungen, die ich für Ihre Tochter hege, Fürst.«
Dianas Vater blieb vor Friedrich von Großborn stehen. Er maß ihn mit starrem Blick.
Der junge Fürst besaß alles, was seine Klasse auszeichnete. Er hatte die beste Erziehung genossen, und obwohl die Großborns sehr reich waren, hatte Friedrich ein juristisches Studium abgeschlossen und mit Auszeichnung bestanden.
Sein Äußeres war sehr ansprechend, wie Fürst Buchenhain empfand. Er war groß und schlank gewachsen und besaß sogar eine gewisse Eleganz.
Gewiss, Humor und Esprit waren nicht gerade seine Stärken, dafür hielt Fürst Buchenhain ihn jedoch absolut für vertrauenswürdig. Mit seinen dreißig Jahren hatte Friedrich von Großborn genügend Lebenserfahrung gewonnen, um zu wissen, was er wollte. Auch das sprach für ihn.
»Ja, ich meine, wir sollten nicht mehr lange warten und die Hochzeit bald bekanntgeben, Fürst«, sagte Dianas Vater langsam.
Die schmalen Lippen Friedrich von Großborns verzogen sich zu einem Lächeln.
»Das ist ganz in meinem Sinn, Fürst. Und ich versichere Ihnen, dass Diana ähnlichen Launen oder Anwandlungen wie heute nicht mehr nachgeben wird.«
In diesem Augenblick klopfte jemand an die Tür.
»Bitte!«, rief Fürst Buchenhain.
Sein Sekretär trat ein und meldete, dass die Prinzessin gerade zurückgekehrt sei. Sie habe sich in ihr Zimmer begeben.
»Richten Sie meiner Tochter bitte aus, dass sie unverzüglich in die Bibliothek kommen soll. Fürst Großborn und ich erwarten sie hier.«
Der Sekretär verneigte sich leicht und ging fort, um den Auftrag auszuführen.
Fürst von Buchenhain hatte seine Wanderung durch die Bibliothek wieder aufgenommen. Je länger es dauerte, bis Diana seinem Wunsch oder seinem Befehl nachkam, desto zorniger wurde er. Er war es gewohnt, dass seine Untergebenen und auch seine Tochter seine Anordnungen immer sofort erfüllten.
Endlich trat Diana ein.
Ihr Vater verhielt den Schritt, über Friedrich von Großborns Gesicht glitt unwillkürlich ein Lächeln.
Er glaubte, Diana noch nie so schön gesehen zu haben. Etwas Strahlendes ging von ihr aus, das den jungen Fürsten ganz in ihren Bann zog.
Sie trug ein enganliegendes weißes Kleid, das bis zu ihren Waden reichte. Um ihre Taille schlang sich ein roter Gürtel mit einer goldenen Schnalle.
Ihre schwarzen Locken hatte Diana zurückgebürstet, so dass die ganze Feinheit ihres schmalen, edlen Gesichts voll zum Ausdruck kam.
»Auf diesen Augenblick habe ich einen ganzen Tag gewartet, Diana«, begrüßte Fürst von Buchenhain seine Tochter.
»Zürnen Sie bitte nicht mit ihr, Fürst«, mischte sich Friedrich von Großborn ein.
Lächelnd ging er auf Diana zu, neigte sich über ihre feingliedrige Hand, um sie zu küssen.
»Auch ich habe einen ganzen Tag auf diesen Augenblick gewartet. Voller Sehnsucht«, fügte er hinzu.
Dianas Lächeln wurde ein wenig starr. Sie wusste, dass Fürst von Großborn sich seit mehreren Monaten bei ihrem Vater um ihre Hand bewarb. Und sie wusste auch, dass ihr Vater sehr geneigt war, dem Wunsch nachzukommen.
»Diana, darf ich um eine Auskunft bitten, wo du dich heute aufgehalten hast?«, fragte Fürst von Buchenhain mit seiner harten Stimme, die immer klang, als würde er einen Befehl erteilen, selbst wenn er eine Bitte aussprach.
Diana senkte die Augenlider. Sie würde keines der Wunder, die sie an diesem Tag erfahren hatte, ihrem Vater und Friedrich von Großborn preisgeben.
»Ich bin gewandert. Und – und ich habe in der Sonne gelegen. Das ist alles«, sagte sie leise und ohne aufzusehen.
Ihr Vater sog hörbar die Luft ein. Was Diana ihm gestanden hatte, schien ihm ungeheuerlich. Als ob Wandern und Sonnenbaden einen ganzen Tag ausfüllen könnten, wenn ein Mensch nicht gerade ein Zigeuner war.
Das Gesicht des alten Fürsten schien zu versteinern. Er fasste sich aber schnell und sagte, dass es Zeit sei, zu Abend zu essen.
»Sie werden meiner Tochter und mir doch das Vergnügen bereiten und mit uns speisen?«, fragte er Friedrich von Großborn.
Der junge Fürst verneigte sich kurz, um seine Zustimmung auszudrücken.
*
Der Tisch war für drei Personen im französischen Speisezimmer gedeckt worden. In diesem wundervollen, intimen kleinen Raum standen ausnahmslos Möbelstücke, die während der Regierungszeit Ludwig des Vierzehnten in Frankreich von einem der bedeutendsten Schreiner seiner Zeit hergestellt worden waren.
Die anmutig geschwungenen Formen und die Kostbarkeit der verwendeten Hölzer und Seiden- und Brokatstoffe vermittelten den Eindruck von Eleganz und Leichtigkeit, die jene Zeit ausgezeichnet hatte.
Das französische Speisezimmer wurde immer nur dann benutzt, wenn weniger als fünf Personen bei einer Mahlzeit zugegen waren.
Auf einem silbernen Tafelaufsatz lagen die köstlichsten Käsesorten, die Frankreich, Deutschland und die Schweiz hervorbrachten.
Fürst von Buchenhain schenkte seinem Gast und seiner Tochter tiefroten, uralten Burgunder in kostbare Gläser.
»Ich hoffe, Sie entschuldigen die Kargheit unseres Mahls, Fürst«, bat er. »Ich habe dem Koch die Anweisung gegeben, an heißen Sommertagen abends nur Käse aufzutragen. Sicherlich hat unsere Küche aber auch andere Dinge zu bieten, wenn Sie es wünschen.«
»O nein, Fürst. Ich nehme abends nie viel zu mir.«
Diana aß außer einigen blauen Trauben, die neben dem Käse lagen, gar nichts. Sie dachte an den wundervollen Tag zurück. Ein sicheres Gefühl verriet ihr, dass Hubertus jetzt ebenfalls mit seinen Gedanken bei ihr war. Unbewusst lächelte sie.
Ihr Vater und Friedrich von Großborn unterhielten sich über die neuesten Gesetze, die von der Regierung gerade verabschiedet worden waren. Diana hörte nicht zu.
Marthe, eine Bedienstete, die seit über zwanzig Jahren auf Schloss Buchenhain lebte, brachte als Nachtisch Eis mit Rumfrüchten. Diana ließ auch ihren Nachtisch stehen.
An diesem Abend erkannte Diana, dass sie nicht zu ihnen gehören wollte. Sie hatte die Freiheit, einen Hauch von Freiheit, kennengelernt. Und sie war wie berauscht von dieser Freiheit.
»Der Abend ist so herrlich. Ich würde gern noch einen Spaziergang durch den Park machen«, sagte Friedrich von Großborn.
»Ja, ich begleite Sie sehr gern, Fürst«, erklärte Diana.
Sie traten aus dem Schloss. Die große Tür aus hellem Lindenholz hatte offengestanden.
»Dieser Arkadengang an den Seitenbauten des Schlosses erregt jedes Mal wieder meine Bewunderung«, meinte Friedrich von Großborn.
»Ja, ich liebe Buchenhain auch sehr. Es ist ein hübsches kleines Juwel.«
Im Abendlicht wirkten die uralten Zypressen düster und mächtig. Diana und Friedrich gingen in jenen Teil des Parks, der halb verwildert hinter dem Schloss lag. Unter einer Zypresse fand Diana den abgefallenen Kopf einer Terrakottafigur, die ein Kind darstellte. Sie hob ihn auf und betrachtete ihn.
»Ach, wie schade. Sehen Sie nur, Fürst, wie schön das Gesicht des Jungen aus Stein ist.«
Diana berührte mit ihrer Wange die steinerne Wange der Figur.
»Prinzessin Diana, ich muss Ihnen heute, jetzt, die Frage stellen, die ich seit langem in meinem Herzen bewege. Sie wissen, dass ich Sie seit langem verehre. Ich wage nicht, von Liebe zu sprechen aus Furcht, Sie zu erschrecken.«
In Dianas schwarzen Augen war Angst zu erkennen. Sie hatte nicht erwartet, dass der Fürst ihr an diesem Abend einen Antrag machen würde. Sie hatte geglaubt, er würde noch warten.
Friedrich ergriff ihre Hand, mit der sie den Knabenkopf hielt.
»Ich habe bereits mit Ihrem Herrn Vater gesprochen. Er willigt ein, dass Sie meine Frau werden. Ich versichere Ihnen, dass meine Fürsorge Sie ein Leben lang begleiten wird. Ihr Herr Vater stimmt mit mir in dem Wunsch überein, dass wir bald unsere Verlobung bekanntgeben.«
Diana zog ihre Hand fort, und der Knabenkopf fiel zu Boden. Er zerbrach in mehrere Stücke.
Tränen schossen in ihre schönen Augen.
Sie kniete nieder, um die Stücke zusammenzusuchen. Die Zypressen strömten einen harzigen Duft aus.
»Diana!«
Eine Träne rollte über Dianas Wange. Sie erhob sich und schüttelte heftig den Kopf.
»Sie müssen verzeihen, Fürst, aber ich kann Ihnen mein Jawort nicht geben. Ich kenne Sie ja kaum. Wie kann ich es wagen, Ihnen zu schwören, ein ganzes Leben mit Ihnen zu verbringen.«
Der Fürst lächelte. Es war bezaubernd, Diana zögern zu sehen. Das machte sie nur noch reizvoller.
»Ihr Herr Vater hat Erkundigungen über mich eingezogen. Sie haben zu keinerlei Beunruhigungen Anlass gegeben, Fürstin.«
»Oh, Sie verstehen nicht, was ich meine. Ich denke nicht an Sicherheiten, ich, ich liebe Sie nicht.«
Friedrich von Großborn zeigte sich nachsichtig. Was die jungen Mädchen immer von der Liebe erwarteten. Welchen Träumereien sie nachhingen.
»Sie werden mich schätzen lernen, Diana. Und Sie werden erkennen, dass Achtung und Vertrauen das höchste Gut bedeuten. Diana, nach unserer Verlobung werde ich Ihnen beweisen, dass ich Ihr Vertrauen und Ihre Achtung verdiene.«
Diana legte ihre rechte Hand über ihre Augen. Weshalb quälte Friedrich von Großborn sie so und zwang sie, noch einmal zu wiederholen, was sie doch bereits gesagt hatte?
»Ich kann nicht Ihre Frau werden, Fürst. Ich kann nicht. Nie, nein, nie!«
Die Heftigkeit ihres Ausbruchs ließ Friedrich zurückschrecken. Es war nicht gut, wenn eine Frau zu viel Eigensinn besaß.
»Ich will Sie nicht drängen, Prinzessin. Ich bin sicher, dass Sie Ihren Sinn ändern werden. Eine Bitte habe ich jetzt jedoch schon: Meine Mutter feiert am kommenden Wochenende ihren sechzigsten Geburtstag. Ihr Herr Vater hat bereits zugestimmt, dass Sie ihn begleiten werden, um auf Großborn an dem Fest teilzunehmen. Ich darf doch hoffen, dass Ihr Vater in Ihrem Sinne gesprochen hat?«
Diana fühlte sich nicht fähig, eine Weigerung auszusprechen. Ihre anerzogenen Formen der Höflichkeit verboten ihr zu sagen, dass sie die Einladung nur zu gern ausschlagen würde.
»Ich darf Sie auf Großborn erwarten?«
Diana neigte den Kopf und sagte ganz leise: »Ja, Fürst, ich werde meinen Vater begleiten.«
Der Ausdruck auf Friedrich von Großborns Gesicht wurde versöhnlicher. »Ich freue mich sehr. Meine Mutter hat mir vor kurzem berichtet, dass sie Sie vor Ihrer Abreise ins Internat zum letzten Male gesehen hat. Sie ist begierig darauf zu erfahren, was aus Ihnen geworden ist.«
Diana fröstelte plötzlich.
»Ich bin ein wenig müde«, sagte sie.
»Wir wollen umkehren. Sie sollen aber noch wissen, dass ich ein Übermaß an Verehrung für Sie hege.«
Diana schlug die Augen nieder. Es war schrecklich, dem jungen Fürsten zuhören zu müssen und immer nur daran zu denken, dass sie weit weg sein wollte. In einer anderen Welt, bei Hubertus.
Der Fürst führte Dianas Hand an seine Lippen, als sie ins Schloss getreten waren.
»Gute Nacht, Prinzessin.«
»Gute Nacht, Fürst. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise.«
Friedrich von Großborn verneigte sich leicht.
In ihrem Schlafzimmer ließ Diana sich auf das weiche Bett fallen.
Hubertus, ich muss dich wiedersehen, dachte sie voller Sehnsucht.
*
Schloss Großborn lag in der Tiefe eines Tals. In dem Park, der das rote Backsteinschloss umgab, wuchsen mächtige Trauerweiden, die ihre Zweige in die vielen kleinen Seen tauchten.
Auf dem Schlosshof standen mehrere Limousinen. Der junge Chauffeur, der Diana und ihren Vater nach Großborn gefahren hatte, parkte den schwarzen Mercedes neben einem silberfarbenen Rolls Royce.
Zwei Bedienstete kamen hinzugelaufen und rissen die hinteren Türen des Wagens auf. Diana fühlte sich an einen Überfall erinnert.
Kaum war sie ausgestiegen, als Friedrich von Großborn aus dem Schloss trat und mit eiligem Schritt auf sie und ihren Vater zukam.
Er trug einen maßgeschneiderten dunkelgrauen Anzug und hatte das wenige Haar streng zurückgekämmt. In seinen grauen Augen erkannte Diana einen eigenartigen, harten Glanz.
»Sie sehen bezaubernd aus, Prinzessin«, begrüßte Friedrich Diana. »Ich freue mich, Sie nach so vielen Jahren wieder auf Großborn begrüßen zu dürfen. Fürst, ich hoffe, die Fahrt war nicht zu anstrengend?«
»Keineswegs. Es wurde Zeit, dass ich Buchenhain wieder einmal verlasse. Ich könnte es sonst für die Welt halten.«
Die Halle, in die sie traten, war hoch und kalt. Keine Bilder oder Wandteppiche bedeckten die kahlen Wände. Überhaupt flößte Diana Schloss Großborn wieder wie früher durch seine Strenge und abweisende Kühle ein Gefühl von Unbehaglichkeit ein.
Friedrich führte seine Gäste in einen riesigen Raum, in dem etwa zwanzig Menschen versammelt waren.
Die Stimmen verstummten nach ihrem Eintreten. Blicke, aus denen verhaltene Neugier sprach, waren auf die Hinzugekommenen gerichtet.
»Hübsch, sehr nett«, raunte ein älterer Herr mit weißem Lockenhaar seiner Begleiterin zu und sah Diana an.
Sie hatte für diesen Besuch das schmuckloseste Kleid gewählt, das sie besaß. Ihr Vater hatte sie daran erinnert, dass die Fürstin von Großborn äußerste Schlichtheit liebte.
Ihr graues Kleid reichte Diana bis zu den Waden. Sein weiter Schnitt verhüllte die bezaubernde Anmut ihres schlanken Körpers, ließ seine Schönheit jedoch ahnen.
Diana hatte ihre schwarzen Locken nach vorn gebürstet, so dass sie ihr feines Gesicht wie ein Rahmen umgaben. Sie trug keinen Schmuck.
Friedrich von Großborn hatte Diana und ihren Vater zu seiner Mutter geführt, die seit einem Unfall vor zwei Jahren kaum noch gehen konnte und deshalb die meiste Zeit in einem Rollstuhl zubrachte.
Sie hatte ihre grauen, scharfen Vogelaugen auf Diana gerichtet. Ihr ehemals schönes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Das wenige Haar hielt sie im Nacken in einem Knoten zusammen.
»Mutter, erkennst du in der Prinzessin das junge Mädchen wieder, das Großborn zum letzten Mal vor etwa fünf Jahren besucht hat?«, fragte Friedrich die alte Dame.
Die Fürstin reichte Diana ihre Hand. »Sie erinnern mich sehr an ihre Frau Mutter, liebes Kind. Sie erlauben mir alten Frau doch, dass ich Sie ›Kind‹ nenne?«
Dianas Vater unterdrückte ein Gefühl von Befremden. Er befand sich im gleichen Alter wie die Fürstin von Großborn, hätte jedoch jeden Gedanken daran, als »alt« bezeichnet zu werden, weit von sich gewiesen.
Diana lächelte artig und sah, wie die Fürstin und Friedrich einen Blick wechselten, in dem gegenseitiges Einverständnis lag. Es war, als würde die alte Fürstin ihrem Sohn mit diesem Blick ihre Zustimmung zu seiner Wahl geben.
Ein Bediensteter bat ihnen Erfrischungsgetränke an. Diana nahm ein Glas Champagner und trank es rasch aus. Sie hatte das Gefühl, in diesem Salon ersticken zu müssen.
Die Fensterläden waren geschlossen worden, obwohl draußen das herrlichste Sommerwetter herrschte. An den Wänden brannten Kerzen, und ein alter Deckenleuchter verströmte ein mattes Licht.
An der Seite ihres Vaters trat Diana zu den anderen Gästen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden. Jeder versuchte, den anderen an Artigkeit und durch langweilige Äußerungen zu übertreffen.
»Morgen früh werde ich Ihnen Großborn zeigen, Diana«, sagte Friedrich plötzlich dicht neben ihr.
»Das wäre sehr liebenswürdig, Fürst.«
Etwa eine Stunde nach ihrer Ankunft führte Friedrich von Großborn Diana hinter seiner Mutter, die an der Seite von Fürst Buchenhain ging, in den riesigen Speisesalon.
An einem Tisch, der die ganze Länge des schmucklosen Raumes durchmaß, war für die Gäste zu Abend gedeckt worden. Hinter jedem zweiten Stuhl stand ein Bediensteter in grauer Livree.
Die Fürstin von Großborn nahm den Platz am Kopfende des Tisches ein. Diana saß neben Friedrich.
Das Gefühl von Beklemmung, das von Diana Besitz ergriffen hatte, nahm ihr fast den Atem.
Von den angebotenen Speisen, die, offenbar dem Geschmack der Fürstin zu Großborn folgend, fast ohne Gewürze zubereitet worden waren, nahm Diana gerade nur so viel zu sich, um nicht als unhöflich zu gelten.
Friedrich versuchte, sie zu unterhalten, indem er ihr Geschichten aus seiner Studentenzeit erzählte und seine Ahnen aufzählte, von denen er auch mehrere Geschichten wusste.
Diana atmete auf, als die Tafel endlich aufgehoben wurde.
Fürstin Großborn führte ihre Gäste in das Musikzimmer, wo die junge Gräfin von Massau, die eine langjährige Gesangsausbildung genossen hatte, Lieder vortragen sollte.
Es schien Diana eine Ewigkeit zu dauern, bis die Sängerin aufhörte, ihre Lieder vorzutragen. Und es dauerte nochmals eine Ewigkeit, bis Fürstin von Großborn ankündigte, dass sie sich jetzt zur Ruhe begeben werde. Die Bediensteten würden ihren lieben Gästen, die am Abend nicht mehr nach Hause zurückkehren könnten, ihre Zimmer zeigen. Sie wünsche allgemein eine gute Nacht.
Etwa fünfzehn Gäste ließen ihre Wagen vorfahren, die anderen – zu ihnen zählten Diana und ihr Vater – begaben sich auf ihr Zimmer.
Friedrich von Großborn hatte Diana gebeten, ihm noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Sie hatte jedoch geantwortet, dass sie sich sehr müde fühle.
Als sie allein in dem zugewiesenen kargen Gästezimmer war, öffnete sie weit beide Fenster. Gierig sog sie die frische Nachtluft ein. Am Himmel hing ein voller Mond.
Diana breitete die Arme auseinander, als wolle sie das Leben, das wirkliche, lebendige Leben einfangen.
*
Am folgenden Morgen fiel ein warmer Sommerregen nieder. Diana und ihr Vater wurden von Bediensteten geweckt, die ihnen mitteilten, dass das Frühstück eine Stunde später aufgetragen werde.
Die Fürstin von Großborn war während des Frühstücks zugegen. Sie ließ vor ihren Gästen noch einmal die Familiengeschichte des Hauses Großborn aufleben.
Nach der Mahlzeit bestand Friedrich darauf, Diana durch das Schloss zu führen.
Im ältesten Teil des Schlosses, der auf der Rückseite lag, befand sich noch ein Rittersaal, in dem uralte Rüstungen aufbewahrt wurden.
Friedrich nahm eine der Lanzen zur Hand, die gegen die dicken Mauern gelehnt stand und sagte, indem er Diana mit seinen kalten grauen Augen ansah: »Diana, die ersten Mauern von Großborn wurden im dreizehnten Jahrhundert errichtet. Ich will meinen Nachkommen erhalten, was viele Generationen vor mir aufgebaut haben. Und ich möchte, dass meine Kinder auch Ihre Kinder sind, Diana.«
Unwillkürlich wich Diana einen Schritt zurück, als Friedrich versuchte, ihr Gesicht zwischen seine Hände zu nehmen, um es zu küssen.
Ihre Lippen zitterten. Sie fürchtete sich vor Friedrich, sie fürchtete sich vor den dicken Mauern des Schlosses, vor seiner Kälte, seiner Undurchdringlichkeit. Sie fürchtete sich davor, in diesen Mauern leben zu müssen. Es würde ihren seelischen Tod bedeuten.
Mit veränderter Stimme fuhr Friedrich fort: »Diana, ich habe gestern abend mit Ihrem Herrn Vater noch eine ausführliche Unterredung gehabt. Es ist beschlossen worden, dass unsere Verlobung hier auf Schloss Großborn in vier Wochen stattfinden wird.«
Diana starrte Friedrich an. Sie wollte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Wusste Friedrich denn nicht, dass er sie spätestens in diesem Augenblick verloren hatte, als er ihr zu befehlen versuchte, was sie nicht aus freiem Herzen heraus tun konnte?
Sie schüttelte ihren Kopf, so dass ihre schwarzen Löckchen flogen. Ein feuchter Schimmer lag über ihren schwarzen Augen.
»Nein, Fürst, nein. Weil Sie so viel Wert auf diese alten Mauern legen, hier an dieser Stelle versichere ich Ihnen, dass ich nie, niemals Ihre Frau werde! Nie, Fürst, nie!«
Diana lief fort, den langen hallenden Gang zurück in die Diele. Sie hastete die Treppen hinauf und riss die Tür zu dem Gästezimmer auf, das sie während der vergangenen Nacht bewohnt hatte.
Hier zu bleiben wäre ihr Tod. Es galt, das Leben zu verteidigen.
Diana entnahm ihrer Handtasche eine Geldbörse und prüfte nach, wie viel Geld sie noch besaß. Es würde reichen, um eine Bahnfahrt und ein Taxi zu bezahlen, das sie zu Hubertus’ »Höhle« bringen würde.
Angestrengt lauschte sie zum Gang hin. Es waren keine Schritte zu hören. Wie ein Dieb schlich sie die Treppe hinab. Es gelang ihr, Schloss Großborn unbemerkt zu verlassen.
Die Bahnstation lag nicht allzu weit entfernt. Diana musste eine halbe Stunde warten, bis der Zug abfuhr, der sie in die Nähe des Ortes bringen würde, wo Hubertus wohnte.
Nachdem sie angekommen war, nahm sie sich ein Taxi und ließ sich zu jenem schmalen Weg fahren, der von der Landstraße abzweigte und an dessen Ende Hubertus’ »Höhle« lag.
*
Hubertus stand oben auf der letzten Sprosse einer Leiter und strich mit weit ausholenden Schwüngen seiner rechten Hand das ehemalige Gartenhaus neu an. Die Hälfte war schon mit zartlila Farbe bedeckt.
Hubertus pfiff leise vor sich hin.
Er hatte Dianas Schritte in dem hohen weichen Gras nicht gehört.
»Hallo!«, sagte Diana und sah zu ihm auf.
Sofort hielt er inne. Der Farbtopf kippte ihm aus der Hand, und fast wäre auch er von der Leiter gestürzt.
»Diana!«
Sein junges, offenes Gesicht strahlte. Mit Schwung warf er eine Strähne seines glatten dunkelblonden Haares zurück, die ihm in die Stirn gefallen war.
Er trug eine abgeschnittene Jeans, seine überlangen Beine waren mit Farbtupfern übersät.
Sie fielen einander in die Arme.
»Liebling, ich hatte schon geglaubt, du würdest nicht wiederkommen. Ach, ich bin ja so glücklich.«
Er schwenkte sie herum, und sie roch die Farbe an seinem Körper und den Duft seines Haars.
»Lass dich ansehen, Diana. Du bist noch schöner als in meinen Träumen. Und das allerschönste, du bist kein Traum, sondern wirklich aus Fleisch und Blut.«
Sie sahen sich an, und ihre Augen leuchteten. Dann fielen sie einander wieder in die Arme und hielten sich ganz, ganz fest.
»Du freust dich wirklich, Hubertus?«
»Merkst du es nicht? Ich bin ganz toll vor Freude. Siehst du, sogar unser Haus wollte ich für dich anstreichen.«
»Also hast du doch gewusst, dass ich wiederkommen würde?«
»Natürlich. Ich dachte immer, das was wir erlebt haben, erlebt man doch vielleicht nur einmal im ganzen Leben. Und dann wegzulaufen, das geht doch ganz einfach nicht.«
»Nein, das geht nicht, Hubertus.«
Er betrachtete ihr elegantes weißes Leinenkostüm und die hochhackigen weißen Sandalen.
»Aber sag einmal, Diana, hast du nicht etwas Bequemeres zum Anziehen mitgebracht?«
Sie schüttelte den Kopf.
Hubertus legte einen Finger an die Nase, eine Geste, die Diana bereits an ihm kannte und die sie liebte.
»Wir könnten eine Jeans für dich kaufen. Aber damit ginge kostbare Zeit verloren. Komm, wir gucken mal, was ich für dich habe.«
Diana fand schließlich eine verwaschene hellblaue Hose und ein Tennishemd von der gleichen Farbe.
»Das zieh’ ich an«, sagte sie.
Hubertus ging aus der »Höhle«. Als Diana gleich darauf zu ihm trat, saß er mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt auf der Wiese und rauchte eine Zigarette.
»Jetzt siehst du viel hübscher aus. Noch hübscher, Liebling.«
Sie ließ sich neben ihm auf den sonnenwarmen Rasen gleiten.
Er hob ihre Hand hoch und entdeckte den kostbaren Stein an ihrem Ring. Es war ein Rubin, den Diana von ihrem Vater zu ihrem zwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und der sicherlich ein kleines Vermögen wert war.
Sie zog den Ring rasch vom Finger.
»Ich mag eigentlich gar keinen Schmuck tragen. Außerdem – ich glaube – vielleicht ist der Stein auch gar nicht echt.«
»Doch, das ist er sicher. Ich verstehe etwas davon. Eine meiner Schwestern hatte einen Schmucktick.«
»Ich möchte ihn dir gern schenken, Hubertus.«
Hubertus lachte.
»Ja, Hubertus. Ich binde ihn um mein Halskettchen. Und wenn du den Ring dann unter deinem Hemd fühlst, musst du immer an mich denken.«
»Das muss ich sowieso schon immer, Diana.«
Er zerwühlte mit seinen Händen ihr Haar. Und dann lagen sie plötzlich auf dem Rasen und balgten sich wie junge Hunde. Sie lachten laut.
Einer versuchte, den anderen zu besiegen.
Plötzlich, als Hubertus sich über Diana neigte, wurden beide ganz ernst. Eine Art Schauer durchströmte ihre Körper.
»Ich kann die Blätter des Baumes in deinen Augen sehen, Liebling.«
Sie hielt ihre Lippen leicht geöffnet.
Hubertus liebkoste ihren Mund, er und Diana versanken in einem Glück, das sie zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhren. Es war schön, sich umarmt zu halten. Sie gingen ineinander auf, gaben sich ganz ohne Vorbehalte, ohne irgendetwas zurückzuhalten, der Umarmung des anderen hin.
Ihre Liebe war voller Zärtlichkeit und doch voller Wissen, weil sie einander erkannten in den tiefsten Tiefen ihrer Seelen.
Später lagen sie im Gras. Hubertus hatte einen Arm unter Dianas Nacken geschoben.
»Ich wusste nicht, dass ein Mensch so glücklich sein kann«, flüsterte sie bewegt.
»Ich auch nicht.«
Hubertus berührte mit seiner Wange, die Dianas.
»Möchtest du, dass ich bei dir bleibe, Hubertus?«
»Ich möchte, dass du nie wieder weggehst. Ich möchte, dass die Zeit stillsteht. Und möchte vor Glück sterben.«
Diana richtete sich auf.
»Was redest du für ein dummes Zeug. Ich will endlich zu leben beginnen. Und außerdem habe ich Hunger.«
Sie bereiteten sich einen frischen Salat. Hubertus hatte Tomaten gezüchtet.
»Ich habe mich eingerichtet, als ob ich wie Robinson auf einer Insel leben würde, Diana. Wir brauchen unsere Höhle gar nicht zu verlassen, wenn wir es nicht wollen. Siehst du, hier in meinem komfortablen Eisschrank ist Fleisch, Butter; was uns fehlt, ist Milch. Ich hole am besten gleich Milch vom Bauern.«
Er nahm eine Milchkanne von einem Regal.
»Hubertus!«, rief Diana, als er schon zur Tür hinaustreten wollte.
»Ja?«
»Hubertus, du musst mir zeigen, wie ich das Fleisch braten muss.«
Hubertus starrte Diana einen Augenblick lang ungläubig an.
»Sag einmal, bist du vielleicht doch eine Prinzessin?«, fragte er dann lachend.
»Nein, ich bin nur ein bisschen dumm.«
»Das glaube ich kaum. Warte, bis ich zurückkomme, ja?«
Er lief quer durch den Garten in den angrenzenden Wald, an dessen anderem Ende der Bauernhof lag, von dem Hubertus immer seine Milch holte.
Diana blätterte unschlüssig in einem karierten Heft, das sie auf dem Küchentisch fand.
Es enthielt zauberhafte Liebesgedichte.
»Ich liebe dich«, sagte Diana halblaut.
Sie setzte sich zurück auf den Rasen.
Wenige Minuten später wurde sie durch Hubertus’ lauten Ruf aufgeschreckt.
Diana blickte zum Wald hinüber.
Die Milchkanne in der Hand schwenkend, lief Hubertus am Waldsaum entlang.
Ein Setter stürmte laut bellend neben ihm her, versuchte immer wieder spielerisch Hubertus’ Beine zu fassen.
Nun sprangen der junge Mann und der Hund über einen Bach, kamen durch das hohe Gras auf Diana zu.
Ein Gefühl so stürmischer, allumfassenden Glücks und Liebe durchpulste sie.
»Bin ich nicht schnell zurückgekommen?«, rief Hubertus. Seine klarblauen Augen strahlten.
Er neigte sich nieder und klopfte dem Setter den Rücken.
»Das ist Bella. Bella und ich sind gute Freunde. Und diese junge hübsche Dame dort, Bella, ist meine Liebste. Sei sehr nett zu ihr, ja?«
Der Setter blickte aus braunen Augen auf Diana und wedelte dann mit dem Schwanz.
Hubertus lief zum Wildbach, um sich die Hände zu waschen und stellte dann die Kanne mit der Milch in die Küche.
In aller Eile stellte Hubertus einen Grill auf Backsteinen auf und entfachte ein Holzkohlenfeuer. Danach bereitete er einen köstlichen Salat, der fertig wurde, als auch das Fleisch gar geworden war.
Sie aßen im Freien und tranken frische Milch dazu.
Danach streckten sie sich wieder in der Sonne aus.
»Es ist herrlich zu leben«, sagte Diana leise und berührte Hubertus’ Hand.
»Herrlich zu lieben«, fügte Hubertus ebenso leise hinzu.
*
Diana erlaubte sich nicht, an die Zukunft oder auch nur an den nächsten Tag zu denken. Sie lebte ganz der Minute, dem Augenblick.
Vielleicht ahnte sie schon, dass die Zeit, die sie sich ganz ihrer Liebe hingeben durfte, nur kurz sein würde.
Als es Nacht wurde, bereitete Hubertus sich sein Bett in der Hängematte und überließ Diana die Liege, auf der er sonst immer in der »Höhle« übernachtete.
Diana fand jedoch keinen Schlaf. Leise erhob sie sich und trat ins Freie.
Sie neigte sich über Hubertus. Das Licht des vollen Mondes beschien sein schmales, ein wenig blasses Gesicht mit den blonden Haaren.
»Schläfst du?«, hauchte sie.
Statt einer Antwort zog er sie am Arm ganz zu sich herab und küsste sie.
Sie legte sich zu ihm in die Hängematte. Es war eine warme, laue Nacht. Irgendwo schrie ein Käuzchen.
Sie sprachen nicht miteinander, bewegten sich nicht, sondern lagen ganz still.
Schließlich schliefen sie ein.
Hubertus erwachte, als der Tag begann. Vorsichtig, um Diana nicht aufzuwecken, erhob er sich aus der Hängematte und ging in die Höhle, um das Frühstück zu bereiten.
Als das Kaffeewasser kochte, schlug Diana die Augen auf.
Sie wusste sofort, wo sie war.
Ihr erster lächelnder Blick galt Hubertus, der in der Türöffnung stand. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er kam zu ihr, um sie zu küssen.
»Frühstück ist fertig, Liebling.«
Sie tranken frischgebrühten Kaffee und aßen geröstetes Brot.
»Danach streichen wir das Haus fertig«, bestimmte Diana. »Schließlich möchte ich nicht, dass du später sagst, ich halte dich von deiner Arbeit ab.«
»Also gut. Malen wir also.«
Der Tag verging ohne besondere Erlebnisse. Hubertus und Diana lebten ganz ihrer Liebe, ihrem Glück.
Wieder schliefen sie nachts gemeinsam in der großen Hängematte. Beglückt fühlte einer den Körper des anderen. Es war, als seien sie ein Mensch, als seien sie nur geboren, um einander zu finden.
Ein zweiter, ein dritter Tag verging.
Diana fragte sich nicht, wie lange sie schon bei Hubertus war. Sie dachte nicht an Friedrich von Großborn oder an ihren Vater.
Friedrich und ihr Vater gehörten zu einem Leben, das nichts mehr mit ihr gemein hatte. Ihr Leben war Hubertus, und in ihm und ihrer Liebe erfüllte sie sich selbst.
Am dritten Tag nach Dianas Ankunft in der »Höhle« kam ein jüngerer, etwas blasiert aussehender Mann den schmalen Weg hinunter, der durch die ungemähte Wiese führte.
Bella, die kaum noch von Hubertus’ und Dianas Seite wich, sprang dem Fremden laut bellend entgegen.
Der Blick des jungen Mannes ging von Diana zu Hubertus hinüber. Er kam näher.
»Sagen Sie, wohnt hier der Schreinermeister Wagner?«, fragte er und hielt den Blick unverwandt auf Diana geheftet.
»Nein, der wohnt hier nicht. Ich kenne ihn auch nicht«, entgegnete Hubertus kühl, denn der Fremde gefiel ihm überhaupt nicht.
Ein letztes Mal maß der Mann Diana von Kopf bis Fuß, als versuche er, sich jede Einzelheit ihrer Kleidung und ihres Aussehens genauestens einzuprägen.
Scham stieg in Diana bei diesem Blick auf. Sie trug eines von Hubertus Oberhemden und hatte die obersten drei Knöpfe offengelassen. Die Beine von Hubertus’ geflickten Jeans hatte sie hochgekrempelt. Sie trug keine Schuhe.
»Ich danke Ihnen. Und bitte entschuldigen Sie die Störung«, murmelte der Fremde fast unverständlich und wandte sich ab.
Bella wollte wieder hinter ihm her laufen, aber Hubertus rief sie zurück.
»Ich habe kein sehr gutes Gefühl«, sagte Diana leise.
»Ach, dieser Mann war wie ein kalter Schauer. Komm, Liebling, wir halten uns gegenseitig warm.«
Sie legten sich wieder ins Gras. Aber unbewusst horchte Diana immer auf einen Schritt, der sich ihr und Hubertus nähern könnte. Ein Gefühl, in Gefahr zu schweben, hatte sich ihrer bemächtigt.
Hubertus entging ihre Unruhe nicht.
»Was meinst du, wollen wir schwimmen gehen, Liebling?«, fragte er und fuhr mit seinen Fingern durch ihr dichtes schwarzes Lockenhaar.
»Ja.«
Sie liefen durch den Garten, den Wald, und kamen zum See. Bella, die an ihrer Seite hergesprungen war, warf sich als erste in das glasklare Wasser.
Diana und Hubertus folgten dem Hund.
Als sie zurückkehrten, zog ein frischer Wind auf.
»Ein Glück, dass ich zwei Pullover besitze, Diana.«
»Sonst hätten wir beide den gleichen Pullover angezogen. Ich hätte ganz dicht an dich herankriechen müssen und wir wären wie ein einziger Mensch gewesen.«
Plötzlich ergriff Hubertus Dianas Arm.
»Du, da sind Leute bei der Höhle.«
»Lass uns nicht weitergehen. Ich habe Angst. Bitte, bitte, Hubertus, bleib stehen.«
Zwischen Hubertus Augenbrauen hatte sich eine feine Falte gebildet. Ganz langsam ging er weiter. Sein Körper schien wie zum Sprung gespannt.
Diana fühlte, dass ihr Herz bis zum Halse klopfte. Wilde Panik hatte sie ergriffen. Sie spürte, dass Menschen in ihr Paradies eingedrungen waren, um sie und Hubertus zu vertreiben. Aber wer waren diese Menschen?
Als sie näherkamen, erkannten Diana und Hubertus den blasierten jungen Mann, der sich jedoch umwandte und den Garten in der entgegengesetzten Richtung wieder verließ.
»Mein Vater!«, rief Diana leise, als ein zweiter Mann hinter der Höhle hervortrat.
Hubertus blieb stehen und sah Diana voller Liebe und unendlicher Zärtlichkeit in die Augen. Er hob seine Hand, um eine ihrer Locken zurückzustreichen.
»Hab’ keine Angst, Liebling! Wir haben nichts Unrechtes getan. Ich werde deinen Vater bitten, für immer mit dir zusammenleben zu dürfen. Ich werde ihm sagen, dass ich für uns beide arbeiten kann. Geliebte, habe keine Angst.«
Aber Diana hatte eine Hand vor ihre Augen gelegt, als könne sie so die Tränen zurückhalten, die in ihr aufgestiegen waren
*
Dann standen sie sich gegenüber.
Fürst von Buchenhain und seine Tochter mit Hubertus.
Hubertus wollte zu sprechen beginnen. Mit einer herrischen Gebärde wies Fürst von Buchenhain ihn zurück.
»Diana, ich will hier nicht mit dir über dein Vergehen sprechen. Der Wagen wartet draußen auf dich.«
»Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle«, sagte Hubertus und streckte sein Kinn ein wenig vor. Er hatte einen Arm schützend um Dianas Schultern gelegt.
Fürst von Buchenhain maß ihn aus grauen kalten Augen. Der Abendwind fuhr durch sein dichtes dunkelblondes Haar, das von silbernen Strähnen durchzogen war.
»Sie brauchen sich nicht vorzustellen, Graf. Ich weiß, wer Sie sind. Diana, du hast gehört, was ich dir gesagt habe.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Vater, ich bleibe hier bei Hubertus. Ich bin frei, und ich werde nicht mit dir kommen.«
Fürst von Buchenhain tat, als habe er nichts gehört.
Mit schneidender Kälte fuhr er Hubertus an: »Nehmen Sie Ihren Arm von der Schulter meiner Tochter, Graf! Wenn meine Tochter sich auch nicht wie eine Prinzessin benommen hat, so verlange ich, dass ihr in meiner Gegenwart die Achtung entgegengebracht wird, die ihr ihrer Stellung nach zusteht.«
Unwillkürlich hatte Hubertus seinen Arm fortgenommen.
Ohne jegliche Angst entgegnete er: »Ich wusste nicht, dass Diana einen Titel besitzt. Aber ich bin sicher, Fürst, dass es nichts daran geändert hätte. An unserer Liebe, Fürst. Sicherlich ist hier nicht der richtige Ort, aber ich habe keine andere Wahl. Ich möchte Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten, Fürst.«
Fürst von Buchenhains Nasenflügel bebten. Seine Lippen waren ganz schmal geworden. Er sah auf Hubertus’ zerlumpte Hosen, sein Hemd, an dem die Knöpfe fehlten.
»Sind Sie nicht ein wenig vermessen, junger Mann?«, fragte er leise und schneidend.
»Ich bin jung, Fürst, und ich habe noch ein Leben vor mir. Diana wird sich meiner nicht zu schämen brauchen.«
»Sie sind nicht nur jung, sondern auch von einer krankhaften Anmaßung und ungehörigem Stolz besessen, Graf.«
»Vater, du wirst Hubertus und mich nicht trennen können! Nie, nie, Vater!«, rief Diana. In ihren Augen schimmerten Tränen.
Der Fürst sog tief Luft ein. Er
hasste diesen jungen Mann, den zu lieben seine Tochter glaubte. Hätte er ihn vernichten können, er hätte es getan.
Blitzschnell und kalt änderte der Fürst seinen Plan. Es galt, an das Ehrgefühl des Grafen zu appellieren.
»Sie werden sicherlich nicht wünschen, Graf«, fuhr er ein wenig verbindlicher fort, »dass meine Tochter sich mit ihrem Elternhaus entzweit. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihren Antrag sehr wohl prüfen werde. Denn es ist selbstverständlich auch mein Wunsch, dass meine Tochter ein glückliches Leben führt. Ich bitte Sie deshalb höflich, am folgenden Sonntag nach Schloss Buchenhain zu kommen. Meine Tochter und ich werden Sie dann empfangen.«
Ein kleines Lächeln erschien auf Hubertus’ Gesicht. Ihm war nicht der leiseste Gedanke an Verrat gekommen.
»Vater, mein Entschluss wird sich niemals ändern. Ich werde am Sonntag nicht anderer Meinung sein. Hubertus von Homberg ist ein ehrenhafter Mensch, und ich liebe ihn, Vater. Nein, ich komme nicht mit dir«, rief Diana.
Hubertus legte seine rechte Hand leicht auf ihren bloßen Arm.
»Es wäre mir lieb, Diana, wenn wir dem Wunsch deines Vaters nachkommen würden. Wir werden nur für ein paar Tage getrennt bleiben.«
Sie blickte zu Boden. Sie hatte Angst, entsetzliche Angst.
Ihr Vater deutete eine Verneigung gegen Hubertus an.
»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Fürst«, sagte Hubertus ernst und stolz. Auch er verneigte sich vor Dianas Vater.
Er hatte viel von ihm gehört, dem Fürsten von Buchenhain. Kalt, hart und unbestechlich hatte Hubertus’ Vater, der Graf von Homberg, ihn einmal genannt. Die schwarzhaarige Frau auf dem kleinen Gemälde im Salon von Hubertus’ Mutter war die Fürstin von Buchenhain gewesen, Dianas Mutter.
Hubertus spürte, dass es ein Geheimnis gab, von dem weder er noch Diana etwas wussten. Wann war die Feindschaft zwischen den Grafen von Homberg und dem Fürstenhaus von Buchenhain entstanden? Woher kam das kleine Gemälde, das Dianas Mutter darstellte?
Er wollte dieses Gemälde ergründen, denn Diana war ein Teil dieses Geheimnisses.
Der Fürst hatte sich abgewandt.
»Lauf, Diana. Ich komme und hole dich«, sagte Hubertus ganz leise. Sie vermochte nur zu nicken. Sie konnte nicht daran glauben, dass alles gut werden würde. Ihr Vater hatte noch niemals von einem zuvor gefassten Plan abgelassen.
»Lebe wohl, bis wir uns wiedersehen, Hubertus!«
Er strich mit einer raschen, zärtlichen Geste über ihre Wangen, und Diana folgte ihrem Vater. Sie wandte sich kein einziges Mal nach Hubertus um.
An der Gabelung des Sandwegs zur Asphaltstraße stand der schwarze Mercedes des Fürsten. Davor hatte ein kleines gelbes Auto geparkt, in dem der junge, blasierte Mann saß.
Als er den Fürsten und seine Tochter herankommen sah, startete er den Motor seines Wagens und fuhr fort.
Der Chauffeur im schwarzen Mercedes grüßte Diana höflich und machte ein Gesicht, als sei überhaupt nichts Außergewöhnliches vorgefallen.
»Fürst von Großborn lebt seit zwei Tagen auf Buchenhain«, sagte Dianas Vater, als Schloss Buchenhain vor ihnen auftauchte.
Diana wurde noch bleicher und blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Weshalb erwähnte ihr Vater den jungen Fürsten, nachdem er Hubertus das Versprechen gegeben hatte, ihn am kommenden Sonntag zu empfangen?
Der Wagen parkte auf dem Sandstreifen, der zwischen der kurzen Freitreppe zum Hauptschloss und dem Wasserbassin lag.
»Bitte kleide dich um und komme in mein Arbeitszimmer, Diana«, befahl der Fürst.
Diana eilte in ihr Zimmer und zog Hubertus’ Hose und sein Hemd aus. Dann presste sie ihre Lippen auf diese Kleidungsstücke, die Hubertus vor ihr getragen hatte und versteckte sie in einer Schublade in ihrem Schlafzimmerschrank.
Sie ließ Wasser in die rosafarbene Badewanne laufen, legte sich hinein und schloss die Augen. Diana wusste, dass ihr Vater und Fürst von Großborn sie erwarteten. Aber sie fand nicht die Kraft, zu ihnen zu gehen.
Nach dem ausgedehnten Bad kleidete sich Diana an. Sie wählte ein schlichtes, langes Kleid aus roter Rohseide, das bis zu ihren Fesseln reichte.
Es klopfte an die Tür.
»Ja bitte?«
Der Sekretär des Fürsten trat ein. Die Prinzessin möge bitte nicht vergessen, dass Ihr Vater und Fürst von Großborn im Arbeitszimmer des Fürsten auf sie warteten.
»Nein, ich habe es nicht vergessen. Danke«, erwiderte Diana.
Es dämmerte bereits, als Diana das Arbeitszimmer ihres Vaters betrat.
Fürst von Buchenhain legte gerade den Hörer des Telefonapparates auf die Gabel zurück. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck von Befriedigung zu erkennen.
Friedrich von Großborn stand neben dem Fenster und verneigte sich stumm.
Diana erwiderte seinen wortlosen Gruß durch ein Neigen ihres Kopfes.
»Ich wollte Ihnen nur vergewissern, Prinzessin, dass ich meine Absichten, Sie um Ihre Hand zu bitten, nicht geändert habe«, sagte Friedrich von Großborn und sah Diana dabei mit einer gewissen Starre in die Augen.
Danach wandte Friedrich von Großborn sich an Fürst von Buchenhain. »Bitte entschuldigen Sie mich, Fürst. Ich bin sehr erleichtert und möchte heute nach Großborn zurückkehren.«
»Ich danke Ihnen, Fürst«, erwiderte Dianas Vater und führte seinen Gast, nachdem dieser sich förmlich von seiner Tochter verabschiedet hatte, aus dem Zimmer. Er geleitete ihn zu seinem Wagen.
*
Nach seiner Rückkehr ins Arbeitszimmer zündete Fürst von Buchenhain alle Leuchter im Raum an.
Mit auf dem Rücken verschränkten Armen stellte er sich vor Diana. Diese Haltung ihres Vater hatte für Diana immer etwas Furchteinflößendes gehabt, als sie noch ein Kind gewesen war. An diesem Abend empfand sie jedoch keine Angst. Ihre Liebe hatte sie sicher gemacht.
»Ich habe vorhin mit Graf von Homberg gesprochen, Diana«, begann Fürst von Buchenhain und maß seine Tochter mit aufmerksamen Blicken.
»Hubertus hat sich mit seinen Eltern entzweit, Vater.«
»Ich weiß es seit langem. Ich muss ein wenig ausholen, mein Kind. Deine Mutter ist eine entfernte Verwandte der Gräfin von Homberg. Man kann sagen, sie liebten einander wie Schwestern.
Ich hatte deine Mutter übrigens bei einem Besuch auf dem Gut des Grafen kennengelernt. Sie verbrachte damals vier Wochen in Deutschland.
Schon bei jenem ersten Besuch entging mir nicht, dass Graf von Homberg – der übrigens einen sehr zweifelhaften Ruf als Frauenheld hatte und bereits verheiratet war – sich um deine Mutter bewarb. Ich brauche nicht zu betonen, dass deine Mutter über jeden Zweifel an ihrer Tugend erhaben war.
Da ich deine Mutter liebte und auch, um sie vor den – übertriebenen Referenzen – des Grafen zu bewahren, reifte in mir bald der Entschluss, sie als meine Frau nach Buchenhain zu führen.
Deine Mutter fühlte sich während der ersten Zeit hier ein wenig einsam, und ich gab schließlich ihren Bitten nach, die Gräfin und Graf von Homberg nach Buchenhain zu laden. Der Besuch wurde wiederholt.«
Der Fürst brach ab, als könne er die Erinnerung nicht ertragen und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er fortfuhr: »Ich überraschte den Grafen dabei, wie er versuchte, deine Mutter zu küssen. Sie wehrte sich auf ihre scheue ein wenig verhaltene Art. Nun, was danach geschah, bedarf keiner langen Erzählung.
Gräfin und Graf von Homberg kamen nie wieder nach Buchenhain. Ich habe sie auch an anderen Orten nicht wiedergesehen, nur von ihnen gehört.
Die unselige Leidenschaft des Grafen für Frauen und sein Unvermögen, sein Erbe zusammenzuhalten, hat sich auf seine fünf Kinder übertragen.
Der Reichtum der Grafen von Homberg ist geschmolzen. Sie waren gezwungen, ihr Gut zu verkaufen und leben jetzt in ihrem Stadthaus.
Der älteste Sohn, so wurde mir berichtet, und davon konnte ich mich heute mit eigenen Augen überzeugen, soll ein Ebenbild seines Vaters sein. Graf von Homberg, wie er früher gewesen war. Inzwischen ist der alte Herr zur Vernunft gekommen und erkennt, welches Erbe er seinen Kindern überlassen hat.
Ich habe den Grafen gebeten, morgen nach Buchenhain zu kommen. Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt, Diana. Der Graf wird dir alles weitere erläutern.«
»Weshalb soll ich mit Graf von Homberg sprechen?«, fragte Diana. »Du weißt doch bereits, was er mir sagen wird, Vater.«
»Liebes Kind, übermäßige Gefühlsausbrüche schätze ich nicht.«
»Vater, ich weiß, dass Hubertus ein ehrenwerter und wertvoller Mensch ist. Er und ich – wir können doch nichts dafür, was in der Vergangenheit geschehen ist. Niemand und nichts wird mich davon abhalten können, mit Hubertus wegzugehen, wenn du mir am Sonntag immer noch verweigerst, seine Frau zu werden.«
Fürst von Buchenhain sah zu Boden. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund. Grausamkeit lag in diesem angedeuteten Lächeln. Die Grausamkeit eines Menschen, der seinen einmal als richtig erkannten Weg geht, wenn auch Menschen dabei sterben mochten.
»Du wirst dich jetzt sicherlich schlafen legen wollen, Diana.«
»Ja, Vater.«
»Dann gute Nacht.«
»Gute Nacht, Vater.«
Der Fürst hielt Diana seine Wange hin, und sie berührte sie flüchtig mit ihren Lippen.
*
Als Diana morgens aufstand, um sich anzukleiden, regnete es draußen in Strömen. Sie streckte eine Hand aus dem Fenster und ließ die Wassertropfen auf ihre Hand fallen.
Plötzlich sah sie ein beigefarbenes englisches Auto.
»Hubertus’ Vater!«, sagte Diana halblaut.
Sie kleidete sich mit fliegender Hast an. Vielleicht war es wichtig, dass sie Graf von Homberg begegnete, bevor ihr Vater mit ihm sprechen konnte und die Feindschaft zwischen beiden Männern wieder aufflammen konnte.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es bereits fast zehn Uhr war. So lange hatte sie geschlafen.
Sie lief über die Marmortreppe in die Halle.
Gerade als sie die unterste Stufe erreichte, trat Graf von Homberg ein.
Abrupt blieb er stehen und starrte auf Diana. Mit einer raschen Bewegung strich er sich über die Augen, als wolle er ein Bild verscheuchen.
Er kam zögernd näher.
»Prinzessin?«, fragte er mit der Stimme von Hubertus.
Diana versuchte zu lächeln. Sie fühlte, dass ihre Lippen zitterten.
»Ich bin Diana von Buchenhain. Und ich möchte, dass Sie in mir die Frau Ihres Sohnes und Ihre Tochter sehen können, Graf«, entgegnete sie.
Der Graf merkte, dass er noch immer ihre Hand festhielt.
»Ich bin etwas verwirrt«, sagte er leise.
Einen Augenblick lang hatte er wirklich geglaubt, Amalia käme auf ihn zu. Amalia, als sie zwanzig Jahre alt gewesen war. Amalia, die er so sehr geliebt hatte. Nie hatte der Graf erfahren, ob sie seine Liebe erwidert hatte.
»Sie sehen Ihrer verstorbenen Mutter sehr ähnlich.«
»So wie Hubertus Ihnen ähnelt, Graf.«
Sie lächelten einander an. Ein Band von Verstehen, von Zuneigung umschlang das junge Mädchen und den Grafen.
Diana wusste, dass Hubertus in einundzwanzig Jahren einmal so aussehen würde wie sein Vater. Durch sein dunkelblondes Haar würden sich dann auch silberne Strähnen ziehen, und sein schmales Gesicht wird von feinen Falten durchzogen sein.
Der Graf war eine überaus elegante Erscheinung. Er gehörte zu jenen Männern, die jede Frau, die einen großen Salon führt, gern zu ihren Gästen zählt.
Eine angeborene Liebenswürdigkeit und natürlicher Charme zeichnete den Grafen aus. Selbst wenn er wie jetzt ernst blickte, ging etwas Leichtes, Heiteres von ihm aus.
Er war ganz das Gegenteil des Fürsten von Buchenhain, für den Leichtigkeit Leichtsinn bedeutete und dessen Ernst manchmal bedrückend wirkte.
In dem Grafen von Homberg erkannte Diana einen Menschen, der niemals verurteilte, der alles verstand. So wie Hubertus.
Der Graf lächelte nun, wobei er seine blendend weißen Zähne zeigte. »Prinzessin, ich bin trotz allem glücklich, Ihnen begegnet zu sein. Es ist ganz so, als ob ein Traum noch einmal Wirklichkeit geworden ist.«
In diesem Augenblick trat Fürst von Buchenhain in die Halle. Sein Gesicht wirkte wie versteinert, und seine Bewegungen hatten etwas Militärisches an sich.
»Sie sind zeitig gekommen, Graf von Homberg. Ich bin Ihnen dafür Dank schuldig«, begrüßte er seinen Gast steif.
Der Graf deutete eine Verbeugung an.
»Sie haben sich während der vergangenen zwanzig Jahre nicht verändert, Fürst«, entgegnete er.
Diana wusste nicht zu sagen, ob Spott in seinen Worten mitschwang.
Sie traten in den Goldenen Salon.
»Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen lassen, Graf?«, fragte Fürst von Buchenhain.
»Nein, danke, Fürst. Ich habe unterwegs in einem Gasthaus gefrühstückt.«
Die Blicke beider Männer richteten sich auf Diana. Sie aber sah nur Graf von Homberg an, als dürfe sie von ihm allein die Erfüllung ihrer Hoffnungen erwarten.
*
»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Graf«, bat Fürst von Buchenhain.
»Ich möchte lieber stehen bleiben, Fürst.«
Mit jener raschen Gebärde, die auch Hubertus an sich hatte, strich der Graf sich das Haar zurück.
Fürst von Buchenhain räusperte sich und sagte dann zu seiner Tochter: »Diana, Graf von Homberg wird dich über das mit seinem Sohn geführte Gespräch unterrichten.«
»Sie haben Hubertus aufgesucht, Graf?«, fragte Diana, während heiße Röte in ihr Gesicht stieg.
»Ja. Gestern abend war ich bei meinem ältesten Sohn. Es ist Ihnen sicherlich bekannt, dass mein Sohn sein Elternhaus vor etwa einem Jahr verlassen hat, um sich als freier Künstler zu betätigen. Es war mir damals nicht gelungen, Hubertus zu bewegen, sein begonnenes Studium der Medizin fortzusetzen. Leider kam es über dieser Auseinandersetzung zu einer Entzweiung zwischen meinem Sohn und mir. Seit damals unterstützte ich Hubertus, wenn auch nur in geringem Maße.«
Dem Grafen war anzumerken, wie schwer es ihm fiel, den strengen Vater darzustellen.
Unzweifelhaft war damals seine Empörung und auch Erbitterung echt gewesen, als Hubertus ihm mitgeteilt hatte, dass er als freier Schriftsteller arbeiten werde. Der Graf wusste aus eigener Erfahrung, wie wichtig es war, einen soliden Beruf zu erlernen.
»Ich weiß, dass Hubertus ein bedeutender Schriftsteller sein wird«, sagte Diana mit aller Festigkeit. Ihre schwarzen Augen leuchteten, und ihre Wangen glühten.
Der Graf neigte den Kopf.
»Was hat Ihr Sohn auf Ihre Ausführungen geantwortet, Graf?«, fragte Fürst von Buchenhain den Grafen, als ob er mit einem Angeklagten sprechen würde.
Der Graf holte tief Atem.
»Mein Sohn stimmte mir bei, dass eine Verbindung zwischen der jungen Prinzessin und ihm keinerlei Grundlagen besitzt. Er…«
Diana stieß einen kleinen spitzen Ruf aus. Unwillkürlich ging sie zwei, drei Schritte auf den Grafen zu.
»Das kann nicht sein! Das glaube ich nicht!«, rief sie.
Der Graf zuckte unmerklich zusammen.
»Ihr Sohn wird also am kommenden Sonntag nicht nach Buchenhain kommen, Graf?«, wollte der Fürst wissen.
»Nein. Hubertus ist ins Ausland gereist. Heute früh.«
»Nein – nein, das ist nicht wahr!« Tränen schimmerten in Dianas Augen. Es waren Tränen der Empörung über diese beiden alten Männer, die gewagt hatten, über ihr Leben und das von Hubertus zu entscheiden.
»Wie lange wird Ihr Sohn sich im Ausland aufhalten, Graf?«
»Er wird Deutschland nicht wieder betreten, bis ich es ihm erlaube.«
»Gut.«
Diana warf den Kopf mit ungebärdiger Bewegung in den Nacken.
»Wie häßlich Sie sind, Graf! Und wie furchtbar du bist, Vater! Ihr tut, als seid ihr allmächtige Richter! Aber ihr seid alt, böse und verdorben!«
»Diana!«
»Ja, verdorben und böse!«
Der Fürst ging mit raschen Schritten auf seine Tochter zu und ergriff ihre Arme. Seine grauen Augen waren eiskalt und hart.
»Böse seid ihr«, stieß Diana schluchzend hervor.
Ihr Vater schüttelte sie.
»Geh auf dein Zimmer! Graf, Sie müssen meine Tochter entschuldigen! Sie weiß nicht mehr, was sie sagt!«
»O doch, ich weiß es. Und ich wiederhole es tausendmal! Weil ihr selbst kein Glück mehr empfinden könnt, erlaubt ihr auch uns nicht, glücklich zu sein! Ihr denkt nur an Geld, an Macht! Ihr habt Hubertus belogen, wie ihr mich belogen habt! Hinterhältig war das und böse.«
»Diana!«
Das Mädchen wurde plötzlich ganz ruhig. Ihr Gesicht zeigte unter dem olivfarbenen Ton eine bleiche Farbe. Sie richtete ihren tränenumschleierten Blick auf Graf Homberg.
»Ich hatte Sie für einen aufrichtigen Menschen gehalten, Graf!«
Graf von Homberg fuhr mit der Hand durch sein Haar. Er wollte etwas entgegnen, schloss jedoch seinen Mund und sah zur Seite.
Diana ging an dem Grafen und an ihrem Vater vorüber und verließ den Goldenen Salon, ohne ein Wort des Abschieds gesagt zu haben.
Sie trat in den Park, dessen Wege von dem langen, nächtlichen Regen aufgeweicht worden waren.
Bald war sie bis auf die Haut durchnäßt. Es tat gut, den Regen auf der Haut zu spüren. Der Regen vermischte sich mit Dianas Tränen und rann an ihr herunter.
Am Ende des Parks stand eine junge Buche. Diana umschlang sie mit ihren Armen und presste ihr Gesicht gegen den feuchten Stamm des Baumes.
Während ihrer Kindheit war sie oft einsam gewesen, denn ihr Vater hatte sie abgesondert von anderen Kindern erziehen lassen. In ihrer kindlichen Einsamkeit hatte sie damals von der Hoffnung gelebt, dass alles anders werden würde, wenn sie erst einmal erwachsen war.
An diesem Tag erkannte sie, dass ihre Einsamkeit niemals ein Ende nehmen würde. Sie wünschte sich zu sterben, wie ihre Mutter damals gestorben war.
Hubertus hatte ihr gezeigt, was Leben bedeuten konnte. Leben, das war Liebe, war Hingabe und auch Glück, das einer dem anderen schenkte. Einsamkeit war der Tod, war das Gegenteil von Liebe und Leben.
Hubertus’ Vater und Dianas eigener Vater hatten sie zur Einsamkeit verurteilt, ohne zu ahnen, welche Grausamkeit sie begingen.
Diana begann zu frieren. Aber noch wollte sie nicht zum Schloss zurückkehren.
Erst als ein Schüttelfrost sie ergriff, wandte sie sich um.
Ihre Zofe, ein stilles junges Mädchen, stieß einen kleinen Schrei aus, als sie Diana erblickte.
»Sie haben sich erkältet. Hoffentlich haben Sie sich keine Lungenentzündung geholt. Erlauben Sie, dass ich ein Bad einlaufen lasse?«
Diana ließ alles über sich ergehen. Sie war müde, furchtbar müde. Als sie im warmen Badewasser lag, fielen ihr fast die Augen zu.
Die Zofe hatte ihr Bett inzwischen angewärmt.
Sie breitete die seidene Decke über Diana und lief in die Küche, um bei der Köchin eine heiße Fleischbrühe zu bestellen.
»Ist sie jetzt auch noch krank geworden, die kleine Prinzessin?«, fragte die Köchin.
»Ich befürchte fast…«
»Ist ja auch kein Leben, das sie führt, das junge Ding. Lassen Sie es sich sagen! Seit dreißig Jahren bin ich hier auf Schloss Buchenhain. Aber richtig aufgeatmet habe ich immer nur, wenn ich zu Hause im Dorf in meinen eigenen vier Wänden gewesen bin.«
Als habe sie schon viel zu viel gesagt, kniff die Köchin ihre Lippen aufeinander und stellte eine Tasse mit Fleischbrühe auf ein silbernes Tablett.
Die Zofe kam zurück in Dianas Schlafzimmer.
Diese richtete ihre fieberhaften Augen auf die junge Bedienstete. »Mein Vater darf nicht erfahren, dass ich mich ein wenig unwohl fühle«, bat sie mit matter Stimme.
Verwirrt schüttelte die Zofe den Kopf. Sie hätte am liebsten geweint vor Mitleid mit der jungen Prinzessin, obwohl sie gar nicht wusste, weshalb sie so krank und traurig aussah.
*
Vier Tage lang blieb Diana im Bett. Sie wurde von Fieberschauern geschüttelt.
Als sie endlich wieder aufstehen konnte, war sie mager geworden und ihr Gesicht zeigte eine krankhaft weiße Farbe. Aber nicht nur die Farbe, auch der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich verändert.
Ein oberflächlicher Betrachter hätte die junge Prinzessin vielleicht als »gereift« bezeichnet, während in Wahrheit nur ihre Lebensfreude gestorben war. Ihre schwarzen Augen leuchteten nicht mehr, und das Lächeln, das sonst um ihren Mund gelegen hatte, war verschwunden.
Fürst von Buchenhain begleitete seine Tochter bei einem ersten Spaziergang durch den Park. Es herrschte mildes Sommerwetter.
Neben einer der Terrakottafiguren, die einen harfespielenden Engel darstellte, blieb der Fürst stehen.
»Diana, ich möchte dich nicht überanstrengen. Gleichwohl bitte ich dich zu überlegen, ob Fürst Friedrich von Großborn nicht nach wie vor der Mensch ist, der dich durch alle Wirrnisse, die das Leben mit sich bringt, begleiten und beschützen kann.«
Diana sah ihren Vater gerade an.
»Ja, Vater.«
»Du – du meinst, ich sollte den Fürsten nach Buchenhain einladen?« Die Miene des Fürsten drückte Ungläubigkeit aus. Einen so raschen Erfolg hatte er nicht erwartet. Er hatte mit Widerstand gerechnet.
»Wenn du es möchtest, Vater, gib meine Verlobung mit dem Fürsten bekannt.«
Vielleicht überlegte Dianas Vater sogar einen Augenblick lang, ob seine Tochter noch unter Fieber litt, denn ihr Entschluss war so überraschend, dass er meinte, er könne nicht das Ergebnis eines Wunsches oder einer Überlegung sein.
»Ich freue mich natürlich über deinen Entschluss, Diana. Vielleicht fühlst du dich aber noch nicht ganz wohl, und wir wollen noch ein wenig warten?«
»Nein, Vater, ich möchte nicht warten.«
Diana sah zur gegenüberliegenden Seite des Bassins hin.
Sie musste fast lächeln über ihren Vater. Ihre Zustimmung hatte ihn ganz verwirrt.
Dabei – als ob es nicht gleichgültig war, wen sie heiratete. Ob Friedrich von Großborn oder einen anderen jungen Adeligen. Sie waren einander so ähnlich. In ihrem Benehmen, in dem, was sie sagten, manchmal sogar in ihrem Aussehen.
»Ich werde den Fürsten heute noch anrufen und ihn bitten, uns einen Besuch abzustatten«, sagte Fürst von Buchenhain.
In seiner Freude fühlte er sich versucht, seiner Tochter über das Haar zu streichen. In dieser Stunde hätte er ihr jeden Wunsch erfüllt, wenn sie ihn geäußert hätte. Außer dem einen.
Sie gingen zurück zum Schloss, und der Fürst begab sich sofort in sein Arbeitszimmer, um Friedrich von Großborn anzurufen. Der Fürst hatte gerade einen Ruf ans Landgericht erhalten, was ihn in den Augen Fürst von Buchenhains noch wertvoller machte. War das Landgericht nicht ein gutes Sprungbrett für eine breitangelegte berufliche Karriere?
Fürst Friedrich von Großborn versprach nach einem kurzen Gespräch, noch am Abend des gleichen Tages nach Schloss Buchenhain zu kommen.
»Ich habe nie einen Zweifel gehegt, dass Diana sich so entscheiden wird«, fügte er hinzu.
Fürst von Buchenhain begab sich persönlich in die Küche, um mit der Köchin das Menü für den Abend durchzusprechen.
Die Köchin war über sein Erscheinen so verwirrt, dass sie sogar zu stottern begann. Seit über fünfundzwanzig Jahren hatte der Fürst die Küche nicht mehr betreten. Es musste also schon ein ganz besonderes Ereignis bevorstehen, das ihn veranlasste, die abendliche Mahlzeit mit so viel Sorgfalt auszuwählen.
Sie einigten sich auf eine Krebsschwanzsuppe als Vorspeise. Saltimbocca a la Romana mit selbstgefertigter Pasta sollte das Hauptgericht bilden. Davor gab es Fisch, der noch am gleichen Tag in einem der Teiche, die zum Schlossbesitz gehörten, geangelt werden sollte.
In allerbester Stimmung hielt der Fürst nach seinem Besuch in der Küche ein langes Gespräch mit seinem Forstmeister, und als er auf die Uhr sah, war es Zeit, sich umzukleiden.
*
Pünktlich um acht, keine Minute zu früh und keine Minute zu spät, konnte er Fürst Friedrich von Großborn in der Bibliothek begrüßen.
»Meine Tochter wird sogleich erscheinen«, sagte Fürst von Buchenhain, und kaum hatte er es ausgesprochen, als Diana in die Bibliothek trat.
Sie trug ein hellgelbes Kleid mit einem breiten goldenen Gürtel. Ihre Bewegungen waren seltsam gemessen.
Sie begrüßte ihren Vater und den Gast sehr höflich.
Friedrich von Großborn reichte ihr ein kleines Kästchen und sagte, dass er keine Blume gefunden habe, die schön genug gewesen war, um sie ihr mitzubringen. Deshalb habe er etwas anderes ausgesucht.
Diana öffnete das rubinrote Kästchen und fand darin eine kostbare Brosche aus Weißgold mit Diamantsplittern, die zu mehreren kleinen Maiglöckchen verarbeitet worden waren.
»Ich danke Ihnen für Ihr Geschenk, Fürst. Es erscheint mir jedoch als etwas zu kostbar«, sagte Diana ohne zu lächeln.
»Es gibt kein Geschenk, das für Sie zu kostbar sein könnte, Prinzessin! Wenn ich Ihnen eine kleine Freude bereiten konnte, bin ich glücklich.«
Diana antwortete nicht darauf. Sie liebte Schmuck nicht besonders und gehörte auch zu jenen Frauen, die in schlichter Kleidung ohne Schmuck am schönsten wirken.
Sie gingen in das kleine Speisezimmer. Zu dem ausgesuchten Menü, das der junge Fürst sehr lobte, ließ Fürst von Buchenhain sehr alten Wein reichen, von dem er nur noch wenige Flaschen besaß.
Diana spürte, wie ihr der Wein zu Kopf stieg.
Beim Dessert – es gab flambierte Früchte mit Vanilleeis – legte Diana ihr Besteck beiseite und sagte unvermittelt zu Friedrich von Großborn: »Fürst, mein Vater hat Sie sicherlich schon von der Änderung meines Entschlusses unterrichtet?«
Der junge Fürst war so überrascht, dass er zuerst gar keine Worte fand. Diana versetzte ihn immer wieder in Erstaunen durch ihre plötzlichen Einfälle oder Launen, wie er es nannte.
»Ja, Ihr Herr Vater hat etwas über das Gespräch, das Sie heute nachmittag geführt haben, angedeutet.«
»Ich hoffe, Sie sind nun nicht unschlüssig geworden, Fürst?« Spott klang nun unverhohlen aus Dianas Worten.
Welch ein Theater spielten sie sich gegenseitig vor. Wie unwirklich war diese Welt, in der sie aufgewachsen und erzogen worden war.
»Ich habe nie daran gezweifelt, dass Sie und ich Seite an Seite vor den Altar treten würden, Prinzessin«, erwiderte Friedrich.
»Nie? Wirklich nie, Fürst?«
»Diana«, wies ihr Vater sie zurecht.
Der junge Fürst lächelte beschwichtigend.
»Ich bin nicht wankelmütig. Diese Eigenschaft – zu einem Wort zu stehen und es auszufüllen – möchte ich Ihnen ein Leben lang beweisen.«
Diana fröstelte.
»Fürchten Sie sich nicht auch ein wenig vor dem Wort ›ein Leben lang‹, Fürst?«
»Es ist ein beglückender Ausdruck. So wie alles Dauerhafte beglückend ist.«
Diana sah ihren Vater an.
»Vater, ich fühle mich noch immer ein wenig schwach. Würdest du und würden Sie, Fürst, mich entschuldigen, wenn ich mich auf mein Zimmer begebe?«
»Sie fühlen sich nicht wohl, Diana?«, fragte Friedrich mit gespieltem Erschrecken.
»Ich war krank. Hat mein Vater Ihnen das verschwiegen, Fürst?«
Friedrich hüstelte.
»Ich wusste nichts Genaues darüber. Selbstverständlich verstehe ich aber, dass Sie sich jetzt ausruhen wollen.«
»Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis, Fürst. Und Sie stimmen mir sicher zu, dass wir unsere Verlobung sobald wie möglich bekanntgeben sollten?«
»Darin stimme ich völlig mit Ihnen überein. Morgen bitte ich meine Mutter, die Gästeliste zusammenzustellen und Ihre Gästeliste hinzuzufügen.«
»Gute Nacht, Fürst, gute Nacht, Vater!«
Die beiden Männer geleiteten Diana bis zum angrenzenden Salon und begaben sich dann wieder in die Bibliothek, um alles Geschäftliche zu besprechen, was mit einer derartigen Verbindung ihrer Geschlechter und deren Güter zusammenhing.
*
Die Verlobung Dianas von Buchenhain mit Fürst Friedrich von Großborn wurde vier Wochen später auf Schloss Großborn gefeiert.
Über fünfzig Gäste waren geladen worden.
Die alte Fürstin von Großborn beobachtete ihre zukünftige Schwiegertochter mit scharfen Vogelaugen. Sobald das junge Ding auf Großborn eingezogen sein würde, wollte sie sie in ihrem Sinne umerziehen.
Diana war allzu eigenwillig, um eine wirklich gute Ehefrau sein zu können. In allem drückte sich dieser Eigensinn, diese Extravaganz, aus: In ihrer Art sich zu kleiden, der Freiheit ihres Benehmens.
Nach der Meinung der alten Fürstin war es richtig, wenn eine Frau sich ihrem Mann unterordnete. Und ordnete sich Diana vielleicht ihrem zukünftigen Mann unter?
Diana spürte, dass jede ihrer Bewegungen und jedes Wort aufgenommen und weitergegeben wurde. Nie hatte sie sich so unfrei gefühlt.
Inmitten dieser Menschen gab es niemanden, zu dem sie Vertrauen hatte. Niemand, der sie ihrer selbst wegen lieben würde. Jeder sah in ihr die Fürstin, die Erbin zweier Schlösser. Keiner fragte danach, wie es in ihrem Herzen aussehen mochte.
Noch nie hatte Diana so stark an ihre Mutter gedacht wie an diesem Tag. Vielleicht hätte ihre Mutter sie verstanden, nachdem sie doch ähnliches erlitten hatte.
Diana spürte, dass ihr Vater, ihr zukünftiger Ehemann, die alte Fürstin von Großborn und die Gäste von ihr etwas erwarteten, was sie nicht aus ihrem Innern heraus geben und sein konnte.
Ihre Unsicherheit wurde so stark, dass sie versuchte, vor ihrer Familie und ihren Gästen zu fliehen.
Es war nach dem Abendessen, das in dem riesigen, kargen Saal stattgefunden hatte, als Diana Kopfschmerzen vorschützte und Friedrich angab, dass sie sich für ein paar Minuten in das ihr zugewiesene Gästezimmer begeben werde.
»Warten Sie noch, Diana. Unsere Gäste könnten sich brüskiert fühlen«, raunte Friedrich ihr zu, während sie sich in das Musikzimmer begaben.
»Bitte, Friedrich«, entgegnete Diana schwach.
Die Lippen des jungen Fürsten wurden schmal. So dass niemand sie verstehen konnte, antwortete er leise: »Meine Mutter stand vor wenigen Jahren kurz vor einer schmerzhaften Kieferoperation. Die Schmerzen mussten unerträglich gewesen sein, und doch hatte sie ihre Pflichten als Hausherrin während einer Familienfeier erfüllt.«
Diana sah zur alten Fürstin hinüber, die ein Diener in ihrem Rollstuhl ins Musikzimmer gefahren hatte. Der Blick der Fürstin war so hart, so unbarmherzig, dass Diana erschauernd die Augen niederschlug.
Eine Kindheit und eine Jugend hindurch hatte sie sich vor ihrem Vater gefürchtet.
Nun empfand sie Angst vor der Mutter ihres zukünftigen Mannes. Würde sie sich jemals von ihrer Furcht vor unbeugsamen Menschen befreien können?
Diana blieb im Musikzimmer, bis die Sängerin ihre Schubert-Lieder beendet hatte.
Erst danach gelang ihr die Flucht in den Park, wo sie wenigstens fünf Minuten hindurch allein sein konnte.
Plötzlich hörte Diana Schritte hinter sich.
»Warte, Diana!«
Es war Friedrichs dünne Stimme.
Das Mädchen blieb stehen. Es hatte keinen Sinn, weiter zu fliehen. Er würde sie immer und überall einholen. Sie war seine Gefangene, sein Eigentum. Und Diana war zu erschöpft, um weiterhin gegen ihn aufzubegehren.
Sogleich war Friedrich bei ihr.
»Diana, wo willst du hin?« Ein Hauch von Zärtlichkeit, mehr aber noch Anklage, schwangen in seiner Frage mit.
»Ich weiß es nicht, frage mich nicht.«
Friedrich entschied sich, Dianas Flucht als eine ihrer kleinen Launen zu betrachten. Eine von den Launen, die er ihr nach ihrer Hochzeit austreiben würde.
»In wenigen Wochen sind wir Mann und Frau, Diana.«
»Ja.«
»Ich möchte, dass ich stolz auf Sie sein kann.«
Sie antwortete nicht.
Plötzlich und unerwartet presste Friedrich seine Lippen auf ihren Mund. Es war wie ein Überfall.
Instinktiv wehrte Diana ihn ab.
Er lächelte gezwungen. »Du küsst mich doch gern?«
»Ich – ich weiß es nicht.«
Sie hatte Angst, dass er sie noch einmal an sich pressen würde. Friedrich hatte seine Hände auf ihre bloßen Schultern gelegt. »Und ihn? Hast du ihn gern geküsst?«
Diana fühlte, dass sie innerlich ganz starr wurde.
»Hast du ihn gern geküsst?«, drang Friedrich weiter in sie. Hass klang jetzt aus seiner Stimme.
»Sprich nicht von ihm. Ich habe ihn vergessen«, antwortete Diana zitternd.
Niemals würde sie Friedrich etwas von dem preisgeben, was sie und Hubertus verbunden hatte. Sollte er denken, sie habe Hubertus wirklich vergessen. Sollte er denken, sie habe nur eine leichtsinnige Liebschaft erlebt.
Dass die wenigen Tage mit Hubertus ihr mehr bedeuteten als ihr ganzes Leben, würde Friedrich niemals erfahren.
»Wenn du ihn vergessen hast, weshalb zögerst du, mich zu küssen?«
»Ich zögere nicht«, flüsterte Diana und neigte ihren Kopf.
»Du Kind, wie unerfahren du bist«, sagte Friedrich ganz leise.
Diesmal zog er sie sanfter an sich heran, aber sein Kuss war genauso gierig wie beim ersten Mal.
Diana schloss die Augen, um nichts zu sehen.
»Wir wollen jetzt ›du‹ zueinander sagen«, meinte Friedrich, als sie sich voneinander lösten.
»Ja, Friedrich.«
»Die Gäste haben sicherlich dafür Verständnis, wenn wir für einige Minuten allein sein wollten, Diana. Jetzt wird es aber Zeit, zu ihnen zurückzukehren.«
»Ja, Friedrich.«
»Meine Mutter wird sich bald zurückziehen. Gib ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie den Großen Salon verläßt.«
»Ja, Friedrich.«
Sie traten zurück ins Schloss.
Friedrichs dünne Lippen umspielte ein kleines Lächeln, als er zu seiner Mutter blickte.
Die alte Fürstin erklärte gleich darauf, dass sie sich zur Ruhe begeben werde.
Diana trat neben ihren Rollstuhl und hauchte ihr einen Kuss auf die zerfurchten Wangen. Ein Ausdruck von Befriedigung glomm in den grauen Augen der alten Fürstin auf.
Eine Stunde lang musste Diana noch im Großen Salon bei den Gästen zubringen. Erst dann durfte sie sich in das Gästezimmer begeben, das für sie hergerichtet worden war.
Diana legte sich zu Bett, löschte die Lichter, schloss die Augen und zog noch die Decke über ihren Kopf.
*
Nach ihrer Verlobung begegnete Fürst von Buchenhain seiner Tochter mit größerer Aufmerksamkeit als jemals zuvor. Er fühlte wohl, dass Diana sich einer Pflicht gebeugt und nicht aus freiem Herzen gewählt hatte. Mit seiner Aufmerksamkeit drückte er ihr seine Dankbarkeit dafür aus.
Er schenkte Diana einen Flugschein nach Paris, damit sie dort bei einem der bekanntesten Modeschöpfer ihre Herbstgarderobe auswählen konnte.
Oder er übergab ihr den Schmuck, der seiner Frau gehört hatte, und davor jahrhundertelang im Besitz der Fürsten von Cragiola gewesen war.
Kleidung und Schmuck waren Diana jedoch gleichgültig geworden, und nur um ihren Vater nicht zu verletzen, reiste sie wirklich nach Paris und legte Teile des wertvollen Schmuckes an.
Einmal überraschte Diana ihren Vater dabei, wie er versunken über alten Briefen in der Bibliothek saß. Der Fürst zuckte zusammen, als er seine Tochter bemerkte.
Er wischte sich mit der Hand über die Augen. »Sieh nur diese Briefe«, sagte er und reichte Diana ein Schreiben, auf dessen Briefkopf eine Krone zu erkennen war.
Es war ein Liebesbrief, der niemals abgeschickt worden war. Die Großmutter des Fürsten hatte ihn an einen Mann gerichtet, den sie mit »Mein Herz, mein geliebter Kaspar«, ansprach.
Der Ehemann jener Großmutter hatte jedoch den Namen Wilhelm getragen.
In den Zeilen spiegelte sich die Sehnsucht einer Frau nach dem Geliebten wieder. Sie erzählte von ihrem Schmerz, von ihrer Qual, an der Seite eines ungeliebten Mannes leben zu müssen.
»Ich habe den Brief in diesem alten Gartenbuch gefunden«, sagte der Fürst und zeigte auf das geöffnete daliegende Buch. »Es ist seltsam, ich habe meine Großmutter als weißhaarige strenge Frau in Erinnerung behalten. Und dabei war sie auch einmal ein junges Mädchen gewesen, das… Ach, lassen wir das. Du siehst hübsch aus heute, Diana.«
Der Fürst erhob sich und schenkte seiner Tochter eines seiner seltenen Lächeln.
»Hast du dich so hübsch gemacht, weil Fürst von Großborn heute nach Buchenhain kommen will?«
Diana schlug die Augen nieder. Sie wusste selbst nicht zu sagen, was sie während der vergangenen zwei Wochen so verändert hatte. Eine Art Wunder vollzog sich in ihr.
Der Fürst erkannte, dass aus dem Mädchen Diana eine Frau geworden war. Ihre Bewegungen, ihre Art zu sprechen waren sanfter, weicher geworden. Er glaubte ihre Veränderung darauf zurückzuführen zu dürfen, dass Diana kurz vor ihrer Hochzeit stand und sich unbewusst innerlich auf diesen neuen Abschnitt in ihrem Leben freute. Mochte sie auch noch an dem jungen von Homberg hängen. Ihre Hochzeit war eine andere Sache. Welche junge Frau freute sich nicht auf ihre Hochzeit? Ach, es würde sich schon alles einlenken.
Der Fürst beruhigte sein Gewissen damit, dass er sich sagte, Diana wäre nicht so schön geworden, wenn sie wirklich so unglücklich sein würde.
Er strich mit scheuer Gebärde über den Arm seiner Tochter.
»Komm, wir können deinem jungen Fürsten ein kleines Stück entgegengehen. Er muss bald eintreffen. Es sei denn, er ist zum ersten Mal nicht pünktlich.«
Sie verließen das Schloss.
»Es fängt an, Herbst zu werden, Diana. Sieh nur, die Laubbäume bekommen schon bunte Blätter.«
»Sagt man nicht, dass Ehen, die im Frühjahr geschlossen werden, Liebesehen sind, Vater?«
Der Fürst zuckte kaum merklich die Achseln.
»Ein Ammenmärchen. Es gibt keine Liebesehen, sondern nur solche, die wohlüberlegt und solche, die leichtsinnig geschlossen werden.«
»So hättest du meine Mutter nicht geheiratet, wenn sie geringerer Abkunft gewesen wäre, Vater?«
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Fürsten wurde abweisend. Diana hatte an etwas gerührt, worüber nachzudenken er sich selbst nicht erlaubt hatte. Die Tatsache genügte, dass seine verstorbene Frau eine Fürstin von Caragiola gewesen war.
Sie kamen in die Nähe des hohen schmiedeeisernen Tores. Zwei steinerne Löwen, die ihre rechte Vordertatze auf eine riesige Kugel gelegt hatten, standen zu beiden Seiten des Tores.
Gerade als der Fürst gesagt hatte, dass sie umkehren wollten, um Fürst von Großborn im Schloss zu erwarten, sahen sie dessen grauen Wagen über die Allee, die vom Dorf nach Buchenhain führte, heranfahren.
»Ich habe auch gar nicht ernsthaft an seine Unpünktlichkeit glauben können«, meinte Fürst von Buchenhain mit Befriedigung.
Er eilte vor, um seinem Gast und zukünftigen Schwiegersohn eigenhändig das Tor zu öffnen.
Diana fühlte plötzlich, dass eine Art von Schwindel sie ergriff. Kalter Schweiß brach ihr aus.
Sie wollte sich schnell auf den Rasen setzen und versuchte noch, sich mit der Hand gegen den Stamm eines Baumes abzustützen.
Friedrich von Großborn hatte Dianas Schwanken sofort bemerkt. Aber bevor er sie auffangen konnte, war sie schon auf dem Rasen zusammengebrochen.
Auch Fürst von Buchenhain kam hinzugelaufen.
»Was – ich verstehe überhaupt nicht, wie das passieren konnte – eben ging es ihr noch so gut«, stammelte er.
Diana schlug die Augen auf. Sie hatte das Gefühl, als läge eine zentnerschwere Last auf ihr.
Friedrich von Großborn wischte ihr den kalten Schweiß mit einem weißen Taschentuch von der Stirn und bat sie, sich ganz still zu verhalten.
Diana war seine Nähe, aber auch seine Fürsorge unangenehm.
»Es war nichts als ein kleines Unwohlsein«, entgegnete sie und versuchte, sich aufzurichten.
Aber Friedrich hielt sie mit der Hand zurück.
»Bitte, bleib liegen, Diana. Ich fahre den Wagen hierher.« Er richtete seinen Blick auf Fürst von Buchenhain. »Fürst, Sie werden doch sicherlich sofort den Arzt benachrichtigen?«
»Es ist wirklich nichts. Ich fühle mich wohl, ganz wohl, so wie sonst«, versuchte Diana zu protestieren.
»Eine gesunde junge Frau wird nicht ohnmächtig. Ich möchte, dass der Arzt dich gründlich untersucht«, bestimmte Friedrich so entschieden, dass Diana erkannte, es hatte keinen Sinn, sich gegen seine Entscheidung aufzulehnen.
Er fuhr den Wagen heran und trug Diana auf den Rücksitz des Wagens. Fürst von Buchenhain hatte neben Friedrich Platz genommen.
Diana ließ es geschehen, dass Friedrich sie in ihr Schlafzimmer trug. Ihr Vater hatte seinem Sekretär den Auftrag gegeben, Professor von Wenck zu bitten, sofort ins Schloss zu kommen.
Diana kannte den Arzt seit ihrer frühesten Kindheit und hatte großes Vertrauen zu ihm. Der Professor wiederum fühlte sich dem Fürstenhaus sehr verbunden, denn schon sein Vater hatte den Mitgliedern des fürstlichen Hauses als Arzt beigestanden.
»Nun, kleine Prinzessin, was ist denn passiert?«, fragte der alte Professor und setzte sich auf die Kante von Dianas Bett.
Diana musste plötzlich weinen.
»Nunu – dann wein’ dich man erst einmal aus. Ja, ja.«
»Ich hab’ eigentlich gar nichts, Herr Professor«, brachte Diana unter Schluchzen hervor. »Ich bin nur so – so furchtbar traurig.«
»Das ist sehr schlimm, Prinzessin.«
»Ich möchte manchmal sterben, Herr Professor.«
»Mal sehen, ob wir dich nicht wieder froh machen können.«
Der Arzt untersuchte Diana gründlich, nickte dabei immer wieder und richtete sich schließlich auf.
»Sterben werden Sie nicht, Prinzessin. Noch lange nicht. Erst einmal werden Sie das neue Leben auf die Welt bringen, das Sie in sich tragen.«
Diana starrte den alten Arzt ungläubig an.
Der Arzt tätschelte ihre Hand.
»Ja, Sie erwarten ein Kind. Freuen Sie sich. Ich kenne viele Frauen, die sind sehr unglücklich, weil sie nie ein Kind zur Welt gebracht haben.«
Diana richtete sich auf und blickte zur Seite. Erst langsam nahm sie in sich auf, was der Arzt ihr gesagt hatte.
»Ein Kind«, murmelte sie.
Hubertus’ Kind. Das Kind ihrer wenigen, glücklichen Sommertage. Das Kind ihrer Hingabe.
Freude stieg in Diana auf und breitete sich in ihr aus.
Sie umschlang den alten Arzt plötzlich mit beiden Armen.
»Ich bin so glücklich, so schrecklich glücklich«, flüsterte sie.
Diana hatte das Empfinden, als wäre nun alle Qual vorüber. Als könnte sie niemand mehr verletzen.
Ein Kind, Hubertus’ Kind.
»Sagen Sie es nicht meinem Vater. Niemandem dürfen Sie es verraten, Herr Professor!«
Der Arzt lächelte und strich sich über seinen weißen Schnurrbart. »Ich freu’ mich mit Ihnen.«
Der Professor hatte seine Arzttasche gepackt. Als Diana ihm zum Abschied die Hand reichte, neigte er sich über sie, um sie zu küssen.
Kaum war die Tür hinter dem Arzt zugeschlagen, als Fürst Friedrich von Großborn eintrat.
»Du liegst nicht zu Bett?«, fragte er.
»Nein, Friedrich, denn ich bin nicht krank.«
»Das freut mich zu hören.«
Diana sah ihm in die Augen.
»Wir wollen zu meinem Vater gehen. Ich habe mit dir und meinem Vater zu sprechen.«
*
Fürst von Buchenhain hatte den Professor gerade im Kleinen Salon verabschiedet und wollte sich in die Zimmer seiner Tochter begeben, als Diana und Friedrich von Großborn in den Salon traten.
Dianas schwarze Augen leuchteten. Ihr Vater erkannte sofort, dass irgendetwas Außergewöhnliches mit ihr vorgegangen war.
»Professor von Wenck berichtete mir, dass er dir sein Versprechen gegeben habe, über die Ergebnisse seiner Untersuchung zu schweigen«, begann der Fürst.
»Ja, Vater. Ich wollte es dir und dir, Friedrich, selber sagen.«
Der Fürst sah seine Tochter mit Befremden an. Was sollte diese Geheimnistuerei, wenn es sich doch ganz offensichtlich nur um einen kleinen Ohnmachtsanfall gehandelt hatte? Der Fürst hasste Gespräche über Krankheiten und war in seinem ganzen Leben auch nicht einen einzigen Tag hindurch krank gewesen.
Er rechnete sich das als Verdienst an, denn er hielt Krankheiten für eine Schwäche.
Diana schlug die Augen nieder, lächelte kaum merklich, hob dann den Kopf und richtete ihren Blick auf ihren Vater.
»Vater, Friedrich! Professor von Wenck hat mir gesagt, dass ich ein Kind erwarte. Ich fühle, dass er sich nicht irrt.«
Fürst von Buchenhain war schneeweiß geworden. Gleich darauf schoss tiefe Röte in sein Gesicht. Drohend trat er einen Schritt auf seine Tochter zu.
Diana spürte, wie sie ganz ruhig wurde. Sie hatte alles gesagt, was gesagt werden musste. Was jetzt geschah, lag nicht mehr in ihrer Macht. Es war ihr auch gleichgültig geworden. Nur ihr Kind war noch wichtig.
»Es ist nicht anzunehmen, dass der Professor sich irrt«, meinte Fürst von Großborn leise, jedoch mit schneidender Schärfe.
Dianas Vater sah auf den jüngeren Mann, dessen Gesicht nicht ausdrückte, was er empfand. Plötzlich schlug er mit der Faust auf eines der kleinen Konsoltischchen.
»Lüge! Nichts als Lüge!«, schrie er.
Diana war eher erstaunt als erschrocken. Sie hatte nicht geglaubt, dass ihr Vater jemals seine Selbstbeherrschung und seine kalte Gelassenheit verlieren könnte.
Friedrich von Großborn nestelte an seiner Krawatte.
»Offensichtlich ist es keine Lüge, Fürst. Sie werden sicherlich verstehen, dass ich unter diesen Umständen nicht länger zu meinem Wort stehen kann.«
Fürst von Buchenhain schnaufte durch die Nase, als wollte er damit seine Verachtung für den jungen Fürsten ausdrücken.
»Entschuldigen Sie mich bitte, Fürst. Diana ...« Während er ihren Namen nannte, verneigte sich Friedrich von Großborn vor der jungen Dame.
Sie entgegnete kein Wort. Es war nur richtig so, dass er sie verließ und aus ihrem Leben trat, denn er hatte nie eine Bedeutung darin gehabt.
Bevor Friedrich sich abwenden konnte, hielt ihn die scharfe Stimme Fürst von Buchenhains zurück.
»Fürst! Sie werden schweigen?«
»Ich bin ein Mensch von Ehre, Fürst.«
»Ich verlasse mich auf Ihr Wort, Fürst von Großborn!«
Noch einmal verneigte sich Friedrich von Großborn knapp vor Diana, dann verließ er den Salon.
Kaum waren sie allein, als Fürst. von Buchenhain auf seine Tochter zuschritt und sie durchrüttelte, indem er beide Hände auf ihre schmalen Schultern gelegt hatte.
Sein Gesicht war wutverzerrt.
»Wie konntest du! Nie, noch nie ist in unserer Familie etwas Derartiges passiert! Und es wird auch nicht passieren! Nicht, so lange ich lebe! Nie!«
Ganz plötzlich ließ er von Diana ab.
»Geh!«, schrie er ihr zu und zeigte mit zitterndem, ausgestrecktem Arm auf die Tür.
Langsam ging Diana aus dem Salon. Noch immer wunderte sie sich darüber, dass sie nicht im mindesten Angst empfand.
Sie durchquerte die Halle, trat aus der großen Haupteingangstür und kam durch den wundervollen Arkadengang in den Park.
»Hubertus«, flüsterte sie.
Aber die Sehnsucht nach ihm war nicht mehr so zerstörend, nicht mehr so quälend. Ein Teil von ihm würde nun immer bei ihr bleiben. Sein Spiegelbild, sein Kind. In seinem Kind würde Diana ihn immer wieder erkennen können.
Sie hätte ihm gern von diesem Kind erzählt. Wo er nur war?
In diesem Augenblick nahm sie sich vor, nach Hubertus zu suchen. Und wenn sie ihm durch die ganze Welt folgen musste. Irgendwann würde sie ihn finden.
Sie wanderte weiter in den Park hinein. Die uralten Bäume, besonders die Zedern, von denen die ersten vor fünfhundert Jahren angepflanzt worden waren, erschienen ihr an diesem Tag in neuer Schönheit. Alle Herrlichkeit der Welt erschloss sich ihr.
Erst als es schon zu dunkeln begann, kehrte Diana ins Schloss zurück.
*
Während der folgenden Tage vermied Fürst von Buchenhain jede Begegnung mit seiner Tochter. Die Mahlzeiten ließ er sich im kleinen Zimmer servieren, das an seinen Arbeitsraum grenzte.
Diana aß allein in dem weißen Zimmer mit seinen wundervollen edlen Möbeln. Sie machte lange Spaziergänge im Park.
Während dieser Zeit hatte Diana das Empfinden, als müsse sie für die Zukunft vorsorgen. Zum ersten Male in ihrem Leben dachte sie daran, dass es vielleicht notwendig sein würde, ihren Lebensunterhalt für sich und ihr Kind selbst zu verdienen.
Sie erkannte aber bald, dass sie nichts gelernt hatte, was ihr die Freiheit geben würde, auf eigenen Füßen zu stehen. Sicher, sie verstand etwas von Musik, von Malerei, von Literatur. Sie konnte Konversation machen.
Aber sie war dazu erzogen worden, die verwöhnte Frau eines reichen Mannes zu sein.
Sie konnte mehrere Sprachen sprechen.
Und diese Fähigkeit wollte Diana ausbauen.
Aus der Bibliothek ihres Vaters lieh sie sich Bücher in italienischer, französischer, englischer und lateinischer Sprache aus.
Fremde Menschen hätten vielleicht behauptet, dass Diana jetzt, wo sie wusste, dass sie ein uneheliches Kind erwartete, die unsicherste und quälendste Zeit ihres Lebens verbrachte. Aber das stimmte nicht.
Nie hatte sie sich so sicher, so ausgeglichen gefühlt. Sie erkannte genau ihren Weg. Und sie würde diesen Weg gehen, ohne sich von ihm abbringen zu lassen.
Drei Wochen nach der ersten Untersuchung Professor von Wencks befand sich Diana am frühen Nachmittag wieder in der Schlossbibliothek. Sie stand auf der obersten Sprosse einer Leiter, weil sie nach Büchern in italienischer Sprache suchte, die sich auf dem obersten Absatz des riesigen Bücherschrankes befinden mussten.
Plötzlich hörte sie eine Tür klappen.
Sie blickte hinunter und erkannte Fürst Friedrich von Großborn.
Nachdem Diana schwieg, räusperte Friedrich von Großborn sich und sagte mit seltsam vibrierender Stimme: »Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen!«
»Ja.«
Sie stieg von der Leiter, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass sie nicht etwa eine Sprosse verfehlte und stürzte.
Friedrich legte seinen grauen Hut auf ein Stehpult und ging auf Diana zu.
Er nahm ihr mit nachsichtigem Lächeln das Buch aus der Hand.
»Du wunderst dich sicherlich, dass ich gekommen bin?«
»Nein. Ist das so außergewöhnlich, Friedrich?«
Er hüstelte wieder.
»Soll ich dir ein heißes Getränk bringen lassen, Friedrich?«
Er schien irritiert. Offensichtlich hatte er sich das Zusammentreffen ganz anders gedacht. Dianas Selbstsicherheit brachte ihn aus der Fassung.
»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte er und sah ihr dabei starr in die Augen.
Diana machte eine elegante Handbewegung zu der kleinen Sitzgruppe hin, die am Fenster stand.
»Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen, Diana«, begann er wieder.
Sie bemerkte, dass er diesen Satz dreimal wiederholte.
»Ja, Diana, ich muss mit dir sprechen. Du wirst sicherlich ermessen können, dass mich das Ergebnis der Untersuchung des Professors sehr getroffen hat. Du warst für mich das Sinnbild der Reinheit. Nun, ich will nicht weiter daran rühren.
Ich habe lange nachgedacht, Diana, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ein in der Jugend und Unwissenheit begangener Fehler ein Leben nicht zerstören darf. Ich biete dir meinen Schutz an, Diana.«
Er schwieg. Seine linke Augenbraue zuckte nervös.
Als Diana gar nichts fragte, fuhr er nach einer Weile fort: »Selbstverständlich habe ich meine Mutter nicht von den Vorfällen unterrichtet. Es würde ihr sicherlich schwerfallen, Verstehen dafür zu zeigen, dass ich bereit bin, trotz allem die Ehe mit dir einzugehen.«
In Dianas schönen, großen Augen war ungläubiges Erstaunen zu erkennen.
Friedrich erhob sich und stellte sich neben sie. Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände.
»Diana, weil ich mich dir in starkem Maße verbunden fühle, wie keinem Menschen sonst, bin ich bereit, dir deinen Fehltritt zu verzeihen.«
Sie nahm seine Hände von ihrem Gesicht. Die Berührung war ihr unangenehm.
»Welchen Fehltritt?«, fragte sie leise und mit aufsteigender Empörung.
Friedrich verzog seinen Mund.
»Muss ich darauf wirklich eingehen, Diana?«
»Ich habe keinen Fehltritt begangen, Friedrich. Aber das wirst du nie verstehen.«
»Du bist stolz, Diana. Auch deshalb liebe ich dich.«
Er wandte sich plötzlich dem Fenster zu und sagte, indem er in den Park hinaussah: »Ich möchte, dass wir zur vorgesehenen Zeit unsere Hochzeit feiern. Außer deinem Vater und dem Arzt und uns beiden weiß bisher niemand etwas von dem, was geschehen ist. Dein und mein Leumund wird also keinerlei Makel erfahren. Ich bin zu diesem Schritt bereit, wenn das Kind nicht auf die Welt kommt!«
Diana stand auf, ging mit langsamen Schritten auf ihn zu und fragte leise: »Du wagst wirklich, mir das zu sagen?«
Friedrich von Großborns schmale Lippen begannen zu zittern.
»Was erwartest du von mir? dass ich den Vater dieses Bastards spiele?«
Er merkte sofort, dass er zu weit gegangen war und wollte Dianas Hand ergreifen.
Sie entzog sie ihm jedoch.
»Geh«, sagte sie leise.
»Diana…«
»Geh. Ich verachte dich! Wenn du bleibst, müsste ich dich hassen!«
»Du bist törichter, als ich dachte, Diana.«
»Wusste mein Vater von deinem, deinem Anerbieten?«, fragte sie kalt.
»Der Fürst ist ein Mann, der den Realitäten genauso wie ich ins Auge blickt. Er hat mir geantwortet, dass du eine Frau mit Verstand bist.«
»So.«
Bitterkeit stieg in Diana auf. Was wussten ihr Vater und dieser fremde junge Mann von dem Glück, das sie empfand. Sie hatten nur einen Glauben, den an den Verstand, an die Einsicht, die sie als Realität bezeichneten. An das Herz eines Menschen, an seine Gefühle dachten sie nicht.
»Fürst, bitte gehen Sie jetzt«, bat Diana noch einmal.
»Ist das Ihre Antwort? Ihre letzte Antwort?«
»Die einzig mögliche Antwort, Fürst. Ich hoffe, dass wir uns niemals wieder begegnen.«
Und ohne abzuwarten, dass Friedrich von Großborn sie verließ, drehte Diana sich herum und ging aus der Bibliothek.
*
Diana wusste nun, dass sie nicht länger auf Schloss Buchenhain bleiben konnte.
Auf ihr Läuten hin erschien ihre Zofe.
»Bitte, bringen Sie mir die beiden großen Lederkoffer, die ich auch ins Internat mitgenommen habe, Barbara«, bat Diana.
»Sie wollen verreisen, Prinzessin?«, fragte die Zofe und sah Diana unsicher an.
»Ja. Für immer, Barbara. Ich komme nicht wieder nach Buchenhain zurück.«
Die Zofe holte tief Luft. Sie konnte noch nicht glauben, was die junge Prinzessin ihr gerade gesagt hatte.
»Nehmen Sie mich mit. Sie können doch nicht allein gehen. Sie wissen doch gar nicht Bescheid, ich meine, wie es draußen ist. Und man könnte Ihnen doch so leicht etwas Schlimmes antun.«
»Aber Barbara. Ich bin nicht so schutzlos, wie Sie meinen. Nein, ich muss allein gehen. Und denken Sie denn gar nicht an Freder? Würden Sie ihn meinetwegen hier auf dem Schloss zurücklassen?«
Die Erwähnung des heimlich geliebten Mannes, der als Bediensteter auf Schloss Buchenhain arbeitete, machte die Zofe unsicher.
»Zeigen Sie ihm ruhig, dass Sie ihn mögen, Barbara«, fuhr Diana auf die gleiche gefasste, freundliche Art fort. »Vielleicht wartet er nur auf ein Zeichen von Ihnen.«
Tiefe Röte schoss in die Wangen der Zofe.
»Meinen Sie wirklich?«
»Es könnte doch sein, nicht wahr?«
»Ja, vielleicht, es könnte sein.« Die graublauen Augen der Zofe leuchteten auf.
Sie lief schnell hinaus, um die Koffer zu holen.
Diana wollte nur das Notwendigste mitnehmen. Sie legte Pullover, Röcke, Kleider, Wäsche aus dem Schrank. Ihren Schmuck wollte sie zurücklassen.
Gerade als Diana ihren dunklen, wundervoll weichen Nerzmantel über die Lehne eines Barockstuhls legte, trat ihr Vater ein.
Es war das erste Mal, solange Diana sich erinnern konnte, dass er nicht anklopfte, bevor er ihre Räume betrat.
Jeder Muskel seines Gesichts war gespannt. Seine Augen blickten eiskalt. Seine Stimme klang schneidend scharf, als er fragte: »Was soll das?«
Mit weit ausholender Gebärde zeigte er auf die Kleidungsstücke.
In diesem Augenblick kam die Zofe mit den beiden großen Lederkoffern zurück.
»Bringen Sie die wieder dorthin, wo Sie sie hergeholt haben!«, wies der Fürst die Zofe barsch an.
»Aber…«
»Ich möchte nicht länger warten!«
Die Zofe warf Diana noch einen unsicheren Blick zu, wagte jedoch nicht, sie zu fragen, ob sie den Anordnungen des Fürsten nachkommen sollte oder nicht.
Der Fürst schloss hinter der Zofe die Tür.
»Du bist weniger klug, als ich geglaubt habe, Diana.«
»Ja, ich bin wohl nicht sehr klug, Vater.«
»Deshalb wirst du trotzdem tun, was ich dir sage.«
Diana betrachtete ihren Vater. Trotz seiner Härte, die er ihr bewies, kam er ihr plötzlich hilflos vor.
Mitleid mit ihm stieg in ihr auf. Wie einsam er war. Es gab keinen Menschen, keine Frau, die seinetwegen Glück oder auch Kummer empfand. Niemand, der sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrte.
Später musste Diana noch häufig darüber nachdenken, wie seltsam es war, dass sie zum ersten Male tiefe Zärtlichkeit in dem Augenblick für ihren Vater empfand, als sie bereit war, ihn für immer zu verlassen.
»Vater, bitte versuche nicht, mich zu halten«, bat sie leise.
»Meinst du denn allen Ernstes, ich erlaube, dass du wie eine Zigeunerin herumziehst? Ich bin nicht bereit, den Hohn und den Spott der Leute auf mich zu nehmen. Und ich erlaube nicht, nie werde ich das erlauben, dass man meine Tochter als …«
»Vater!«
Diana warf sich in seine Arme, um ihn am Weitersprechen zu hindern. Er durfte das schreckliche Wort, das sie für immer entzweit haben würde, nicht aussprechen.
Der Fürst stand ganz starr. Die Umarmung seiner Tochter war so überraschend, dass er ganz aus der Fassung gebracht wurde. Sie machte ihn hilflos und ohnmächtig.
Er schob Diana von sich.
»Wir wollen miteinander sprechen wie Erwachsene, Diana.«
»Ja, Vater. Ich kann nicht länger unmündig sein. Ich bin es vor dem Gesetz nicht mehr und will es auch vor mir selbst nicht länger bleiben. Bitte lasse mich gehen, um mich selbst zu finden.«
Fürst von Buchenhain verhärtete sich innerlich wieder.
»Wenn du das Schloss heute verläßt, Diana, wirst du es so lange ich lebe nicht mehr betreten.«
Tränen stiegen in ihre Augen auf.
»So wenig liebst du mich, Vater?«
»Weil ich dich liebe, will ich nicht, dass du eine hilflose, ausgestoßene Frau wirst, Diana.«
»Aber bist nicht du es, der mich ausstößt, Vater?«
»Wir diskutieren um des Kaisers Bart. Ich habe dir alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ich weiß nur zu gut, dass ich dich nach dem Gesetz nicht halten kann. Es liegt an dir zu tun, was richtig ist. Ich hoffe, dass dein Entschluss so ausfällt, dass ich mich deinetwegen nicht zu schämen brauche.«
Diana senkte den Kopf.
Sie konnte ihrem Vater nicht helfen, und er vermochte ihr keine Hilfe zu geben. Sie waren beide einsam.
»Leb wohl, Vater«, sagte sie ganz leise.
Der Fürst presste die Lippen fest aufeinander. Unwillkürlich ballte er seine Hände, die er auf dem Rücken gehalten hatte, zu Fäusten. Er gestand sich nicht ein, dass ein unerträglicher Schmerz ihn durchzuckte.
Heftig wandte er sich ab, ohne ein Wort zu erwidern.
Zum zweiten Male an diesem Tag läutete Diana nach der Zofe und bat sie, die Koffer zu bringen.
Die Zofe kam ihrer Bitte nach, ohne eine Frage zu stellen und half der jungen Fürstin, ihre Kleidung in die Koffer zu packen.
»Bitte Freder, den Wagen vorzufahren und mich zum Bahnhof zu bringen«, bat Diana.
»Wohin wollen Sie fahren, Prinzessin?«, fragte die Zofe scheu.
»Ich weiß es noch nicht. Aber Sie dürfen sich meinetwegen keine Sorgen machen, Barbara. Versprechen Sie mir das?«
Die Zofe nickte und lief fort, um Freder zu bitten, den Wagen des Fürsten vorzufahren.
»Sehen Sie, es wäre doch besser gewesen, ich hätte einen Führerschein gemacht, Barbara«, sagte Diana, als die Zofe wieder bei ihr war. »Dann wäre ich jetzt freier. Ich glaube, ich muss noch sehr viel lernen.«
»Sie wissen schon so viel. All die vielen Sprachen.«
»Das Leben lernen, meine ich, Barbara. Vom Leben verstehe ich sehr wenig.«
Der junge Bedienstete Freder kam. Er trug die beiden schweren Koffer ins Auto und hielt den Wagenschlag auf, damit Diana einsteigen konnte.
Die Zofe weinte, als der Wagen fortfuhr.
Diana hatte eine Hand auf ihren Leib gelegt, als könne sie durch die Berührung der Stelle, unter der ihr Kind heranwuchs, Kraft ziehen.
*
Freder hatte die junge Prinzessin auf ihre Bitte hin an dem kleinen Bahnhof, der zur Ortschaft Buchenhain gehörte, abgesetzt.
Er wollte unbedingt warten, bis der Zug kam, um ihr zu helfen, die Koffer ins Abteil zu laden. Diana verwehrte es ihm jedoch und schickte den Bediensteten zum Schloss zurück.
Der Bahnhofsangestellte glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als er gleich darauf in der jungen Frau, die im dunklen Nerzmantel neben zwei schweren Koffern stand, die Prinzessin erkannte.
Er stotterte, als er sie fragte, wo sie hinreisen wolle und ob sie denn wirklich so ganz allein den Zug nehmen werde.
»Ja, sicherlich.«
»Der nächste ist ein Bummelzug, Durchlaucht. Der geht nur bis Hainbach. Das dauert eine Stunde, bis in Hainbach der Schnellzug kommt.«
»Der Schnellzug nach München, nicht wahr?«
»Ja. Wollen Sie denn wirklich so ganz allein nach München? Ich meine, Sie haben doch auch große Koffer.«
In diesem Augenblick kam der Bummelzug angefahren. Diana lächelte dem Beamten beruhigend zu. Der Zug hielt mit lautem Quietschen.
»Steigen Sie nur ein, Durchlaucht. Ich bringe Ihnen Ihre Koffer«, erbot sich der Beamte.
Der Zug fuhr an. Diana blickte zum Fenster hinaus. Wiesen und Wälder, die zum Besitz des Fürstentums von Buchenhain gehörten, zogen an ihr vorüber.
Bis nach Hainbach dauerte die Reise fast zwei Stunden. Eine weitere Stunde musste Diana auf den Schnellzug warten, der sie nach München brachte.
Sie kannte München von zwei kurzen Reisen her, die sie während ihrer Kindheit, kurz bevor sie ins Internat eingetreten war, mit ihrem Vater unternommen hatte, um Verwandte zu besuchen.
Die Hektik der lauten Großstadt ängstigte Diana, obwohl sie sich diese Angst nicht eingestehen wollte.
Sie fragte einen Taxichauffeur nach einem guten Hotel, und er nannte ihr drei oder vier Luxushotels.
»Bringen Sie mich bitte zum ›Bayrischen Hof‹«, bat Diana.
Im »Bayrischen Hof« mietete sie ein großzügiges Apartment, ohne nach dem Preis zu fragen. Da sie ausspannen wollte, ließ sie sich ein Abendessen auf ihr Zimmer bringen.
Nachdem sie gegessen hatte, legte Diana sich auf das breite Bett und überlegte, was sie nun zu tun hatte. Morgen früh würde sie versuchen, irgendeine Arbeit zu bekommen.
Voller Unruhe erhob Diana sich und trat ans Fenster. Fremde Menschen zogen dort unten auf der Straße vorüber. Limousinen hielten vor dem Eingang des Hotels. Gerade flammten die Straßenlaternen auf.
Diana wollte plötzlich teilhaben an diesem unbekannten Leben auf der Straße. Vielleicht würde sie in dem Gesicht eines der jungen Männer eine Ähnlichkeit mit Hubertus entdecken?
Hubertus! Von München aus wollte sie nach ihm suchen. Er hatte von einem Kusin berichtet, der in München studierte und mit dem Hubertus zusammen aufgewachsen war. Und wenn dieser Kusin nichts über Hubertus’ Aufenthaltsort wusste, so würde Diana nach anderen Spuren suchen.
Sie zog ihren warmen Mantel über und verließ das Hotel.
Ein kalter Herbstwind blies ihr entgegen, als sie auf die Straße trat. Diana schlug den Kragen ihres Pelzmantels hoch.
Ziellos durchquerte sie mehrere Straßen. Aus einigen Restaurants ertönte Musik.
Als sie Durst verspürte, betrat sie ein Kellerlokal. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie allein ein Restaurant oder eine Bierstube besuchte. Um was es sich bei dem Ort, in den sie gerade getreten war, handelte, wusste sie zuerst nicht zu sagen.
Zwei dralle junge Frauen trugen riesige Maßkrüge mit Bier zu den Tischen.
Es herrschte eine laute Fröhlichkeit, die Diana abstieß. Sie hatte auf einer der Holzbänke Platz genommen und ein Bier bestellt. Ein jüngerer Mann, der eine Lederjacke trug, rückte an sie heran, hob ihr seine Maß entgegen und sagte mit tiefer Stimme: »Auf dein Wohl, Madel!«
Diana wollte nicht unhöflich sein und hob lächelnd ihr Glas.
Der Fremde betrachtete ihren Pelzmantel, den Diana nicht ausgezogen hatte, rieb sich dann die Stirn und rückte noch ein Stück näher heran.
»Bist allein?«
»Ja – nein…«
»Na, wirst nicht lange allein sein. Ein so wunderhübsches Madel wie du bist.«
Abwehr gegen die plumpe Vertrautheit des fremden Mannes stieg in Diana auf.
Sie suchte in ihrer Handtasche aus Krokodilleder nach einer Münze, fand keine, legte dann einen Geldschein auf den Holztisch. Und ohne auf das Wechselgeld zu warten, verließ sie nach einem hastig gemurmelten Gruß die Bierstube.
Als sie wieder im Freien war, atmete sie tief die Luft ein. Von einem nahen Kirchturm schlug es zehnmal zu ihr herüber.
Diana entschloss sich, noch ein wenig die Straßen zu durchwandern und dann in den »Bayrischen Hof« zurückzukehren.
Sie kam durch eine schmale Gasse. Vierstöckige Häuser erhoben sich zu beiden Seiten. Nur wenige Laternen verströmten ein schwaches Licht.
Dianas Schritte hallten auf dem Straßenpflaster. Plötzlich hörte sie hinter sich andere Schritte. Nie gekannte Angst ließ sie erschauern. Nun erst nahm sie wahr, dass außer ihr und dem Menschen, der ihr so eilig folgte, kein Fremder zu sehen war.
Sie begann zu laufen und presste dabei ihre Handtasche an die Stelle, unter der ihr Herz wie rasend schlug.
Erzählungen von nächtlichen Überfällen fielen ihr ein.
Auch der Fremde hinter ihr hatte zu laufen begonnen.
Als die Straße gar nicht enden wollte und Diana erkannte, dass sie dem Menschen hinter sich doch nicht entkommen würde, blieb sie schwer atmend an eine Hauswand gepresst stehen.
»Aber Madel«, sagte lächelnd der junge Mann gleich darauf, der in der Bierstube neben ihr gesessen hatte.
»Lassen Sie mich, ich möchte allein sein«, stieß Diana hervor.
»Aber das glaubst du doch selbst nicht, Madel. Bist doch weggelaufen, damit ich dir nachkomme, nicht? Hast du mir nicht zugelächelt? Aber Madel, komm her.«
Der junge Mann mit dem grobgeschnittenen Gesicht und dem kurzgeschorenen Haar wollte Diana an sich ziehen.
Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn, wobei sie ihre Handtasche verlor.
»Lassen Sie mich.«
»Zier dich nicht.«
Der junge Mann war viel kräftiger als Diana und presste seinen Mund auf ihre Lippen.
Schluchzen stieg in Diana auf. Sie fühlte sich beschämt, gedemütigt und beschmutzt.
»Ich bin die Prinzessin Diana von Buchenhain!«, rief sie, als der junge Mann sie freigab.
Der bog seinen Kopf nach hinten und begann laut zu lachen. In diesem Augenblick öffnete sich über ihnen ein Fenster. Der Kopf einer älteren Frau erschien.
»Sind’s sofort ruhig! Es ist Schlafenszeit! Unglaublich! Wenn’s nicht ruhig sind, telefoniere ich nach dem Gendarmen!«
Diana schluchzte noch einmal auf, dann lief sie an dem fremden jungen Mann vorbei und rannte, so schnell sie konnte, die einsame Straße hinab.
Erst als sie auf einen hellerleuchteten Boulevard stieß, blieb sie keuchend stehen. Tränen strömten über ihr Gesicht.
Jetzt erst bemerkte Diana, dass sie ihre Handtasche verloren hatte. Suchend sah sie sich um. War denn niemand da, der sie in die Straße begleiten würde, damit sie ihre Handtasche aufhob?
In ihrer Hilflosigkeit wandte sie sich an einen älteren Herren mit einem weißen Bart.
Aber kaum hatte sie das erste Wort gesprochen, als der alte Mann sich empört abwandte. Danach fand Diana nicht mehr den Mut, einen der Vorübergehenden zu bitten, sie zu begleiten.
Sie kehrte zurück ins Luxushotel »Bayrischer Hof«. Als sie die hellerleuchtete Halle durchquerte, dachte sie voller Scham daran, dass sie nicht mehr das Geld besaß, um ihre Rechnung zu bezahlen. Aber nicht nur ihr ganzes Geld und mehrere Schecks hatten sich in der Tasche befunden, sondern auch ihre Ausweise.
In ihrem Zimmer überlegte Diana voller Angst, ob sie nicht die Polizei benachrichtigen sollte. Sie war jedoch inzwischen so verunsichert, dass sie sich vor den neugierigen Blicken und Fragen der Beamten fürchtete. So ließ sie den Telefonhörer auf die Gabel zurückfallen und begann nun langsam, sich zu entkleiden.
Die Welt, das Leben, von dem sie geträumt hatte, war nicht nur herrlich, es war auch erschreckend. Diana war nicht dazu erzogen worden, sich darin zurechtzufinden.
Spät nach Mitternacht schlief sie endlich ein.
*
Mit knurrendem Magen, denn Diana wagte nicht, ihre Schulden noch zu erhöhen und im »Bayrischen Hof« eine Mahlzeit zu bestellen, begab sie sich zu Fuß zum Verwaltungsgebäude der Münchner Universität.
Nach vielen Umständen gelang es ihr schließlich, die Anschrift von Hubertus’ Kusin Markus von Homberg zu erhalten.
Der junge Graf, der wie früher Hubertus Medizin studierte, lebte als Untermieter bei einer Freifrau von Wolfshagen, die eine Villa im Prominentenviertel Grünwald besaß.
Diana suchte im Telefonbuch nach der Nummer der Freifrau, fand sie auch bald, besaß aber kein Geld, um dort anzurufen.
Erschöpft ließ Diana sich auf eine Bank sinken und schloss die Augen. Sie war entsetzlich müde und hungrig.
Erst als eine weibliche Stimme neben ihr mitfühlend fragte, ob sie Hilfe bedürfe, schlug Diana die Augen auf.
Vor ihr stand eine hübsche junge Frau.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie noch einmal.
Diana wurde rot. »Ich würde gern einen Bekannten anrufen. Aber ich habe kein Geld bei mir.«
»Wenn es weiter nichts ist.«
Die junge Frau gab Diana mehrere kleine Münzen.
»Sie sind fremd in München, nicht wahr?«, wollte sie wissen.
»Ja.«
»Hier, ich schreibe Ihnen meine Adresse auf. Wenn Sie einmal Hilfe brauchen, können Sie mich gern anrufen.«
Diana nahm den Zettel mit der Anschrift an sich, verabschiedete sich von der jungen Frau und betrat eine Telefonzelle.
Nachdem sie die angegebene Nummer gewählt hatte, meldete sich eine Frau von Wolfshagen. Diana bat, Graf Markus von Homberg sprechen zu dürfen.
»Einen Augenblick bitte«, wurde sie gebeten und gleich darauf hörte Diana eine junge, männliche Stimme sagen: »Ja, bitte?«
»Mein Name ist Diana von Buchenhain, Hubertus, Ihr Kusin, hat mir gesagt, dass Sie in München studieren. Ich würde Sie gern sprechen, Graf«, bat Diana mit unsicherer Stimme.
»Den Grafen lassen Sie doch bitte weg. Kann ich Sie irgendwo abholen, Diana von Buchenhain?«
Die Stimme des jungen Mannes hatte Ähnlichkeit mit Hubertus’ Stimme. Ein gewisser Übermut, aber auch Ernst klang aus ihr heraus.
Diana war dem Grafen dankbar für sein Anerbieten, sie abzuholen. Er versprach, eine halbe Stunde später vor einem bestimmten Universitätsgebäude zu erscheinen.
Genau zur angegebenen Zeit bremste vor Diana ein französischer Kleinwagen, und ein Student mit feuerrotem Haarschopf fragte: »Sind Sie vielleicht Diana von Buchenhain?«
»Ja.« Diana empfand beim Anblick des Grafen sehr tiefe Erleichterung.
Markus von Homberg hatte Hubertus’ offenes Gesicht und seine strahlend blauen Augen. Unzählige Sommersprossen bedeckten Wange und Nase, während Hubertus’ Gesicht doch eher von durchsichtiger Blässe gewesen war.
Graf Markus von Homberg stieg aus dem Wagen, hielt Diana höflich die Tür auf und bat sie einzusteigen. Hier, bei den vielen Menschen, könne man sich nicht in Ruhe unterhalten.
Sie fuhren in den englischen Garten, spazierten auf schmalen Wegen unter herrlichen alten Bäumen entlang.
Plötzlich blieb Diana stehen.
»Graf, ich muss Ihnen alles erzählen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen, und ich muss einfach sprechen, wenn ich Sie nicht belästige.«
Markus von Homberg lächelte auf die gleiche feine, zurückhaltende und doch mitreißende Art, in der auch Hubertus gelächelt hatte.
Auf ihre erste Frage, ob er Hubertus’ Aufenthaltsort wisse, schüttelte er bedauernd den Kopf. Leider nein. Nach Dianas Anruf habe er eigentlich gehofft, von ihr mehr zu erfahren.
Sie erfuhr, dass der junge Graf mit Hubertus’ Eltern, besonders aber mit dessen Vater, in freundschaftlichem Kontakt stehe. Seit seinem letzten Besuch wisse Markus, dass sein Kusin Deutschland verlassen habe.
Er habe nicht weiter nach dem Aufenthaltsort gefragt, denn die Erwähnung des ältesten Sohnes löste bei Hubertus’ Mutter immer einen Tränenstrom, bei seinem Vater hingegen Zorn aus.
Markus legte seine Hand ganz leicht auf die Dianas und bat: »Und nun müssen Sie mir alles berichten, Diana. Ich darf Sie doch mit Ihrem Vornamen ansprechen?«
Diana nickte Zustimmung, und während sie auf das klare Wasser des Flusses blickte, begann sie zu sprechen.
Von ihrer ersten Begegnung mit Hubertus, von ihrer zweiten Flucht, von ihrer Verlobung mit Fürst Friedrich von Großborn und von ihrem und Hubertus’ Kind.
Es tat so gut, einmal alles von der Seele zu sprechen. Diana fühlte, dass sie innerlich ein wenig freier wurde, dass ihre Angst, die sie seit dem erschreckenden nächtlichen Erlebnis umklammert gehalten hatte, sich löste.
Markus von Homberg hörte ihr zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen.
»Ja, Prinzessin, das alles ist schlimm«, sagte er ganz leise, als Diana schwieg.
»Sie wollten mich mit dem Vornamen ansprechen«, bat Diana.
»Ja.« Er lächelte wieder auf seine strahlende Weise. Aber auch Mitleid und Mitempfinden waren nun in seinem Lächeln zu erkennen.
»Erst einmal ist wichtig, dass Sie wissen, wo Sie wohnen«, fuhr er nach kurzem Überlegen fort. »Ich könnte Frau von Wolfshagen bitten, Ihnen eines der leerstehenden Zimmer der Villa zu überlassen. Ihr Mann ist Diplomat, und da seine Frau das tropische Klima nicht vertragen hat, ist sie nach Deutschland zurückgekehrt. Sie langweilt sich ein wenig und hat gern junge Menschen um sich. Außerdem hat Frau von Wolfshagen ausgezeichnete Verbindungen zu diplomatischen Kreisen. Sicherlich würde es ihr leichtfallen, Ihnen Möglichkeiten zu verschaffen, als Dolmetscherin Geld zu verdienen.«
»Das alles hört sich so wundervoll, so unglaublich schön an«, sagte Diana.
»Kommen Sie! Ich glaube, es gilt, erst einmal an das Nächstliegendste zu denken. Und das ist, dass Sie eine warme Mahlzeit zu sich nehmen müssen.«
Während sie eine heiße Suppe und ein riesiges Schinkenbrot verspeiste, erzählte Diana dem jungen Grafen von den Ereignissen der vergangenen Nacht.
Markus von Homberg legte seine hohe Stirn in Falten.
»Ausweise müssen Sie natürlich haben. Ich werde bei der Polizei Anzeige erstatten.«
»Bitte nicht«, bat Diana impulsiv.
»Aber weshalb nicht? Sie haben sich zum Kampf entschlossen. Und das ist gut so. Aber zum Kampf gehört auch, seine Rechte zu wahren. Also?«
»Ja.«
»Und ich werde Hubertus’ Freunde und Verwandte aufsuchen oder ihnen schreiben. Und wenn es nicht mit dem Teufel zugeht, werden wir bald erfahren, wo er sich aufhält. Übrigens, Hubertus ist ein viel zu kluger Mensch, um wirkliche Dummheiten zu begehen. Im Gegenteil, er wusste immer ganz genau, was er wollte und wo seine Stärken lagen. Wenn Hubertus sich entschlossen hat, Schriftsteller zu werden, so wird er es auch erreichen. Ich glaube an ihn, so wie Sie an ihn glauben.«
Tränen schimmerten in Dianas dunklen Augen. Zärtlich und ein wenig scheu strich Markus von Homberg über ihre Wange.
*
Sechs Wochen hindurch hatte Diana in der Villa der Freifrau von Wolfshagen gelebt.
Während dieser Zeit hatte der junge Graf Markus von Homberg bei allen Freunden und Verwandten nachgefragt, ob sie nicht Hubertus’ Aufenthaltsort wüssten.
Hubertus schien wie vom Erdboden verschwunden.
Dianas Hoffnung, den geliebten Mann zu finden, schmolz zu einem Nichts zusammen. Verzweiflung ergriff immer stärker von ihr Besitz.
Sechs Wochen nach ihrem Einzug teilte ihr die sonst sehr liebenswürdige Freifrau von Wolfhagen mit, dass sie einen Brief von ihrem Mann erhalten habe, in dem er sie bat, die junge Prinzessin nicht länger in seinem Haus wohnen zu lassen.
Ganz offensichtlich befürchtete der Diplomat, der sehr ehrgeizig war und noch hoffte, eine Botschafterstelle zu bekommen, durch Diana Schwierigkeiten.
Die Freifrau bat das Mädchen unter Tränen um Verständnis, dass sie der Bitte ihres Mannes nachkommen müsse und war sehr erleichtert, als sie merkte, dass Diana alles sehr gefasst und gleichmütig aufnahm.
Ob die Prinzessin denn wisse, wo sie jetzt wohnen könne, wollte sie wissen.
Ja, Diana hatte jemanden getroffen, der sie sicherlich aufnehmen werde.
Die Freifrau gab ihr noch zwei Empfehlungen mit, die es ihr erleichtern würden, als Dolmetscherin bei Kongressen auszuhelfen.
Graf Markus von Homberg fuhr Diana in seinem Wagen zu der jungen Studentin, die sie damals in der Münchner Universität kennengelernt hatte und mit der sie inzwischen herzliche Freundschaft verband.
Auch Markus war erleichtert, dass Diana bei dieser Studentin wohnen konnte.
Obwohl er Diana freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte, hatte er doch keine Zeit, sich häufig um sie zu kümmern. Durch sein Studium war er sehr eingespannt, und außerdem hatte er eine Freundin, deren einzige schlechte Eigenschaft es war, dass sie ihn eifersüchtig überwachte.
*
Die Studentin, zu der Diana zog, hieß Maria und bewohnte zwei große Zimmer in einem Altbau.
Zuerst zeigte sie sich über Dianas Erscheinen ganz begeistert, dann jedoch begann es sie zu stören, dass Diana ein Zimmer bewohnte und sie sich einschränken musste.
Als ihr Freund, ein Naturwissenschaftler, der gerade sein Doktorexamen abgelegt hatte, auch noch auffallendes Interesse an der schönen jungen Frau bekundete, schlug die Freundschaft und Hilfsbereitschaft der Studentin in Abneigung um.
Sie warf Diana während einer heftigen Szene vor, dass sie beabsichtige, den Freund an sich zu ziehen.
Diana sah sie während dieses Auftrittes, der sie innerlich zutiefst erschreckte, ganz ruhig an.
»Es tut mir leid, dass ich dir Kummer bereitet habe, Maria«, sagte sie dann leise.
Versöhnlich antwortete die Studentin: »Meinst du nicht auch, Diana, es wäre das Allerbeste, du würdest zu deinem Vater zurückgehen?«
»Nein.«
»Aber was denn? Was willst du denn tun?«
»Ich weiß es noch nicht, Maria. Aber habe keine Angst, ich werde dich nicht länger stören.«
Diana begann, ihre beiden Lederkoffer zu packen.
Maria sah, dass ihr das Bücken schwerfiel. Außerdem dachte sie daran, dass Diana während der vergangenen Zeit häufig unter starken Anfällen von Kopfschmerzen gelitten hatte. Der Arzt, den sie aufgesucht hatte, empfahl ihr strengste Schonung, wenn sie das Leben des Kindes nicht gefährden wollte.
»Ich bitte meinen Freund, dich zu deinem Vater zurückzufahren, Diana«, sagte Maria und half ihr, Kleidungsstücke in den Koffer zu legen.
Leise, jedoch sehr bestimmt und in einer Art, die ihren eisernen Willen bezeugte, antwortete Diana noch einmal, dass sie nicht nach Schloss Buchenhain fahren werde.
»Aber dann sage mir doch, wohin du sonst gehen willst? Du kennst doch keinen Menschen.«
»Mach dir keine Sorgen um mich, Maria. Ich werde nicht mich und damit mein Kind leichtfertig gefährden.«
In ihrer Verzweiflung versuchte Maria, den jungen Grafen Markus von Homberg telefonisch zu erreichen. Seine Wirtin, Freifrau von Wolfshagen, teilte ihr jedoch mit, dass Markus sich auf einer Urlaubsreise nach Wien befände und erst in der kommenden Woche wieder erwartet werde.
»Also, dann bleibst du wenigstens bis zur nächsten Woche bei mir, Diana«, bestimmte Maria.
»Nein, Maria. Bitte, sei so nett und hilf mir, die Koffer hinunterzutragen. Es wird sicherlich gleich ein Taxi vorbeikommen.«
»Du bist aber auch entsetzlich eigensinnig.«
Maria, die sehr kräftig war, hob beide Koffer gleichzeitig hoch und setzte sie auch nicht nieder, als Diana bat, auch einen Koffer tragen zu dürfen.
»Denke an dein Kind!«, antwortete sie barsch.
Kaum standen sie im Freien, als tatsächlich ein Taxi vorbeigefahren kam. Es hielt neben den beiden jungen Frauen.
»Wo willst du denn nun hinfahren?«, wollte Maria wissen. Sie war maßlos zornig auf Diana, denn sie fühlte sich schuldig.
»Ich schreibe dir, Maria. Und denke daran, dass ich dich verstehe. Lass es dir sehr gut gehen, Maria.«
Der Taxichauffeur hatte die Koffer in den Fond des Wagens gelegt. Diana stieg ein, winkte Maria noch einmal zu und ließ sich dann mit einem kleinen Seufzer in die Polster sinken.
»Wo wollens’ denn hin, Fräulein?«, fragte der Chauffeur.
»Zum Hauptbahnhof, bitte.«
Diana wusste selbst nicht, welchen Zug sie nehmen sollte. Zum ersten Mal erkannte sie, was es bedeuten musste, heimatlos zu sein. Sie hatte nur noch ein Ziel: Hubertus zu finden!
Ein Gepäckträger brachte Dianas Koffer zum Bahnsteig. Der Zug, der gerade einrollte, fuhr nach Köln. Sie kannte weder Köln noch irgendeinen Menschen, der in Köln lebte.
Trotzdem stieg sie ein, und fünf Stunden später erreichte sie die alte Domstadt. In einer kleinen Pension mietete Diana ein Zimmer. Die Pensionsbesitzerin musterte ein wenig misstrauisch ihren kostbaren Nerzmantel, so dass eine Art von Scham in Diana hochstieg
Diana packte ihren Koffer gar nicht aus, sondern ließ sich auf das schmale Bett sinken. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie begann erst leise, dann immer heftiger zu weinen. Ein unsagbarer Schmerz in ihrem Leib wollte ihr den Atem nehmen.
Später, als sie aufstand, wollte die Pensionsbesitzerin von ihr wissen, wann sie denn die Miete bezahle.
»Heute«, antwortete das Mädchen leise.
Und weil sie kaum noch Geld besaß, verkaufte sie einem Händler, der drei große Goldringe an den Händen trug, ihren Nerzmantel. Mit dem Erlös bezahlte sie ihre Miete.
Von diesem Tag an verlor sich Diana in Einsamkeit und Verzweiflung.
Ihr eiserner Wille, nicht zu ihrem Vater zurückzukehren, war noch immer ungebrochen. Manchmal glaubte sie jedoch, dafür mit ihrem Leben bezahlen zu müssen.
Immer häufiger litt sie an starken Schmerzen. Sie wagte aber nicht, einen Arzt rufen zu lassen, aus Furcht darüber, dass sie seine Rechnung nicht bezahlen konnte.
Die Pension verließ Diana nur noch, um etwas zum Essen einzukaufen.
Ganz offensichtlich war die Pensionsbesitzerin inzwischen davon überzeugt, dass ihre junge, schöne Mieterin sich vor einer öffentlichen Stelle verstecken musste.
Zwei Monate vor der Geburt des Kindes eröffnete sie Diana, dass sie noch niemals Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt habe und auch keine bekommen wolle. Außerdem sei es wohl auch besser, sie würde sich in ein Krankenhaus begeben, so schlecht und elend, wie sie aussehe.
Diana packte wieder ihre Koffer. Ein junges Mädchen, das in der Pension als Hilfe arbeitete, trug ihr diesmal die Koffer auf die Straße.
Und wie damals in München fragte Diana jetzt in Köln ein Taxifahrer, wo er sie hinbringen dürfe.
Fröstelnd legte die Prinzessin einen Augenblick lang ihre Arme um ihre Schultern. Sie trug nur einen dünnen Mantel, den sie sich von einem Teil des Geldes, das sie für den Nerzmantel erhalten hatte, gekauft hatte.
Sie nannte dem Fahrer den Namen der Kreisstadt, in deren Nähe die »Höhle« lag, jenes kleine Gartenhäuschen, in dem sie mit Hubertus so glücklich gewesen war.
»Haben Sie denn so viel Geld? Das ist weit«, meinte der Taxifahrer.
»Ja, ich weiß.«
Der Fahrer murmelte einige unverständliche Worte und fuhr dann auf die Autobahn zu.
Als sie drei Stunden später in die Nähe Schloss Buchenhains kamen, begann Diana zu weinen. Vor Müdigkeit, vor Erschöpfung, vor Trauer. Und auch vor Heimweh.
Nicht eine einzige Sekunde hindurch überlegte sie jedoch, ob sie einfach durch das hohe schmiedeeiserne Tor fahren sollte, um zu ihrem Vater zurückzukehren.
Die »Höhle« lag vor der Kreisstadt. Diana zeigte dem Taxifahrer den schmalen Weg, der zum Gartenhaus führte. Auf den Wiesen, die im Sommer voller Blumen gewesen waren, lag nun tiefer, frischer Schnee.
»Na, das ist ja nicht das richtige für den Winter«, stieß der Fahrer hervor.
Er war jedoch so freundlich, Dianas Gepäck bis zur Tür des Häuschens zu tragen. Unschlüssig blieb er noch stehen. In der Hand hielt er das Geld, das Diana ihm gegeben hatte.
»Mir ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, Sie hier allein zu lassen«, murmelte er.
Er legte seine Hand auf die Türklinke. Die »Höhle« war nicht verschlossen.
»Also gut. Jeder ist seines Glückes Schmied«, meinte er abschließend und stapfte durch den Schnee zum Taxi zurück.
Diana war in die »Höhle« getreten. Mit zitternden Händen versuchte sie, eine Kerze anzuzünden. Die Streichhölzer waren jedoch nass geworden.
Ein kalter Wind blies durch die halb offen stehende Tür.
Auf einem Stuhl neben dem Bett lag eine von Hubertus’ geflickten Jeans.
Sie hob die Hose hoch, presste sie an ihre Wange und legte sich damit auf das Bett. Sie zog ihren Mantel nicht aus.
Plötzlich wusste Diana, dass sie sterben würde. Vor unerfüllter Sehnsucht und vor Trauer, so wie ihre Mutter gestorben war.
*
Am späten Abend des gleichen Tages machte der Bauer, dessen Hof sich unweit der »Höhle« befand, und von dem Hubertus und Diana während des Sommers immer ihre Milch geholt hatten, seine Runde.
Seit fünf Monaten führte ihn sein Weg nun schon jeden Tag zur Gartenhütte. Bella, der schöne Setter, begleitete seinen Herrn.
Als er die Tür nur angelehnt fand, kratzte der Bauer sich am Kinn. Bella begann laut zu bellen und zwängte sich durch den Türspalt.
Sie lief zu Diana und begann, in überschwenglicher Freude das Mädchen zu beschnüffeln und ihre erstarrte Hand zu lecken.
»Komm, Bella, komm!«, rief der junge Bauer.
Entsetzen hatte ihn beim Anblick der jungen Prinzessin gepackt. Er wagte nicht einmal nachzusehen, ob sie tot war oder vielleicht noch lebte.
So schnell er konnte, lief er zurück nach Hause. Bella war bei der Prinzessin geblieben.
Seit fünf Monaten hatte er den Auftrag des Fürsten von Großborn jeden Tag nachzusehen, ob Fürstin von Buchenhain in das Gartenhaus zurückkam, für eine Marotte gehalten.
Da der Fürst ihn jedoch gut für seine Dienste bezahlte, hatte der Bauer den Auftrag jeden Tag erfüllt.
Und nun lag sie wirklich im Gartenhaus. Ganz weiß im Gesicht. Waren die Lippen nicht schon blau gewesen?
Mit zitternden Fingern wählte der Bauer die Telefonnummer, die Fürst von Großborn ihm gegeben hatte.
Eine Bedienstete meldete sich und verband den Bauern gleich darauf mit dem Fürsten.
Vor Aufregung vermochte der junge Bauer zuerst nur zu stottern. »Sie ist da – ja – aber ich weiß nicht – es ist kalt da, soll ich sie ins Bauernhaus holen?«, rief er gleich darauf aus.
Friedrich von Großborn antwortete scharf: »Nein. Lassen Sie sofort einen Krankenwagen kommen.«
»Aber sie ist doch schon tot, Fürst«, rief der Bauer gequält.
Friedrich verstummte. Dann sagte er leise, so leise, dass der Bauer ihn kaum verstehen konnte: »Benachrichtigen Sie den Krankenwagen, bitte.«
»Ja, Fürst. Ich werd es tun.«
Sie legten auf, und der Bauer erfüllte die Bitte des Fürsten. Dann lief er wieder durch den Schnee zum Gartenhaus zurück, ohne die aufgeregten Fragen seiner Frau beantwortet zu haben.
Bella saß noch immer neben Diana.
Die Minuten, bis der Krankenwagen kam, vergingen dem Bauern unendlich langsam.
Endlich hörte er Schritte im Schnee. Ein Arzt und zwei Sanitäter, die eine Trage zwischen sich hielten, liefen auf das Gartenhaus zu.
Die Untersuchung des Arztes dauerte wenige Minuten.
»Es ist keine Zeit zu verlieren«, sagte er knapp.
Die Sanitäter hoben Diana auf die Trage und brachten sie zum Krankenwagen. Der Arzt lief hinter den Sanitätern her.
Gleich darauf hörte der Bauer, wie ein Motor aufheulte. Er ging mit langsamen Schritten nach Hause zurück.
Im Krankenhaus erfuhr Diana alle Fürsorge, die seit Monaten notwendig gewesen wäre. Aber nun war es vielleicht zu spät. Keiner der Ärzte und keine der Schwestern wussten zu sagen, ob sie noch gerettet werden konnte.
Besonders eine der älteren Schwestern, die sich dem Fürstenhaus von Buchenhain sehr verbunden fühlte, weil ihre Mutter dort in ihrer Jugend als Köchin gearbeitet hatte, konnte es gar nicht fassen, dass die junge Prinzessin, letzte Erbin des uralten Geschlechtes, fast wie eine Vagabundin in einem Gartenhaus erfroren war, während sie ein Kind in sich trug.
Eine Stunde nach Dianas Einlieferung ins Krankenhaus erschien ihr Vater.
Fürst Friedrich von Großborn hatte ihn gleich nach dem Anruf des Bauern von allem unterrichtet, was er gehört hatte.
Erschüttert, wortlos vor Schmerz und Trauer, stand der Fürst am Bett seines Kindes. Er glaubte seine tote Frau vor sich zu sehen.
»Ich möchte meine Tochter gern mit nach Hause nehmen«, sagte er fast unhörbar.
»Niemand weiß, ob die Prinzessin die nächste Nacht überstehen wird«, wandte der Professor ein.
Der Fürst sah ihn an. Sein Gesicht wirkte plötzlich um Jahre gealtert.
»Herr Professor, können Sie hier in der Klinik mehr für meine Tochter tun als ich auf Schloss Buchenhain?«
»Wir können nur warten, Fürst.«
»Dann warte ich auf Buchenhain. Und wenn mein Kind sterben muss, dann dort, wo es zu Hause ist.«
Der Professor veranlasste den Transport der jungen Frau nach Schloss Buchenhain. Erst als der Krankenwagen mit Diana das Klinikgebiet schon verlassen hatte, fiel dem Professor ein, dass der Fürst gar nicht nach dem Leben des Kindes gefragt hatte.
Der Professor seufzte auf. Er persönlich glaubte nicht daran, dass die Prinzessin noch länger als ein, vielleicht zwei Tage leben würde. Es war gut, dass Schwester Mathilde, eine erfahrene Kraft und Hebamme, mit nach Schloss Buchenhain gefahren war. Und schließlich trug der Fürst das Risiko. Es war ja seine Entscheidung gewesen, die Tochter mit nach Buchenhain zu nehmen.
Eine Stunde, nachdem der Krankenwagen mit Diana nach Buchenhain gefahren war, erschien Fürst Friedrich von Großborn im Arztzimmer.
Sein Gesicht wurde noch bleicher, als er erfuhr, dass Diana sich gar nicht mehr im Krankenhaus befand.
»Ich erachte Ihre Entscheidung für unglaublich leichtsinnig!«, warf er dem Professor vor.
Bevor der eine Antwort geben konnte, war Fürst von Großborn schon aus dem Zimmer gegangen.
Seine überlegene Ruhe hatte ihn verlassen. Wenn Diana starb, so war auch er schuldig!
*
Zwei Wochen hindurch schwebte Diana zwischen Leben und Tod.
Ihr Schlafzimmer glich einem kahlen Klinikraum.
Schwester Mathilde hatte angeordnet, dass jedes überflüssige Möbelstück und die schweren Vorhänge aus tiefrotem Samt, die viel Staub aufgesogen hatten, entfernt wurden.
Der Fürst, der den Sinn dieser Maßnahme nicht einsah, wagte nicht zu widersprechen. Schwester Mathilde war während dieser schweren Zeit überhaupt seine ganze Hoffnung geworden.
Was sie mit der ihr eigenen Gewissheit, die jeden Widerspruch verbot, anordnete und sagte, sog der Fürst in sich auf. Schwester Mathilde ließ sich nicht davon abbringen, dass bei der jungen Frau das Leben den Sieg über den Tod davontragen würde.
»Der Wille, der sie alles ertragen lassen hat, Fürst, wird ihr auch zum Leben verhelfen«, sagte sie mit dunkler Grollstimme.
Sogar Professor von Wenck und ein anderer Arzt, den der Fürst hatte kommen lassen, blieben von Schwester Mathildes Meinung nicht unbeeindruckt.
Gegen Fürst Friedrich von Großborn schien Schwester Mathilde Vorurteile zu hegen. Sie behauptete, dass die Patientin jedes Mal unruhig wurde, wenn er in ihrer Nähe war.
Sie ließ auch den Einwand des Fürsten nicht gelten, dass Diana noch gar nicht wieder zu klarem Bewusstsein zurückgekehrt war.
Zwei Wochen nach ihrer Rückkehr nach Schloss Buchenhain kam für Diana die Krise.
Sie bäumte sich auf, schlug wild mit Armen und Beinen um sich. Immer wieder rief sie Hubertus’ Namen.
Mit allem Nachdruck zwang Schwester Mathilde Fürst von Großborn, das Krankenzimmer zu verlassen. Als sie merkte, dass Dianas Vater einer Ohnmacht nahe war – wohl auch weil er seit zwei Wochen kaum Schlaf gefunden hatte – schickte sie auch ihn aus dem Krankenzimmer.
Fürst von Buchenhain ließ sich in dem Kleinen Salon seiner Tochter auf einen der Fauteuils fallen und stützte die Stirn mit der zur Faust geballten Hand auf.
Friedrich von Großborns Nasenflügel bebten. Seine Stimme schwankte, als er sagte: »Fürst, ich brauche Ihnen nicht zu versichern, dass ich, falls Diana diese Nacht überstehen wird, ihr Ruhe und Frieden wiederschenken möchte. Ich werde zu ihr stehen, was auch passiert. Denn ich weiß jetzt, dass ich sie liebe!«
Mit unendlich müden Augen sah Fürst von Buchenhain zu Friedrich von Großborn auf.
»Haben Sie denn wirklich nichts dazu gelernt, Fürst? Ich habe nicht das Recht, über mein Kind zu verfügen. Wenn Sie wirklich noch Hoffnungen haben, fragen Sie meine Tochter. Und sagen Sie ihr, dass ich jeden ihrer Entschlüsse als richtig annehmen werde.«
In diesem Augenblick rief Diana ganz laut Hubertus’ Namen, so dass ihr Vater und Friedrich von Großborn ihren Schrei durch die geschlossene Tür hindurch verstehen konnten.
»Bleiben Sie hier!«, sagte Fürst von Buchenhain aufgebracht und erhob sich ruckartig.
Fürst von Großborn neigte leicht seinen Kopf und Fürst von Buchenhain verließ den Salon seiner Tochter. Er ertrug es nicht länger, Zeuge ihres Todeskampfes – oder war es ein Kampf für das Leben? – zu sein.
Er floh in jenen Raum, den seine Frau einen Tag vor ihrer Hochzeit bewohnt hatte. Über dem Rokokospiegel hing ein großes Gemälde, das sie als ganz junges Mädchen darstellte. Fürst von Buchenhain hatte sich das Bildnis damals von ihrem Vater, dem Fürsten von Caragiola, erbeten.
Er hängte das Gemälde ab und hielt es weit von sich gestreckt. Amalia hatte die Lippen leicht geöffnet. Es war, als ob sie erstaunt auf etwas lauschte.
Erst jetzt, wo er vielleicht auch Amalias und seine Tochter verlor, verstand der Fürst seine Frau. Er wünschte sich, alles wiedergutmachen zu können. Amalia war tot, aber Diana lebte noch.
Und plötzlich wusste Fürst von Buchenhain, was er zu tun hatte. Er begab sich mit raschem, entschlossenem Schritt in sein Arbeitszimmer und fand in einer der obersten Schubladen seines Schreibtisches die Anschrift Hubertus von Hombergs in Paris, die ihm vom Detektivbüro übermittelt worden war.
Der Fürst stellte die Telefonverbindung her. Mit schmerzhaft klopfendem Herzen wartete er darauf, die Stimme des jungen Grafen zu hören.
Er musste lange warten, bis sich jemand meldete. Es war eine Frau.
In französischer Sprache fragte der Fürst nach dem Grafen von Homberg und musste erfahren, dass dieser schon seit einer Woche nicht mehr in Paris lebte, sondern nach dem großen Erfolg seines Buches nach Deutschland zurückgekehrt war.
Die Frau beschrieb Fürst von Buchenhain mit übersprudelnden Worten, dass die Fernsehleute und Journalisten ihr täglich noch immer das Haus einstürmen würden, um von dem Grafen ein Interview zu erhalten.
»Wie ist der Titel des Buches?«, wollte Fürst Buchenhain wissen, damit er anhand des Titels so schnell wie möglich den deutschen Verleger und damit Hubertus’ Aufenthaltsort ausfindig machen konnte.
»Geschichte einer Liebe«, antwortete die Frau mit einem glücklichen Seufzer.
»Danke. Danke, Madame«, sagte Fürst von Buchenhain und hängte den Hörer zurück auf die Gabel.
Geschichte einer Liebe, und wenn der Graf nun gar nicht Diana meinte? Wenn sie vielleicht für ihn nicht mehr als ein schönes amüsantes Abenteuer war, wie es die jungen Leute heutzutage doch öfter erleben, ohne sich Gedanken darüber zu machen?
Es dauerte eine halbe Stunde, dann wusste Fürst von Buchenhain, dass Graf Hubertus von Homberg sich in Hamburg aufhielt. Es handle sich um eine zweitägige Privatreise, teilte der Verleger, mit dem Fürst von Buchenhain gesprochen hatte, ihm mit.
»Werden Sie heute noch mit dem Grafen telefonisch sprechen?«, rief Fürst von Buchenhain am Ende seiner Kraft.
»Das ist möglich, Fürst. Mit Sicherheit kann ich nur angeben, dass Graf von Homberg mich übermorgen aufsuchen wird.«
»Richten Sie ihm bitte aus, dass ich … Nein, sagen Sie, dass meine Tochter ihn erwartet. Er möchte bitte sogleich anrufen. Jede Minute, die der Graf länger wartet, kann zu spät sein.«
»Ich werde es dem Grafen sagen, Durchlaucht!«
»Und bitte, schicken Sie mir eine Ausgabe des Buches von Hubertus von Homberg.«
»Sehr gern, Durchlaucht.«
Erschöpft ließ sich Fürst von Buchenhain im Stuhl zurücksinken. Er schloss die Augen.
Er schreckte zusammen, als jemand an seine Tür klopfte.
»Herein!«
Es war einer der Ärzte.
Wachsbleich im Gesicht erhob Fürst von Buchenhain sich.
»Ist sie – ist meine Tochter …«, brachte er mühsam hervor.
»Es ist notwendig, dass Sie einen Gynäkologen kommen lassen, Durchlaucht. Professor von Wenck, Schwester Mathilde und auch ich besitzen nicht die notwendigen Erfahrungen, um die bevorstehende schwierige Geburt durchzuführen.«
»Heute? Jetzt?«
»Ja, Durchlaucht, sofort! Ich musste Ihre Erlaubnis haben, um nach Professor Menrath zu rufen, den ich für am geeignetsten halte.«
»Dann telefonieren Sie doch schon! Was warten Sie denn so lange!«
Der Arzt rief den Kollegen herbei.
Fürst von Buchenhains Bitte, noch einmal an das Bett seiner Tochter treten zu dürfen, wurde abgewiesen. Fast war der Fürst dankbar dafür.
Er wartete noch auf die Ankunft des zweiten Professors, dann schloss er sich in seine Bibliothek ein.
Wenn das Kind geboren worden war und wenn man wusste, dass Diana die Geburt wohl überstanden hatte, möge man dreimal kurz hintereinander an die Tür klopfen, wies er seinen Sekretär an.
Drei furchtbare Stunden verbrachte Fürst von Buchenhain allein in der Bibliothek.
Dann pochte jemand dreimal kurz hintereinander an die Tür.
Zögernd und voller Furcht öffnete der Fürst.
Vor ihm stand Schwester Mathilde. Sie lächelte sogar.
»Es ist ein Junge, Fürst.«
»Und …« Der Fürst, den so viele Fragen gleichzeitig bewegten, wagte keine einzige von ihnen zu stellen.
»Der Kleine ist ganz gesund, Fürst. Und die Mama wird es auch überstehen. Hab’ ich es nicht gesagt? Sie hat einen eisernen Willen, Ihre Tochter, Durchlaucht!«
»Darf ich meine Tochter sehen? Bitte…«
»Nur ganz kurz. Und erschrecken Sie nicht. Die Geburt hat sie sehr mitgenommen. Sie ist noch nicht aus der Narkose erwacht.«
Schwester Mathilde und Fürst von Buchenhain gingen in Dianas Schlafzimmer. Wären die beiden Ärzte und die Schwestern nicht anwesend gewesen, wäre Fürst von Buchenhain vielleicht neben seinem Kind zu Boden gesunken. Nur mit äußerster Kraftanstrengung vermochte er, gegen die Ohnmacht anzukämpfen.
»Nun gucken Sie sich den Kleinen an, Durchlaucht«, bat Schwester Mathilde.
Sie führte den Fürsten in den angrenzenden Salon und hob ein winziges Bündel hoch, das in weiße Tücher gehüllt war. Das Bündel hatte kein einziges Haar auf dem Kopf und besaß ein krebsrotes Gesicht.
»Glauben Sie mir, Durchlaucht, das wird einmal ein schöner junger Mann werden. Fast alle Babys sehen so aus. Und es war ja auch nicht leicht für den Jungen.«
Der winzige Mensch gab Schmatzlaute von sich und öffnete dann weit seinen Mund.
»Finden Sie nicht auch, dass er eigentlich jetzt schon sehr hübsch ist, Schwester Mathilde?«, fragte der Fürst mit aufflammender Freude.
»Natürlich, er ist ein Schatz. Nicht wahr, du bist ein Schätzchen?«, fragte die sonst so herbe Schwester und legte das Baby in sein Körbchen zurück.
*
Markus von Homberg war einer der ersten, den Hubertus nach seiner Rückkehr aus Paris von Hamburg aus anrief.
»Wo bist du?«, rief Markus in die Telefonmuschel, nachdem Hubertus sich gemeldet hatte.
»In Hamburg. In einer Woche komme ich nach München. Hast du von meinem Buch gehört?«
»Lass das Buch jetzt, Hubertus. Es gibt Wichtigeres. Wo ist Diana?«
Mehrere Sekunden lang herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen.
»Frag mich das noch einmal, Markus.«
»Du weißt also nicht, wo sie ist?«
»Nein.«
»Sie kann doch nicht vom Erdboden verschwunden sein.«
»Bitte, Markus, drücke dich ein wenig deutlicher aus. Was ist passiert? Erzähl mir alles. Bitte, schnell.«
»Nicht am Telefon. Wann kannst du frühestens nach München kommen?«
»Mit der nächsten Maschine. Hol mich bitte vom Flughafen ab. Frag einfach nach der nächsten Maschine, die von Hamburg aus in München landet.«
»Gut, Hubertus. Ich hole dich vom Flughafen ab.«
Markus von Homburg fuhr sofort los.
Zwei Stunden später landete ein Jet aus Hamburg. Von der Zuschauertribüne aus erkannte Markus unter den Fluggästen, die zum Ankunftgebäude gingen, seinen Kusin.
Markus lief die Treppen hinunter und erreichte Hubertus hinter der Passkontrolle.
Sie setzten sich in Markus’ Wagen. Nachdem sie das Flughafengebäude hinter sich gelassen hatten und über schneebedeckte schmale Landstraßen fuhren, bat Hubertus seinen Kusin doch bitte anzuhalten.
»Erzähl bitte, Markus. Ich verstehe nämlich nichts. Erzähl also bitte alles, was du über Diana und mich weißt.«
»Eben leider sehr wenig. Es ist mir einfach nicht gelungen, sie wiederzufinden, nachdem sie bei Maria ausgezogen ist.«
»Fang von vorn an. Ich verstehe immer weniger, Markus.«
Mit brennenden Augen sah Hubertus seinen Kusin an.
Graf Markus von Homberg begann von den Ereignissen zu berichten, die sich während Dianas fast viermonatigem Aufenthalt in München zugetragen hatten.
Er versuchte, sich ihres Aussehens, ihrer Worte zu erinnern.
Hubertus war zusammengezuckt und saß wie erstarrt, nachdem Markus ihm von dem Kind erzählt hatte, das Diana erwartete. Er fühlte, wie sein Mund ganz trocken wurde, und ihm kalter Schweiß ausbrach. Gleichzeitig begann sein Herz wie wild zu schlagen.
»Und jetzt?«, stieß er dumpf hervor, als Markus schwieg.
»Sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Maria, die Studentin, und ich haben unsere Nachforschungen inzwischen aufgegeben. Maria hat sofort jemanden nach Schloss Buchenhain geschickt, um zu erfahren, ob Diana inzwischen wieder zu ihrem Vater zurückgekehrt war. Aber auf Buchenhain war sie auch nicht.«
Hubertus biss die Zähne ganz fest aufeinander. Er glaubte, den Schmerz in sich nicht ertragen zu können.
»Kannst du mir deinen Wagen leihen?«, fragte er plötzlich voller Hast.
»Natürlich. Was willst du damit machen?«
»Ich fahre nach Buchenhain. Ich werde mit diesem Vater abrechnen. Es ist mir gleichgültig, was hinterher passiert. Und wenn er weiß, wo Diana ist, wird er es mir sagen. Ich werde ihn zwingen.«
»Pass auf dich auf, Hubertus. Mach keine Dummheiten.«
»Dummheiten habe ich hinter mir, Markus. Jetzt werde ich endlich tun, was schon seit langem notwendig gewesen wäre. Diana und ich waren zu jung und zu unerfahren, wir haben uns betrügen lassen. Aber jetzt bin ich aus meinem Dornröschenschlaf aufgewacht, Markus. Ich fahre dich zurück zum Flughafen. Kannst du von dort aus die Bahn oder ein Taxi nehmen?«
»Natürlich. Ich meine nur, du solltest bis morgen warten. Die Straßen sind vereist. Ich habe vorhin mehrere Warnmeldungen gehört, Hubertus.«
»Ich hab’ schon viel zu lange gewartet, Markus.«
Hubertus und Markus von Homberg wechselten die Plätze. Hubertus startete den Motor und fuhr zurück zum Flughafen. Dort stieg Markus aus und Hubertus fuhr auf die Autobahn, die ihn in die Nähe von Schloss Buchenhain bringen würde.
*
Eine Stunde später geriet Hubertus in einen Autostau, der über fünf Kilometer lang war. Die Ladung eines Überlandwagens war auf die Autobahn gekippt. Hubertus erfuhr, dass keine Aussicht bestand, dass die Autobahn bald geräumt werden konnte.
Es hatte wieder zu schneien begonnen. An ein Zurückkehren oder Ausweichen über eine Landstraße war nicht zu denken.
Polizeibeamte versorgten die Autofahrer mit warmen Decken und Getränken.
Erst nach Mitternacht wurde die Autobahn geräumt. Hubertus war wie erstarrt vor Kälte. Er fuhr zu einem der Autobahnhotels und übernachtete dort.
Wegen Eisglätte auf der Autobahn konnte er seine Reise nur sehr vorsichtig und langsam fortsetzen. So war es fast elf Uhr, als er durch den Ort Buchenhain kam.
Auf dem hohen schmiedeeisernen Gitter, vor dem Hubertus bald darauf stand, lagen weiße Schneehäubchen.
Er stieg aus, um das Tor zu öffnen.
Im gleichen Augenblick erblickte er einen hochgewachsenen, schlanken jungen Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe und schütterem Haar.
Er starrte auf Hubertus. Seine Hand lag auf der Verriegelung des Tores.
»Wollen Sie das Tor nicht öffnen?«, fragte Hubertus ungeduldig und übermäßig erregt.
»Woher kommen Sie?«
»Hier ist meiner Meinung nach nicht der richtige Ort und auch nicht die passende Zeit, um Konversation zu betreiben. Mein Name ist Graf Hubertus von Homberg.«
Hubertus nannte sonst nie seinen Titel. Er hoffte jetzt jedoch, dass dieser Titel den Mann hinter dem Tor dazu bewegen könnte, ihn einzulassen.
Der schmale Mund von Fürst Friedrich von Großborn krümmte sich kaum merklich. In seinen grauen Augen lag Eiseskälte.
»Ich habe es mir gedacht«, sagte er leise und wie drohend.
»Machen Sie das Tor auf!«, rief Hubertus. Er konnte sich nicht länger beherrschen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Zu seiner Verwunderung kam der Mann seiner Aufforderung sofort nach.
»Hören Sie, Graf«, sagte er mit der gleichen drohenden Stimme. »Ich bin mit der Fürstin verlobt. Und wir werden heiraten. Gehen Sie weg und kommen Sie nie wieder! Diana, die Fürstin, hat Sie vergessen und will durch Ihr Erscheinen nicht noch einmal beleidigt und gedemütigt werden!«
Hubertus entnahm Fürst von Großborns Worten nur die Tatsache, dass Diana sich im Schloss befand.
Er vergaß den Wagen seines Kusins, der vor dem Tor stand. Mit einer heftigen Bewegung schob er Friedrich von Großborn beiseite, so dass er gegen das eiserne Gitter geschleudert wurde und stürzte an ihm vorüber.
Der Fürst rief ihm etwas nach. Einen kurzen, knappen Befehl, aber Hubertus hörte nicht darauf. Hätte Friedrich in diesem Augenblick eine Pistole gehabt, vielleicht hätte er geschossen. Sein Hass war stärker als jedes Gefühl, das er in seinem Leben empfunden hatte.
Hubertus lief am langgestreckten Bassin entlang. Er keuchte, als er die wenigen Stufen der äußeren Freitreppe hinaufsprang.
Fürst von Buchenhain hatte ihn vom Fenster des Weißen Salons aus kommen sehen und war ihm eilig entgegengegangen.
In der Halle des Schlosses stießen die beiden Männer, der junge und der alte, zusammen.
Hubertus warf den Kopf in den Nacken. Eiserner Wille, sich durch niemanden und nichts aufhalten zu lassen, beherrschte ihn.
»Hindern Sie mich nicht, zu Diana zu gehen, Fürst!«, schleuderte er Fürst von Buchenhain statt einer Begrüßung entgegen.
Dianas Vater maß den jungen Mann aufmerksam. Er war ein Heißsporn. Unberechenbar und wild. Aber er war jung.
»Ich hindere Sie nicht, Graf«, antwortete der Fürst fast milde.
In diesem Augenblick wurde die Eingangstür zur Halle noch einmal geöffnet. Fürst Friedrich von Großborn trat ein.
Seine Lippen waren schmaler als ein Strich. Sein Gesicht grau.
Der Sekretär des Fürsten trat aus der Bibliothek.
»Zeigen Sie Graf von Homberg bitte, wo sich die Zimmer meiner Tochter befinden«, bat Fürst von Buchenhain gelassen.
Der Sekretär führte Hubertus die marmorne Treppe hinauf.
Friedrich von Großborn maß den Fürsten mit leicht zusammengekniffenen Augen.
»So ist das also«, brachte er dann leise hervor.
»Ja, Fürst. So ist das. Sie und ich haben versucht, das Schicksal in eine uns gemäße Richtung zu lenken. Es ist uns nicht gelungen. Stimmen Sie mir nicht zu, Fürst, wenn ich meine, dass es jetzt an der Zeit ist, uns dem Schicksal zu beugen?«
»Ich stimme Ihnen nur darin zu, Fürst, dass es an der Zeit ist, unsere Wege zu trennen.«
»Ich bedaure es, Fürst.«
»Es fällt mir nicht leicht, das zu glauben, Fürst von Buchenhain.«
Friedrich von Großborn strich sich mit der Hand über das schüttere Haar, kniff die Lippen noch einmal fest aufeinander, verneigte sich kaum merklich vor Fürst von Buchenhain und verließ dann das Schloss.
Fürst von Buchenhain hörte die Schritte seines Sekretärs auf der Marmortreppe.
Er wandte sich rasch ab, denn er wollte jetzt mit niemandem sprechen.
Während eben dieser Minute stand Hubertus stumm neben Dianas Bett.
Stumm sahen sie sich an.
Und stumm neigte Hubertus sich zu Diana hinab, um mit seinem Mund ihre heißen Lippen zu berühren.
Er ließ sich neben dem Bett nieder und presste ihre Hand gegen seine Augen.
Die Hand wurde feucht.
Diana zog sie sanft fort und legte sie auf Hubertus’ Haar.
»Hast du ihn schon gesehen?«, fragte sie fast unhörbar.
»Wen?« Hubertus dachte an den Fremden, der ihm den Einlass verwehren wollte.
»Unseren Sohn.«
»Du – du …« Hubertus konnte nicht weitersprechen.
Er umschlang Diana mit beiden Armen. Sie streichelte seinen Rücken und sein Haar. Ein wissendes Lächeln umspielte dabei ihre Lippen.
Alles, was geschehen war, wurde bedeutungslos. Die Monate der Verzweiflung, der Einsamkeit, der Schmerzen. Ihre Sehnsucht zu sterben, weil sie geglaubt hatte, die Qualen und die Einsamkeit nicht länger ertragen zu können.
Hubertus war gekommen. Und mit ihm war der Lebenswille in Diana zurückgekehrt.
»Ich habe es vielleicht immer gewusst«, flüsterte sie.
»Ich konnte nur leben, weil ich unser Buch geschrieben habe, liebe, liebste Diana.«
Ein Lächeln stahl sich in Hubertus’ blaue Augen. Es entzündete das gleiche Lächeln in Dianas schwarzen Augen.
In dieser Sekunde trat Schwester Mathilde ein. Sie trug das winzige Baby auf dem Arm.
»Dein Vater ist zu uns gekommen, mein Kleiner«, flüsterte Diana, als Schwester Mathilde ihr das Baby in den Arm legte.
Die Schwester warf Hubertus einen aufmerksamen und ein wenig misstrauischen Blick zu. Hätte er denn nicht ein wenig früher kommen können? Das war er also, der junge Mann, nach dem die Prinzessin in ihren Fieberträumen immer gerufen hatte.
Hubertus betrachtete seinen Sohn voller Staunen.
Er wagte gar nicht, ihn zu berühren.
»Ist er nicht hübsch?«, fragte Diana mit leuchtenden Augen.
Hubertus fand das gar nicht. »Babys müssen wohl so aussehen?«, fragte er unsicher.
»Er ist ein sehr hübsches Kind«, entgegnete die Krankenschwester bestimmt.
Sie reichte Diana, die zu ihrem Kummer nicht stillen konnte, das Fläschchen und verließ dann den Raum.
Das Baby sog genußvoll an der Flasche. Hubertus hatte eine Hand auf Dianas Arm gelegt. Nur das Schmatzen des Kindes war zu hören.
Als es die Flasche fast ausgetrunken hatte und einschlafen wollte, reichte Diana Hubertus das Baby und bat: »Dein Sohn möchte jetzt von dir getragen werden.«
Hubertus wagte kaum sich zu bewegen, als er den Kleinen auf dem Arm hielt. Seine Erschütterung und seine Freude waren so stark, dass er am liebsten geweint hätte.
»Wie heißt er denn?«, fragte Hubertus.
»Weißt du es nicht? So wie du, mein Liebster.«
»Meinst du, er wird sich an mich gewöhnen, Diana?«
»Sieh doch nur, wie er sich in deinen Arm kuschelt. Er weiß bestimmt, dass er bei seinem Vater ist.«
Hubertus neigte seinen Kopf hinab und berührte mit seinen Lippen voller Zärtlichkeit die zerkrauste Stirn seines Sohnes.
»Ich lass deine Mama und dich nie mehr allein, mein Sohn!«
Dann legte er den Sohn Diana auf das mit feinsten Spitzen versehene Kopfkissen zurück.
»Es ist schön, euch beide nebeneinander liegen zu sehen.«
»Küsse mich, Hubertus.«
In Dianas Augen schimmerte es feucht.
Hubertus küsste eine Träne, die über ihre blasse Wange kullerte, voller Zärtlichkeit und Liebe fort.
»Jetzt hast du keine Angst mehr?«, fragte er leise.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich weine nur, weil ich so schrecklich glücklich bin.«
»Bald wirst du lachen, weil du glücklich bist, Diana! Wir werden bald heiraten.«
Sie küssten sich wieder.
»Woran denkst du, mein Liebling?«
»An uns, Hubertus!«