Читать книгу Sophienlust Bestseller Box 2 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 6
ОглавлениеWie ein endloses helles Band lag die Autobahn vor ihnen. Klaus Meinradt, der dreiunddreißigjährige Versicherungskaufmann, hielt das Steuer fest und sicher in den Händen. Er war ein begeisterter Autofahrer, und am glücklichsten war er, wenn er seine kleine Familie bei sich hatte.
»Bin ich froh, wenn wir endlich wieder zu Hause sind«, stöhnte Iris, seine junge Frau. Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Das ist ja eine mörderische Hitze heute.«
Klaus nickte und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich weiß, ich hätte dir das nicht zumuten dürfen in deinem Zustand«, gab er etwas kleinlaut zu und warf seiner Frau einen besorgten Blick zu.
Iris Meinradt war hochrot im Gesicht, was durch ihre halblangen, hellblonden Haare noch hervorgehoben wurde. Ergeben seufzte sie und legte ihre Hände wie schützend um ihren Leib. Sie mußte an das Kind denken, das sie in etwa zwei Monaten erwartete, und das ihr in den letzten Tagen bereits ganz schön zu schaffen machte.
»Jetzt sind wir gleich zu Hause, Mutti«, tröstete der kleine Ulli, der auf dem Rücksitz saß und unablässig seinen Hund Timo streichelte. Er hatte ihn zum letzten Weihnachtsfest geschenkt bekommen, weil er sich so sehr ein Tier gewünscht hatte.
»Gott sei Dank, Ulli«, gab Iris seufzend zu und wendete ihren Kopf, damit sie ihren Sohn ansehen konnte. Ulli war ein hübscher, aufgeweckter Junge, der eigentlich mehr seinem Vater ähnelte als seiner Mutter. Sein dichtes, dunkles Haar fiel in wirren Locken in die hohe Stirn, und seine großen, dunklen Augen schauten wachsam und intelligent in die Welt, die er mit seinen fast fünf Jahren erst noch entdecken mußte.
»Schalte doch bitte das Radio ein. Vielleicht wird uns das ein bißchen von der Hitze ablenken. Wenn ich an die zwei Monate denke, die ich noch durchzustehen habe, dann wird mir angst und bange«, klagte nun die Schwangere und machte ein gespielt verzweifeltes Gesicht. Sie freute sich ja auch über den Zuwachs, den sie schon lange geplant hatten.
Insgeheim wünschte sich die junge Frau ein Mädchen, denn einen Jungen hatten sie ja schon. Mit ihrem Mann Klaus wollte sie darüber nicht sprechen, weil sie wußte, daß auch er auf eine Tochter hoffte. Und sie wollte ihn nicht enttäuschen.
»…kommt Ihnen ein Auto entgegen. Fahren Sie deshalb äußerst rechts und überholen Sie nicht. Sie werden von uns unterrichtet, wenn die Gefahr vorüber ist.« Die Stimme aus dem Lautsprecher verstummte, und Musik setzte wieder ein.
»Hast du das gehört, Liebes? Da hat doch wieder so ein Idiot die Einfahrt mit der Ausfahrt verwechselt«, schimpfte Klaus und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie kann man nur? Die Autobahn ist so gut beschildert. Solchen Leuten sollte man gleich den Führerschein auf Lebenszeit abnehmen, wenn sie nicht einmal imstande sind, auf der richtigen Seite zu fahren.«
»Erst muß man diese Leute haben. Meistens passiert vorher ein Unfall. Ich habe auch schon gehört, daß sich manche einen Spaß daraus machen und sogar Wetten darüber abschließen«, fuhr Iris fort und wischte sich wieder das verschwitzte Gesicht ab.
»Stimmt. Das sollen wohl ganz tolle Mutproben sein. Ich kann mir nur nicht vorstellen, was daran mutig sein soll. Das ist in meinen Augen irrsinnig und unverantwortlich den anderen Autofahrern gegenüber. Wie viele Menschen mußten wegen solcher Idioten schon ihr Leben lassen.« Er runzelte ärgerlich dieStirn.
»Zu dumm, daß wir nicht gehört haben, auf welcher Autobahn der Geisterfahrer ist.« Iris stöhnte und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die an ihrer Schläfe klebte.
»Hast du gehört, Timo? Auf der Autobahn gibt es sogar Geister«, erzählte Ulli seinem Hund, der seinen kleinen Herrn aufmerksam anschaute.
Timo war ein kluger Hund mit langen braunen Schlappohren und dunklen, treublickenden Augen. Sein Kopf und sein braun-weiß gescheckter Leib wirkten etwas zu groß für die kurzen Beinchen, was ihm ein etwas tolpatschiges Aussehen verlieh. Aber er war die Gutmütigkeit in Person und deshalb genau der richtige Spielkamerad für einen fünfjährigen Jungen.
»Aber Ulli, ich habe dir doch schon hundertmal erklärt, daß es keine Geister gibt.«
»Du hast es aber gesagt, Mutti«, beharrte der Junge und nickte verstohlen seinem Hund zu. »Nicht wahr, du hast es auch gehört«, flüsterte er Timo ins Ohr.
Zustimmend wedelte der Hund mit dem Schwanz.
Iris Meinradt lächelte zärtlich und seufzte gespielt auf. »Ach ja, seit Ulli seinen Timo hat, glaubt er mir gar nichts mehr. Kein Wunder, der Hund gibt ihm ja auch immer recht.«
»Er ist eben klüger als wir«, antwortete Klaus lachend. »Timo weiß eben, daß es wenig Sinn hat, sich mit Ulli anzulegen. Ich bin bloß gespannt, wie es unser Zweites einmal mit seinem Bruder halten wird. Vielleicht hat es einen noch größeren Dickschädel als unser Großer.« Vorsichtig legte Klaus seine Hand auf den gewölbten Bauch seiner Frau.
Glücklich ließ sie es geschehen, denn es bewies ihr, wie sehr sich ihr Mann auf den erwarteten neuen Erdenbürger freute.
»Ich habe nicht von einem Geist gesprochen, sondern von einem Geisterfahrer, Ulli. Und das ist ein ganz großer Unterschied. Ein Geisterfahrer ist ein Autofahrer, der auf der falschen Seite fährt und damit andere in Gefahr bringt.« Geduldig erklärte Iris ihrem Sohn den Ausdruck, bis er ihn verstanden hatte.
»Ich habe schrecklichen Durst, Mutti«, bekannte Ulli nach einer Weile.
»Ich auch, mein Kleiner. In ungefähr zehn Minuten sind wir von der Autobahn herunter, und dann ist es nicht mehr weit bis nach Hause. Ich glaube, ich kann jetzt auch den Gurt lösen.« Fragend schaute die Schwangere ihren Mann an.
»Lieber nicht, mein Schatz. Man weiß nie, was passiert«, widersprach Klaus.
»Ach was, es ist ja nicht mehr weit. Ich halte diesen Druck nicht mehr aus. Er nimmt mir die Luft zum Atmen. Und unserem Kind scheint es auch nicht zu gefallen. Es stampft und zappelt, als wollte es mir zu verstehen geben, daß es mehr Platz braucht.«
Klaus lachte herzlich, und Iris stimmte mit ein. Dabei drückte sie auf den roten Knopf und der Gurt sprang zurück. Endlich war sie frei und konnte wieder richtig durchatmen.
»Ich will auch los, Mutti, damit ich Timo besser streicheln kann«, meldete sich Ulli und zerrte ebenfalls an seinem Gurt.
»Kommt gar nicht in Frage, mein Sohn. Die paar Minuten wirst du es schon noch aushalten.« Iris hob die Arme und streckte sich, so gut es in dem kleinen Raum möglich war. »Ah, das tut gut«, sagte sie und holte tief Luft.
»Mir wäre es lieber, wenn du dich wieder anschnallen würdest«, tadelte Klaus. »Stell dir vor, ich muß plötzlich bremsen. Bei der Geschwindigkeit gibt es für dich kein Halten mehr.«
»Nun ärgere mich nicht. Du weißt, daß ich es nicht aushalten kann. Außerdem ist es ja nicht mehr weit«, sagte die junge Frau und legte ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes.
»Trotzdem«, beharrte Klaus. Irgendwie hatte er das Gefühl drohenden Unheils. »Ich würde mich bedeutend wohler fühlen, wenn du dich wieder angurten würdest.«
»Und ich würde mich bedeutend unwohler fühlen.« Iris war leicht beleidigt. »Außerdem wolltest du unbedingt diesen Ausflug machen. Ich war gleich von Anfang an dagegen.«
Das mußte Klaus zugeben. Aber Ulli hatte so gebettelt, daß er ihm nicht hatte widerstehen können. Außerdem fühlte auch er sich wohl auf dem Reiterhof, den sich seine Schwester und sein Schwager in der Hohenloher Ebene gekauft hatten.
Nur Iris hatte sich noch nie besonders gut mit Annegret verstanden. Die beiden Frauen waren sich zu ähnlich. Beide besaßen einen Dickkopf und waren es gewöhnt, sich durchzusetzen. Holger, Annegrets Mann, war seinem Schwager Klaus ebenfalls ähnlich. Er steckte bei Differenzen auch lieber zurück und dachte sich seinen Teil, ehe er sich mit seiner Frau stritt. »Der Klügere gibt nach«, pflegte er in diesen Fällen immer zu sagen.
Genau das dachte in diesem Augenblick auch Klaus Meinradt und schwieg. Daß er das noch lange würde bereuen müssen, ahnte der junge Mann nicht. Seine Gedanken waren noch bei seiner Schwester, die ihm beim Abschied nahegelegt hatte, sie als die Paten bei seinem zweiten Kind vorzusehen. Klaus wußte, daß Iris davon nicht sonderlich begeistert war, aber er wollte seiner Schwester den Gefallen tun, zumal er wußte, daß Annegret und Holger Schwartz nie eigene Kinder würden haben können.
In diesem Augenblick entdeckte er ihn. Er kam geradewegs auf ihn zu. Der Geisterfahrer!
»Spinnt der denn? Haltet euch fest!« konnte Klaus noch rufen. Verzweifelt riß er das Steuer herum und stieß gegen die Leitplanke. Er wußte gar nicht mehr, was er tat. Plötzlich war das entgegenkommenden Auto direkt vor ihm.
Den häßlichen Knall, den der Zusammenprall der beiden Autos verursachte, hörte er schon nicht mehr. Er hatte zwar noch versucht, dem Geisterfahrer auszuweichen, doch es hatte nicht mehr gereicht.
Der rote Sportwagen, dessen Fahrer total betrunken war, wie sich später herausstellte, prallte voll auf ihn drauf.
Klaus vernahm nur noch Iris’ entsetzten Aufschrei, dann verlor er das Bewußtsein.
Durch die Wucht des Aufpralls wurde die schwangere Frau aus dem Auto geschleudert. Ein nachfolgender Autofahrer, der mit seiner Familie ebenfalls auf dem Heimweg war, konnte nur noch flüstern: »Da kann niemand mehr helfen«, während er mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam.
Die ältere, wohlbeleibte Frau schlug die Hände vors Gesicht. »Fahr bitte weiter, Gerhard, ich kann das nicht sehen«, bat sie im ersten Schreck.
»Nein, das geht nicht, Luise. Ich muß nachsehen, ob ich vielleicht etwas helfen kann.« Der Mann hatte ganz weiche Knie. Er wagte nicht, auszusteigen, weil er ahnte, was ihn erwartete. »Wenn da noch einer lebend herauskommt, ist das für mich das reinste Wunder«, sagte er leise.
Plötzlich kam Leben in seine Frau, die den ersten Schock schneller überwunden hatte als ihr Mann. »Dort hinten habe ich vorhin eine Notrufsäule gesehen. Während du nachsiehst, ob noch jemand am Leben ist, werde ich schnell zurücklaufen und die Rettung alarmieren.« Entschlossen schob sie ihren massigen Leib aus dem kleinen Fahrzeug.
Mit einem Blick übersah Gerhard Hohl die Situation. Die junge Frau lag mit seltsam verdrehtem Hals auf der Straße. Auch das, was er in den beiden demolierten Autos sah, war entsetzlich. Der Fahrer des Sportwagens rührte sich nicht mehr. Sein Gesicht war unverletzt, aber die blauen Augen waren von dem Entsetzen der letzten Sekunden weit aufgerissen. Sein Blick starrte ins Leere. Aus seinem Mund lief ein dünner Blutfaden.
Da entdeckte Gerhard Hohl, daß sich in dem anderen Wagen etwas bewegte. Erschrocken zuckte er zusammen. Sollte etwa doch noch jemand überlebt haben?
Plötzlich vernahm er das leise Jaulen eines Hundes. Ein kalter Schauer lief ihm über seinen Rücken. Ausgerechnet ein Hund hatte diesen gräßlichen Unfall überlebt.
Mit gemischten Gefühlen starrte der Mann durch das unbeschädigte Fenster ins Wageninnere. Vorne saß der Fahrer, ein noch junger Mann. Er war angeschnallt, und sein Kopf lehnte an der Nackenstütze. Eigentlich machte er einen unverletzten Eindruck, aber sein Gesicht war wachsbleich.
Vergeblich versuchte Gerhard Hohl, die Fahrertür zu öffnen. Sie hatte sich durch den Aufprall verklemmt. Hier konnte nur noch die Feuerwehr mit der Blechschere helfen.
Sein Blick fiel nach hinten auf den Rücksitz. Große, fast schwarze Augen starrten ihn angstvoll an. Sie gehörten zu einem kleinen Jungen, der, da er noch immer angeschnallt war, anscheinend keinen körperlichen Schaden erlitten hatte. Neben ihm saß ein komisch anzusehender Hund, dem ebenfalls nichts passiert zu sein schien.
Fassungslos griff sich der ältere Mann an den Kopf. Das überstieg sein Begriffsvermögen. Hier hatte bestimmt ein Schutzengel seine Hände darübergehalten, anders konnte er sich das nicht erklären.
Während der Mann noch überlegte, wie er dem Jungen und dem Hund helfen könnte, hörte er schon das Horn des Rettungswagens. Erleichtert atmete er auf. Jetzt war die Hilfe nicht mehr weit.
Wie ein Verrückter riß er an der hinteren Tür, und endlich gelang es ihm, sie zu öffnen.
»Tut dir etwas weh, mein Junge?« fragte er heiser. Fast versagte ihm die Stimme vor innerer Anspannung.
Ulli schüttelte den Kopf, seine Lippen hatte er fest zusammengepreßt.
»Komm, dann werde ich euch beide erst einmal herausholen.« Er öffnete den Gurt und hob das Kind hoch. »Du auch, Hund, komm«, sagte er dann, als er Ulli in seinen Armen hielt.
Aber das Tier reagierte nicht, es winselte nur leise.
»Dann eben nicht.« Gerhard Hohl wollte das Kind zu seinem Wagen tragen. Aber plötzlich begann Ulli wild zu strampeln. »Timo muß mit. Was ist mit meinem Timo?«
»Ich hole ihn gleich, Junge. Aber zuerst muß ich dich in Sicherheit bringen.« Vorsichtig trug Gerhard Hohl das Kind zu seinem Auto, wo bereits seine Frau Luise wartete.
Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Dem Jungen ist ja gar nichts geschehen«, rief sie fassungslos aus.
»Er war angeschnallt«, wurde sie von ihrem Mann unterrichtet. »Da siehst du es wieder, was das ausmacht.«
Liebevoll nahm Frau Hohl ihrem Mann das Kind ab und setzte es auf ihren Schoß. »Wie heißt du denn, Kleiner«, versuchte sie, den Jungen abzulenken.
Aber Ulli ging nicht darauf ein. »Holt er Timo?« wollte er wissen. Dann stemmte er plötzlich seine Arme gegen die freundliche Frau und zappelte wild. »Ich will zu meiner Mutti und meinem Vati. Du bist nicht meine Mutti«, rief er zornig.
Luise Hohl, die bisher in ihrem Leben wenig mit Kindern zu tun gehabt hatte, fühlte sich dieser Situation ziemlich hilflos ausgeliefert. Darum war sie froh, als ihr Mann endlich mit dem Hund auf dem Arm zurückkam.
»Ich glaube, den hat es auch ganz schön erwischt«, sagte er mitleidig und setzte das Tier vorsichtig auf den Rücksitz seines Fahrzeuges. »Mindestens ein Bein ist gebrochen.«
»Timo soll zu mir kommen. Ich will meinen Timo haben«, beharrte der Junge, und nun liefen ihm Tränen über die Wangen.
»Dein Hundchen ist krank. Es braucht einen Doktor«, versuchte die Frau den Jungen zu trösten.
In diesem Augenblick fuhr der erste Krankenwagen vor, gefolgt von einem Polizeiauto.
Der Notarzt stellte bei der jungen Frau die niederschmetternde Diagnose: Tod durch Genickbruch fest. Auch der Fahrer des Sportwagens war nicht mehr am Leben. Die Sanitäter deckten helle Planen über die Toten.
Inzwischen hatte ein Polizist die Feuerwehr angefordert, die bereits hierher unterwegs war und kurze Zeit später am Unfallort eintraf.
Vorsichtig holten die Männer dann Klaus Meinradt aus seinem demolierten Auto. Nachdem sie ihn provisorisch versorgt und auf eine Trage gelegt hatten, wandte sich der eine Sanitäter an Gerhard Hohl.
»Es sieht nicht gut aus, aber wir hoffen, daß er am Leben bleiben wird. Von unserer Seite wird alles dafür getan werden. Dann wandte er sich rasch um und stieg in den Notarztwagen, der mit heulenden Sirenen davonfuhr.
»Und was machen wir mit dem Kind und dem Hund?« fragte der Mann ratlos. Noch steckte ihm der Schreck in allen Gliedern. Darum bemerkte er auch nicht den jungen Polizeibeamten, der hinter ihn trat.
Erst als ihm seine Frau ein Zeichen gab, drehte er sich um. »Aus dem einen Auto habe ich ein Kind, einen Jungen, geholt. Ich glaube nicht, daß ihm etwas geschehen ist.«
Der Polizist schaute kurz in den Wagen der Hohls hinein und lächelte Ulli freundlich an. »Ist das dein Hund?«
»Das ist Timo«, gab der Junge höflich Auskunft. »Und jetzt will ich wieder zu meiner Mutti und zu meinem Vati.« Trotzig schaute er von einem zum anderen.
»Es wird das beste sein, Sie bringen das Kind vorerst nach Sophienlust. Das ist ein Kinderheim, nicht weit von hier«, sagte der junge Beamte und schaute Ulli mitleidig an.
»Meinen Sie, daß man ihn dort aufnehmen wird?« fragte Gerhard Hohl hoffnungsvoll. Ihm tat der Junge von Herzen leid, aber mit nach Hause nehmen konnte er ihn ja nicht.
»Da bin ich mir sogar ganz sicher«, bestätigte der Polizist. »Wenn Sie möchten, dann kann ich auch Frau von Schoenecker anrufen. Wenn sie es einrichten kann, holt sie das Kind bestimmt selbst ab. Haben Sie noch etwas Zeit?«
Erleichtert nickte der Mann, und auch seine Frau Luise war froh. »Wir warten natürlich so lange, bis alles geklärt ist«, stimmte sie zu und streichelte dem Jungen über das dicke, dunkelbraune Haar. »Das arme Kerlchen. Was wird dann mit ihm geschehen?«
Der Polizist zuckte die Schultern. »Das weiß ich auch nicht genau. Aber daß er es in Sophienlust gut haben wird, das kann ich Ihnen mit ruhigem Gewissen versichern. Außerdem lebt der Vater noch, soviel ich mitbekommen habe. Hoffentlich wird er wieder ganz gesund.«
»Zu wünschen wäre es dem Kind«, murmelte Frau Hohl mitleidig. »Und was wird aus dem Hund? Der ist doch auch verletzt.«
»Auch ihn wird Frau von Schoenecker sicherlich mitnehmen. Ihrer Stieftochter und deren Mann gehört nämlich das Tierheim Waldi & Co. Herr Dr. von Lehn ist Tierarzt, übrigens der beste in der ganzen Umgebung hier. Ich weiß das so genau, weil ich selbst aus Maibach stamme.« Der Polizist lüftete seine Dienstmütze, weil ihm darunter heiß geworden war.
Unbarmherzig brannte die Sonne herab, obwohl es schon später Nachmittag war.
»Eine schreckliche Geschichte«, murmelte Gerhard Hohl und schüttelte immer wieder den Kopf. »Mit einem Schlag eine ganze Familie ausgelöscht. Nur das Kind bleibt übrig. Was soll so ein kleines Wesen so allein auf dieser Welt?«
»Sei endlich still, Gerhard«, protestierte seine Frau. »Noch lebt der Vater ja.«
»Schon. Aber die Frau hätte in den nächsten Wochen wieder ein Kind bekommen. Das macht einem schon zu schaffen, wenn man das sieht«, bekannte der Mann mit unsicherer Stimme. Gedankenverloren starrte er dem Polizisten nach, der mit raschen Schritten zu seinem Auto ging, um in Sophienlust anzurufen.
*
»Die Kinder freuen sich bestimmt auf den heutigen Nachmittag,
stimmt’s, Schwester Regine?«
Die junge, aparte Frau nickte. »Da haben Sie wohl recht, Frau von Schoenecker. Den ganzen Tag reden sie schon von nichts anderem als von dem kleinen Zirkus, den sie heute in Maibach besuchen dürfen.« Regine Nielsen freute sich mindestens ebenso auf die Vorführung und anschließende Tierschau, aber das wollte sie nicht zugeben.
»Na, dann mal los«, gab Denise das Startzeichen. »Ich glaube, ich habe den Bus schon vorfahren hören.« In den strahlenden Augen der schönen, schwarzhaarigen Frau las Schwester Regine, daß diese sich mit ihnen freute, auch wenn sie selber keine Zeit zum Mitkommen hatte.
»Bis heute abend um achtzehn Uhr sind wir bestimmt wieder zurück«, versprach die blonde Frau, die mit Leib und Seele Kinder- und Krankenschwester in Sophienlust war, seit sie ihren Mann und ihr kleines Töchterchen Elke bei einem Unfall verloren hatte. Hier in diesem Kinderheim, wo vom Schicksal benachteiligte Jungen und Mädchen wieder ein neues Zuhause fanden, hatte auch sie ihren Lebensinhalt gefunden.
Regine hob noch kurz die Hand zum Gruß, und Denise winkte zurück. Dann war die junge Frau verschwunden. Wenige Minuten später hörte die Verwalterin, wie der Bus mit allen Kindern davonfuhr.
Ohne seine kleinen Bewohner kam der Frau Sophienlust wie verlassen vor. Fast erschien es ihr wie ein Haus, das seine Seele verloren hatte.
Nachdenklich blickte Denise auf ihren Schreibtisch, auf dem sich die Arbeit türmte. Sie hatte einfach zu wenig Zeit für das Schriftliche, das sie erledigen mußte. Meist nahmen sie die Kinder sehr in Anspruch, und dann war da noch die eigene Familie, die aus ihrem Mann Alexander und den beiden Söhnen Nick und Henrik bestand.
Nick, der ältere, war der eigentliche Besitzer von Sophienlust. Er hatte das ehemalige Herrenhaus von seiner Großmutter Sophie von Wellentin geerbt, denn er war ein geborener Wellentin. Denises erster Mann war jung gestorben. Jahre später hatte sie Alexander von Schoenecker geheiratet, und aus dieser Ehe stammte der neunjährige Sohn Henrik.
Immer, wenn diese drückende Stille sie umgab, mußte Denise an die Vergangenheit denken, die sie schon bewältigt zu haben glaubte. Aber manchmal holte sie sie doch wieder ein.
Voller Sehnsucht dachte sie an Alexander, den sie heute früh nur ganz kurz beim Frühstück gesehen hatte. Wieder einmal nahm sie sich vor, mehr Zeit für ihre Familie zu erübrigen, wenn sie sich erst mal durch den Berg Schriftverkehr gewühlt hatte.
Entschlossen griff die schöne, schwarzhaarige Frau wieder zu ihrem goldenen Kugelschreiber, den sie von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. In diesem Augenblick schrillte das Telefon.
Ergeben seufzte Denise auf. Bei dem zweiten Klingelton legte sie die Hand auf den Hörer. Sollte sie abnehmen? Dann aber kam sie bestimmt wieder zu keiner Arbeit.
Trotzdem, sie mußte wissen, was der Anrufer von ihr wollte. Es konnte ja schließlich etwas Dringendes sein, oder vielleicht war es der Chauffeur Hermann. Nein, sie mußte den Hörer abnehmen.
Einen Augenblick lauschte sie. »Ja, am Apparat«, sagte sie dann und schwieg wieder. In ihren Gesichtszügen malte sich zuerst Erschrecken und dann Entsetzen. »Nein, das darf doch nicht wahr sein«, murmelte sie dann tonlos.
»Ich fahre sofort los, Sie können sich darauf verlassen. Natürlich hole ich den Kleinen und seinen Hund«, bestätigte sie hastig. »Was ist übrigens mit dem Vater? Hat man ihn nach Maibach ins Krankenhaus gebracht?«
Der Polizist bejahte das.
»Gut, in etwa zehn, fünfzehn Minuten bin ich bei Ihnen. Die Leute sollen sich noch so lange um den Jungen kümmern.« Langsam ließ Denise den Telefonhörer sinken. Sie konnte noch immer nicht glauben, was sie gerade gehört hatte.
Einen Augenblick saß sie wie versteinert da. Sie mußte zuerst ihre Gedanken wieder sammeln und etwas ruhiger werden, bevor sie losfuhr. Jetzt hätte sie Hermann dringend gebraucht. Aber der war ja mit den Kindern und Schwester Regine in Maibach beim Zirkus.
Da fiel Denise plötzlich Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin, ein. Sie mußte mitfahren, denn sie hatte die nötige Ruhe, die in diesem Falle noch wichtiger als alles Mitleid mit dem Kind war.
Entschlossen stand die Gutsbesitzerin auf und strich sich ihren geblümten Rock aus duftiger Seide glatt, obwohl kein Fältchen zu sehen war. Es war eine reine Reflexbewegung, denn Denise konnte das eben Gehörte noch immer nicht fassen.
Mit raschen Schritten verließ die jugendliche Frau, die schon einen fast erwachsenen Sohn hatte, ihr Arbeitszimmer.
Sie traf die Heimleiterin im Nähzimmer an. Wann immer Frau Rennert ein paar Minuten Zeit hatte, änderte sie Kinderkleidung, besserte aus und machte auch ab und zu etwas Neues, das bei den Kindern von Sophienlust immer großen Anklang fand.
Überrascht schaute die ältere Frau auf. Sie hatte Denise nicht kommen hören. »Frau von Schoenecker, Sie sind ja ganz bleich. Ist etwas passiert?«
Die Angesprochene nickte. »Wieder einmal ein schwerer Unfall auf der Autobahn. Ein Geisterfahrer ist frontal in einen anderen Wagen hineingefahren. Er selbst und eine Frau sind tot. Der unschuldige Autofahrer ist schwer verletzt ins Maibacher Krankenhaus eingeliefert worden. Seine Frau war auf der Stelle tot. Es ist so furchtbar.«
Einen Augenblick mußte sich Denise hinsetzen. Die Aufregung war zuviel für sie. »Ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt, hat den Unfall unverletzt überstanden. Ach ja, und da ist auch noch ein Hund. Ihm scheint ebenfalls nicht viel geschehen zu sein.« Sie lächelte gequält. »Ich wurde gebeten, die beiden zu uns nach Sophienlust zu holen.«
Entschlossen legte Frau Rennert ihre Näharbeit zur Seite und erhob sich. »Dann wird es das beste sein, wenn wir es gleich hinter uns bringen.«
»Ja, Sie haben recht.« Auch Denise erhob sich, und gemeinsam gingen die beiden Frauen nach unten.
»Sicher haben die Leute einen Sonntagsausflug gemacht«, vermutete die Heimleiterin. »Der dann so tragisch endete.«
»Ja, es ist entsetzlich. Da wird mit einem Schlag eine Familie auseinandergerissen.«
»Ach, die Tote war die Mutter des kleinen Jungen?« fragte Frau Rennert erschrocken. »Weiß er es denn?«
»So genau hat mir der Polizist auch keine Auskunft geben können, und, ehrlich gesagt, in diesem Moment vergaß ich auch, ihn danach zu fragen«, gestand Denise, während sie ihr Auto sicher in Richtung Autobahn lenkte.
»Dort vorne ist es«, rief Denise nach einer Weile. Sie waren schon ein ganzes Stück auf der Autobahn gefahren, ohne etwas zu reden. Zu viele Gedanken gingen den beiden Frauen im Kopf herum.
»Das Polizeifahrzeug ist noch da, aber der Krankenwagen dürfte schon lange weg sein. Dem Kind scheint tatsächlich nichts passiert zu sein.« Frau Rennert war erleichtert. Es war schon furchtbar, wenn so ein Unglück geschah, wenn aber dabei auch noch Kinder verletzt wurden, ging ihr das besonders nahe.
Denise blinkte und fuhr dann rechts auf den Seitenstreifen. »Ich nehme an, daß wir den Jungen dort in dem Auto finden werden. Die Leute sehen uns schon so erwartungsvoll entgegen.«
Als sie ausstiegen, kam der junge Polizist, mit dem Denise vorhin telefoniert hatte, auf sie zugelaufen.
»Bin ich froh, daß Sie hier sind.« Er reichte zuerst Denise, dann Frau Rennert die Hand, bevor er die beiden Frauen zu dem Auto der Hohls führte.
»Fast wäre der Junge eingeschlafen«, murmelte Luise Hohl und wiegte Ulli in ihren Armen. Der Kleine hatte sich an sie gekuschelt. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten, daß der Junge tatsächlich schon halb schlief.
»Armes Kerlchen«, flüsterte Frau Rennert mitleidig. »Wir werden uns deiner besonders annehmen.«
Denise lächelte verkrampft. Auch ihr tat das Kind von Herzen leid. »Geben Sie ihn mir?«
Erleichtert gab Frau Hohl den Jungen weiter. »Hinten auf dem Rücksitz ist der Hund. Vorhin hat er richtig gejammert. Ich glaube, daß er verletzt ist.«
Frau Rennert beugte sich nach hinten und fuhr dem Tier über das kurzhaarige Fell. Ein dankbarer Blick aus tiefbraunen Hundeaugen traf die Frau.
Herr Hohl trat hinter Frau Rennert. »Ich trage ihn am besten bis zu Ihrem Auto. Timo heißt er übrigens.«
»Und wie ist der Name des Kindes?« fragte Denise.
»Den hat uns der Kleine noch nicht verraten«, antwortete Frau Hohl an Stelle ihres Mannes, der mit dem Transport des Tieres beschäftigt war.
»Vielen Dank, daß Sie sich um den Jungen gekümmert haben«, sagte Denise hastig und ging mit raschen Schritten zu ihrem Auto. Obwohl das Kind eher schmächtig war, wurde es mit der Zeit doch ganz schön schwer in ihren Armen.
»Ich glaube, der Hund hat ein gebrochenes Hinterbein«, vermutete Frau Rennert, als sie sich wieder auf dem Heimweg befanden. Sie hatte Ulli im Arm, dem immer wieder die Augen zufielen. Neben ihr auf dem Rücksitz saß der Hund, der immer wieder versuchte, seine Pfote zu lecken.
Am besten, wir bringen zuerst den kleinen Mann ins Bett, hinterher fahre ich dann gleich zu meinem Schwiegersohn. Er wird dem Tier sicher helfen können.«
Hans-Joachim von Lehn war mit Denises Stieftochter Andrea verheiratet. Ihnen gehörte das weithin bekannte Tierheim Waldi & Co., das nicht weit von dem Kinderheim Sophienlust entfernt war. Dr. von Lehn arbeitete mit Leib und Seele als Tierarzt, und er versuchte, jedes Leben zu retten, auch wenn es an einem noch so dünnen Faden hing.
»Timo soll zu mir kommen«, murmelte der Junge verschlafen und schlang seine Ärmchen um Frau Rennerts Hals. »Ulli will seinen Timo wiederhaben.« Vor lauter Müdigkeit verfiel er in die Babysprache, die er eigentlich schon abgelegt hatte.
»Aha, also Ulli heißt er«, stellte Denise lächelnd fest und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Anscheinend hat der Kleine den Unfall ganz gut überstanden. Ich würde es ihm und uns jedenfalls von Herzen gönnen, denn wie soll man so einem kleinen Kind helfen.« Denise seufzte tief auf.
»Ja, unser Ulli ist, glaube ich, ziemlich mobil. Nur müde ist er, und das ist auch verständlich«, flüsterte Frau Rennert.
Die beiden Frauen atmeten erleichtert auf, als sie endlich das alte Herrenhaus vor sich sahen. Ulli wurde gleich ins Bett gebracht, wo er friedlich weiterschlief, und Denise fuhr zu ihrem Schwiegersohn Dr. von Lehn, der Timo fachmännisch verarztete. Wie schon Herr Hohl vermutet hatte, war der Hinterlauf des Hundes gebrochen. Aber der Bruch stellte sich als nicht so kompliziert heraus, weil es ein glatter Bruch war.
In der Zwischenzeit schlief Ulli friedlich in seinem neuen Bettchen. Er hatte sich die Zudecke über das Gesicht gezogen. Er konnte ja nicht ahnen, daß seine geliebte Mutti niemals mehr wiederkommen würde.
*
»Hallo, Schwester Rosi! Wohin so eilig?« Dr. Gerd Schönau, ein junger, gutaussehender Assistenzarzt vom Maibacher Krankenhaus, lachte charmant.
»Herr Doktor, es ist tatsächlich sehr eilig. Eben haben sie einen Unfall auf der Autobahn gemeldet. Ein Mann ist schwer verletzt und wird in wenigen Minuten auf der Unfallstation eingeliefert. Ich muß schnellstens hinunter.« Die junge, hübsche Krankenschwester in der weißen, frisch gestärkten Schürze, machte ein betrübtes Gesicht.
»Aber einen Augenblick werden Sie doch noch Zeit für einen kleinen Plausch mit Ihrem Vorgesetzten haben?« Seine Gesichtszüge wurden streng, weil er genau wußte, daß er so noch attraktiver aussah. Mit seinen schwarzen, leicht gewellten Haaren und dem bronzefarbenen Teint wirkte er eher wie ein temperamentvoller Südländer als ein kühler Norddeutscher, der er in Wirklichkeit war.
»Aber nur ganz kurz«, ließ Schwester Rosi sich überreden und lächelte kokett. Sie machte keinen Hehl daraus, daß ihr der fesche Assistenzarzt gefiel. Aber sie wußte auch, daß sie nicht die einzige Schwester war, mit der er anzubändeln versuchte.
»Soweit ich informiert bin, verrichten Sie Ihre Arbeit in unserem Krankenhaus ausgezeichnet. Doch reden wir nicht über Geschäftliches, Schwester Rosi, es ist etwas Privates, das ich mit Ihnen besprechen wollte.« Er tat verlegen, was ihm sehr gut gelang.
»Und das wäre?« Die junge, gutaussehende Frau stand wie auf Kohlen, weil sie wußte, daß sie in der Unfallstation schon erwartet wurde.
Nervös schob sie eine blonde Strähne ihres kurzen, glatten Haares unter das weiße, steife Häubchen zurück und schaute den jungen Arzt erwartungsvoll an.
»Sie sehen bezaubernd aus, Schwester, das wollte ich Ihnen schon lange einmal sagen.« Er legte seine Hände auf ihre Schultern, was sie sich nur zu gern gefallen ließ. »Zum Anbeißen, das können Sie mir ruhig glauben«, versicherte er, als er ihr spöttisches Lächeln entdeckte.
»Danke für das Kompliment, Herr Doktor. Aber jetzt muß ich wirklich…« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber die Hände des Mannes hielten sie unbarmherzig fest. Ehe sich Schwester Rosi versah, hatte er schon seine Lippen auf ihren Mund gepreßt.
Einen Augenblick lang stand die Krankenschwester wie versteinert da. Zwar fühlte sie sich irgendwie geschmeichelt, doch sie wußte, daß er es mit allen weiblichen Angestellten dieses Krankenhauses so machte. Dabei war er schon einige Monate mit der Krankenschwester Amanda Veil verlobt, wenn auch noch nicht offiziell.
Energisch schob sie den jungen Assistenzarzt von sich und rannte eilig zum Aufzug. Aber es war schon zu spät.
Mit brennenden Augen hatte eine bildhübsche junge Frau in Schwesterntracht diesen Vorfall beobachtet. Schwester Amanda! Ihr war zu Ohren gekommen, was in diesen dicken, sterilen Mauern über den gutaussehenden Assistenzarzt Gerd Schönau gemunkelt wurde, aber sie hatte es nicht glauben wollen. Jetzt aber hatte sie es mit eigenen Augen gesehen.
Plötzlich wurden ihre Knie weich. Haltsuchend lehnte sie sich an die weiße Wand und schloß die Augen. Sie kam sich in diesem Moment so dumm und hilflos vor, daß ihr regelrecht schlecht wurde.
»Was soll ich nur machen?« murmelte die junge, dunkelhaarige Frau verhalten. Sie hatte eine zierliche Gestalt, die durch den weißen Kittel noch betont wurde. Schon lange hatte sie es insgeheim geahnt und trotzdem immer den Gerüchten energisch entgegengewirkt. Schließlich war sie ja mit ihm verlobt.
Mit schleppenden Schritten ging sie zurück zum Schwesternzimmer. Inständig hoffte sie, jetzt keine ihrer Kolleginnen dort vorzufinden. Nur ein paar Minuten wollte sie allein sein und sich wieder sammeln. Daß irgend etwas geschehen mußte, das wußte Amada jetzt. So konnte es jedenfalls nicht mehr weitergehen.
Die junge Frau hatte Glück.
Das Zimmer war leer. Matt ließ sie sich auf einen der harten Holzstühle fallen und schlug die Hände vors Gesicht.
Damals, als ihre Mutter ganz plötzlich gestorben war, da hatte ihr Gerd mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er hatte die richtigen Worte des Trostes für sie gefunden, und dann, Wochen später, hatte er ihr seine Liebe gestanden.
Wie glücklich war sie damals gewesen. Und nun war alles kaputt, zerstört durch sein leichtsinniges und unverantwortliches Benehmen.
»Was habe ich nur falsch gemacht?« murmelte Amanda schwach. Sie war sich keiner Schuld bewußt, und trotzdem suchte sie sie bei sich selbst.
Traurig starrte sie zum Fenster hinaus. Der alte Kastanienbaum reckte seine Äste schon fast bis zum zweiten Stock hinauf. Große, grüne Blätter bewegten sich im Frühsommerwind und brachten der jungen Frau das Gefühl für die Wirklichkeit wieder zurück. Was half es, wenn sie trauerte und Verlorenem nachweinte. Gerd war ein Mann für viele Frauen und nicht bloß für eine, mit dem mußte sie sich eben abfinden, wenn sie ihn nicht ganz verlieren wollte.
Aber konnte sie mit dieser Belastung leben? War ihr der smarte, charakterlich jedoch ungefestigte Mann wirklich so viel wert, daß sie diese Demütigungen auf sich nehmen wollte?
Diese Frage stellte sich Amanda schon seit geraumer Zeit, aber eine Antwort darauf hatte sie noch nicht gefunden.
»Hier steckst du, Süße. Ich habe bereits das ganze Krankenhaus nach dir abgesucht.« Ein siegessicheres Lächeln umspielte die beinahe unnatürlichen roten Lippen von Gerd Schönau. Er war der geborene Schönling, der sogar den passenden Namen mitbekommen hatte.
Erschrocken schaute Amanda zur Tür. Sie kam sich irgendwie ertappt vor. »Ich wüßte nicht, was es so Dringendes geben könnte«, antwortete sie kühl und tat so, als hätte sie etwas auf dem Schreibtisch gesucht. Nie und nimmer wollte sie ihm eingestehen, daß sie seinetwegen fast geweint hätte.
»Oh, doch, Süße, es gibt etwas dringendes, einen gräßlichen Unfall nämlich. Aber Tatsache ist, daß ich schon den ganzen Tag lang furchtbare Sehnsucht nach dir habe.«
»Ach, du Armer«, antwortete Amanda spöttisch. Schnell schaute sie zur Seite, weil ihre Lippen verräterisch zuckten.
»Was hast du denn? Liebst du mich etwa nicht mehr?« Gerd Schönau trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre schmalen Schultern. »Oder hat dich jemand verärgert? Sag es mir nur, ich werde mir den Betreffenden dann sofort vorknöpfen.« Er vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, und Amanda fühlte mit wohligem Erschauern seinen heißen Atem.
Noch immer hatte Gerd Macht über sie, diese Erkenntnis erschreckte Amanda. »Laß das, Gerd. Dafür ist jetzt nicht der richtige Augenblick und nicht die passende Umgebung. Außerdem habe ich eine Menge Arbeit.«
»Lenk doch nicht ab, Süße. Die nächste halbe Stunde wird in dieses Zimmer hier bestimmt niemand kommen. Aber wenn du Angst hast, dann können wir auch ins Ärztezimmer gehen. Da kannst du hundertprozentig beruhigt sein.« Wieder wollte er sie an sich ziehen.
Aber dieses Mal war die junge Frau schneller. Gewandt entzog sie sich ihm. »Was ist mit dem Unfall?« fragte sie mit dienstlicher Miene. »Hat es Überlebende gegeben?«
»Ja, einen Mann. Bruch des zweiten Lendenwirbels und starke Gehirnerschütterung«, antwortete Gerd Schönau verärgert. Er konnte es nicht fassen, daß jemand auf seine Annäherungsversuche nicht einging. Meist hatte er nämlich Erfolg damit beim weiblichen Geschlecht.
»Irgendwie kommst du mir heute verändert vor«, setzte er noch einmal an, aber als er das abweisende Gesicht seiner Verlobten sah, zog er es vor zu schweigen.
»Dann eben nicht«, brummelte er und verließ mit raschen, beinahe stampfenden Schritten das Schwesternzimmer.
Amanda blieb, am ganzen Körper zitternd, zurück. Noch immer hing sie an Gerd Schönau, aber jetzt, nachdem sie ihre Gefühle noch einmal genauestens geprüft hatte, war sie sich nicht mehr sicher, ob das die wirkliche Liebe war.
Sie hatte sich gesonnt in seinen Komplimenten, und dankbar seinen Trost angenommen. Er war der einzige Mensch, zu dem sie eine intensive Beziehung hatte. Aber hieß das, daß sie ihn auch liebte? Plötzlich war sich die Krankenschwester dessen gar nicht mehr so sicher.
Aber sie nahm sich vor, eine Entscheidung über ihr Verhältnis mit dem jungen Assistenzarzt noch in den nächsten Tagen zu treffen. Daß es so jedenfalls nicht mehr weitergehen konnte, das wußte sie.
Am späten Nachmittag war Amanda Veils Dienst für diesen Tag zu Ende. Rasch zog sie ihre Schwesterntracht aus und hängte sie ordentlich in den Schrank.
Sie wußte, daß sie sich beeilen mußte, wenn sie nicht ausgerechnet ihrem Verlobten in die Arme laufen wollte. Amanda hatte sich absichtlich nicht mit ihm verabredet, sondern einen dringenden Besuch bei einer Freundin vorgeschoben.
Rasch warf sie noch einen Blick in den großen Spiegel, als sie ihr weißes Häubchen abnahm. Sie zog die Nadeln aus ihrem Haarknoten, und die dunkle Pracht fiel wie eine glänzende Flut über ihre Schultern.
Mit ein paar Bürstenstrichen ordnete sie ihre Locken, bis sie sich weich und geschmeidig ineinanderfügten. Dann zog sie mit einem dezenten Lippenstift noch ihre schön geschwungenen Lippen nach.
Als die junge Frau mit ihrem Äußeren zufrieden war, warf sie sich noch einen leicht ironischen Blick zu, den der Spiegel natürlich unverändert zurückgab. »Eitler Pfau«, tadelte sich Amanda, aber sie wußte, daß diese kleine Verschönerung ihrem angeschlagenen Selbstbewußtsein guttat.
Forschend schaute sie dann noch an ihrem bunten Sommerrock hinab, auf dem sich kein Fältchen zeigte. Er war weit und glockig geschnitten, was ihre schlanke Figur noch mehr betonte. Dazu passend trug sie eine rotweiße Folklorebluse, was ihr ein etwas leidenschaftliches Aussehen verlieh.
Aber der Schein trügte. Mandy war eine durch und durch solide Frau, die sich nach nichts mehr sehnte, als nach einer eigenen kleinen Familie, die mit der Zeit noch durch Kinder gefestigt wurde,
Dafür aber war Gerd Schönau nicht der passende Mann, das hatte sie heute klar erkannt. Er, der an keinem hübschen Mädchen vorbeigehen konnte, ohne daß er es nicht mindestens kurz anfaßte, taugte nicht zum Vater ihrer Kinder.
Aber noch war Mandy nicht bereit, ihn so einfach aufzugeben. Irgend etwas verband sie noch mit ihm. War es die Furcht vor der Einsamkeit?
Aber darüber wollte die junge Frau jetzt nicht nachdenken. Immerhin war Sonntag, und sie hatte ihren freien Nachmittag, auch wenn es schon ziemlich spät war.
Beinahe beschwingt lief sie die Treppe hinunter, wobei sie sich aber immer vorsichtig umschaute, ob sich nicht von irgendeiner Seite Gerd Schönau näherte. Sie hatte Glück. Gerd war von einer jungen Lernschwester aufgehalten worden, die seine charmanten Komplimente nicht zurückwies.
Errötend lauschte das junge Mädchen, das gerade erst die Schule verlassen hatte, den Schmeicheleien Gerds, der sich wieder einmal in seinem Element fühlte. Er war wie ein glitschiger Fisch im Wasser, bereit, sich jeden Moment einer etwaigen Verantwortung zu entziehen.
Auch er hatte ja heute seinen freien Nachmittag, den er mit seiner Verlobten hatte verbringen wollen. Aber nun war ihm heraußen im Park die hübsche Gisela über den Weg gelaufen, die ihn Mandy vergessen ließ, auf die er eigentlich gewartet hatte.
So entging es ihm auch, daß sie genau in dem Augenblick das Krankenhaus verließ, als er Gisela in den Arm nahm. Das junge Mädchen lachte vor Vergnügen, und das klang in Gerds Ohren wie Musik.
Manches Mal geht das Schicksal seltsame Wege. Ausgerechnet an diesem Sonntag mußte Mandy ihren Verlobten zum zweiten Mal bei einem vertrauten Stelldichein treffen, obwohl sie bis jetzt immer daran gezweifelt hatte, daß an den Gerüchten etwas Wahres dran sei. Jetzt aber hatte sie den doppelten Beweis. Gerd betrog sie, noch ehe sie überhaupt verheiratet waren.
Wie erstarrt blieb sie an der herrlich blühenden Blumenrabatte stehen und beobachtete das alberne Spiel der beiden. Wie viele Beweise wollte sie eigentlich noch? Jetzt mußte sie es doch endlich glauben. Wenn nicht, dann war sie mehr als dumm, denn sie hatte es mit eigenen Augen gesehen.
»Jetzt ist alles aus. Warte, Gerd Schönau«, flüsterte sie zornbebend. »Mit mir machst du solche Mätzchen nicht, das verspreche ich dir.«
Sie preßte die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. In diesem Augenblick starb der letzte Rest Liebe, der letzte Rest Zuneigung für diesen Mann. Was blieb, war eine grenzenlose Leere, ein Gefühl der Verlassenheit, was sie nur noch mehr in Rage brachte.
Ihre Finger zitterten, als sie sich den Ring von ihrem Finger zog. Ernsthaft und zuverlässig glänzte er in der Nachmittagssonne, aber das konnte Mandy nicht beeindrucken, sie betrachtete ihn nicht mehr als ihr Eigentum.
Mit hoch erhobenem Haupt ging sie zu den beiden hinüber, die sie gar nicht kommen hörten. »Guten Tag, Herr Dr. Schönau«, sagte sie laut und spöttisch. »Ich freue mich, Sie hier anzutreffen, denn ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Hier, bitte schön.«
Wutentbrannt warf sie den Ring auf den sattgrünen Rasen. Dann schaute sie ihren ehemaligen Verlobten triumphierend an. »Na, was sagst du nun, du Don Juan?«
Peinlich berührt hob Gerd das Schmuckstück, das sie eigentlich für ein ganzes Leben hatte aneinanderbinden sollen, auf und wog es abschätzend in der flachen Hand.
»Wie meinst du das, du Dummchen?« versuchte er die Situation durch wohlwollenden Spott zu retten. Schon oft hatte er damit seine Felle festgehalten, die ihm fortzuschwimmen gedroht hatten.
»Erstens bin ich nicht Ihr Dummchen, Herr Assistensarzt, und zweitens dürften Sie doch selbst so viel Verstand besitzen, daß Sie wissen, was damit gemeint ist. Ich will nicht mehr länger mit Ihnen verlobt sein, das ist alles«, erklärte sie ihm dann hochmütig, obwohl ihr ganz und gar nicht so zumute war. Viel lieber hätte sie sich irgendwo hingesetzt und geheult, wie ein Schloßhund.
Aber dieses Bedürfnis mußte sie im Moment noch unterdrücken. Sie hatte diese Situation heraufbeschworen, und sie mußte sie jetzt auch bis zum bitteren Ende durchstehen.
»Was soll denn das, Herr Assistenzarzt?« fragte die junge Lernschwester Gisela und machte ein etwas dümmliches Gesicht. Sie hatte noch nichts davon gehört, daß Gerd Schönau und die nette Krankenschwester Mandy miteinander verlobt waren.
Gerd zuckte die Schultern. »Das weiß ich auch nicht, Gisela. Ich glaube, Mandy ist völlig übergeschnappt. Jedenfalls kann das doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Kommt einfach daher und wirft mir den Verlobungsring vor die Füße.«
Seine Stimme klang enttäuscht und todtraurig. Mit sehnsüchtigem Blick starrte er der jungen Frau nach, die er vor kurzem noch im Arm gehalten hatte,
Prompt fiel die junge Gisela auf diesen alten Trick herein. Sie überkam plötzlich das Gefühl, den tollen Arzt trösten zu müssen, der auf so schändliche Art von seiner Braut verlassen worden war.
»Machen Sie sich nichts daraus, Herr Doktor. Schwester Mandy weiß Sie gar nicht zu schätzen, Sie haben etwas Besseres verdient, ein jüngeres und auch hübscheres Mädchen, das Ihnen jeden Wunsch von den Augen abliest…«
Genau das hatte Gerd hören wollen. »Und…«, er machte eine klangvolle Pause, »meinen Sie, daß ich jemals so ein Mädchen finden werde?«
»Sie haben es schon gefunden, das heißt, wenn Sie es wollen. Nämlich mich.«
Gerd Schönau war überrascht von der Direktheit des Mädchens. So einen eindeutigen Antrag hatte er noch nie bekommen, aber er mußte zugeben, daß diese Art ihm ganz gut gefiel.
Ja, er, Gerd Schönau, war schon ein toller Mann, das konnte keiner abstreiten. Und trotzdem war er in diesem Augenblick nicht zufrieden mit sich selbst. Wie konnte Mandy es wagen, ihn vor diesem Mädchen so zu brüskieren. Das würde er ihr nie verzeihen.
Keine Minute lang glaubte er ihr die gelöste Verlobung, bestimmt war sie nur eifersüchtig, weil er auch anderen Mädchen gefiel. Na ja, und das war ja wohl auch verständlich. Damit müßte sie sich abfinden.
Gerd Schönau lächelte, er fühlte sich sogar von seinen eigenen Gedanken geschmeichelt. »Jetzt müssen Sie mich aber entschuldigen, Schwester Gisela. Ich muß doch nachsehen, was meine Verlobte jetzt vorhat. Wenn sie den Ring nicht mehr haben will, dann…« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und schaute die junge Lernschwester von der Seite an. Triumphierend registrierte er, wie sie errötete. Es bereitete ihm kein schlechtes Gewissen, daß er nur mit ihr spielte. Nie und nimmer dachte er daran, seine geheimnisvolle Andeutung in die Tat umzusetzen. Aber das ging Gisela ja nichts an.
Er hob noch kurz seine Hand und grinste, ehe er auf das Portal zuging. Glücklich winkte Gisela zurück und betete insgeheim, daß Schwester Mandy den Ring tatsächlich nicht mehr zurücknahm.
Gerd fand Mandy im Schwesternzimmer. Sie war, nachdem sie den Ring zurückgegeben hatte, wieder ins Haus geeilt, um erst einmal ihre Gedanken wieder zu ordnen.
»Was machst denn du für Sachen, Süße«, tat er gönnerhaft. Er setzte sich auf einen der Holzstühle und streckte seine langen Beine weit von sich. Dann verschränkte er seine Arme vor seiner Brust und wartete auf eine Antwort.
Aber die Frau schwieg beharrlich. Was hätte sie auch antworten sollen? Zu diesem Thema gab es nichts mehr zu sagen. Sie hatte sich entschieden, und sie war trotz allem erleichtert darüber.
»Also, nun komm schon und sag dem Onkel Doktor, was dich bedrückt. War es diese dumme kleine Schwester Gisela?« Er lachte etwas gekünstelt auf. »Ich hätte dich für erwachsener gehalten, als daß du so etwas so tragisch nimmst.«
»Das hat mit erwachsen sein überhaupt nichts zu tun«, widersprach die junge Frau und ihre dunklen Augen sprühten vor Zorn. »Und wenn du denkst, daß ich eifersüchtig bin, kann ich nur lachen.« Mandy sah ungeheuer reizvoll aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihr Atem ging heftig vor Aufregung, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben.
»Sei doch vernünftig, Kleines. Hier hast du deinen Ring wieder. Laß und den dummen Streit vergessen.?Ich verspreche dir auch, daß ich in Zukunft wegsehen werde, wenn mir ein hübsches Mädchen verliebte Blicke zuwirft.« Er lachte schallend und zeigte dabei eine Reihe weißer Zähne.
Aber auf die junge Frau konnte er damit keinen Eindruck mehr machen. Und seine fadenscheinigen Versprechungen glaubte sie ihm sowieso nicht mehr. »Behalte den Ring. Du wirst ihn sicher noch öfter brauchen«, antwortete Mandy und lächelte spöttisch. »Dann brauchst du nicht so oft einen zu kaufen. Du ahnst gar nicht, wieviel Geld du damit sparen kannst.«
Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie mit hoch erhobenem Haupt an Gerd Schönau vorbei und verließ das Schwesternzimmer. Sie war stolz auf sich, weil sie auf der ganzen Linie gesiegt hatte. Und sie fühlte sich beinahe beschwingt, als sie zur Intensivstation hinunterlief, auf der ihre Freundin Gabriele noch Dienst hatte. Ihr wollte sie die Neuigkeit gleich mitteilen. Denn daß sich ihre Entlobung mit dem schönen Assistenzarzt in Windeseile herumsprechen würde, das wußte Mandy genau.
Gabriele war nicht weiter erstaunt. »Ich habe mich schon gewundert, wie du es so lange mit diesem eingebildeten Pinsel ausgehalten hast«, war ihre Reaktion.
Mandy lachte verhalten.»Ich weiß, du hast ein Auge auf ihn.« Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann, der offensichtlich noch unter Narkoseeinwirkung stand. Leise stöhnte er, obwohl seine Augen geschlossen waren.
Spontanes Mitleid ergriff die junge Frau, die sich an der Tür zur Intensivstation einen grünen sterilen Kittel übergezogen und eine grüne Haube aufgesetzt hatte. So unterschied sie sich nicht von den anderen Schwestern, die geschäftig zwischen den Kranken herumliefen.
Schwester Gabriele folgte dem Blick der Freundin. »Armer Teufel«, flüsterte sie.?»Der wurde vorhin eingeliefert. Ein Unfall auf der Autobahn.?Ein Geisterfahrer, der übrigens stockblau war, ist frontal auf ihn reingedonnert. Seine Frau war schwanger im siebten Monat. Sie starb noch an der Unfallstelle. Er selbst ist mit einigen Brüchen und einer Gehirnerschütterung davongekommen.«
Impulsiv trat Mandy zu seinem Bett und strich ihm das wirre dunkle Haar aus der Stirn, während sie ihn beinahe zärtlich betrachtete. Seine Wangen waren eingefallen, und unter den Augen lagen tiefe Schatten.
Was stand diesem armen Menschen noch bevor. Seine ganze Familie war mit einem Schlag ausgelöscht worden.
»Wenn es ihm etwas besser geht, kommt er auf eure Station. Da wird er deine zartfühlende Hand sicher nötig haben«, murmelte Gabriele, als hätte sie Mandys heimliche Gedanken erraten. »Übrigens hat er noch einen kleinen Sohn, den Frau von Schoenecker nach Sophienlust mitgenommen hat.«
»Und dem Kind ist gar nichts passiert?« fragte Mandy ungläubig.
»Nein, Kinder scheinen manchmal einen Schutzengel zu haben«, sagte Gabriele nachdenklich, »aber nur manchmal.«
Das war Amanda Veils erste Begegnung mt Klaus Meinradt.
*
»Ulli, komm und fang mich! Na, komm schon!« rief Heidi Holsten, das jüngste der Dauerkinder von Sophienlust. Das hübsche blonde Mädchen mit den wippenden Rattenschwänzchen klatschte vor Begeisterung in die Hände.
»Ich bin nicht so schnell«, gestand der kleine Junge mit dem dichten, dunklen Haar und bemühte sich, auf seinen Beinchen so schnell, wie nur möglich Heidi hinterherzulaufen.
»Warte doch auf mich, Heidi.«
»Halt, junger Mann.« Geschickt fing Denise von Schoenecker Ulli auf. »Einen schönen Gruß soll ich dir ausrichten von deinem Timo. Wenn wir Glück haben, dann kann ihm der Onkel Doktor schon nächste Woche die Schiene wieder abnehmen, dann ist sein Beinchen wieder heil.«
»Au, fein, Tante Isi, dann kann Timo bei mir im Zimmer schlafen.« Glücklich strahlte der Kleine über das ganze Gesicht. »Hast du von Papa auch einen Gruß?«
Einen Augenblick zögerte Denise. Was sollte sie dem Kind antworten? Etwa, daß es dem Vater noch so schlecht ging, daß er nicht an seinen Sohn denken konnte, so schlecht, daß man ihm den Tod seiner Frau bis jetzt noch verschwieg?
»Ja, von deinem Papa auch«, griff Denise zu einer Notlüge, obwohl ihr nicht ganz wohl war dabei. Sie strich dem Kind über das weiche Haar.
»Ich bin auch noch da, Tante Isi«, meldete sich nun Heidi, die rasch zurückgelaufen war, als sie Denise erblickt hatte. »Hast du mich nicht mehr so lieb wie früher?« Ein schräger, etwas neidischer Blick traf Ulli, der sich glücklich an die schöne Frau kuschelte.
»Natürlich habe ich dich noch lieb, du kleine Schmusekatze«, sagte Denise zärtlich und lächelte. Mit der freien Hand strich sie Heidi über das von der Sonne erwärmte Haar. In so einem Augenblick fühlte sich Denise von Schoenecker am wohlsten, wenn sie von den Kindern geliebt und gebraucht wurde, denen sie eine Heimat geben konnte.
»Hier sind sie, Frau von Schoenecker.« Eilig kam Schwester Regine angelaufen. Sie war ganz außer Atem. »Ich habe Sie schon im ganzen Haus gesucht. Der Anruf aus dem Krankenhaus, auf den Sie schon gewartet haben, ist jetzt endlich da. Ich habe das Gespräch auf Ihren Apparat gelegt.«
Die Kinder- und Krankenschwester nahm Denise den kleinen Ulli ab und trug ihn zu einer Bank. Heidi folgte willig. Mit Schwester Regine konnte man wunderbar spielen, das wußte das kleine Mädchen.
»Danke«, rief Denise noch und lief dann eilig auf das Haus zu.
Sie mußte noch heftig atmen, als sie den Hörer an ihr Ohr preßte und ihren Namen sagte.
Es war der Stationsarzt vom Maibacher Krankenhaus. Er behandelte Ullis Vater. Zum Glück konnte Denise sein Gesicht nicht sehen, das sehr ernst war.
Sie telefonierte eine gute Viertelstunde mit dem Arzt, der ihr einen genauen Bericht über den Gesundheitszustand von Klaus Meinradt gab. Er kannte die Verwalterin ziemlich gut, und auch mit ihrem Mann Alexander verband ihn eine intensive Bekanntschaft. Für ihn trug er ihr am Schluß ihres Gespräches noch Grüße auf, die Denise versprach, auszurichten.
Nachdem sie den Hörer auf die Gabel zurückgelegt hatte, blieb sie noch eine Weile nachdenklich sitzen. So wie es den Anschein hatte, würde Ulli noch ziemlich lange in Sophienlust bleiben müssen. Zum Glück schien es dem kleinen Mann sehr gut in dem Kinderheim zu gefallen.
Unbändige Sehnsucht nach ihrem Mann ergriff Denise plötzlich. Viel zu wenig Zeit hatte sie in den letzten Wochen für ihn erübrigen können.
Entschlossen packte sie ihre Unterlagen in die Schubladen und legte auf den Schreibtisch eine kurze Notiz, wo sie zu finden sei. Dann schlich sie leise die Treppen hinunter. Dabei mußte sie über sich selbst lächeln, weil ihr das sogar noch Spaß machte, wie ein kleines Mädchen aus dem Haus zu verschwinden, als ob sie etwas Verbotenes im Schilde führen würde.
Nur eine Stunde Freizeit wollte sie sich heute nachmittag gönnen, um mit Alexander die Geschichte des kleinen Ulli und seine Vaters zu besprechen. Irgendwie sah Denise da einen Berg, einen Haufen Probleme auf sich zukommen, für die ihr keine Lösung einfiel, die alle Seiten befriedigen würde.
Ullis Mutter war tot, daran gab es nichts zu rütteln. Und genau das war es, was Denise sogar noch bis in den Schlaf verfolgte. Wie würde der schwerkranke Mann darauf reagieren, wenn man ihm die schreckliche Wahrheit nicht vorenthalten konnte?
Ulli hatte zwar auch schon einige Male nach seiner Mutti gefragt, sich aber über die schonende Antwort, daß sie im Himmel sei und ihn von oben beschützen würde, sogar gefreut. Zwar war er traurig darüber gewesen, daß sie ihn nicht mehr wie früher in den Arm nehmen konnte, aber er hatte sich schnell mit dem Gedanken getröstet, daß sie dort oben im Himmel viel besser auf ihn aufpassen konnte als herunten auf der Erde.
Denise genoß den kurzen Weg bis nach Schoeneich hinüber. Jetzt war sie froh, daß sie heute früh das Auto in der Garage gelassen hatte.
Schon von weitem konnte sie das Wohnhaus sehen, ein schloßähnlicher Bau mit einem Turm, der inmitten eines großen Parks stand. An den dunklen Mauern rankte sich wilder Wein empor, dessen unzählige Blätter jetzt im Sommer von einem kräftigen Grün waren.
Langsam schlenderte Denise die breite Auffahrt hinauf und genoß den Anblick ihres Heimes, das schon vielen Generationen Platz geboten hatte. So richtig glücklich war ihr Leben erst geworden, als sie Alexander von Schoeneckers Frau geworden war.
Die Gutsbesitzerin seufzte tief auf und strich sich ihre Haare zurück, die sie in letzter Zeit gern offen trug. Alexander gefiel es so besser.
Denise fand ihren Mann in seinem Arbeitszimmer vor. Tief hatte er sich über die Bücher gebeugt, die ihm seit gestern Kopfzerbrechen bereiteten. Irgendein Fehler hatte sich da eingeschlichen, den er bis jetzt noch nicht gefunden hatte.
Alexander von Schoenecker war ein gewissenhafter Mann mittleren Alters. Sein sportlich durchtrainierter Körper ließ ihn aber wesentlich jünger erscheinen, als er es in Wirklichkeit war.
Denise war stolz auf ihren Mann, und sie zeigte es ihm auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Nach kurzem Anklopfen war sie einfach eingetreten, ohne seine »Herein« abzuwarten.
»Denise, ist etwas geschehen?« rief Alexander überrascht aus. Er erhob sich und ging auf seine Frau zu. Er war ein großer, schlanker Mann, der das Herz seiner Frau auch nach langjähriger Ehe noch immer zum Klingen bringen konnte, wenn er sie in die Arme nahm.
Und genau das tat er jetzt. »Daß du mich auch einmal in meinem Reich aufsuchst, das freut mich«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Hat diese Überraschung ernste Hintergründe?«
»Ja und nein«, gestand Denise und schmiegte sich an ihn. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er.
»Also, dann zuerst einmal das Nein.« Zärtlich gab er ihr einen Kuß auf die Wange.
»Lieber erst das Ja«, unterbrach Denise seine stürmische Umarmung. »Ich hatte so schreckliches Sehnsucht nach dir, daß ich es in Sophienlust nicht mehr ausgehalten habe. Ich mußte einfach kommen.«
»Nun rück schon heraus mit der Sprache, Schatz. Das muß doch einen Grund haben.«
»Hat es auch«, gestand die schöne Frau und setzte sich in den weichen Sessel, der für Besucher am anderen Ende des altdeutschen Schreibtisches bereitstand.
Als Alexander von Schoenecker sich ebenfalls wieder gesetzt hatte, begann Denise, ihm die tragische Geschichte des kleinen Ulli und seines Vaters zu erzählen.
»Dr. Bertsch hat zwar heute gesagt, daß es Herrn Meinradt schon bedeutend besser ginge, körperlich, aber sein Seelenzustand ist äußerst bedenklich. Er spricht nicht und zeigt auch sonst kaum eine Reaktion. Die Ärzte haben schon Angst, daß vielleicht durch die Gehirnerschütterung irgendein Schaden zurückgeblieben ist, was ja durchaus möglich wäre.«
»Du solltest nicht immer das Schlimmste annehmen, Denise«, widersprach Alexander liebevoll. »Immerhin hat dieser Mann viel mitgemacht! Der grauenvolle Unfall, diese schweren Verletzungen und dann noch der Tod seiner Frau und des ungeborenen Kindes. Das ist ein bißchen viel auf einmal für einen einzelnen Menschen, findest du nicht auch?«
»Ja, du hast recht«, mußte Denise zugeben, »aber daß seine Frau tot ist, das weiß er noch gar nicht.«
Alexander fuhr mit den langen, feinfühligen Fingern durch sein dichtes Haar, das schon von einzelnen grauen Fäden durchzogen war. »Ach so, das wußte ich nicht. Und Dr. Bertsch kann sich sein seltsames Verhalten auch nicht erklären, wenn ich dich recht verstanden habe.«
»Genau. Also ich mache mir ernstlich Sorgen um ihn. Außerdem fragt Ulli fast täglich, wann sein Vati einmal zu Besuch nach Sophienlust kommt. Ich glaube, er vermißt ihn sehr.«
»Das ist doch nur natürlich. Vielleicht solltest du selbst einmal nach dem Rechten sehen. Wenn es deine Zeit erlaubt, dann kannst du Herrn…« Für einen Augenblick hatte er den Namen vergessen.
»Herrn Meinradt«, half ihm seine Frau lächelnd weiter.
»Ja. Also, dann kannst du Herrn Meinradt im Krankenhaus besuchen. Dann weißt du ganz genau, wie es ihm geht.«
»Keine schlechte Idee, mein lieber Alexander. Ich wußte doch, daß du meine üble Laune wieder aufpolieren kannst. Vorhin, als ich so allein in meinem Büro saß, da dachte ich plötzlich, die Decke fiele mir auf den Kopf. Die Luft wurde immer dicker, so daß ich das Gefühl hatte zu ersticken, weil mir dieses Problem unlösbar erschienen ist.«
»Und jetzt ist dir hoffentlich wohler.« Alexander faßte über den Schreibtisch hinweg nach der Hand seiner Frau.
»Bedeutend wohler«, gestand sie lächelnd und legte seine Hand an ihre Wange, wobei sie sich weit nach vorne beugen mußte.
*
Die letzten beiden Wochen waren für Schwester Mandy wie ein Alptraum gewesen, aus dem es kein Erwachen gab. Täglich begegnete sie im Krankenhaus ihrem ehemaligen Verlobten Gerd Schönau, der nichts unversucht ließ, um sie zurückzugewinnen.
Aber die Krankenschwester blieb hart. Die Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen, aber jetzt gab es daran nichts mehr zu rütteln.
Die junge Frau straffte ihre Schultern und lief eilig den langen Gang entlang. Sie mußte noch rasch das Einzelzimmer richten, denn in etwa einer Stunde wurde Klaus Meinradt von der Intensivstation gebracht.
Sie hatte den jungen Mann, dem es noch immer ziemlich schlechtging, einige Male besucht, was von ihm jedoch nicht bemerkt worden war.
Mit raschen, geübten Handgriffen bezog sie das Bett mit frischer, schneeweißer Bettwäsche und schüttelte dann noch einmal die Kissen auf. Dann rollte sie das Bett hinaus, weil es anderswo gebraucht wurde.
Seltsam leer kam ihr das kleine Krankenzimmer vor, als sie sich umschaute. Aber eine geheime Freude erfüllte sie, wenn sie daran dachte, daß sie bald den Mann würde pflegen dürfen, an den sie seit dem Tag auf der Intensivstation so oft denken mußte.
Es war nicht nur sein schweres Schicksal, das sie berührte. Gabriele, ihre Freundin von der Intensivstation, hatte sie einmal lächelnd gefragt, ob sie Gerd deshalb den Laufpaß gegeben habe, weil ihr ein anderer Mann besser gefiele.
Das war damals natürlich nicht der Fall, trotzdem mußte Mandy vor sich selber zugeben, daß Klaus Meinradt mehr Eindruck auf sie gemacht hatte, als ihr lieb war.
Doch die Verlegung des Patienten verlief ganz anders, als von Schwester Mandy erwartet. Schwester Olga, die Stationsschwester, nahm den Patienten in Empfang, und sie, Mandy, sah nur von weitem zu.
Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß ja noch viele Tage und Wochen vor ihr lagen, wo sie ihm das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen bringen konnte.
Klaus Meinradt ließ die Prozedur des Umzugs klaglos über sich ergehen. Ihm war alles egal, denn noch immer lähmte der Schock des Unfalls seine Gedanken und Gefühle. Nur an Iris mußte er immer denken und an das Kind. Hoffentlich war dem Baby nichts geschehen. Aber an diese Hoffnung konnte er sich nicht so richtig klammern, weil er wußte, wie unsinnig sie war.
Wie wohl seine Frau den Verlust ihres Kindes aufgenommen hatte? Sicher war sie ebenfalls ans Bett gefesselt, denn sonst hätte sie ihn schon einmal besucht.
Das waren die einzigen Gedanken, die den Mann beschäftigten. Auch an Ulli dachte er voller Sehnsucht, aber er wagte niemanden nach seinem Sohn zu fragen, als lauter Angst vor der Antwort.
So lag der verletzte Versicherungskaufmann reglos in seinem Bett und starrte an die hohe weiße Decke. Er aß kaum etwas, sprach fast überhaupt nichts, nur wenn er gefragt wurde. Und dann gab er meist nur kurze, einsilbige Antworten.
Zuerst war Mandy enttäuscht von seinem Verhalten, aber dann siegte doch ihr gesunder Menschenverstand. Dieser Mann hatte Schreckliches durchgemacht. Sie würde viel Geduld und viel Einfühlungsvermögen aufbringen müssen, wenn sie sich mit ihm verständigen wollte.
Aber diese Eigenschaften besaß Amanda Veil. Unermüdlich sorgte sie für ihn und schaffte es trotzdem, die anderen Patienten nicht zu vernachlässigen. Ihre Kolleginnen ließen sie gewähren. Es wurde zwar darüber geredet, daß sich die junge Frau so auffallend um den Neuzugang kümmerte, aber niemand sagte ein böses Wort gegen sie.
Und einige Tage später konnte Mandy den ersten Erfolg verbuchen. Klaus Meinradt nahm sie wahr, als der Mensch, der ihn versorgte.
»Wie heißen Sie?« fragte er schwach und drehte seinen Kopf zur Seite. Er mußte es ganz langsam tun, weil er seinen Körper nicht bewegen durfte. So wenig wie möglich sollte er sich in seinem Spezialbett auf die Seite drehen.
»Ich bin Schwester Mandy«, antwortete die junge Frau betont fröhlich. »Endlich nehmen Sie wieder Ihre Umwelt wahr. Das ist schon ein großer Fortschritt.«
Klaus Meinradt lächelte gequält. »Ja«, sagte er nur leise, während sein Blick über die schlanke Gestalt der hübschen Krankenschwester wanderte. »Möchten Sie etwas trinken? Ich habe gerade frischen Malventee aufgebrüht.«
»Danke, ja«, war die kurze, ziemlich gleichgültige Antwort, aber für Mandy war es der langersehnte Hoffnungsschimmer. Leichtfüßig lief sie aus dem Zimmer zu der kleinen Stationsküche und schenkte eine Tasse Tee ein. Das tiefrote Getränk verbreitete in dem Krankenzimmer einen aromatischen Duft.
»So, jetzt bekommen Sie Ihren frischen, heißen Tee. Der wird Ihre Lebensgeister wieder wecken.« Vorsichtig hob sie den Kopf des Kranken an und flößte ihm schlückchenweise den Tee ein, der ihm zu schmecken schien.
»Das tut gut«, sagte er und seufzte tief auf. Seine Wangen röteten sich sogar ein bißchen, und seine Augen schauten schon bedeutend lebhafter drein als vorher.
Von diesem Tag an ging es mit Klaus Meinradt langsam aber sicher aufwärts. Immer wieder fragte er nach Iris, seiner Frau, aber niemand sollte ihm die schreckliche Wahrheit mitteilen, solange es der Oberarzt noch für zu gefährlich hielt.
»Wir werden es ihm in absehbarer Zeit sagen müssen, Herr Doktor«, versuchte Mandy Dr. Schmoll zu beeinflussen. Sie konnte es nicht mehr länger mit ansehen, wie sich der Kranke vor Sorge um seine Frau verzehrte. Er muß sie sehr lieben, dachte die hübsche Frau, und ein seltsam bohrendes Gefühl schlich sich in ihr Herz. War es Eifersucht? Eifersucht auf eine Tote?
»Ja, Sie haben recht, Schwester«, antwortete Dr. Schmoll nachdenklich. »Aber wer soll diese schwere Aufgabe übernehmen? Ich wüßte niemanden, der dafür geeignet wäre, außer Ihnen.« Ein forschender Blick traf die junge Frau.
»Ich?« fragte sie erschrocken und wurde bleich. »Aber… aber das kann ich doch gar nicht. Was soll ich ihm denn sagen?«
»Die Wahrheit, Schwester Mandy, die Wahrheit. Er wird nicht eher Ruhe geben, bis wir ihm alles gesagt haben. Und einmal muß er es schließlich erfahren. Also übernehmen Sie das bitte, Schwester Mandy.« Sein Ton wurde plötzlich wieder dienstlich.
Die Krankenschwester nickte betreten. »Wie Sie es wünschen, Herr Oberarzt. Aber gern tue ich es nicht.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Aber mir ist zu Ohren gekommen, daß Klaus Meinradt an Ihnen besonders hängt und auch ab und zu ein Wort mit Ihnen wechselt. Mit den anderen Schwestern spricht er überhaupt nicht.«
Er machte ein paar weit ausgreifende Schritte, drehte sich jedoch noch mal kurz um. »Also, Sie wissen, was Sie zu tun haben, Schwester. Ich verlasse mich ganz auf Sie und auf Ihr weibliches Feingefühl«, setzte er noch hinzu, bevor er seinen Weg fortsetzte.
»Wenn ich überhaupt eines habe«, murmelte Mandy bedrückt. Jetzt kam sie sich erst recht verlassen vor. Und sie fürchtete schon jetzt den Augenblick, wo er wieder nach seiner Familie fragen würde.
Der kam früher als gedacht.
»Was ist mit Ulli, meinem Sohn?« fragte Klaus Meinradt am nächsten Morgen, als sie ihm das Frühstück brachte. Er konnte ja noch nicht viel essen und nur leichte Sachen, aber selbst davon ließ er das meiste wieder zurückgehen.
»Sagen Sie mir bitte die Wahrheit. Warum kommt Ulli mich nicht besuchen? Ist etwas mit ihm nicht in Ordnung?« Sein Blick hing angstvoll an ihrem Gesicht, aber Mandy lächelte freundlich.
»Ulli geht es gut, sehr gut sogar. Er ist in Sophienlust, einem Kinderheim ganz hier in der Nähe.«
Zuerst schien er beruhigt zu sein, aber dann zuckte er erschrocken zusammen. »So schlecht geht es meiner Frau? Ist sie auch hier in diesem Krankenhaus?«
Betreten schaute Mandy zu Boden. Jetzt mußte sie ihm die Wahrheit sagen. Dr. Schmoll hatte sein Einverständnis dafür gegeben, daß er mit den Tatsachen konfrontiert werden konnte.
»Nein, sie ist nicht hier. Nicht in diesem Krankenhaus und auch in keinem anderen.« Die junge Frau schüttelte verzweifelt den Kopf. Es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, daß sie ihm so weh tun mußte. »Sie müssen jetzt sehr stark sein, Herr Meinradt.«
Mitfühlend griff sie nach seiner Hand, die unruhig über die Bettdecke glitt.
Zuerst schien er gar nicht begriffen zu haben, was sie meinte, aber dann kam die Erkenntnis ganz plötzlich. »Was… was sagen Sie? Meine Frau… sie ist… ist sie tot?« Sein gellender Ausruf hallte durch das Krankenzimmer.
Mandy zuckte zusammen, aber noch immer hielt sie tröstend seine Hand. Dann nickte sie, wobei sie ihn nicht anzusehen wagte.
»Bitte… bitte lassen Sie mich allein«, stöhnte Klaus Meinradt. »So gehen Sie doch endlich!« Seine Stimme schwankte, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich… ich bin schuld. Ich habe sie… überredet zu dem Ausflug. Iris wollte… gar nicht. Aber ich… ich habe
sie dazu überredet. Ich bin ihr…
Mörder.« Seine Stimme streikte,
dann schlug er die Hände vors Gesicht.
»Gehen Sie, verdammt noch mal«, schrie er Mandy an, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen.
Langsam, mit gesenktem Kopf, schlich Amanda aus dem Zimmer. Sie hatte geahnt, daß er so reagieren würde. Darum hatte sie sich ja auch so davor gefürchtet.
Klaus Meinradt ging jetzt regelrecht durch die Hölle, und diese Qualen mußte er ganz allein durchstehen. Dabei konnte ihm niemand helfen.
»Ich bin ihr Mörder… Mörder«, hörte sie ihn noch anklagen, als sie die Tür öffnete. Rasch trat sie auf den Flur hinaus und ließ den Mann allein in dem Zimmer zurück.
Aufatmend blieb sie einen Augenblick stehen. Sie sehnte sich nach frischer, kühler Luft, die ihre aufgescheuchten Nerven wieder etwas beruhigen sollte. Aber die Zeit, jetzt in den Park hinunterzugehen, hatte sie nicht.
Müde stieß sie sich von der kühlen Wand ab, an der sie sich einen Moment angelehnt hatte, um auszuruhen. Mit gesenktem Kopf machte sie sich auf den Weg zu Dr. Schmolls Zimmer. Sie mußte ihm Bericht erstatten, daß sie ihre Mission erfüllt hatte.
»Hallo, Mandy. Erschrick bitte nicht. Ich bin es nur, dein Verflossener.« Die spöttische Stimme Gerd Schönaus holte die junge Frau wieder unsanft in die Wirklichkeit zurück.
»Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, mit dir über vergangene Zeiten zu diskutieren«, sagte sie ironisch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Das verlange ich auch nicht von dir, schönste aller Frauen.« Gerd Schönau zog alle Register seiner Verführungskunst, aber das wirkte bei Mandy nicht mehr. Früher wäre sie wie eine Verdurstende in seine Arme gesunken, aber jetzt stand immer das verhärmte Gesicht Klaus Meinradts vor ihrem geistigen Auge. Hatte sie sich etwa in ihn verliebt?
Wie ein Blitz traf sie diese Erkenntnis, und sie fühlte, wie sie bis zum Haaransatz errötete.
Gerd Schönau aber wertete es als Pluspunkt für seine Annäherungsversuche. Sein Grinsen fiel eine Spur zu siegessicher aus.
»Du kannst mich doch nicht so schnell vergessen haben, Liebling, das gibt es doch gar nicht. Einen Dr. Gerd Schönau kann keine Frau vergessen.« Fordernd faßte er nach ihrer Hand und preßte seine heißen Lippen darauf.
Mandy blieb teilnahmslos. Ein verächtlicher Blick traf den jungen Assistenzarzt, den er aber gar nicht registrierte.
»Jetzt willst du bestimmt deinen Ring wieder«, stellte er zufrieden fest. »Aber das ist gar nicht so einfach.« Er wollte die Krankenschwester mit sich ziehen. »Unsere Wiederverlobung muß natürlich gebührend gefeiert werden, zuerst in meinem Zimmer, und heute abend bei einer Flasche Sekt in einer Discothek, die du selbst bestimmen darfst.« Gerd Schönau kam sich ungeheuer großzügig vor.
Erst jetzt kam es Mandy so richtig zu Bewußtsein, daß er sie noch immer hinter sich herzog. Abrupt blieb sie stehen und entzog ihm ihre Hand.
»Wer hat denn gesagt, daß ich zu dir zurückkehren will? Ich doch nicht.« Ihre Augen blitzten vor Zorn.
Gerd Schönau überging den Einwand geflissentlich. Wieder faßte er nach ihrer Hand. »Laß doch diese Verzögerungstaktik, meine Süße. Ich will diese leidige Angelegenheit nicht hier auf dem Flur mit dir besprechen, weil hier die Wände Augen und Ohren haben, wie du selber weißt.« Sein Gesicht verzog sich ärgerlich, weil es nicht so klappte, wie er es sich vorgestellt hatte.
»Ich gedenke diese leidige Angelegenheit, wie du sie nennst, weder hier auf dem Flur noch sonstwo mit dir zu besprechen. Und jetzt lassen Sie mich bitte los, Herr Schönau, Sie tun mir nämlich weh.« Unvermittelt war Mandy wieder zu dem unpersönlichen Sie übergegangen. Sie straffte ihre Schultern und drehte sich dann um.
Wie von Furien gehetzt rannte sie den Weg zurück, den sie mit ihm gegangen war.
Vor der Tür zu Klaus Meinradts Zimmer blieb sie einen Moment nachdenklich stehen. Dann entschloß sie sich doch, hineinzugehen.
Der Mann lag reglos in seinem Bett, den Kopf hatte er zur Wand gedreht. Alles deutete darauf hin, daß er tief und fest schlief. Nur sein unregelmäßiger, heftiger Atem machte deutlich, wie erregt der Kranke war.
Das Klappern der Tür ließ ihn zusammenfahren, aber er drehte sich nicht um.
Leise kam Mandy näher. Ihr Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen, und am liebten hätte sie seine dunkle wirre Haarflut gestreichelt. Aber eine innere Scheu hielt sie davon zurück. Ratlos stand sie an seinem Bett und suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. Aber das grenzenlose Mitleid verschloß ihre Lippen.
Nach einer Weile drehte sich Klaus langsam zu ihr um. »Sie, Mandy?« fragte er tonlos, und seine Augen hatten jeden Glanz verloren.
Die junge Krankenschwester sah, daß er geweint hatte. Seine Lider waren gerötet und um seinen Mund zuckte es noch immer schmerzlich.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Herr Meinradt?« fragte sie vorsichtig und trat noch einen Schritt näher. Fast berührte sie seine Hand, die zu einer Faust geballt war.
»Mir helfen?« Er lachte bitter auf. »Mir kann niemand mehr helfen. Ich habe meine Frau und mein Baby auf dem Gewissen. Und da kommen Sie und wollen mir helfen.« Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augenwinkeln liefen.
Ein eisiger Schauder rann Mandy über den Rücken. »Nicht, nicht, so hören Sie doch bitte auf«, bat sie verzweifelt.
Aber Klaus hatte ihre Worte gar nicht wahrgenommen. Sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen.
Mandy wußte nicht, was sie tun sollte. In ihrer Verzweiflung hob sie die Hand, als ob sie ihn schlagen wollte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen vor Angst.
Mit weit aufgerissenen entsetzten Augen starrte Klaus Meinradt die junge Krankenschwester an, die sich mehr um ihn kümmerte, als es eigentlich ihre Pflicht war.
»Nur zu, schlagen Sie mich nur«, flüsterte er kaum hörbar. »Ich habe es verdient, Schwester Mandy. Schlagen Sie mich ruhig, denn ich muß büßen. Büßen für den Tod meiner geliebten Frau, den ich allein verschuldet habe.«
Sein Stöhnen ging in leises Wimmern über, aber zum Glück war der irre Ausdruck in seinen Augen verschwunden. Jetzt wußte Mandy, daß er das Schlimmste überstanden hatte. Den Rest mußte die Zeit heilen.
Mitleidig strich sie ihm über sein tränenüberströmtes Gesicht. »Vergessen Sie nicht, daß Sie noch einen Sohn haben. Ulli braucht Sie jetzt dringender denn je. Er hat nur noch seinen Vater.«
Klaus Meinradt wischte sich über das Gesicht. »Sie haben recht, Mandy«, antwortete er leise. »Ich muß leben für meinen Sohn. Ulli ist ja alles, was mir von meiner Familie noch geblieben ist.«
»Ja, Ulli und Timo«, antwortete Mandy, und der Blick ihrer großen dunklen Augen drückte die ganze Liebe aus, die sie für den gebrochenen Mann empfand.
Aber Klaus Meinradt war gefangen in einem Käfig aus Trauer und Schuld, aus dem es vorläufig kein Entrinnen gab.
*
Der rote Kleinbus mit der Aufschrift »Kinderheim Sophienlust« hielt vor der breiten Freitreppe des ehemaligen Herrenhauses.
»Nur nicht so drängeln«, rief Fabian Söller, ein hochaufgeschossener Junge, der das Glück gehabt hatte, den Bus als erster verlassen zu können.
»Red doch nicht so einen Quatsch«, schimpfte Pünktchen, die als eine der letzten an die Reihe kam. »Mir trocknet durch die Hitze fast das Hirn ein, und außerdem fangen meine Ferien erst in dem Moment an, wenn ich diese Treppe hier betrete.« Die Dreizehnjährige, die wegen ihrer unzähligen Sommersprossen nur Pünktchen genannt wurde, baute sich vor Fabian auf, der aber offensichtlich weder Angst noch Respekt vor ihr hatte.
»Nun halt aber die Luft an, Angelina«, sagte er unerschrocken und lachte über das ganze Gesicht, bis auch Pünktchen nicht anders konnte, als mitzulachen.
Von einem der oberen Fenster aus wurden die ankommenden Kinder beobachtet. Heidi stand in ihrem Zimmer auf einem Hocker und starrte nach unten. Hinter ihr befand sich Ulli, der ungeduldig an ihrem bunten Röckchen zupfte. »Sag schon, was siehst du?« fragte er fordernd.
»Nichts. Sei still«, antwortete das blonde Mädchen mit den lustigen Rattenschwänzchen und kam sich ungeheuer wichtig dabei vor. »Jetzt wird’s lustig bei uns in Sophienlust«, ließ sie sich nach einer Weile zu einer Erklärung herab. »Jetzt sind nämlich Ferien.«
»Was sind Ferien?« Ulli klatschte begeistert in die Hände, weil sich Heidi offensichtlich auch freute. Warum, das begriff er natürlich nicht.
»Wenn Ferien sind, dann sind alle Kinder den ganzen Tag zu Hause. Dann haben wir immer jemanden zum Spielen, und dann ist auch immer etwas los.« Heidi hüpfte von ihrem Stuhl herunter und nahm Ulli bei der Hand.
»Wohin gehen wir denn jetzt?«
»Na, die anderen begrüßen. Komm, Timo, du darfst auch mit.« Der braun-weiß gefleckte Hund mit dem riesengroßen Kopf und dem massigen Leib erhob sich schwerfällig. Für diese Körperfülle waren seine Beinchen viel zu kurz, aber das schien ihn weniger zu stören.
»Wuff«, machte er zur Bestätigung, daß er verstanden hatte. Dann tappte er geduldig hinter den beiden Kindern her, wobei er es noch immer vermied, sein einstmals verletztes Hinterbein zu stark zu belasten.
»Heidi, Ulli, wir haben Ferien«, rief Irmela Groote, ein fünfzehnjähriges Mädchen mit langem blonden Haar. Weit breitete sie die Arme aus, und Heidi rannte sofort auf sie zu.
»Na, ist das eine Begrüßung«, staunte Frau Rennert, die Heimleiterin, und stemmte die Hände in die Hüften. »Und wer küßt mich?« Forschend schaute sie in die Runde.
Einen Augenblick blieb die Rasselbande verblüfft stehen, aber dann stürmten die Kinder von allen Seiten auf sie zu.
»Ich, Tante Ma! Ich auch, und ich auch!« rief es von allen Seiten, und gleich darauf hingen die Jungen und Mädchen vom Kinderheim Sophienlust am Hals der älteren Frau, die sie lachend abwehrte.
»Nicht so stürmisch, ich falle ja um. Laßt doch noch ein bißchen von mir übrig.« Frau Rennert hatte Mühe, das Gleichgewicht halten zu können.
Nur Ulli stand staunend ein kleines Stückchen entfernt und beobachtete das Schauspiel. Plötzlich verzogen sich seine roten Lippen zu einem Schmollmund, und Tränen liefen über seine Pausbacken.
»Ich will zu meiner Mutti und meinem Vati«, schluchzte er und rieb sich mit beiden Händen die Augen.
Tollpatschig rieb Timo, der Hund, seine Nase an Ullis Beinen, als ob er ihn trösten wollte. Aber Ulli reagierte überhaupt nicht. Er weinte und weinte, als ob er gar nicht mehr aufhören wollte.
Erst als sich der allgemeine Tumult ein bißchen gelegt hatte, merkte Frau Rennert, daß mit dem kleinen Jungen, der sonst immer so fröhlich war, etwas nicht stimmte. Noch immer liefen ihm die Tränen über das Gesicht, aber jetzt war kein Ton, kein Schluchzer mehr zu hören.
»Ulli, was hast du denn?« fragte die Heimleiterin verblüfft und ging auf das Kind zu. »Du weinst ja. Tut dir etwas weh?« Die ältere Frau kniete vor ihm nieder und nahm ihn in ihre Arme.
»Du kannst mir ruhig sagen, was du hast, Ulli. Ich werde es auch bestimmt niemandem weitererzählen«, versprach sie.
»Ich will auch in den Himmel. Dorthin, wo meine Mutti jetzt ist. Und das darfst du ruhig jedem erzählen. Das kann jeder wissen.« Tapfer schluckte er die aufsteigenden Tränen hinunter.
Zuerst war Frau Rennert erleichtert darüber, daß dem Kind nichts weh tat, aber dann ergriff sie Mitleid mit diesem Jungen, weil sie ihm nicht helfen konnte. Sie konnte nur versuchen, Ulli zu trösten, denn seine Mutter war schon seit über einem Monat tot.
»Zu deiner Mutti kannst du nicht, mein Schatz, das habe ich dir schon erklärt. Aber deinen Vati kannst du in den nächsten Tagen besuchen. Na, ist das nicht toll«, bemühte sie sich um einen besonders fröhlichen Ton.
»Ist das wirklich wahr? Hat mich mein Vati überhaupt noch lieb?« Hoffnung glomm in den dunklen, fast schwarzen Augen des Kindes auf.
»Aber natürlich, Ulli. Dein Vati liebt dich mehr als alles andere auf der Welt. Ihr beiden Männer müßt doch zusammenhalten. So, und jetzt wisch dir die Tränen ab und freu dich mit den anderen Kindern, daß sie Ferien haben. In Ordnung?«
Ulli nickte und schniefte noch ein bißchen. Aber er konnte auch schon wieder lächeln. »Und ich darf wirklich meinen Vati besuchen gehen?« vergewisserte er sich noch einmal, ehe er sein Tuch aus der Hosentasche zog.
»Versprochen, Ulli. Und du weißt ja, was man verspricht, das muß man auch halten.« Erst jetzt war der Junge wieder zufrieden, aber Frau Rennert machte sich so ihre Gedanken.
Der Kleine zeigte schon typische Anzeichen eines Heimkindes, obwohl sich in Sophienlust alle bemühten, dem Jungen sein Elternhaus so gut es eben ging zu ersetzen.
Aber das war gar nicht so einfach. Seine Erinnerung an die geliebten Eltern war noch sehr gut, und er war schon fast zu groß, um sich problemlos umzustellen. Frau Rennert hatte sich ohnehin schon gewundert, daß bei ihm alles so glattgegangen war. Jetzt kam anscheinend das dicke Ende nach.
Denn daß das erst der Anfang war, das wußte die Heimleiterin mit ziemlicher Sicherheit. Gleich heute abend wollte sie mit Frau von Schoenecker und Schwester Regine darüber sprechen.
*
Denise hatte sich schon so etwas gedacht, als Frau Rennert an diesem Abend bei einem Glas gekühlter Limonade das Gespräch auf Ulli Meinradt brachte. Auch sie hatte mit diesen Reaktionen gerechnet, aber daß es so lange dauern würde, hätte sie nicht gedacht.
»Vor zwei Tagen habe ich Ullis Vater im Krankenhaus besucht. Es geht ihm schon etwas besser«, berichtete die Verwalterin, die mit all ihrer Liebe für ihre Schützlinge sorgte.
»Dann könnte man doch vielleicht einen kurzen Besuch verantworten«, überlegte Schwester Regine laut, der der kleine Ulli ebenfalls von Herzen leid tat.
»Genau das waren auch meine Überlegungen. Es ist für den Jungen enorm wichtig, die Nähe seines Vaters zu spüren. Ich bin mir nur nicht sicher, ob Herr Meinradt den Tod seiner Frau schon so weit überwunden hat, daß er seinen kleinen Sohn trösten könnte.«
Schwester Regine nickte nachdenklich. Sie konnte sich gut in die Lage des jungen Witwers hineindenken, denn sie selbst war vor einigen Jahren in der gleichen Situation gewesen. Sie hatte an einem einzigen Tag ihren geliebten Mann und ihr kleines Töchterchen Elke verloren.
Auch sie hatte damals geglaubt, das Leben sei für sie zu Ende. Und dann war sie nach Sophienlust gekommen und hatte bei den elternlosen Kindern eine neue Aufgabe gefunden, die sie erfüllte und sie über den erlittenen Verlust hinwegtröstete.
Nur an manchen Tagen, meist wenn der Himmel grau und verhangen war, mußte sie noch an jenen furchtbaren Unglückstag denken, der ihr das Liebste im Leben genommen hatte.
Denise ahnte, daß die junge blonde Frau Erinnerungen nachhing. Sie kannte Schwester Regines Geschichte und stand ihr seit sie hier als Kinder- und Krankenschwester lebte, als Freundin und Vertraute treu zur Seite.
»Vielleicht sollten Sie mit Ulli nach Maibach fahren, um seinen Vater zu besuchen«, schlug die Gutsbesitzerin vor. »Ich glaube, daß Schwester Regine die richtigen Worte finden wird, um den gebrochenen Mann wieder aufzurichten, meinen Sie nicht auch, Frau Rennert?«
Die Heimleiterin dachte einen Augenblick nach und nickte dann. »Sie haben recht, Frau von Schoenecker. Ich glaube auch, daß Schwester Regine die geeignete Person wäre. Denn Ulli muß schnellstens geholfen werden…«
»…und seinem Vater auch«, vollendete Schwester Regine den angefangenen Satz der Heimleiterin.
*
Eine Woche später machte sich Schwester Regine zusammen mit Ulli, der vor Ungeduld schon nicht mehr ruhig sitzen konnte, auf den Weg ins Maibacher Krankenhaus. Denise hatte zuvor lange mit dem behandelnden Arzt Dr. Schmoll telefoniert, und auch er war der Meinung gewesen, daß dieser Besuch vielleicht dem Patienten helfen könnte.
Ulli trug ein kleines Sträußchen mit Sommerblumen in seinen Händen.
»Was meinst du, Schwester Regine, ob sich mein Vati über unseren Besuch freuen wird?« fragte der Junge etwas ängstlich und schaute zu der hübschen Frau auf.
Regine Nielsen, wie die Kinderschwester mit vollem Namen hieß, lachte zuversichtlich, obwohl ihr in Wirklichkeit nicht danach zumute war. »Natürlich wird sich dein Vati freuen«, antwortete sie. »Es ist nur möglich, daß er es nicht so richtig zeigen kann, weil er noch immer sehr, sehr krank ist. Darum mußt du auch schön lieb sein und nicht wild im Krankenzimmer herumrennen, weil das deinen Vati stören könnte.«
Dafür hatte Ulli Verständnis. Er nickte zustimmend. »Ich werde ganz leise sein, darauf kannst du dich verlassen«, stimmte er etwas altklug zu. »Ich bin ja schon groß und kann mich benehmen.«
Aber als sie vor der Tür standen, die sie noch von Klaus Meinradt trennte, da wurde es Regine Nielsen doch etwas mulmig zumute. Was war, wenn sie nicht die richtigen Worte fand?
Jetzt bereute sie es, daß sie an der Pforte nicht nach dem Stationsarzt gefragt hatte. Er hätte ihr bestimmt einen Rat geben können, wie sie am besten mit dem Schwerverletzten umgehen sollte. Aber eine der Schwestern, die immer wieder eilig an ihr vorbeihasteten, wollte sie auch nicht fragen. Sie waren so geschäftig, daß sie sie nicht stören wollte.
Zaghaft klopfte sie an die Tür. Als keine Antwort kam, trat sie trotzdem ein, gefolgt von Ulli, der ängstlich die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte.
»Guten Tag, Herr Meinradt. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Regine Nielsen«, begann die junge Frau verlegen.
»Was wollen Sie von mir?« knurrte der Mann und schaute teilnahmslos zur Tür. »Ich kenne Sie nicht.«
»Das ist richtig«, gestand Regine und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. Sie kam sich wie ein dummes Schulmädchen vor, das seine Lektion nicht gelernt hatte.
War sie damals auch so überheblich gewesen, um ihren Schmerz zu tarnen? Wahrscheinlich. Sie mußte viel Geduld mit diesem geschlagenen Mann haben.
»Ich bringe Ihnen Ulli. Ihr Sohn hat es nicht mehr ausgehalten ohne ein Lebenszeichen von seinem Vater.«
»Lebenszeichen ist gut«, murmelte Klaus und lachte bitter auf.
Schwester Regine erschrak. Wie sollte sie an diesen Menschen herankommen? Sein Herz hatte sich verhärtet. Nur Ulli konnte seinem Vater helfen. Er mußte die richtigen Worte finden, die den Mann aus seiner Einsamkeit herausrissen.
Vater und Sohn mußten sich gegenseitig helfen, wenn sie dem Alltagstrott standhalten wollten.
Auf Zehenspitzen war Ulli zu dem Krankenbett geschlichen, in dem sein Vater fast ausschließlich die letzten Wochen verbracht hatte. Daß er seit einigen Tage sogar aufstehen und herumlaufen durfte, bedeutete ihm nicht viel. Er wäre auch liegengeblieben, um auf den Tod zu warten.
»Möchten Sie sich nicht setzen?« schlug er ohne besonderes Interesse vor. Seinen Sohn hatte er noch nicht einmal angesehen.
»Danke, ja, aber wir können nicht allzu lange bleiben. Komm, sag deinem Vati guten Tag, Ulli.«
Zögernd trat der Junge noch näher an das Bett heran. Er konnte ihn nur im Profil sehen, denn er war noch zu klein. Aber sogar aus dieser Sicht sah der Kleine, daß sein Vater sich verändert hatte.
War er früher eine lustige, überschäumende Frohnatur gewesen, so sah er heute beinahe zum Fürchten aus. Die Wangenknochen traten hart hervor, und die dunklen Augen hatten jeglichen Glanz verloren.
Langsam drehte Klaus Meinradt den Kopf zu seinem Sohn um. »Hallo, Ulli«, sagte er schwach, und ein gequältes Lächeln stahl sich in sein verhärmtes Gesicht. »Wie geht es dir denn?«
»Hallo, Vati.« Schüchtern hielt der Junge noch immer seine Hände hinter dem Rücken versteckt. Um seinen Mund zuckte es verdächtig.
»Willst du nicht näher kommen? Oder fürchtest du dich vor mir?«
»N… nein, das nicht«, stotterte Ulli und schaute hilfesuchend zu Schwester Regine auf, die ihm aufmunternd zunickte.
»Geh nur hin zu deinem Vati, Ulli. Es geht ihm ja schon viel besser«, sagte sie freundlich. Dann stand die junge Frau auf und trat ans Fenster, um Vater und Sohn nicht zu stören.
»Gefällt es dir in dem Kinderheim?« hörte sie Klaus Meinradt fragen. Ullis Antwort konnte sie allerdings nicht verstehen. Dann schwiegen beide.
Nach einer Weile, die Schwester Regine fast wie eine Ewigkeit vorkam, stand plötzlich Ulli hinter ihr und zupfte sie am Rockzipfel.
»Wir können gehen. Hedi wartet sicher schon auf mich«, murmelte der Knirps enttäuscht. Sein Vater hatte sich so sehr verändert, daß er ihn fast nicht mehr kannte.
Teilnahmslos lag Klaus Meinradt im Bett. Sein Blick hing forschend an der jungen Frau, die sich etwas unbehaglich fühlte. Nichts hatte sie ihm erzählt, das ihn hätte aufrichten können.
Ihr Mund blieb verschlossen, als sie ihm zum Abschied zunickte. Nicht einmal auf Wiedersehen brachte sie über die Lippen.
Klaus Meinradt nickte kaum merklich zurück. Er wußte, daß sein Sohn sehr enttäuscht war. Aber er hatte nicht die Kraft besessen, zu lachen und zu scherzen wie früher. Zuviel war in den letzten Monaten geschehen.
Er hatte Ulli nicht den fröhlichen, sorglosen Vater vorspielen können, obwohl er sich jetzt, nachdem der Junge gegangen war, gemein und herzlos vorkam.
Das traurige Gesicht seines Sohnes verfolgte ihn, aber er war müde, zu müde zum Leben.
*
»Ulli, Ulli, wo bist du? Ich kann… dich nicht sehen. Ulli!«
Schwester Mandy hörte das verzweifelte Rufen Klaus Meinradts, als sie gegen Mitternacht an seinem Zimmer vorbeiging.
Für einen Patienten hatte sie eine Tasse heißen Tee aus der kleinen Küche geholt. Rasch lieferte sie das Getränk ab und ging dann, so schnell sie konnte, zu dem Einzelzimmer am anderen Ende des Flurs.
Leise öffnete sie die Tür, das kleine Notlicht brannte. Klaus Meinradt schlief zwar, aber sein Kopf bewegte sich unruhig hin und her. Er stammelte unverständliche Worte vor sich hin.
Mit ein paar Schritten war Amanda Veil, die diese Woche Nachtdienst hatte, neben seinem Bett. Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die heiße Stirn. Vermutlich hatte er leichtes Fieber.
»Ulli«, stöhnte er wieder und ballte seine Hände zu Fäusten. »Komm doch näher, Ulli, damit… damit ich dich besser sehen kann. Du… du brauchst dich doch vor mir… nicht zu fürchten, Ulli…«
Mandy spürte ihren aufgeregten Herzschlag bis zum Hals hinauf. Sollte sie den diensthabenden Arzt rufen? Wenn sie es nicht tat, dann war das sträflicher Leichtsinn.
Sie holte aus dem Wäscheschrank einen Lappen, tränkte ihn mit kaltem Wasser und legte ihn dann dem Fiebernden auf die Stirn. Dann verließ sie wieder das Zimmer, schaute aber alle paar Minuten nach ihm.
Nach einer Stunde war das Fieber gesunken, und Klaus Meinradt schlief ruhig. Mandy vermutete stark, daß dieses Fieber mit dem Besuch des kleinen Jungen zusammenhängen mußte.
Und sie nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen mit Klaus Meinradt über Ulli zu sprechen.
*
»Warum sind Sie noch hier?« fragte er, als Mandy gegen fünf Uhr in sein Zimmer trat.
»Guten Morgen, Herr Meinradt«, grüßte die junge Frau höflich. Sie lächelte ihn an und zog sich einen Stuhl an sein Bett.
»Sie hatten doch Nachtschicht«, sagte Klaus und runzelte verständnislos die Stirn. »Da müßten Sie doch schon längst auf dem Weg ins wohlverdiente Bett sein. Statt dessen sitzen Sie hier bei mir und starren mich an wie ein Weltwunder.«
»Irrtum«, widersprach die Krankenschwester und schaute einen Augenblick verlegen zu Boden. »Ich starre Sie nicht an, ich habe mich lediglich vergewissert, daß es Ihnen wieder bessergeht.«
»Entschuldigen Sie, bitte, aber ich verstehe nicht ganz. Mir geht es heute nicht anders als gestern.«
»Das glaube ich Ihnen. Aber heute nacht haben Sie plötzlich so hohes Fieber bekommen, daß ich schon den Arzt rufen wollte. Doch kaum eine halbe Stunde später war es schon wieder verschwunden. Ich nehme an, daß es von der Aufregung kam, die Ihr kleiner Sohn gestern bei seinem Besuch verursacht hat.«
»Ulli!« Klaus Meinradts Stimme war kaum zu hören. »Ich vermisse den Jungen mehr, als ich mir einzugestehen wage.«
Mandy lächelte. »Sie sind ja auf dem Weg der Besserung, so daß Ihr kleiner Sohn öfter zu Besuch kommen kann, wenn es Sie nicht wieder zu sehr aufregt.«
»Er wird nicht mehr wollen«, bestand Klaus leise. »Ich habe ihn gestern zu sehr enttäuscht. Er hat einen fröhlichen Vater erwartet und nicht so einen Trauerkloß, der nicht einmal gewußt hat, was er mit seinem eigenen Kind reden soll.«
Verzweifelt preßte der Mann seine Lippen zusammen. Noch immer haderte er mit dem Schicksal, und noch immer machte er sich pausenlos Vorwürfe, die stets mit den gleichen Worten begannen: Hätte ich doch nicht…
»Ulli wird das bis zum nächsten Mal schon vergessen haben. Möchten Sie, daß ich mich noch einmal mit dem Kinderheim in Verbindung setze? Vielleicht könnte Ulli…«
»Das wäre wunderbar, Schwester Mandy. Dann könnte mein Sohn womöglich schon heute…« Sein Blick suchte den ihren, und sie nahm die Freude und Hoffnung in seinem Gesicht wahr.
Mandy hätte jubeln können vor Glück. Sie war gestern so deprimiert gewesen, als ihr Regine Nielsen von dem mißglückten Besuch des kleinen Ulli erzählt hatte.
»Vielleicht könnte ich dann auch aufstehen und mit ihm ein bißchen auf den Balkon hinausgehen?«
»Natürlich dürfen Sie das. Sie müssen nur sehr vorsichtig sein. Aber das wissen Sie ja selbst.«
»Wissen Sie, Schwester Mandy, in den letzten Stunden, seit mich mein Sohn besucht hat, sind mir so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Eigentlich habe ich gar kein Recht dazu, mich so hängen zu lassen. Ich muß leben.«
Die junge Frau war so erleichtert über die Worte, daß ihr fast die Tränen in die Augen stiegen. Aber sie drängte sie energisch zurück. »Sie müssen leben für Ihren Sohn«, stimmte sie ihm zu, und in ihrer Stimme klang unterdrückter Jubel mit.
Diese Freude hielt auch noch an, als Mandy in ihrem bunten Sommerkleid durch die Straßen von Maibach spazierte. Auffallend viele Kinder und Jugendliche tummelten sich auf dem Marktplatz, dessen Mittelpunkt ein großer Springbrunnen bildete.
Eine Weile blieb die junge Frau in unmittelbarer Nähe stehen und beobachtete das lustige Treiben. Plötzlich überkam sie eine unbändige Sehnsucht nach dem kleinen Ulli, den sie gestern nur ganz kurz gesehen hatte, und den sie doch nicht mehr vergessen konnte. Langsam ging sie weiter, schlenderte durch die Straßen und betrachtete die sommerlich dekorierten Schaufenster, ohne überhaupt richtig etwas wahrzunehmen. Immer wieder geisterte Ullis trauriges Bubengesicht durch ihre Gedanken, seine großen braunen Augen mit den dunklen, dichten Brauen und sein wirres Haar, das sie ihm am liebsten glattgestrichen hätte.
Da wußte sie, was sie zu tun hatte, und ehe Mandy sich versah, stand sie schon an der Bushaltestelle. Wenige Minuten später hielt ein Bus mit quietschenden Bremsen, die junge Frau stieg als letzte ein.
»Bis zum Kinderheim Sophienlust müssen Sie aber noch ein kleines Stück laufen«, erklärte ihr der Fahrer und riß einen Fahrschein ab.
»Das macht mir nichts aus.« Mandy lachte ihn freundlich an und suchte sich dann rasch einen Sitzplatz am Fenster. Grüne Bäume und helle Häuserfassaden huschen vorbei, und bald hatten sie die Kreisstadt hinter sich gelassen.
Freies Gelände, weite Wiesen und Obstplantagen breiteten sich vor ihnen aus. Auf einer eingezäunten Weide grasten Kühe, die mit ihren großen, sanften Augen neugierig aufsahen, als der Bus an ihnen vorbeifuhr.
»So, hier müssen Sie aussteigen, junge Frau«, rief der Fahrer, nachdem er wieder einmal gehalten hatte. »Wenn Sie diesem Weg da folgen, dann werden Sie bald die bunten Wegweiser entdecken. Dann können Sie gar nicht mehr falsch gehen.«
Die Krankenschwester bedankte sich freundlich bei dem netten Mann und stieg aus. Eine schmale, geteerte Straße, die eine leichte Anhöhe hinaufführte, lag vor ihr. Rechts und links war sie begrenzt von Wiesen, und etwas weiter weg erhob sich ein Wald.
Bei jedem der lustigen Wegweiser blieb die junge Frau stehen. Sie betrachtete eingehend die aus Holz geschnitzten Kinder und Tiere, und endlich sah sie in nicht allzu weiter Ferne das Kinderheim Sophienlust.
»Hoffentlich ist Regine Nielsen auch hier«, murmelte Mandy vor sich hin. Sie kannte die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust von den letzten Fortbildungskursen her, die sie gemeinsam besucht hatten. Mandy wußte auch von deren schweren Schicksal.
Als sie das schmiedeeiserne Tor öffnete und den großen Park mit den alten Bäumen betrat, wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Aber sie ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte sich entschlossen, Klaus Meinradt zu überraschen, und jetzt wollte sie diesen Entschluß auch ausführen.
Vor der breiten Freitreppe zögerte sie noch. Suchend schaute sich die junge Frau um.
»Möchten Sie zu uns? Sind Sie eine Mutter?« Heidi Holsten hatte Durst bekommen und wollte sich gerade im Haus etwas holen. »Sie können gleich mit mir kommen.»
»Mutter bin ich leider keine«, sagte Mandy mit leisem Bedauern in der Stimme, »aber wenn du mich mitnehmen willst, dann wäre das sehr nett. Weißt du vielleicht, ob Schwester Regine im Haus ist?«
»Sie ist nicht im Haus, sondern bei uns hinten im Sandkasten. Ich hole nur die Teekanne aus der Küche, dann zeige ich Ihnen, wo das ist.« Flink verschwand Heidi, und Mandy wartete lächelnd. Das Kind gefiel ihr sehr gut. So ein Töchterchen hätte sie auch gerne.
Aber jetzt war sie schon sechsundzwanzig und noch immer ledig.
»Gib mir die Kanne, ich trage sie für dich«, schlug sie vor, als Heidi vorsichtig die Haustür öffnete.
Die Kleine hatte nichts dagegen. Sie hüpfte munter vor Mandy her. »Da ist der Sandkasten«, sagte sie. »Und eine Rutsche haben wir auch noch.«
Die Krankenschwester entdeckte sogleich Schwester Regine, die ebenfalls eifrig Sandburgen baute. Die junge Frau war so in ihr Spiel vertieft, daß sie den Besuch gar nicht bemerkte.
Vorsichtig stellte Mandy die Kanne auf den Holztisch, vor dem zwei roh gezimmerte Holzbänke standen. Dann beobachtete sie das muntere Treiben der Kinder. Dabei entdeckte sie Ulli, der ein wenig abseits im Gras saß und sich nicht an dem Spiel beteiligte.
»Hallo, Regine.«
Erschrocken drehte sich die Angesprochene um. »Mandy. Ich habe dich gar nicht kommen hören.«
Beide Frauen schauten zu Ulli hinüber, der teilnahmslos vor sich hin starrte.
»Seit gestern ist der Junge richtig verstört«, sagte Regine Nielsen. »Es war wohl doch keine so gute Idee, Vater und Sohn zusammenzuführen.«
»Das stimmt nicht«, widersprach die junge Krankenschwester. Sie strich sich nervös eine dunkle Locke zurück, die ihr in die Stirn gefallen war.
»Sieh ihn dir doch an. Er spielt nicht mit uns, und das Lachen hat er anscheinend auch verlernt. Nur Timo kommt noch in den Genuß seiner Gunst. Uns alle hat er anscheinend abgeschrieben.«
»Sag doch nicht so etwas, Regine. Ich weiß ja, daß der Besuch bei seinem Vater eine Enttäuschung auf der ganzen Linie gewesen war, aber wir haben vielleicht zuviel erwartet. Ich bin sicher, daß es das nächste Mal schon besser sein wird.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Regine Nielsen und bohrte mit dem Finger ein Fenster in die Sandburg.
»Du kannst das, als ob du nie etwas anderes getan hättest.« Mandy lachte und setzte sich ebenfalls auf den Rand des Sandkastens. »Ich werde auch mal mein Glück versuchen.«
Gespannt beobachteten die Kinder, wie die zwei Frauen ein Loch in die Sandburg gruben. Sie kamen immer tiefer und tiefer. Kurz bevor das Werk vollendet war, brach die Burg ein.
Alle lachten herzlich, nur Ulli reagierte überhaupt nicht.
»Warum bist du eigentlich gekommen?« fragte Regine Nielsen plötzlich. »Du wolltest uns doch nicht nur besuchen, um meine Sandburg zu zerstören?«
»Ich habe sie nicht allein kaputt gemacht. Du warst mit mindestens fünfzig Prozent beteiligt«, wehrte sich Mandy lachend. Aber sie wurde rasch wieder ernst. »Du hast recht, Regine, das war wirklich nicht der Grund. Klaus Meinradt bricht es fast das Herz, daß er gestern seinem Sohn den Besuch so verdorben hat. Er hat deswegen heute nacht sogar Fieber bekommen.«
»Ist das wirklich wahr?« Schwester Regine schaute überrascht hoch. An der Schürze wischte sie ihre sandigen Hände ab. »Komm, gehen wir ein Stückchen durch den Park. Da können wir uns ungestörter unterhalten.«
Einträchtig gingen die beiden Frauen den Kiesweg entlang. Über ihnen rauschten die mächtigen alten Bäume ihr ewig altes und doch immer wieder neues Lied.
»Herrlich habt ihr es hier. Das ist ein richtiges Paradies für die Kinder.«
»Für die meisten schon«, gab Regine Nielsen zu und machte ein besorgtes Gesicht, »aber doch nicht für alle. Kinder wie zum Beispiel der kleine Ulli werden bei uns niemals froh. Da können wir uns noch so bemühen. Er ist ein besonders empfindsames Kerlchen. Die ganzen Wochen nach dem Tod seiner Mutter war er lieb und sogar lustig, weil er noch nicht so recht verstanden hatte, was überhaupt geschehen ist. Frau von Schoenecker hat ihm dann erzählt, daß seine Mutter vom Himmel aus acht auf ihn gibt. Das hat ihm anscheinend sogar gefallen.«
Amanda Veil deutete auf eine weiße Bank, die unter einer alten Eiche stand. »Setzen wir uns eine Weile? Ich bin plötzlich so richtig müde. Die Nachtschicht macht mir doch mehr zu schaffen, als ich gedacht habe.«
»Du hattest Nachtschicht? Aber gestern nachmittag warst du doch auch da.«
»Ja, schon«, gab Mandy zu und errötete. Sie schaute schnell zur Seite, aber Regine hatte es schon bemerkt.
»Du sorgst auch in deiner Freizeit für Klaus Meinradt?« fragte sie überrascht. »Bedeutet dir dieser Mann so viel?«
Mandy zuckte die Schultern. »Ich weiß es auch nicht«, gestand sie.
»Aber du bist doch mit Gerd Schönau verlobt. Oder bin ich da falsch informiert?«
»Ich war verlobt, habe ihm aber schon vor Wochen den Ring zurückgegeben.«
»Wegen…?«
»Nein, nicht was du denkst«, wehrte die Krankenschwester ab. »Das war schon vorher. Gerd hatte auch noch andere Eisen im Feuer. Und von großen Eifersuchtsszenen halte ich nichts, deshalb habe ich mich lieber gleich von ihm getrennt, ehe er mir den Laufpaß geben konnte, weil ihm vielleicht eine andere Frau besser gefällt.«
»Dann habe ich mich also doch nicht in ihm getäuscht. Ich habe ihn zwar nur ein paar Mal bei den Fortbildungskursen gesehen, wenn er seine Referate gehalten hat, aber das hat mir gereicht. Er ist einfach eine zu tolle Erscheinung, um nur einer Frau zu gehören.« Regine lachte verhalten.
»Das stimmt. Ich bin auch richtig erleichtert, obwohl ich mir manchmal doch recht einsam vorkomme.«
Regine Nielsen dachte nach. »Und nun hast du dein Herz wieder an einen offensichtlich hoffnungslosen Fall gehängt, wie mir scheint.«
»Aber nein«, wehrte Mandy verlegen ab. »So darfst du es nicht sehen. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich wirklich mein Herz an Klaus Meinradt verloren habe. Ich weiß nur, daß mir der Mann schrecklich leid tut, weil er so Schreckliches hat durchmachen müssen.«
»Schon«, warf Regine Nielsen ein. »Aber immerhin ist ihm noch sein kleiner Sohn geblieben. Und Ulli ist so ein patentes Kerlchen, daß er wirklich stolz auf ihn sein kann.«
»Ja, und das ist auch der Grund, warum ich heute zu euch nach Sophienlust gekommen bin. Klaus Meinradt möchte seinen Sohn wiedersehen. Letzte Nacht hatte er vor lauter Aufregung Fieber. Er hat sogar den Namen seines Kindes gerufen und weiß heute nichts mehr davon.«
»Dann hat er aber hohes Fieber gehabt«, stellt Regine Nielsen erschrocken fest. »Und jetzt willst du Ulli noch einmal mit ins Krankenhaus nehmen? Ich glaube nicht, daß das gut ist.«
»Sein Vater hat so dringend nach ihm verlangt, daß ich ihm den Gefallen unbedingt tun wollte.«
»Das glaube ich dir gern, Mandy. Aber vergißt du dabei nicht das Wohl des Jungen. Bestimmt würde ein erneutes Zusammentreffen mit seinem deprimierten Vater seiner Kinderseele erheblich schaden. Du siehst ja, wie traurig und schockiert er bereits ist. Also ich bin nicht dafür.«
»Bitte, Regine, urteile nicht so streng. Gerade du müßtest doch wissen, zu was ein Mensch in der Verzweiflung fähig ist. Aber Klaus ist heute nicht mehr so verzweifelt wie gestern. Er hat zu mir gesagt, daß er leben und wieder fröhlich sein will, Ulli zuliebe. Sein Sohn hätte ein Recht auf einen fröhlichen Vater, das hat er mir selbst gesagt.«
Schwester Regine machte zwar ein zweifelndes Gesicht, aber sie widersprach nicht. »Und du meinst, daß er das nach so kurzer Zeit schon schaffen kann?«
»Ich hoffe es, denn er geht selbst kaputt dabei, wenn er sich weiterhin mit Schuldgefühlen herumschlägt.«
»Also gut, wenn Frau von Schoenecker nichts dagegen hat, daß du Ulli mitnimmst, dann hast du auch meinen Segen. Versuchen wir es noch einmal. Dort kommt sie gerade.«
Mandy schaute in die angegebene Richtung. Sie hatte Denise zwar schon öfter von weitem gesehen, aber jetzt, aus der Nähe, fand sie die Frau noch schöner, als sie sie in Erinnerung hatte.
»Guten Tag, Frau von Schoenecker«, grüßte sie höflich und reichte Denise die Hand.
»Schwester Mandy möchte Ulli noch einmal zu seinem Vater bringen, weil er so dringend nach ihm verlangt.«
»Na, der gestrige Besuch war ja ein Fiasko, wie ich gehört habe. Meinen Sie, daß es richtig ist, dem Kind das noch einmal zuzumuten?«
»Ich glaube, daß es für beide, für Vater und Sohn, gut ist, wenn man ihnen noch einmal eine Chance gibt«, entgegnete Mandy, von ihren Worten überzeugt.
Fragend schaute Denise Schwester Regine an.
»Wir haben uns lange über Klaus Meinradt unterhalten, und ich bin auch schon fast der Meinung, daß man es noch einmal versuchen sollte. Anscheinend hat Ullis Vater über Nacht in die Wirklichkeit zurückgefunden. So etwas gibt es.« Nachdenklich starrte die Kinderschwester einem bunten Schmetterling hinterher, der über den gepflegten Rasen gaukelte. »Mir erging es damals ähnlich. Plötzlich wird der Blick wieder klarer, und man kann sogar ein bißchen auf die Zukunft hoffen, wenn man von irgendeiner Seite Hilfe bekommt. Vielleicht ist Ulli diese Hilfe für seinen Vater.«
Eine Viertelstunde später saß Mandy zusammen mit Ulli im Fond des Wagens, der von dem Chauffeur Hermann gesteuert wurde. Er hatte den Auftrag, den Jungen nach seinem Besuch wieder nach Sophienlust zurückzubringen.
Vertrauensvoll legte Ulli seine kleine Hand in Mandys. »Ich will aber nicht zu meinem Vati«, begehrte er auf, nachdem die Krankenschwester ihm gesagt hatte, wohin die Fahrt gehen sollte.
»Und warum nicht?« Zärtlich lächelte die Frau den Jungen an. »Dein Vati wartet so sehr auf dich.«
»Das glaube ich dir nicht. Mein Vati will mich nicht mehr haben.«
»Doch, das will er. Du wirst staunen, wie sehr er sich gleich über deinen Besuch freuen wird.«
Der Junge zweifelte noch immer, als sie bereits an der Tür zum Krankenzimmer standen. »Ich will nicht hinein«, stammelte er und hielt sich ängstlich am Türrahmen fest. »Ich will wieder zurück zu Tante Isi.«
Ratlos schaute Schwester Mandy zu dem kleinen Jungen hinunter. Sie strich ihm über das wirre Haar und suchte verzweifelt nach einer Lösung. Wie sollte sie Ulli nur überzeugen, daß sein Vater ihn erwartete.
»Komm schon mit hinein, Ulli. Wenn dein Vater nicht so ist, wie du dir vorstellst, dann verspreche ich dir, daß ich dich sofort wieder hinunter zum Auto bringen werde. Einverstanden?«
Endlich nickte Ulli widerstrebend. »Von mir aus.«
Klaus Meinradt stand in der Mitte des Zimmers. Mandy sah ihm an, daß es ihn noch sehr viel Überwindung kostete, aber er riß sich zusammen und lächelte.
»Komm her zu mir, Ulli«, sagte er mit bewegter Stimme.
Zaghaft machte der Junge ein paar Schritte auf ihn zu. Dann blieb er stehen und schaute abwartend zu seinem Vater auf.
»Steig hier auf diesen Stuhl. Ich habe ihn extra für dich bereitgestellt. Weißt du, ich darf mich nämlich noch nicht bücken, sondern muß immer kerzengerade stehen.«
Ulli tat, wie ihm der Vater geheißen, aber er fühlte sich sichtlich unwohl auf dem Stuhl.
Lange schauten sich Vater und Sohn in die Augen, und als Klaus Meinradt seine Arme ausbreitete, ließ sich der Junge einfach hineinfallen. Klaus preßte den bebenden Kinderkörper an sich.
Mandy sah, daß in des Mannes Augen Tränen schimmerten. Jetzt war sie sicher, daß Klaus Meinradt das Schlimmste überstanden hatte. Als die junge Schwester merkte, daß auch ihr vor Rührung Tränen in die Augen traten, rannte sie schnell aus dem Zimmer.
*
An einem trüben Septembertag durfte Klaus Meinradt das Krankenhaus verlassen. Fast drei Monate hatte er dort verbracht.
Schon seit Tagen plagte ihn die Vorstellung, daß er allein in sein schönes Haus zurückkehren mußte, in dem er mit seiner Frau so viele Jahre glücklich gewesen war. Er wußte noch nicht, ob er es würde ertragen können.
Zuerst hatte er Ulli von Sophienlust abholen wollen, es sich dann aber doch wieder anders überlegt. Er war noch immer ein kranker Mann, der sich schonen mußte und keine unbedachte Bewegung machen durfte. Wie sollte er da für ein kleines Kind sorgen, das viel Bewegung und Aufsicht brauchte?
Nein, Klaus mußte sich eingestehen, daß Ulli vorläufig in Sophienlust besser aufgehoben war als bei ihm zu Hause.
Freundlich und dankbar verabschiedete er sich an diesem Morgen von Dr. Schmoll, dem Stationsarzt, und von den Schwestern, die ihn so gut versorgt hatten.
Am schwersten fiel ihm der Abschied von Schwester Mandy, denn er mußte ja annehmen, daß er auch sie nicht wiedersah, wenn sie nicht der Zufall wieder einmal zusammenführte. Und dafür standen die Chancen nicht gerade gut.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Meinradt«, sagte Schwester Mandy und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, obwohl ihr eher zum Weinen zumute war. Das aber konnte und wollte sie niemandem zeigen.
»Ich danke Ihnen vielmals, Mandy. Sie haben so aufopfernd für mich gesorgt, und Sie haben mir meinen Sohn zurückgebracht. Das werde ich Ihnen niemals vergessen.« Er hielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig, denn das Gefühl in seinem Herzen bestimmte es so.
Nie würde er Iris vergessen, mit der er eine unsagbar glückliche Ehe geführt hatte. Aber die Einsamkeit, die nun auf ihn wartete, schnürte ihm den Hals zu, daß er fast keine Luft mehr bekam.
»Vielleicht… vielleicht besuchen Sie mich ja einmal, wenn es Ihre Zeit erlaubt, und… bringen dann auch meinen Sohn mit«, murmelte er hastig, daß ihn Mandy kaum verstehen konnte.
Seine Worte erfüllten sie mit unbändiger Freude, und sie nahm sich vor, seinem Wunsch bald nachzukommen. »Das werde ich tun, Herr Meinradt«, antwortete sie ebenso leise und nickte ihm aufmunternd zu.
Wehmütig blickte sie ihm nach, als er, gestützt auf zwei Krücken, langsam den Gang entlanghumpelte. Er drehte sich nicht mehr um.
»Da geht er hin und kommt nicht mehr«, sagte plötzlich eine spöttische Stimme hinter ihr.
Mandy zuckte zusammen. Diese Stimme hätte sie unter tausenden erkannt, denn sie gehörte Gerd Schönau. Noch ehe sie sich richtig besinnen konnte, fühlte sie schon seine fordernden Hände.
»Jetzt bist du ja wieder frei, frei für mich.« Er lachte ironisch auf. »Mein Widersacher hat das Feld geräumt.«
»Sie irren sich, Herr Schönau. Und jetzt lassen Sie mich sofort los, sonst schreie ich die ganze Klinik zusammen.« Ihre Augen funkelten vor Zorn, aber das spornte den jungen Assistenzarzt nur noch mehr an. Er mochte Frauen, die nicht gleich dahinschmolzen, wenn er sie nur ansah.
»Du machst mich verrückt, Mandy. Und darauf kannst du dir wahrlich etwas einbilden. Das hat noch keine vor dir geschafft.«
»Lassen Sie mich los, Herr Schönau. Ich lege keinen Wert darauf, Sie verrückt zu machen.« Gewaltsam riß sie sich los.
»Das wird dir noch leid tun«, zischte Gerd Schönau böse. »Vergiß nicht, ich bin Arzt und du nur Krankenschwester. Ich kann dir allerhand Steine in den Weg legen. Und daß ich das auch tun werde, dessen kannst du sicher sein.« Hastig drehte er sich um und ging mit raschen Schritten davon.
Wie betäubt blieb Amanda Veil stehen. Sie mußte sich an die Wand lehnen, weil ihre Knie weich wurden. Sie hatte schon seit einer ganzen Weile das Gefühl, daß Gerd Schönau ihre Kolleginnen gegen sie aufhetzte, denn oft verstummten Gespräche, wenn sie einen Raum betrat.
Meist wurde sie dann neugierig beobachtet, und manchmal wurden sogar bedeutungsvolle Blicke gewechselt oder leise getuschelt. Ja, jetzt fiel Mandy so manches auf, was sie früher nur so am Rande registriert hatte.
Aber wie sollte sie sich dagegen wehren? Ihre Gedanken wanderten zurück zu Klaus Meinradt, der jetzt schon auf dem Heimweg war. Würde er die leere Wohnung ertragen können? Mandy wußte, wie deprimierend es war, wenn man nach Hause kam und einen niemand erwartete. Sie hatte die Erfahrung nach dem Tod der Mutter selbst gemacht.
Als sich die junge Frau wieder einigermaßen beruhigt hatte, ging sie schweren Herzens an ihre Arbeit zurück. Aber irgend etwas fehlte, und das fiel auch ihren Patienten auf, die sie versorgen mußte.
Mandy lachte nur noch selten und ihre Liebe zu ihrem Beruf ließ auch nach. Täglich traf sie zwangsläufig mit Gerd Schönau zusammen, dessen Gemeinheiten sie hilflos ausgesetzt war. Sie vermochte sich nicht dagegen zu wehren.
»Da sind Sie ja, Schwester Mandy.« Mit wehendem Kittel kam Dr. Schmoll auf sie zu. »Was haben Sie denn? Sie sind ja weiß wie die Wand.«
»Es ist nichts, Herr Doktor«, wehrte die junge Frau verlegen ab. »Mir ist heute nur nicht ganz gut.«
Wohlwollend betrachtete der weißhaarige Arzt die Krankenschwester. Zwar hatte er sich nie an dem allgemeinen Tratsch beteiligt, der in fast jedem Krankenhaus blühte, aber trotzdem war ihm so manches zu Ohren gekommen. Außerdem kannte er Mandy schon seit vielen Jahren und hatte sie auch als vorbildliche Krankenschwester schätzengelernt.
Er ahnte, daß ihr Unwohlsein mit ihrer Entlobung zusammenhing und vielleicht auch mit Klaus Meinradts Entlassung aus dem Krankenhaus. Aber wie er ihr helfen konnte, das wußte der ältere, erfahrene Mann auch nicht.
»Kommen Sie, Mandy, ich habe eine dringende Aufgabe, die Sie…«
Mandy nickte, aber ihre Gedanken gingen eigene Wege.
*
Energisch zog der Taxifahrer die Handbremse an, ehe er ausstieg. »So, wir sind da. In welchem Haus wohnen Sie?«
Klaus Meinradt deutete auf ein weiß gestrichenes Einfamilienhaus, das mitten in einem weitläufigen Garten stand.
Das Gras war schon seit einigen Monaten nicht mehr gemäht worden, und das Unkraut wucherte in voller Blüte. Überhaupt machte sein Heim einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Keiner der Nachbarn hatte sich darum gekümmert.
Verbittert preßte der Mann die Lippen zusammen. Eigentlich brauchte er sich nicht zu wundern. Früher, zu Iris’ Lebzeiten, hatten sie jeden Kontakt zu der Nachbarschaft vermieden, weil sie sich selbst genügt hatten.
Und jetzt, jetzt würde er eben diesen Kontakt wahrscheinlich schmerzlich vermissen.
Vorsichtig stellte Klaus seine Beine auf den asphaltierten Gehsteig. Dann schob er sich mit den Armen aus dem Auto. Ein heftiger Schmerz fuhr durch seinen Rücken, so daß er eine Sekunde matt die Augen schließen mußte.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, hörte er da wie durch eine Nebelwand die Stimme des freundlichen Taxifahrers. »Sicher waren Sie lange Zeit im Krankenhaus.«
»Fast drei Monate«, gab Klaus knapp Auskunft. Er mochte es nicht, wenn soviel Aufhebens um seine Person gemacht wurde, aber in diesem Fall konnte er sich nicht dagegen wehren. Er war noch auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen.
Mühsam stützte sich Klaus auf seine Krücken und humpelte langsam auf das Haus zu. Er merkte wohl, daß sich hier und da ein Vorhang bewegte, aber niemand kam heraus, um ihm behilflich zu sein.
Als sein Koffer endlich vor der Haustür stand und er den Taxifahrer großzügig entlohnt hatte, holte Klaus erst einmal tief Luft. Jetzt kam der schwerste Augenblick seines Lebens.
Mit bebenden Händen steckte er den Schlüssel ins Schloß. Es war nicht einmal abgeschlossen, denn er hatte ja nicht mit so einer langen Abwesenheit gerechnet.
Dicke, eingesperrte Luft strömte ihm entgegen, als er die Tür aufstieß. Zunächst mal muß ich gründlich lüften, sagte er sich, um sich von seinen wehmütigen Gedanken abzulenken.
Überall lag eine dicke Staubschicht. Hilfesuchend schaute sich Klaus Meinradt um. An der Garderobe hing noch das Kopftuch, das Iris an jenem verhängnisvollen Sonntag vergessen hatte.
Hastig griff Klaus nach seinem Koffer. Wieder fuhr ein schneidender Schmerz durch seinen Rücken. Er hatte sich zu schnell gebückt und dabei nicht aufgepaßt.
Mühsam stieg er die Treppen hinauf zum Schlafzimmer. An der Tür zögerte er, aber dann trat er schließlich ein. Einmal mußte es ja doch sein, warum dann nicht gleich.
Eigentlich machte der Raum mit den hellen Möbeln einen bewohnten Eindruck. Nur der Staub, der auf der Kommode lag und die stickige Luft brachten die ganze Verlassenheit dieses Hauses zum Ausdruck.
Klaus stellte seinen Koffer ab und ging langsam zum Fenster. Es klemmte, als er es öffnen wollte. Ach ja, richtig, es hatte schon immer geklemmt, und Iris hatte sich jedesmal geärgert, weil er es noch nicht gerichtet hatte.
Iris!
Gedankenverloren starrte der Mann aus dem Fenster in den Garten hinunter, der immer der ganze Stolz seiner Frau gewesen war. Und nun war sie tot.
Mit hängenden Schultern schleppte sich Klaus zu seinem Bett. Als er die Zudecke zurückschlug, wirbelte Staub hoch und nahm ihm für eine Weile die Luft zum Atmen. Er hustete und hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Dann legte er sich hin und starrte an die weiße Decke.
Jetzt einfach einschlafen können und nicht mehr aufwachen müssen, schoß es ihm durch den Kopf. Mit einem Schlag wären dann alle Probleme gelöst.
Aber nein, da war ja noch Ulli. Er brauchte seinen Vater, und er hatte auch ein Recht auf ihn.
Klaus stöhnte und drehte seinen Kopf zur Seite. Sein Blick fiel auf eine Fotografie in einem goldenen Rahmen. Iris! Alles in diesem Haus erinnerte ihn an seine tote Frau. Konnte er mit ihrem Schatten leben?
Die Tabletten fielen ihm ein, die Dr. Schmoll ihm mitgegeben hatte. »Für die erste Zeit«, hatte er mitleidig gesagt, »wenn Sie nicht schlafen können, dann nehmen Sie eine davon.«
Mühsam stand der Versicherungskaufmann noch einmal auf. Es war zwar erst Vormittag, aber er fühlte sich so matt, als ob er schon tagelang nicht mehr geschlafen hätte. Er brauchte diese Tabletten, und wenn sie alle waren, dann würde er zu seinem Hausarzt gehen und sich wieder welche verschreiben lassen. Ja, das wollte er tun.
Seine Finger zitterten, als er das Röhrchen mit den weißen runden Pillen aus seinem Koffer hervorkramte. Wenn er alle auf einmal nahm, dann…
Aber Ulli, Ulli braucht mich doch.
Aus dem angrenzenden Badezimmer holte er sich einen Becher kaltes Wasser. Dann setzte er sich auf sein Bett und hielt das Tablettenröhrchen gegen das Licht. Wenn er alle auf einmal nahm, dann war er mit einem Schlag allen Kummer los und konnte schlafen, schlafen, schlafen.
Die Versuchung war groß. Er zog den Stöpsel heraus und legte sich eine der Pillen auf die Handfläche. Dann holte er noch eine und legte sie daneben hin.
Eine würde genügen, hatte Dr. Schmoll gesagt.
Klaus holte eine dritte und legte sie zu den beiden anderen. Und dann nahm er noch eine und noch eine, bis das Röhrchen leer war. Der dicke Bettvorleger verschluckte das Geräusch, als der Behälter zu Boden fiel.
Klaus griff nach seinem Becher. In diesem Augenblick schlug unten die Türglocke an.
*
Den ganzen Vormittag hatte Mandy keine Ruhe gefunden. Nicht einmal ihre Arbeit mit den Patienten hatte sie von ihren seltsamen Gedanken ablenken können.
Wie ein Geist spukte Klaus Meinradts gequältes Gesicht vor ihrem geistigen Auge herum. Immer wieder mußte die junge Krankenschwester daran denken, wie er jetzt in seiner leeren Wohnung herumging und vergangenen Zeiten nachtrauerte.
Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie bat eine Kollegin, der sie noch vertrauen konnte, daß sie sie für die restlichen Stunden vertrat, holte rasch ihre Jacke und verließ dann so schnell sie konnte die Klinik.
Klaus Meinradts Adresse wußte sie auswendig.
Hastig entlohnte sie den Taxifahrer, als er sie in der Lindenstraße aussteigen ließ. Hier also wohnte Klaus.
Suchend schaute sie sich nach der Nummer vierzig um. Irgendwie hatte Mandy das Gefühl, daß sie sich beeilen mußte. Warum, das wußte sie natürlich nicht, aber die Aufregung in ihrem Inneren wurde immer größer.
Endlich hatte sie das Haus erreicht. Es hätte ihr eigentlich gleich auffallen müssen, denn der Vorgarten war so verwahrlost wie kein anderer.
Als die junge Frau auf den Klingelknopf drückte, spürte sie ihren Herzschlag bis zum Hals, so aufgeregt war sie.
Lange rührte sich nichts, anscheinend war niemand im Haus. Aber wo sollte Klaus Meinradt sein? Er hatte ihr doch selbst erzählt, daß er keinerlei Verwandte oder Freunde in Maibach hatte.
Also mußte er zu Hause sein. Aber warum öffnete er dann nicht? Irgend etwas mußte geschehen sein.
Wie eine eisige Faust umklammerte die Angst ihr Herz. War sie zu spät gekommen?
Endlich hörte sie schwerfällige Schritte. Jetzt konnte sie erleichtert aufatmen.
»Was wollen Sie?« Klaus Meinradts Stimme klang böse.
Verlegen senkte Mandy den Blick. »Sie hatten doch gesagt, daß ich Sie besuchen sollte, wenn ich Zeit hätte. Jetzt habe ich Zeit, und da dachte ich, daß ich Ihnen vielleicht beim Auspacken helfen könnte.«
»Sie haben recht«, antwortete der Mann resigniert. »Ich bin ein hilfloser Krüppel, der es gerade noch geschafft hat, seinen Koffer ins Haus zu bringen. Zu mehr bin ich nicht mehr fähig.«
»So dürfen Sie nicht reden.«
»Es stimmt aber«, widersprach er beinahe gleichgültig. »Aber kommen Sie ruhig herein. Sie werden staunen, wie schnell ein Haus verwahrlost, wenn die Hand der Hausfrau fehlt.«
Mandy überhörte absichtlich seine bitteren Worte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, dann werde ich erst einmal saubermachen und Ihnen etwas zum Mittagessen richten. Einverstanden?«
Der Mann nickte. »Hier ist die Küche. Im Gefrierschrank ist sicher alles, was Sie dazu brauchen. Iris war eine vorbildliche Hausfrau.«
Schon kurze Zeit später zog verführerischer Duft nach Braten durch das Haus, und die unteren Räume erstrahlten wieder in ihrer gewohnten Sauberkeit. Mit Feuereifer hatte sich Mandy daran gemacht, Staub zu wischen und den Teppichboden zu saugen.
Inzwischen hatte es sich Klaus im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Vor ihm auf dem Tisch lag ein riesiger Stapel Zeitungen, und daneben ein etwas kleinerer Stapel mit der Post, die sich in den vergangenen Monaten angesammelt hatte.
»Wir können gleich essen«, rief die Frau ins Zimmer hinein, aber Klaus reagierte nicht. Er hatte sich in die Berichte über seinen Unfall vertieft. Die Bilder zeigten in Farbe die Unfallstelle mit den demolierten Autos.
»Hören Sie doch auf, sich selbst zu quälen. Wenn erst Ihr Sohn wieder hier ist, dann werden Sie diesen Schicksalsschlag bestimmt leichter überwinden.« Die Krankenschwester nahm ihm die Zeitung aus der Hand, was er widerspruchslos geschehen ließ.
»Ich kann Ulli nicht zu mir nehmen«, sagte Klaus leise. »Wer sollte denn für den Jungen sorgen? Vorläufig kann ich mich noch kaum bewegen, so daß ich froh bin, wenn ich mir selbst das Nötigste machen kann. Und dann, wenn es mir wieder bessergeht, muß ich arbeiten.«
Amanda Veil überlegte eine Weile. War das nicht der Ausweg für sie, den sie so verzweifelt gesucht hatte? Sie wußte, daß sie nicht im Krankenhaus bleiben konnte, solange Gerd Schönau dort arbeitete. Er machte ihr das Leben und die Arbeit dort zur Hölle, daß es ihr jeden Morgen graute, wenn sie ihren Dienst antrat.
»Vielleicht hätte ich eine Lösung für Sie, das heißt, wenn Sie das wollen. Sie können ruhig ehrlich sein, ich bin Ihnen nicht böse, wenn Sie meinen Vorschlag ablehnen«, beeilte sie sich zu versichern.
»Nun reden Sie schon, Schwester Mandy«, sagte Klaus ungeduldig und lächelte gequält.
Die junge Frau spürte die Mauer fast körperlich, die der Mann bewußt zwischen ihnen beiden errichtet hatte. Fürchtete er etwa eine Annäherung von ihrer Seite?
Verlegene Röte schoß ihr ins Gesicht. Plötzlich kam sie sich dumm und unbeholfen vor. »Ach… eigentlich… ich weiß auch nicht…« Unsicher brach sie ab, weil sie nicht mehr weiterwußte.
Erst jetzt merkte Klaus, daß er ihr wehgetan hatte. »Sie wollen mir helfen, ich weiß. Bitte, entschuldigen Sie mein ruppiges Benehmen. Es war nicht so gemeint.«
»Ist schon in Ordnung. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht so in Ihr Leben drängen dürfen. Es war mein Fehler. Aber ich wollte Ihnen wirklich nur helfen, Ihnen und Ulli. Ich… ich hatte keine Hintergedanken, wenn Sie das meinen.« Jetzt liefen ihr doch die Tränen über die Wangen.
Die ganze Situation war Mandy so peinlich, daß sie am liebsten davongelaufen wäre. »Ich… ich habe in der Küche gedeckt. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, weil ich ins Krankenhaus zurück muß.«
»Das stimmt doch nicht, Mandy. Jetzt seien Sie nicht albern. Vorhin haben Sie mir doch versprochen, daß Sie mit mir essen werden. Allein schmeckt es mir nämlich nicht.« Er bemühte sich um ein freundliches Lächeln, was ihm wider Erwarten sogar gelang. »Nun kommen Sie schon, sonst wird Ihr gutes Essen kalt. Und dann erzählen Sie mir, was Sie vorhin vorschlagen wollten. Ich werde ganz Ohr sein.« Mühsam erhob er sich und hängte sich bei der Krankenschwester ein, die vor Verlegenheit noch immer nicht wußte, was sie sagen sollte. Mandy konnte ausgezeichnet kochen, aber trotzdem wurde nur sehr wenig gegessen. Klaus hing seinen Gedanken nach, und der jungen Frau war der Appetit vergangen, nachdem sie sich so blamiert hatte.
Aber sie wollte wirklich nur helfen. Doch mit diesem Mißtrauen hatte sie nicht gerechnet. Oder hatte er es nicht mißverstanden? Sah er am Ende klarer als sie selbst?
Zugegeben, sie mochte Klaus Meinradt, aber ob es mehr war, vermochte sie nicht zu sagen. Oder wollte sie es sich nur nicht eingestehen?
»Ich kann beim besten Willen nichts mehr essen.« Entschlossen schob der Mann seinen Teller zurück. »Und jetzt will ich wissen, was Sie mir vorhin sagen wollten. Es betrifft doch Ulli, oder täusche ich mich da?«
»Ja, auch«, gab Mandy zögernd zu und spürte entsetzt, daß ihr schon wieder die Röte ins Gesicht schoß. Und das machte sie noch verlegener. Trotzdem mußte sie es ihm jetzt sagen, das war ihr klar.
»Ich habe mir etwas überlegt. Es gibt vielleicht doch eine Möglichkeit für Sie, daß Sie Ihren Sohn zu sich nehmen könnten.«
»Ach. Und die wäre?«
»Na ja, Sie brauchen ohnehin jemanden, der sich um Sie kümmert. Und… wenn Sie damit einverstanden sind, dann… dann würde ich das gern übernehmen. Ich weiß, es klingt dumm«, beeilte sie sich noch hinzuzufügen, »aber da ist auch eine Portion Egoismus dabei.«
Jetzt horchte Klaus Meinradt interessiert auf. »Etwas Ähnliches hat mir Dr. Schmoll auch gesagt, daß ich die erste Zeit eine Pflegerin engagieren soll. Ich muß zugeben, daß ich dabei gleich an Sie gedacht habe. Aber Sie sind im Krankenhaus fest angestellt, darum habe ich diesen Gedanken gleich wieder verworfen.«
»Das haben Sie wirklich gedacht?« Über Mandys hübsches Gesicht glitt ein glückliches Strahlen, das er mit Verwunderung beobachtete. »Dann will ich Ihnen die Wahrheit gestehen. Ich halte es in der Klinik nicht mehr aus, seit ich meinem ehemaligen Verlobten Gerd Schönau den Ring zurückgegeben habe. Er macht mich schlecht, wo er nur kann, und wenn wir uns begegnen, dann ist das die Hölle für mich. Darum kam ich auf die Idee, daß ich vielleicht… Und dann könnte doch auch Ulli wieder nach Hause kommen, tagsüber, wenn Sie arbeiten, kann ich für ihn sorgen.«
»Und das würden Sie für mich, für uns tun?« Er beugte sich ein Stück über den Tisch, um ihr besser in die dunklen Augen sehen zu können. »Das wäre wunderbar, Mandy. Ich hätte dann wieder eine Zukunft, wenn mein Sohn bei mir wäre. Wirklich, das wäre wunderbar.«
»Dann… dann ist es also abgemacht? Mir steht noch ein Monat Urlaub zu, den Rest der Kündigungsfrist nehme ich eben unbezahlten. Ich glaube nicht, daß mir Dr. Schmoll Schwierigkeiten machen wird. Er war immer wie ein Vater zu mir.«
»Das glaube ich Ihnen gern, Mandy. Bei Ihnen hat man immer das Gefühl, daß man Sie vor allen Gefahren schützen müßte. Und dabei sind Sie so eine energische und tatkräftige Person.« Ein beinahe zärtliches Lächeln glitt über sein eingefallenes Gesicht und erhellte seine verhärmten Züge.
Mandy räumte hastig den Tisch ab und begann, das Geschirr zu spülen, während sich Klaus wieder ins Wohnzimmer zurückzog. Sein Rücken schmerzte wieder etwas, darum legte er sich eine Weile hin.
Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, die er erst einmal sortieren und verarbeiten mußte.
Er liebte Iris noch immer von ganzem Herzen, aber jetzt zeigte sich zum ersten Mal seit ihrem Tod ein kleiner Hoffnungsschimmer am Horizont. Er war nicht ganz allein, wie er zuerst gedacht hatte.
Da war noch Ulli, und auch Mandy, die hübsche Krankenschwester, ließ ihn nicht im Stich.
Müde schloß Klaus die Augen, und wenige Minuten später war er eingeschlafen. Es war ein harter Tag für ihn gewesen, zum ersten Mal seit langer Zeit schlief er ruhig und traumlos ohne eine einzige Schlaftablette.
Inzwischen hatte Mandy die Küche auf Vordermann gebracht. Jetzt wollte sie rasch noch im oberen Stockwerk nachsehen, was es da zu tun gab. Jetzt, da sie sein Einverständnis zu ihrem Vorschlag hatte, steckte sie voller Unternehmungsgeist. Sie wollte aus seinem Haus wieder das Schmuckstück machen, das es früher offensichtlich einmal gewesen war.
Beschwingt stieg sie die Treppen hinauf und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Die Betten waren ordentlich gemacht, nur eines war aufgeschlagen. Die Delle im Kopfkissen deutete darauf hin, daß vor kurzem noch jemand hier gelegen hatte.
Einen Augenblick lang zog sich Mandys Herz schmerzhaft zusammen.
Hier in diesem Zimmer hatte er geschlafen, neben sich seine Frau Iris. Ob sie sehr glücklich miteinander gewesen waren? Bestimmt, denn sonst würde er nicht so sehr um sie trauern.
Ihr Blick fiel auf die Fotografie auf seinem Nachttisch. Sie zeigte eine lachende junge Frau mit halblangem goldblonden Haar. Die großen Augen waren strahlend blau und von einem dunklen Wimpernkranz umgeben.
Iris Meinradt war eine schöne Frau gewesen, und nun war sie tot. Ein Schauer lief über Mandys Rücken, obwohl sie in ihrem Beruf schon viele Menschen hatte sterben sehen. Trotzdem ging es ihr immer wieder nahe, besonders dann, wenn es sich um einen jungen, blühenden Menschen handelte, der das Leben eigentlich noch größtenteils vor sich hatte.
Rasch wandte sie sich ab und wollte die Bettdecke aufschütteln. Dabei stieß sie mit dem Fuß zufällig an das Tablettenröhrchen, das Klaus vorhin hinuntergefallen war.
Sie bückte sich, um es aufzuheben, da entdeckte sie auch die dazugehörigen Tabletten, die verstreut auf dem Bettvorleger lagen.
Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr hoch. Hastig sammelte sie die kleinen weißen Pillen ein und füllte sie wieder in das Röhrchen. Sie kannte diese Tabletten, denn sie wurden in der Klinik verwendet.
Es waren Schlaftabletten. Die Menge, die sie gefunden hatte, hätte ausgereicht, um ein Leben zu beenden, nämlich das von Klaus Meinradt.
War sie gerade im letzten Moment gekommen, um ihn von dieser Wahnsinnstat abzuhalten?
*
»Mandy, guck mal, Timo kann ein neues Kunststück.« Atemlos kam Ulli ins Haus hereingelaufen. »Du mußt unbedingt mit hinauskommen.«
Die junge Frau seufzte ergeben. Bereits seit einem Vierteljahr versorgte sie den Meinradtschen Haushalt, und sie war glücklich dabei. Morgens kam sie schon kurz nach sechs Uhr, um das Frühstück zu richten, und abends ging sie erst, wenn Ulli schon schlief.
Seit drei Wochen schon begab sich Klaus Meinradt jeden Morgen wieder in sein Büro, das im Stadtkern von Maibach lag. Er leitete zusammen mit einem Kollegen ein Versicherungsbüro in der Innenstadt, das ziemlich gut florierte.
In der langen Zeit seiner Krankheit hatte sich zwangsläufig eine Menge Arbeit angesammelt, so daß er oft auch abends noch Überstunden machen mußte.
Mandy hatte sich ein kleines Auto gekauft und dafür den größten Teil ihrer Ersparnisse geopfert, aber das war es ihr wert, wenn sie nur für Klaus und seinen Sohn sorgen durfte. Sie bekam ein kleines Gehalt von ihm und dazu volle Verpflegung, so daß sie für sich selbst nicht mehr allzu viel Geld benötigte.
»Komm doch schon, Mandy. Timo kann schließlich nicht ewig im Schnee stehenbleiben.«
Die junge Frau wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Dann vergewisserte sie sich, daß nichts anbrennen und nichts verkochen konnte, bevor sie dem Jungen folgte, der bereits nervös von einem Fuß auf den anderen trippelte.
Mandy war bereits mitten in den Weihnachtsvorbereitungen. Sie hatte Teig vorbereitet, aus dem sie kleine Figuren ausstechen wollte, um sie dann bunt anzumalen. Ulli sollte ein glückliches Weihnachtsfest erleben, das hatte sich Mandy vorgenommen. In der kurzen Zeit war ihr der Junge so ans Herz gewachsen, als ob sie seine richtige Mutter sei.
Nur manchmal dachte sie vage daran, daß es eines Tages vielleicht eine andere Frau in Klaus’ Leben geben könnte.
»Ist das nicht toll?« Ulli schaute erwartungsvoll zu ihr auf.
Zuerst war die Frau verblüfft, aber dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie mußte einfach lachen.
Timo, der Hund mit dem großen Kopf und den kurzen Beinen, stand auf einem Sockel im Schnee, den Ulli mit viel Fleiß gebaut hatte, und machte Männchen, so gut es ihm bei seiner Leibesfülle eben möglich war.
Als er jedoch merkte, daß über ihn gelacht wurde, sprang er beleidigt herunter und bellte ärgerlich.
»Guter Hund«, lobte Mandy und beugte sich zu ihm hinunter. Dann streichelte sie seinen großen Kopf und wurde mit einem freundlichen Schwanzwedeln belohnt. Timo war ein gutmütiges Tier, das sich geduldig Ullis Schabernacke gefallen ließ.
»Jetzt sollten wir aber alle hineingehen, sonst wird uns kalt. Timo ist schon ganz naß vom Schnee«, schlug sie vor.
Ulli maulte zwar zuerst, fügte sich dann aber. »Dafür darf ich dir beim Plätzchenbacken helfen.«
»Darüber freue ich mich sogar. Dann bin ich um so schneller in der Küche fertig und kann noch eine Weile mit dir spielen.« Mandy strich dem Jungen über das wirre Haar. Er wird seinem Vater immer ähnlicher, stellte sie beglückt für sich fest.
Als es draußen bereits dämmerte, holte sie das letzte Blech mit leckeren Plätzchen aus dem Ofen. Ulli schnupperte genüßlich. »Da wird sich der Vater aber freuen, glaubst du nicht auch, Mandy?«
»Bestimmt. Und Timo auch. Hier ist ein zerbrochenes. Das kannst du ihm geben.«
Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen. »Hier, Timo, willst du auch?«
»Wuff«, ließ sich der Hund vernehmen und schaute erwartungsvoll zu seinem Herrchen auf. Offensichtlich schmeckte ihm das Plätzchen, denn nun tappte er auf seinen kurzen Beinchen zu Mandy, die die süßen Leckereien vorsichtig auf einen großen Teller schichtete.
»Der Vati kommt«, rief Ulli plötzlich. Er hatte an der Fensterscheibe seine Nase platt gedrückt und in die Dunkelheit hinausgestarrt.
Aber es war nicht Klaus Meinradt, sondern eine fremde Frau, die mit vorsichtigen Schritten den Plattenweg entlang auf das Haus zuging.
Wenig später klingelte es.
»Das ist nicht dein Vati«, stellte Mandy fest. »Der hat doch einen Schlüssel. Siehst du bitte nach, Ulli? Ich muß nur noch schnell hier ein bißchen saubermachen und die Plätzchen versorgen.«
»Okay, Mandy.« Flugs verschwand Ulli, gefolgt von Timo, dessen Krallen scharrende Geräusche auf dem Steinfußboden verursachten.
Dann hörte die junge Krankenschwester zuerst Ulli und dann die Stimme der Frau: »Willst du mich nicht hineinlassen, Junge? Du bist sicher der Ullrich, wenn ich mich nicht irre? Ich bin deine Tante Ursula.«
»Ich kenne aber keine… keine Tante Ursula, nur Mandy.«
Jetzt hielt es Amanda Veil an der Zeit, einzugreifen. Hatte sie sich verhört, oder hatte diese Frau tatsächlich behauptet, Ullis Tante zu sein?
Wie eine eisige Faust griff die Angst nach ihr und schnürte ihr die Kehle zu. Es war, als ahnte sie, daß ihre schöne Zeit hier schon fast zu Ende war.
Sie warf einen raschen Blick in den Spiegel. Ihr dunkles Haar war verwirrt, und ihr Gesicht von der Hitze des Backofens und von der Hektik gerötet. Aber um sich herzurichten, dazu fehlte ihr die Zeit.
Entschlossen straffte sie die Schultern und ging hinaus, um Ulli beizustehen.
»Sie wünschen?« kam Mandy gleich zur Sache. Argwöhnisch betrachtete sie die elegante Besucherin, die Ullis verstorbener Mutter tatsächlich ein bißchen ähnlich sah. Sie spürte die Gänsehaut, die über ihren Rücken kroch.
»Zuerst möchte ich einmal ins Haus. Hier draußen ist es nicht besonders gemütlich, wie Sie sich bestimmt vorstellen können. Außerdem habe ich eine lange Fahrt hinter mir und bin rechtschaffen müde.« Demonstrativ zog sie ihren prächtigen Nerzmantel enger um die Schultern.
»Natürlich. Bitte, kommen Sie herein.« Höflich trat Mandy zur Seite. Sie fühlte, daß von dieser Frau etwas Kaltes, Gefährliches ausging, das sie jetzt noch nicht zu deuten vermochte.
»Mein Name ist übrigens Ursula Wandel. Ich bin die Schwester von Iris«, sagte sie Frau im Vorbeigehen. »Und Sie sind die Haushälterin meines Schwagers?« Ein fragender Blick traf Mandy, die nur kurz nickte. Die Frau hatte sie so überrumpelt, daß ihr die Worte fehlten.
Erst später kam ihr zu Bewußtsein, daß diese eingebildete Person sie zur Haushälterin degradiert hatte, dabei war sie doch vielmehr Klaus’ Pflegerin, obwohl er jetzt eigentlich schon wieder selbständig war.
Sie nahm der Frau den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe. Dann führte sie sie ins Wohnzimmer. Zum Glück hatte sie heute früh schon geputzt und aufgeräumt.
»Könnten Sie mir bitte eine Kleinigkeit zum Trinken geben? Ich brauche dringend etwas zum Aufwärmen, vielleicht einen Gin oder einen Wodka, wenn Sie haben.«
Fieberhaft dachte Mandy nach, ob sich etwas derartiges im Haus befand. Wo hatte Klaus überhaupt seine Bar. Ja, natürlich, im Schrank war ein Barfach. Sie hoffte, darin das Gewünschte zu finden. Und tatsächlich, eine fast volle Flasche Wodka stand darin. Davon schenkte sie Ursula Wandel ein und stellte das gefüllte Glas auf den Tisch.
»Wann kommt mein Schwager nach Hause?« fragte die Frau, nachdem sie die scharfe Flüssigkeit in einem Zug getrunken hatte.
»Das ist verschieden. Meistens wird es ziemlich spät, weil er noch Überstunden und Kundenbesuche machen muß.«
»Sie führen ihm den Haushalt und behüten das Kind, seit… seit meine Schwester… umgekommen ist?«
»Ja, so ähnlich«, gab Mandy verlegen zu. Da hörte sie endlich, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. »Ich glaube, heute kommt er doch früher«, sagte sie erleichtert. Eilig verließ sie das Wohnzimmer.
»Mhm, es duftet verführerisch«, stellte Klaus gutgelaunt fest und schnupperte, zur Bekräftigung seiner Worte.
Mandy legte ihren Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihm damit, leise zu sprechen. »Sie haben Besuch, eine Frau Wandel, angeblich Ihre Schwägerin.«
Erschrocken zuckte Klaus Meinradt zusammen. »Ursula?« Er wurde bleich. »Muß ich da hineingehen?« fragte er und quälte sich ein Grinsen ab. »Ich könnte ja wieder gehen, und Sie sagen, daß ich noch einmal dringend ins Büro mußte. Nein«, er schüttelte den Kopf, »das hat auch keinen Sinn. Ursula kann man nicht umgehen, das hat Iris schon immer gesagt. Also bringe ich es gleich hinter mich.« Er blinzelte Mandy verschwörerisch zu.
»Auf, in die Höhle des Löwen«, sagte er zuversichtlicher, als ihm zumute war. Er drückte die Türklinke herunter, dann drehte er sich noch einmal zu Amanda um und nickte.
Mandy lächelte schwach. »Ich gehe inzwischen wieder in die Küche zu meinen Plätzchen.«
»Das ist aber eine Überraschung«, tat er erfreut, als er das Wohnzimmer betrat.
»Na, hoffentlich eine angenehme.« Ursula lächelte kokett und streckte ihm ihre schmale, gepflegte Hand mit den dunkelrot lackierten Fingernägeln entgegen.
»Das hoffe ich auch«, antwortete Klaus Meinradt nicht sehr galant. »Du hast lange nichts von dir hören lassen.«
»Wie sollte ich auch? Ihr wart ja böse auf mich, vielmehr Iris. Sie konnte mir nicht verzeihen, daß ich ihr den Freund ausspannen wollte.«
»Du hast versucht, mich zu überrumpeln, indem du dich mir an den Hals gehängt und so getan hast, als wollte ich dich küssen. Das war einen Tag vor unserer Hochzeit«, klärte Klaus seine Schwägerin auf. »Aber lassen wir die alten Geschichten ruhen.«
»Du hast recht. Iris ist tot, ich bin zu spät gekommen, um sie um Verzeihung zu bitten.« Ursula rang sich ein paar Tränen ab, die der Mann aber geflissentlich übersah. Die Schwestern hatten sich noch nie besonders gut verstanden.
»Was führt dich jetzt hierher, wenn ich fragen darf«, versuchte er abzulenken.
»Ich mußte doch nachsehen, ob du den Schock schon überstanden hast, den du zweifelsohne erlitten hast. Da dachte dich, daß ich vielleicht eine Weile hier wohnen könnte, um dir und meinem kleinen Neffen, den ich ja noch nicht einmal kenne, zu helfen. Immerhin bin ich Iris’ einzige Schwester.«
»Natürlich kannst du hierbleiben. Ich werde Mandy nachher bitten, das zweite Gästezimmer für dich zu richten. Ulli kann dir ja inzwischen Gesellschaft leisten, während ich das in Ordnung bringe. Dann lernst du deinen Neffen gleich kennen, wenn dir wirklich so viel daran liegt.« Er konnte sich einen spöttischen Unterton nicht verkneifen, aber Ursula hatte es anscheinend nicht bemerkt.
Klaus fand seinen Sohn in der Küche vor. »Geh eine Weile zu Tante Ursula heinein. Sie möchte dich kennenlernen. Und sei freundlich zu ihr, sie wird eine Weile bei uns bleiben.«
Ulli maulte zwar, aber dann nahm er Timo am Halsband und zog ihn mit sich. »Wenn ich schon mit der reden muß, dann kommst du aber auch mit«, sagte er zu seinem Hund, der sich willig fügte.
»Würden Sie für meine Schwägerin das Gästezimmer richten, Mandy? Sie will einige Zeit hierbleiben.«
»Ich habe es schon gehört, Herr Meinradt. Ich werde es gleich nachher erledigen«, stimmte die junge Frau zu, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, auch hier zu schlafen, solange meine Schwägerin… ich meine, es macht doch einen schlechten Eindruck, auch wenn Ursula die Schwester meiner verstorbenen Frau ist.«
»Ist schon in Ordnung, Herr Meinradt. Ich werde hierbleiben. Es ist ja auch für mich einfacher, wenn ich bei diesem vielen Schnee nicht die ganze Strecke bis nach Hause fahren muß. Und außerdem erwartet mich niemand.« Nur schwer konnte Mandy verbergen, wie froh sie war, daß sie nicht in ihre einsame Wohnung mußte. Da nahm sie sogar die unerwünschte Schwägerin in Kauf.
»Soll ich Ihnen ein paar frische Plätzchen ins Wohnzimmer bringen? Wenn sie noch lauwarm sind, dann schmecken sie am besten.«
»Das ist lieb von Ihnen, Mandy. Aber ich fürchte, wenn wir Ursula zu sehr verwöhnen, dann wird sie uns gar nicht mehr verlassen.« Klaus lachte verhalten auf und ging dann wieder ins Wohnzimmer zurück. »Na, habt ihr euch gut unterhalten?«
Ulli machte ein betretenes Gesicht. »Sie kann Timo nicht leiden.«
»So ein Unsinn. Das habe ich doch gar nicht gesagt, Ulli. Ich mag deinen Köter lediglich nicht anfassen. Ihr habt anscheinend keine Ahnung, was so ein Tier alles in seinem Fell hat, sonst würde dieses Ungetüm nicht so frei in der Wohnung herumlaufen.« Angewidert verzog Ursula ihr hübsch hergerichtetes Gesicht.
»Timo ist schon fast ein Jahr bei uns, und bis jetzt ist noch niemand krank geworden, im Gegenteil. Der Hund ist sehr wichtig für Ulli.« Klaus runzelte ärgerlich die Stirn.
»Das mag schon sein«, räumte Ursula versöhnlich ein, »aber jetzt schafft mir zuliebe bitte dieses Vieh hinaus.« Triumphierend schaute sie sich um. »Ich glaube, da bin ich noch gerade zur rechten Zeit gekommen. Der Junge braucht eine Hand, die ihn führt, und nicht nur eine Haushälterin, die von Tuten und Blasen und vor allem von Kindern überhaupt keine Ahnung hat. Wo hast du dieses Pflänzchen überhaupt aufgetrieben? Auf dem Arbeitsamt?«
»Bitte, laß Mandy aus dem Spiel. Ich habe sie nicht irgendwo aufgetrieben, sie steht mir aus lauter Hilfsbereitschaft bei, bis ich mein Leben wieder im Griff habe.«
»Oh, welch edler Zug von dem hübschen Kind«, zitierte Ursula spöttisch. »Arme Iris, wenn du das gewußt hättest…« Was sie damit sagen wollte, ließ sie offen, aber Klaus wußte es auch so.
Aber er war zu erschöpft, um sich mit seiner Schwägerin anzulegen.
»Arme Iris«, schluchzte Ursula plötzlich und preßte ein Taschentuch an die Augen. »Ich habe meine Schwester so sehr geliebt, und nun ist sie tot. Nicht einmal auf ihrem letzten Weg habe ich sie begleiten können.«
Sie ist wirklich verzweifelt, dachte Klaus Meinradt überrascht, und plötzlich war sie ihm schon viel sympathischer. Etwas mühsam erhob er sich aus seinem Sessel und ging zu seiner Schwägerin hinüber, die noch immer weinte.
»Beruhige dich doch, Uschi. Wer kann so etwas schon vorher ahnen? Wenn du willst, dann fahren wir in den nächsten Tagen einmal gemeinsam zum Friedhof. Willst du?« Beinahe zärtlich legte er seinen Arm um die zuckenden Schultern der Frau und drückte die Gestalt leicht an sich.
Ursula schaltete sofort. Sie warf ihre Arme um seinen Hals und preßte ihr Gesicht an seines.
In diesem Moment betrat Mandy das Zimmer. Als sie diese vertraute Szene sah, hätte sie fast die Schüssel mit den Plätzchen fallen gelassen.
Jetzt ist alles aus, dachte sie unglücklich und rannte aus dem Zimmer. Daß sie dabei versehentlich die Plätzchen wieder mitnahm, merkte sie gar nicht.
*
Seit fast drei Monaten lebte Ursula Wandel nun schon im Hause von Klaus Meinradt. Sie hatte die Aufgaben der Hausfrau übernommen, während Mandy noch immer die Arbeiten in der Küche verrichtete, mit Ulli spielte, und zweimal in der Woche mit Klaus die gymnastischen Übungen machte, die Dr. Schmoll ihm bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus verordnet hatte.
Das zumindest gab Mandy das Gefühl, daß sie hier immer noch gebraucht wurde.
Trotzdem war es ein untragbarer Zustand, das spürten alle. Aber am meisten belastete Ulli der Besuch seiner Tante Uschi, wie er die blonde Frau mit den wasserblauen, ausdruckslosen Augen nennen mußte. Mit viel Mühe und Zähigkeit hatte sie es endlich durchgesetzt, daß Timo wieder ins Tierheim gebracht wurde.
Zum Glück war der Hund bei Dr. von Lehn gut untergebracht, der das Tier damals nach dem Unfall behandelt hatte. Im Tierheim Waldi & Co. ging es ihm gut, dessen war sich Klaus ganz sicher.
Nur Ulli konnte sich gar nicht beruhigen. Er verstand auch seinen Vater nicht mehr, der plötzlich auch Angst vor eventuellen Bazillen hatte, die Timo möglicherweise im Fell mit herumschleppen könnte.
Der Junge wurde immer trauriger und schweigsamer, und nur wenn Mandy mit ihm spielte und versuchte, ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, dann passierte es, daß er ab und zu sogar einmal lachte.
Für Amanda Veil waren die Wochen beziehungsweise die Monate die reinste Hölle. Ursula demütigte sie, wo sie nur konnte, denn sie wollte die hübsche Krankenschwester so schnell wie möglich loswerden. Zwar hatte sie schon versucht, Klaus dahingehend zu beeinflussen, aber auf diesem Ohr war er anscheinend taub.
Und gerade das war es, was Ursula noch mehr aufbrachte. Sie mußte Mandy so zusetzen, daß sie freiwillig ging. Viel fehlte ja ohnehin nicht mehr, das hatte sie schon gemerkt.
Jetzt endlich war Ursula auch die Lösung des Problems eingefallen. Für Klaus, den sie unbedingt für sich gewinnen wollte, konnte sie ruhig auch einmal eine Lüge riskieren. Das war er ihr schon wert. Immerhin sah er gut aus, und arm war er auch nicht gerade, ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt.
»Zum Abendessen brauchen Sie heute nichts richten, Mandy. Klaus und ich werden in Maibach eine Kleinigkeit zu uns nehmen und dann ins Kino gehen«, sagte sie an einem lauen Märznachmittag. Ursula stand vor dem großen Spiegel in der Garderobe und fuhr sich mit der Bürste noch
einmal durch ihr herrliches blondes Haar.
Die junge Krankenschwester erstarrte. Zu ihr hatte er heute morgen noch gesagt, daß er zu einem wichtigen Kunden müsse und erst sehr spät zurückkommen würde. Sollte Klaus sie bewußt angelogen haben?
Wie schon so oft in den letzten Wochen fragte sich Mandy, was sie hier in diesem Haushalt überhaupt noch verloren hatte. Aber dann dachte sie an Ulli, der mit beinahe überschäumender Zuneigung an ihr hing. Ihm konnte sie es nicht antun, daß sie jetzt einfach alles hinwarf, nur weil sie sich mit Ursula nicht verstand.
»Sie sind wirklich eine fleißige Person«, riß sie da die Stimme der Frau aus ihren Gedanken, »Sie sorgen so gut für uns alle, daß ich Ihnen das einfach einmal sagen muß.«
Mandy registrierte sehr wohl den herablassenden überheblichen Ton, aber sie ließ sich nichts anmerken.
»Und darum sollen Sie auch die erste sein, die unser wunderbares Geheimnis erfährt. Klaus und ich werden heiraten, sobald die Trauerzeit vorbei ist.«
Amanda hatte das Gefühl, als würde ihr Blut in den Adern zu Eis gefrieren. Hatte sie es nicht schon lange befürchtet? Jetzt war der Augenblick also gekommen, wo sie nicht mehr gebraucht wurde.
Es schien, als hätte Ursula ihre Gedanken erraten. »Das heißt aber nicht, daß Sie dann arbeitslos werden, Mandy. Sie sind eine so vorbildliche Köchin, daß ich Sie sehr vermissen würde, wenn Sie uns verließen. Außerdem braucht ja mein Mann noch immer seine gymnastischen Übungen. Sie sehen also, Sie sind uns unentbehrlich geworden.« Ihr Lächeln war überheblich und erreichte nicht ihre stark geschminkten Augen.
»Das… das muß ich mir noch überlegen«, stotterte Mandy. Dann besann sie sich auf ihre guten Umgangsformen. Nein, den Triumph wollte sie Ursula Wandel nicht gönnen. Niemals sollte sie erfahren, wie sehr sie sie mit diesem Geständnis getroffen hatte. Niemand sollte ihre Tränen sehen, die sie ihrer verlorenen Liebe nachweinte.
»Herzlichen Glückwunsch«, hauchte sie und reichte Ursula ihre rechte Hand. »Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich habe die Küche noch nicht aufgeräumt.«
Ehe die andere noch etwas sagen konnte, drehte sie sich um und ging in ihr Reich zurück. Noch war es ihr Reich, aber sie wußte schon jetzt, daß sie unter diesen Umständen niemals würde bleiben können.
Während sie das Geschirr spülte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Alles war umsonst gewesen. Das alte Sprichwort, das ihre Mutter immer so häufig zitiert hatte, fiel Mandy wieder ein: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.
Ja, die Mutter hatte recht gehabt. Manche Menschen waren eben dazu ausersehen, ihr Leben lang unglücklich zu sein. Die Mutter hatte dieses Schicksal erlitten, als der Vater schon in jungen Jahren gestorben war. Und sie war jetzt selbst auch nicht besser dran. Sie verlor den Mann und das Kind, die sie beide mehr liebte als ihr Leben, an eine andere Frau, die solch eine Familie gar nicht verdiente. Ursula Wandel war eine kaltherzige Frau ohne Gefühl für Ulli, denn sonst hätte sie nicht verlangt, daß der Hund ins Tierheim gebracht werden müsse.
»Oh, Klaus«, schluchzte Mandy, und ihre Tränen tropften ins Spülwasser, »was findest du nur an dieser Uschi? Was hat sie, was ich nicht habe? Zugegeben, sie ist viel hübscher, sie versteht es, sich herzurichten, aber ist das wirklich alles, was du von deiner zukünftigen Frau, von der neuen Mutter für deinen Sohn erwartest?«
*
Das gönnerhafte Benehmen, das Ursula in der nächsten Zeit an den Tag legte, war noch unangenehmer für Mandy als die früheren versteckten spitzen Andeutungen, die sie bei jeder Gelegenheit losgelassen hatte. Nur wegen Ulli blieb Mandy noch in diesem Haushalt, denn der Junge litt unter der strengen und ungerechten Herrschaft seiner Tante mehr als damals unter dem plötzlichen Tod seiner Mutter.
Nur für das Kind ertrug die junge Krankenschwester den täglichen Anblick des Mannes, den sie liebte, und der doch für sie in unerreichbare Ferne gerückt war.
Oft dachte sie mit Sehnsucht an ihre Arbeit im Maibacher Krankenhaus, als sie von Dr. Schmoll noch gelobt worden war, weil sie immer so pünktlich und pflichtbewußt gewesen war. Und hier, was war sie hier schon? Eine Haushälterin, ein Dienstbote für eine aufgeputzte Frau, die nichts anderes im Kopf hatte, als ihre Schönheit zu erhalten und sich möglichst den ganzen Tag zu schonen.
Hatte sie, Amanda Veil, das denn nötig? Sie war eine ausgebildete Krankenschwester mit einem glänzenden Abgangszeugnis. Sie würde überall eine Anstellung mit guter Bezahlung und mit der Anerkennung, die ihr auch zustand, finden.
Aber was wurde dann aus Ulli? Ihn konnte sie nicht im Stich lassen. Sein Kinderherz, das in zärtlicher Liebe an ihr hing, würde diese Enttäuschung bestimmt nicht so schnell verkraften können, wenn überhaupt. Und das hatte mit Einbildung nun wirklich nichts zu tun.
Ursula war bestimmt nicht bereit, dem Jungen die Liebe zu geben, die er für ein gesundes Seelenleben benötigte.
»Jetzt ist es gar nicht mehr schön bei uns.« Ulli saß am Küchentisch und malte bunte Kreise auf ein Blatt Papier. »Seit diese olle Ziege da ist, darf ich gar nichts mehr.«
»Aber Ulli, so darfst du doch nicht von deiner Tante reden«, tadelte Mandy, obwohl sie ihm innerlich recht geben mußte. »Bestimmt will Tante Ursula nur das Beste für dich. Du sollst eben lernen, wie du dich richtig zu benehmen hast.«
»Aach, und deshalb darf ich auch nicht mehr singen, wenn ich will. Immer sagt sie, ich soll still sein, weil sie ihren Schönheitsschlaf braucht. Was ist das überhaupt, ein Schönheitsschlaf?«
Die junge Frau überlegte einen Augenblick. »Deine Tante will viel schlafen, damit sie schön bleibt. Im Schlaf ruht sich auch die Haut aus und bleibt glatt und frisch.«
»Machst du das auch?« Der Kleine runzelte die Stirn und bemühte sich, alles zu verstehen, was Mandy ihm erklärte.
»Nein, Ulli, dafür habe ich keine Zeit und auch kein Verlangen. Tagsüber kann ich sowieso nicht schlafen.«
»Aber Tante Uschi kann es. Sie ist faul, und schön finde ich sie auch nicht.«
»Das darfst du nicht sagen. Deine Tante ist eine hübsche Frau.« Mandy merkte, wie dumm ihre Worte klangen, aber sie durfte dem Jungen nicht recht geben. Schließlich handelte es sich um seine zukünftige Mutter.
»Und Timo hat sie auch weggegeben«, begehrte er auf. »Am liebsten möchte ich wieder nach Sophienlust.« Seine Miene erhellte sich schlagartig. »Das ist doch die Idee. Ich gehe wieder zurück ins Kinderheim, und dort darf ich meinen Timo sogar mit in mein Zimmer nehmen. Henrik wird begeistert sein, er ist nämlich mein Freund.«
»Ulli!« Die Krankenschwester konnte ihr Erschrecken nur schlecht verbergen. »Du willst deinen Vater allein lassen?«
»Der braucht mich doch gar nicht. Den ganzen Tag ist er bei seiner Arbeit, und am Abend hat er genug mit Tante Uschi zu tun. Die erzählt ihm dann immer, wie sehr sie sich den ganzen Tag mit mir hat herumärgern müssen. Und dann schimpft Vati mit mir. In Sophienlust ist es viel schöner als jetzt bei uns. Das hast du auch schon gemerkt.«
Mandy konnte nur staunen, wie genau der kleine Kerl seine Umwelt schon beobachtete und was für treffende Schlüsse er daraus zog. Es stimmte tatsächlich, so war das einfach kein Leben mehr.
*
Ulli wußte ganz genau, wie er es anfangen mußte. Er sagte nicht seinem Vater, daß er ins Kinderheim zurückwollte, sondern seiner Tante Uschi, in der er sogar eine Verbündete fand. Ihr war der Junge schon lange ein Dorn im Auge. Außerdem, wenn Ulli nicht mehr da war, dann waren Mandys Tage hier auch gezählt, das wußte Ursula Wandel ganz genau. Also unterstützte sie Ullis Wunsch nach besten Kräften, schließlich gab Klaus Meinradt nach.
Er war noch immer der Meinung, daß es Ursula gut mit seinem Sohn meinte. Schließlich war er ja ihr Neffe. Außerdem hatte er so viel Arbeit, daß er sowieso keine Zeit erübrigen konnte, um sich mit dem Gemüt seines Sohnes zu befassen. Ursula hatte da bestimmt den besseren Überblick.
Der Abschied von Ulli fiel ihm doch schwerer, als er gedacht hatte, aber da es der eigene Wunsch des Jungen war, fügte er sich.
Erst, als Mandy noch am selben Tag ebenfalls ihre Koffer packte und das Haus für immer verlassen wollte, ahnte er, daß er einen großen Fehler gemacht hatte.
»Warum Sie auch, Mandy? Gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr?« Wobei er mit uns Ulli und sich selbst meinte, seine Schwägerin bezog er in seine Gedanken keine Sekunde mit ein, denn sie würde ja hoffentlich bald sein Haus wieder verlassen.
Mandy aber empfand gerade dieses Wörtchen »uns« als den letzten Fußtritt, den sie noch gebraucht hatte.
»Die Hausarbeit befriedigt mich nicht mehr. Ich möchte wieder in einem Krankenhaus arbeiten. Das ist der Beruf, den ich gelernt habe.« Daß sie noch gar keine Anstellung hatte, verschwieg sie wohlweislich.
Wie sehr Mandy ihm fehlte, merkte Klaus erst, als er abends nach Hause kam und das Haus leer vorfand.
Ursula hatte ihm einen Zettel hingelegt, daß sie ins Kino gegangen sei, und Mandy… ja, Mandy war nicht mehr da. Niemand begrüßte ihn, so wie früher. Da war Ulli angelaufen gekommen, gefolgt von Timo, der jetzt im Tierheim war, weil Ursula es so gewollt hatte.
Und Mandy war dagewesen. Meist war sie aus der Küche gekommen mit geröteten Wangen und wirren Haaren, die sie hinten zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er sie noch nie mit offenen Haaren gesehen. Wie schön mußte sie damit aussehen, wenn die dunklen Locken auf ihre schmalen Schultern fielen.
Warum mußte er ausgerechnet jetzt daran denken? Hatte er Iris etwa schon vergessen?
Nein, das hatte er nicht. Sie würde in seinem Herzen weiterleben. Aber das Leben ging weiter. Und er war noch jung, zu jung, um für alle Zeit allein zu bleiben.
»Ach, Quatsch«, schimpfte er vor sich hin und ging in den Keller hinunter, um sich eine Flasche Bier zu holen. Danach richtete er sich in der Küche etwas zum Essen und setzte sich dann ins Wohnzimmer.
Er schaltete den Fernseher ein und beschloß, seinen Feierabend einmal so richtig zu genießen. Mühsam konzentrierte er sich auf die Nachrichten, die ihn sonst immer brennend interessierten. Aber heute war das ganz anders.
»Alles kalter Kaffee«, murmelte er vor sich hin, aber die Leere in seinem Herzen blieb.
*
»Laß das, Timo, ich will heute nicht spielen.« Mißmutig stieß Ulli einen Stein vor sich her, den er auf dem Weg gefunden hatte.
Er lebte schon fast wieder einen Monat in Sophienlust und es gefiel ihm auch ganz gut. Und trotzdem hatte er Heimweh, Heimweh nach seinem Vater und vor allem… nach Mandy.
Zwar hatte sie ihn schon einmal besucht, aber das war eben viel zu wenig.
Und wenn der Vati kam, dann war er auch meistens bedrückt, und Ulli war froh, wenn er wieder nach Hause ging.
»Daran ist nur diese dumme Tante Uschi schuld. Da kannst du sagen, was du willst«, schimpfte der Junge und schaute Henrik herausfordernd an.
Seit Ulli wieder in Sophienlust war, kam Henrik noch lieber ins Kinderheim. Zwischen den beiden Jungen bestand zwar ein großer Altersunterschied, und trotzdem war da etwas, was sie verband.
»Das glaube ich dir gleich. Sie hat bestimmt auch deine Mandy hinausgeekelt.«
»Meinst du?« Ulli schaute den älteren Freund zweifelnd an. »Wie soll sie denn das gemacht haben?«
Henrik zuckte die Schultern. »Weiß ich auch nicht. Es war nur so ein Gedanke.«
»Jetzt werde ich bald sechs«, überlegte Ulli laut weiter. »Nächstes Jahr komme ich in die Schule. Ob dann diese Zimtzicke noch immer bei uns ist?«
Henrik lachte. »Was ist die? Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört. Aber er gefällt mir. Den muß ich mir merken.«
»Timo, hierher!« Ulli stampfte mit dem Fuß auf. Überhaupt war er in letzter Zeit ziemlich ungeduldig und beinahe unbeherrscht. Aber das kam nur daher, weil er sich nicht wohl fühlte. Mandy fehlte ihm mehr, als er sagen konnte.
Folgsam kam der Hund angerannt, so schnell es seine kurzen Beinchen zuließen.
»Wenn ich nur wüßte, wie man diese Ursula hinausekeln könnte. Wenn sie es mit Mandy auch so gemacht hat, dann ist das die einzig gerechte Strafe für sie.«
Henrik grinste verschmitzt. »Ich wüßte da schon etwas. Aber ob das gut ist, weiß ich natürlich nicht.«
»Sag schon, ich mache alles mit, wenn es nur hilft.«
»Das weiß ich eben auch nicht«, antwortete Henrik zögernd. »Aber immerhin könnte man es versuchen. Wenn du deiner Mandy einen Brief schreiben könntest und sie bitten würdest, für dich diese Ursula aus dem Haus zu werfen, vielleicht hätte das einen Sinn.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist ja auch nicht mehr zu Hause. Dann ist diese Uschi doch die Stärkere.«
»Trotzdem würde ich es versuchen. Schreib ihr einen Brief. Und dann werden wir sehen, was passiert.«
»Aber ich kann doch gar nicht schreiben. Ich komme erst nächstes Jahr in die Schule. Und bis dahin ist es sowieso zu spät.«
»Das habe ich ganz vergessen, natürlich. Aber ich kann doch schreiben«, fiel Henrik im letzten Moment ein, ehe sie diese Idee wieder fallenließen.
»Das stimmt. Dann werde ich dir sagen, was du schreiben sollst, und du wirst den Brief dann auch für mich abschicken.«
»Klar, das mache ich. Komm, wir gehen gleich in dein Zimmer und bringen es hinter uns.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit war Ulli wieder ein bißchen glücklich. Vielleicht würde doch noch alles gut werden, wenn er es selbst in die Hand nahm.
Diese Tante Uschi mußte doch irgendwie zu vertreiben sein. Er selbst war zu klein, um sich da etwas einfallen zu lassen. Aber Mandy war groß, und sie war gescheit. Sie würde sicher einen Weg finden, damit sie alle wieder zusammensein konnten.
Aus dem Schrank holte Ulli Papier und einen Kugelschreiber. Dann setzte sich Henrik an den Tisch und wartete. »Nun schieß schon los. Es braucht ja kein Roman zu werden.«
»Was… was sollen wir denn schreiben?« fragte Ulli plötzlich etwas kläglich, weil ihm einfach nichts einfallen wollte.
»Es muß etwas ganz Tolles sein, damit es auch wirkt.«
Ulli nickte. Das sah er ein. »Schreib, daß ich wieder zu meinem Vati zurück möchte, weil ich ihn so vermisse, und daß ich Timo mitbringen will.«
Er wurde ganz aufgeregt. »Das mußt du unterstreichen, denn ohne meinen Timo werde ich nicht nach Hause kommen. Das ist ganz wichtig.«
Henrik nickte und kaute versonnen an dem Kugelschreiberende. »Und was hättest du noch gern in deinem Brief?«
Ulli dachte nach. »Das Wichtigste haben wir. Ohne Timo gehe ich nirgends hin, das soll er nur wissen, mein Vati.«
»Und was ist mit Mandy? Ich dachte, die ist dir mindestens genauso wichtig.«
»Ja, du hast recht. Dann schreib ihr, daß sie mich hier abholen soll und wir dann alle drei wieder nach Hause gehen.«
»Ja, aber diese Ursula, die muß dann verschwunden sein, richtig?«
»Na klar, das weißt du doch. Solange die noch bei uns ist, gehe ich auch nicht zurück. Dann wäre ich ja gar nicht erst hergekommen.«
»Natürlich.« Henrik nickte. Dann fing er an zu schreiben.
»Lies vor. Ich will auch wissen, was du Mandy schreibst.« Ulli rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl herum.
»Also, sehr geehrte Mandy«, begann er.
»So ein Quatsch. Das mußt du anders schreiben. Warte, ich hole dir ein frisches Blatt.«
Und dann diktierte er: »Liebe Schwester Mandy.«
*
Wie meistens machte Denise von Schoenecker auch an diesem lauen Aprilabend ihre Runde durch das Kinderheim, ehe sie nach Hause fuhr. Sie sehnte sich nach einem ruhigen und beschaulichen Feierabend in Schoeneich im Kreise ihrer Familie, wo sie endlich einmal abschalten und nur noch Mutter und Ehefrau sein durfte.
Sie wußte, daß ihr Mann Alexander und ihr Sohn Nick schon auf sie warteten, aber trotzdem schaute sie noch kurz bei jedem Kind ins Zimmer. Die meisten Jungen und Mädchen schliefen um diese Zeit schon.
Auch Ulli lag schon lange im Bett, und seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge verrieten, daß er fest schlief.
Er war ein hübscher Junge, und jetzt, im Schlaf, war sein Gesichtchen leicht gerötet, und die langen dunklen Wimpern lagen wie Schleier auf seinen Wangen.
Denise trat näher an sein Bett und beobachtete eine Weile das schlafende Kind. Am liebsten hätte sie Ulli gestreichelt, wenn sie nicht Angst gehabt hätte, daß sie ihn damit aufwecken könnte.
Da sah sie einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel auf dem Nachttisch liegen. Normalerweise hätte sie dem keine Bedeutung beigemessen, aber in diesem Fall war es anders.
Irgendeine innere Stimme zwang sie dazu, das Blatt Papier an sich zu nehmen. Dann warf sie noch einen Blick auf das schlafende Kind und ging dann leise hinaus.
In ihrem Arbeitszimmer angekommen, machte sie zuerst einmal Licht, denn es war schon stockdunkel draußen. Dann setzte sie sich gemütlich an ihren Schreibtisch. Diese Zeit wollte sie sich noch nehmen.
Als sie den Zettel auseinanderfaltete, entfuhr ihr ein überraschter Ausruf. Das war doch die Schrift ihres Sohnes Henrik.
Neugierig überflog sie die wenigen Zeilen, an deren Schluß mit ungelenkigen Großbuchstaben unterschrieben worden war. Ulli hatte seinen Namen selbst geschrieben.
Immer wieder mußte Denise den Brief lesen, der sie seltsam berührte. Was mochte in diesem Jungen vorgehen, daß er dieser Mandy einen so dringenden Hilferuf schicken wollte.
Entschlossen stand sie auf. Sie wollte den Fall mit ihrer Familie besprechen, denn daß sie da eingreifen mußte, das wußte sie jetzt. Ulli mußte geholfen werden, wenn er nicht seelisch zugrunde gehen sollte.
»Sieh nur, Nick, deine Mutter findet auch wieder einmal nach Hause«, spöttelte Alexander gutmütig, als Denise das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer betrat.
»Tatsächlich, Vati, sie ist es«, ging Nick auf den scherzenden Ton seines Stiefvaters ein. »Da bin ich aber froh, daß ich auf dich gehört habe und noch nicht ins Bett gegangen bin, sonst hätte ich sie heute überhaupt nicht gesehen.«
»Übertreibt doch nicht«, tadelte Denise lächelnd. »Immerhin war ich zum Mittagessen hier.«
»Tatsächlich«, tat Alexander von Schoenecker überrascht. »Das haben wir doch glatt vergessen, nicht wahr, Nick?«
»Jetzt hört schon auf, ihr beiden. Ich habe etwas Wichtiges mit euch zu besprechen. Es handelt sich um den kleinen Ulli. Ihr wißt schon, seine Mutter ist vor fast einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein Geisterfahrer hatte den Wagen seines Vaters gerammt.«
»Ja, ich kann mich erinnern«, sagte Alexander. »Der Mann war dann lange im Krankenhaus. Ich glaube, er hat ein Versicherungsbüro in Maibach, wenn ich mich nicht irre.«
»Ganz recht. Ulli lebte dann, dank der Hilfe einer netten Krankenschwester, die übrigens mit unserer Schwester Regine befreundet ist, wieder bei seinem Vater zu Hause, bis dann vor einigen Monaten seine Tante aufkreuzte. Frau Wandel ist die Schwester seiner verstorbenen Mutter, und wie mir scheint, eine ziemlich leichtlebige Person, die den ganzen Haushalt durcheinandergebracht hat.«
Überrascht horchte Alexander von Schoenecker auf. »Ursula Wandel? Das Fotomodell?«
»Ja, ich glaube. Zuerst hat sie durchgesetzt, daß Timo, das ist Ullis Hund, das Haus verlassen mußte, und dann hat sie auch noch Schwester Mandy und Ulli das Leben so schwergemacht, bis sie freiwillig gegangen sind.«
»Und das hat sich Ullis Vater gefallen lassen?« ärgerte sich Nick. »Na, das muß ja ein schöner Waschlappen sein.«
»Herr Meinradt, sein Vater, scheint mir in Ordnung zu sein. Ich nehme an, daß er zur Zeit nur etwas verwirrt ist, bedingt durch den plötzlichen Tod seiner Frau, die er sehr geliebt zu haben scheint«, verteidigte ihn Denise. Sie hatte sich in einem der bequemen Sessel niedergelassen und hielt nun den Brief hoch, damit ihn alle sehen konnten.
»Den habe ich auf Ullis Nachttisch gefunden. Es ist ein Brief an Schwester Mandy. Übrigens, schläft unser hoffnungsvoller Sprößling Henrik schon?«
»Schon lange. Warum fragst du?« Alexander machte ein verständnisloses Gesicht.
»Weil Henrik den Brief geschrieben hat, den ihm Ulli anscheinend diktierte. So nehme ich jedenfalls an.«
»Dürfen wir wissen, was darin steht?«
Denise reichte ihrem Man den Brief. »Lies ihn bitte laut vor, damit Nick auch gleich Bescheid weiß.«
»Liebe Schwester Mandy«, begann Alexander von Schoenecker, dann brach er ab. »Wie rührend sich das anhört. Liebe Mutti könnte nicht schöner klingen.«
»Ja, da hast du recht, Vati«, stimmte Nick zu.
»Also: Liebe Schwester Mandy. So lange haben wir uns nicht mehr gesehen, daß ich richtig Sehnsucht nach Dir habe. Hier ist es sehr schön und alle sind auch lieb zu mir.«
»Ein dickes Lob für uns, siehst du, Mutti«, unterbrach Nick.
Die Verwalterin nickte. »Lies bitte weiter, Schatz.«
»Trotzdem vermisse ich Dich und Vati so sehr, daß ich es bald nicht mehr aushalten kann. Du bist doch schon erwachsen und so gescheit. Kannst du nicht diese Tante Uschi wegschicken, die wir gar nicht gerufen haben? Dann könnten wir wieder alle zusammen und so glücklich wie vorher sein, auch Timo. Ich hab Dich so schrecklich lieb, Dein Ulli.«
Alexander ließ den Zettel sinken und schwieg. Auch Nick wußte nicht, was er sagen sollte.
»So wie euch jetzt war mir vorhin auch zumute, als ich den Brief gefunden habe. Es bricht einem fast das Herz, wenn man so einen Hilferuf liest und nicht weiß, was man da tun kann.«
Denise schaute zuerst Alexander an und dann Nick, der nachdenklich die Stirn runzelte.
»Also mir fällt beim besten Willen nichts Gescheites ein«, bekannte er mißmutig.
»Doch, ich hätte da schon eine mögliche Lösung anzubieten.«
»Und die wäre?« fragte Denise erfreut.
Alexander lächelte. »Es ist eigentlich das Naheliegendste. Einer von uns muß diesen Brief Ullis Vater bringen, am besten machst du das selbst. Wenn er noch ein Herz für seinen Sohn hat, dann wird er sich besinnen und diese Tante Ursula wegschicken, auch wenn sie die Schwester seiner verstorbenen Frau ist. Das ist doch noch lange kein Freibrief dafür, daß sie auch deren Nachfolge antreten kann.«
»Da hast du recht, mein Lieber, überhaupt wenn man sich so gemein aufführt, wie sie es getan hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß dieser Klaus Meinradt eine gute Partie ist. Ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, etwas zu erreichen. Ihr wird jedes Mittel recht sein, um ihren Schwager für sich zu gewinnen.«
»Dann ist er es auch nicht wert, daß er einen Sohn hat«, sagte Alexander von Schoenecker ärgerlich. »Dann soll er sich eben in die Nesseln setzen, wenn er unbedingt will.«
*
Am nächsten Morgen konnte es Denise kaum erwarten, bis es acht Uhr war. Als die alte Standuhr im Treppenhaus ihre melodischen Schläge von sich gab, stieg sie gerade in ihren Wagen.
Ein wichtiger Besuch lag vor ihr. Der Brief, den Ulli an Schwester Mandy diktiert hatte, befand sich in ihrer Handtasche. Das war ihr wichtigstes Argument.
Ausgerechnet heute regnete es in Strömen. Die Scheibenwischer hatten Mühe, die Wassermassen zu bekämpfen, und Denise mußte sehr langsam fahren. Endlich hatte sie es geschafft. Sorgfältig schloß sie ihr Auto ab, das sie an der anderen Straßenseite geparkt hatte.
Mit raschen Schritten lief Denise über die Straße. Den Schirm nahm
sie nicht mit, denn sie hatte es ja
nicht weit bis zu Klaus Meinradts Büro.
Eine schrille Glocke schlug an, als sie die Glastür öffnete. Im Vorzimmer saß eine ältere Frau, die Denise durch ihre Nickelbrille forschend ansah.
»Sie wünschen?« fragte diese Person überaus höflich.
»Ich möchte bitte zu Herrn Meinradt. Ist er da?«
»Natürlich.« Die Stimme der Frau klang so vorwurfsvoll, als hätte Denise etwas Unerhörtes gefragt.
»Durch diese Tür hier und dann rechts.«
Etwas zaghaft klopfte Denise an, gleich darauf erklang das »Herein«. Das war Klaus Meinradts Stimme.
Erleichtert atmte Denise auf. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, daß alles so lief, wie sie es sich in den schlaflosen Stunden der vergangenen Nacht ausgemalt hatte.
»Frau von Schoenecker! Ist etwas mit meinem Sohn?« Erschrocken erhob sich der Versicherungskaufmann.
Denise winkte ab. »Ulli geht es gut, bitte beruhigen Sie sich. Es geht ihm so gut, wie es ihm unter den gegebenen Umständen nur gehen kann.«
»Bitte, setzen Sie sich doch. Ich nehme an, daß Sie einen bestimmten Grund haben, mich aufzusuchen.« Er bemühte sich, seine Ungeduld zu verbergen.
»Ja, den habe ich«, stimmte Denise zu. Sie holte aus ihrer Handtasche
den Zettel, der ihr soviel Kopfzerbrechen bereitet hatte. »Hier, lesen Sie. Ich hoffe, Sie werden ihn ebenso ernst nehmen, wie ich das getan habe.«
Verständnislos blickte der Mann auf Ullis Brief. »Wer hat das geschrieben, und was soll ich damit?«
»Geschrieben hat ihn mein Sohn Henrik im Auftrag Ihres Sohnes, da Ulli ja noch nicht schreiben kann. Und nun zu Ihrer zweiten Frage: Lesen Sie ihn, dann werden Sie schon verstehen. Das hoffe ich zumindest«, fügte sie noch leise hinzu.
»Na gut, wenn Sie meinen.« Ohne großes Interesse faltete Klaus Meinradt den Zettel auseinander. Dann begann er zu lesen. Seine Augen wurden immer größer, und seine Lippen bewegten sich, als er den Brief ein zweites und ein drittes Mal las.
»Ulli, was habe ich dir angetan«, flüsterte er nach einer Weile des Schweigens. »Das ist ja schrecklich.«
»Genau das dachte ich gestern auch, als ich den Brief auf dem Nachttisch Ihres Sohnes fand. Ulli muß schon sehr große Sehnsucht nach Ihnen und nach Schwester Mandy haben, wenn er zu solchen Mitteln greift.«
»Sie haben recht. Ich muß endlich etwas unternehmen. Es ist schließlich nicht normal, daß ein Vater sein Sohn fortschickt, nur weil es seine Schwägerin so haben will. Ich weiß gar nicht, weshalb ich Ursula immer nachgegeben habe, wenn sie einen Wunsch geäußert hat. Ich muß blind gewesen sein.«
»Sie ist die Schwester Ihrer verstorbenen Frau. Das erklärt vieles.« Denise fühlte, daß sie schon fast gewonnen hatte.
»Trotzdem ist es keine Entschuldigung«, widersprach Klaus und stützte den Kopf in die Hände. »Was soll ich nur tun? Mein Sohn will Mandy wiederhaben, aber ich kann sie doch nicht herzaubern. Sie wird auch gar nicht mehr kommen wollen.«
»Wenn ich Sie wäre, dann würde ich Fräulein Veil zumindest fragen. Aber nur, wenn Sie auch Wert darauf legen.« Denise errötete leicht. »Entschuldigen Sie, das geht mich nun wirklich nichts an.«
»Ist schon in Ordnung, Frau von Schoenecker. Sie haben meinem Sohn schon so viel Gutes getan und damit auch mir, daß ich vollstes Vertrauen zu Ihnen habe. Ich vermisse Mandy auch sehr, obwohl ich das bis jetzt noch nicht wahrhaben wollte. Aber nun werde ich es ihr wohl oder übel eingestehen müssen, daß ich… daß ich mich wahrscheinlich in sie verliebt habe.«
Denise fühlte sich um eine Zentnerlast leichter. Wenn nun auch Schwester Mandy etwas für Klaus Meinradt empfand, dann würde sich alles rasch zum Guten wenden.
»Vielleicht sollten Sie zu ihr hingehen und ihr diesen Brief zeigen. Dann werden Sie ja sehen, wie die junge Frau reagiert«, schlug sie vor.
Der Mann stimmte zu. Zuvor aber wollte er noch mit seiner Schwägerin sprechen. Sie mußte endlich sein Haus verlassen und sich eine neue Bleibe suchen. Zuviel Schaden hatte sie schon angerichtet, als daß er noch Mitleid mit ihr haben konnte.
*
Ursula Wandel lag auf der Couch imWohnzimmer und rekelte sich wohlig. Welch ein schönes Heim hatte doch Iris ihr Eigen genannt, während sie, Ursula, sich ihre Karriere hatte aufbauen müssen.
Gerade als zugkräftige Aufträge ausgeblieben waren, war Iris bei diesem gräßlichen Unfall ums Leben gekommen. Damit hatte sie Platz gemacht für ihre jüngere Schwester, die sich hier außerordentlich wohl fühlte.
Zwar liebte sie Klaus nicht, dafür war er ihr zu bieder, aber er sah gut aus, und er konnte ihr ein sorgenfreies Leben bieten, was ein nicht zu unterschätzender Vorteil war.
Und so wie es jetzt aussah, war der Mann schon fast wie Wachs in ihren Händen. Jetzt galt es nur noch, die Trümpfe richtig auszuspielen, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis sie die neue Frau Meinradt war.
Sie hörte nicht, wie draußen der Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Erst als Klaus im Wohnzimmer stand, schreckte sie auf.
»Du bist schon wieder zurück?« Als er keine Antwort gab, stand sie rasch auf. »Mir war so schwindlig, da habe ich mich eine Weile hingelegt. Mein Kreislauf macht mir manchmal Schwierigkeiten, wenn das Wetter umschlägt.«
»Warum entschuldigst du dich? Ich habe dir doch gar keinen Vorwurf gemacht. Du sollst dich natürlich ausruhen, solange du bei mir Gast bist.« Klaus wollte höflich bleiben, aber seine Stimme klang spöttisch, obwohl er es hatte vermeiden wollen.
»Was ist mir dir, Klaus? Habe ich etwas falsch gemacht?« Mit einem unschuldsvollen Blick, als ob sie kein Wässerchen trüben und niemanden ein Leid zufügen könnte, schaute sie zu ihm auf.
Aber dieses Mal ließ sich der Mann nicht von ihren schauspielerischen Fähigkeiten blenden. Mit einem Mal sah er klar, und ihm war auch bewußt, wie ihn Ursula die letzten Monate an der Nase herumgeführt hatte. Immer gab sie als Begründung für ihre Gemeinheiten an, daß sie Iris Schwester sei und für alle nur das Beste wolle.
Dabei hatte sie nur ihr eigenes Wohlbefinden im Sinn gehabt. Und er, Klaus, hatte sich blenden lassen. Aber das war nun vorbei. Ursula mußte endgültig gehen.
Wenn ich es ihr nur schon gesagt hätte, schoß es ihm durch den Kopf. Ihm wurde heiß in seiner dunklen Anzugjacke. Hastig zog er sie aus und hängte sie über eine Stuhllehne.
»Hast du eigentlich keine Aufträge mehr? Ich wundere mich, daß du es dir leisten kannst, so viele Monate Urlaub zu machen.«
»Sag mal, Klaus, was ist denn mit dir? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen oder willst du mich loswerden?« Ihr Blick aus den wasserblauen Augen wurde lauernd.
Dem Mann wurde es immer unbehaglicher zumute. »So direkt wollte ich es eigentlich nicht sagen«, wich er aus. »Aber findest du nicht, daß es seltsam aussieht, wenn du als Frau hier bei einem Witwer wohnst? Es schadet deinem Ruf und meinem sicher auch«, fügte er noch hinzu.
»Was soll der Quatsch? Du bist mein Schwager. Ist es da nicht natürlich, wenn ich dir in der ersten Zeit helfe, mich um den Haushalt kümmere und deinen Sohn versorge?«
Aber das hätte Ursula besser nicht gesagt. In Klaus stieg der Zorn hoch.
»Du hast überhaupt keine Ähnlichkeit mit Iris«, sagte er gefährlich leise.
»Na und? Ist das vielleicht ein Makel? War Iris so einmalig, daß ihr keine andere Frau das Wasser reichen könnte?«
»Ja, sie war einmalig, sie war genau das Gegenteil von dir. Aber es gibt eine Frau, die auf ihre Art genauso einmalig ist. Und diese Frau werde ich heiraten, wenn sie mich noch haben will.« Nervös ging er im Zimmer auf und ab. »Aber nach allem, was wir beide ihr angetan haben, zweifle ich daran.«
»Ach, du meinst dieses Pflänzchen, diese farblose Person, die dir den Haushalt geführt hat? Ha, daß ich nicht lache. Ausgerechnet so eine Landpomeranze, die von der großen Welt noch nie etwas gesehen hat?« Gekünstelt lachte Ursula auf. Sie merkte, daß ihr die Felle langsam aber sicher davonschwammen.
Jetzt brauchte sie nur noch einen guten Abgang, damit sie ihr Gesicht nicht verlor. Sie erinnerte sich an den Anruf, den sie gestern von ihrer Agentur erhalten hatte. Eine unwichtige Modenschau in irgendeiner Kleinstadt, niedrige Gage, aber immerhin ein Angebot.
Zwar hatte sie es zuerst ausgeschlagen, aber wenn sie sich beeilte, dann war es vielleicht noch frei.
»Sprich nicht so respektlos von Mandy.« In Klaus’ Stimme schwang unterdrückter Zorn mit. Aber er wollte sich nicht mit Ursula verfeinden, immerhin war sie seine Schwägerin, das durfte er nicht vergessen.
»Wegen dir hätte ich fast ein ausgezeichnetes Angebot ausgeschlagen. Gestern hat meine Agentur angerufen«, berichtete sie atemlos. »Ich bin froh, daß du es mir rechtzeitig gesagt hast, daß du meine Dienste nicht mehr benötigst. Wenn du nichts dagegen hast, dann werde ich jetzt meine Sachen packen.«
»Ursula«, bat Klaus etwas verlegen, »wir wollen als Freunde auseinandergehen, nicht als Feinde.«
Er streckte ihr seine Rechte hin, die sie nach kurzem Zögern ergriff. »Ich weiß, wenn ich verloren habe«, gab sie dann zu und wandte sich ab.
»Eigentlich bist du deiner Schwester doch ähnlicher als ich gedacht habe.«
»Danke, das hast du schön gesagt. Aber jetzt muß ich gehen und meine Agentur anrufen, damit sie mir das Angebot offenhalten.« Eilig lief sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
»Wenn du je etwas brauchen solltest, dann bin ich immer für dich da«, rief er ihr noch nach, ehe sie die Tür hinter sich zuwarf.
*
Es war ein dunkler Altbau, in dem sich Mandys kleine Wohnung befand, die sie früher mit ihrer geliebten Mutter geteilt hatte.
Nachdem sie Klaus Meinradts Haushalt verlassen hatte, hatte sie sich fast die Finger wundgeschrieben nach einer neuen Arbeitsstelle, aber anscheinend gab es genügend Krankenschwestern. Nur von einer kleinen Kurklinik im Schwarzwald stand die Antwort noch aus. Mandy rechnete fest mit einer Absage.
Die junge Frau stand am Fenster und starrte traurig auf die schmale Straße hinunter, wo einige Jungen Fußball spielten. Eigentlich war es ein Leichtsinn, aber hier gab es nirgendwo einen Spielplatz, wo sie hätten hingehen können.
Wo der Briefträger heute nur blieb? Es war schon gegen Mittag, und der Briefkasten war noch immer leer.
Enttäuscht ging Mandy in die Küche. Sollte sie sich etwas zum Mittagessen richten?`Eigentlich hatte sie überhaupt keinen Hunger. Wenn sie nur an das Essen dachte, dann krampfte sich ihr Magen schon zusammen.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als es läutete. War das der Briefträger? Brachte er vielleicht eine eingeschriebene Zusage?
Schnell lief sie nach draußen und riß erwartungsvoll die Tür auf. Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Es war Klaus Meinradt, der draußen stand, und nicht der Briefträger.
»Sie… Klaus?« stotterte Mandy verlegen. Sie spürte, wie sie errötete.
»Ja, ich. Bin ich willkommen, oder soll ich lieber gleich wieder gehen?« Sein Blick hing voll Zärtlichkeit an Mandys schmalem Gesicht, das in den letzten Wochen noch blasser geworden war. Er sah, daß die Frau gelitten hatte, und jetzt wußte er auch, warum, jetzt, nachdem ihm sein Sohn und Denise von Schoenecker die Augen geöffnet hatten.
»Bitte… kommen Sie herein«, sagte Amanda Veil zögernd und trat zur Seite.
Das ließ sich Klaus nicht zweimal sagen. Insgeheim hatte er befürchtet, hier im Treppenhaus abgefertigt zu werden. Verdient hatte er es ja, nach allem, was passiert war. Er mußte wahrhaftig blind gewesen sein und hatte dafür nur eine Entschuldigung, nämlich den Tod seiner Frau, die er sehr geliebt hatte.
»Ich habe einen Brief für Sie, Mandy.« Er reichte ihr den Zettel, den ihm Denise gebracht hatte.
Die junge Krankenschwester las zuerst halblaut, und dann bewegten sich nur noch ihre Lippen.
Als sie den Brief sinken ließ, liefen Tränen über ihre Wangen. »Der arme Junge«, flüsterte sie und gab dem Mann den Zettel wieder zurück.
»Ja, das war auch mein erster Gedanke«, gab Klaus zu. »Und seitdem überlege ich fieberhaft, wie ich meinem Sohn helfen könnte.« Der Blick des Mannes ruhte forschend auf ihrem Gesicht.
»Und warum sind Sie zu mir gekommen? Ich weiß auch keinen Ausweg.« Mandys Hände zitterten, und Klaus hätte die Frau am liebsten gleich in die Arme genommen und getröstet wie ein kleines gefallenes Kind.
»Können Sie sich nicht denken, warum ich ausgerechnet zu Ihnen gekommen bin, Mandy?«
Die Angesprochene schüttelte den Kopf, obwohl ein unsinniger Gedanke ihr fast den Atem nahm. Sollte er…? Aber nein, das war ja gar nicht möglich. Ursula war da, und diese hatte die älteren Rechte.
»Sämtliche Bedingungen meines Sohnes habe ich erfüllt. Jetzt liegt es nur noch an Ihnen, Ulli wieder glücklich zu machen. Und mich auch«, fügte er noch leise hinzu.
In Amanda stieg Jubel hoch. Also hatte sie sich doch nicht getäuscht. »Und Timo auch«, ergänzte sie und lächelte unsicher.
»Was haben Sie gesagt?« Klaus hatte ihr langes Zögern mißgedeutet und schon geglaubt, sie wirklich verloren zu haben. Und nun das.
»Na, Timo gehört doch auch dazu, wenn Ulli wieder glücklich werden soll. Also, wenn Sie für mich wieder Verwendung haben, dann kann ich sofort bei Ihnen anfangen. Eine neue Arbeitsstelle habe ich ohnehin nicht gefunden.«
»Ich dachte, Sie hätten schon eine gehabt, als Sie uns damals verließen«, sagte Klaus Meinradt überrascht. »Dann war das also gar nicht der wahre Grund?«
»Nein, das war er nicht«, gab Mandy verlegen zu. »Ihre Schwägerin teilte mir damals mit, daß sie Sie heiraten würde. Dabei ließ sie durchblicken, daß dann keine Haushälterin mehr nötig wäre, obwohl sie mir durchaus erlaubte, zu bleiben. Aber ich wäre nur geduldet gewesen.«
»Was?« Klaus war überrascht. »Niemals war die Rede davon, daß ich Ursula heiraten würde. So eine…« Er unterdrückte das Schimpfwort, das ihm auf der Zunge gelegen war. Etwas ganz anderes ging ihm jetzt durch den Kopf.
»Sie haben mich mißverstanden. Ich wollte keine Haushälterin, Mandy, ich wollte wieder eine Ehefrau, die mit mir durch dick und dünn geht, die ich liebe und die mich liebt, und die meinem Sohn eine gute Mutter sein will. Mit einem Satz: Ich liebe dich, Mandy, und ich würde dich gern heiraten, wenn du mich auch ein bißchen magst.«
Amanda schüttelte den Kopf, weil sie es noch nicht glauben konnte. »Heiraten?« echote sie. »Mich heiraten? Oh, Klaus, du machst mich zum glücklichsten Menschen auf der Welt.«
»Heißt das… ja?«
»Ja, tausendmal ja.« Mit einem Jubelschrei fiel ihm Mandy um den Hals. »Gehen wir gleich nach Sophienlust und holen unseren Sohn ab?« flüsterte sie an seinem Ohr.
Klaus preßte die Frau fest an sich. »Ja, das machen wir. Wir holen jetzt sofort unseren Sohn und unseren Hund nach Hause. Endlich haben die beiden wieder ein Heim und ich eine Frau, die ich lieben darf und die mich liebt.«
Als die Türglocke anschlug, fuhren sie erschreckt auseinander.
»Laß es klingeln«, schlug Klaus vor. Aber Mandy hatte sich schon aus seinen Armen befreit.
»Es könnte etwas Wichtiges sein.«
Als sie zurückkam, schwenkte sie einen Brief in der Hand, ein Einschreiben. »Die Klinik im Schwarzwald hat mir nicht abgesagt. Ich könnte in zwei Monaten bei ihnen anfangen.« Die junge Frau lache. »So lange wollte mich keiner haben, und jetzt habe ich auf einen Schlag zwei Angebote.«
»Welches wirst du annehmen?« Der Mann lächelte verschmitzt.
»Deines natürlich.« Er verschloß ihre Lippen mit einem langen Kuß.
*
Ein halbes Jahr später schlossen sie den Bund fürs Leben. Denise und Alexander von Schoenecker waren Trauzeugen, und sie waren es gern.
Als Klaus und Amanda das Standesamt als Mann und Frau verließen, warteten schon Nick und Henrik, denn sie hatten inzwischen auf den Hund Timo aufgepaßt, der nicht mit hinein gedurft hatte.
»Sie sehen jetzt auch nicht anders aus als vorhin, als sie hineingingen«, stellte Henrik lautstark fest.
»Doch«, trumpfte Ulli auf. »Ganz anders sehen sie aus. Mein Vati sieht aus wie ein Vati, und Mandy sieht aus wie eine Mutti. Sie ist jetzt nämlich meine Mutti.«
Die Erwachsenen lachten gerührt über Ullis Worte. Mandy beugte sich zu dem Kleinen hinunter und preßte ihn einen Augenblick an sich.
»Das war das schönste Kompliment, das ich je in meinem Leben erhalten habe, Ulli«, sagte sie mit unsicherer Stimme.
»Aber es stimmt«, beharrte der kleine Junge, »nicht wahr, Timo?«
»Wuff«, machte der Hund zur Bestätigung und wedelte mit dem Schwanz.