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SZENE 2

Der Tag, an dem zwei verirrte Seelen auf die Theaterbühne fanden

MIRIAM

Ich hatte die Schnauze voll an dem Tag. Ich hatte Englisch zurückbekommen und das Ergebnis war scheiße, vier minus, und ich mochte Englisch zwar eigentlich ganz gern, hatte aber zu wenig gelernt. Der Kinderlärm zuhause hatte mich abgelenkt, und der Fernsehlärm. Ich hasste Kinderlärm und ich hasste Fernsehlärm. Am schlimmsten war der Fernsehlärm von Kindersendungen.

Deshalb hatte ich dann auch beschlossen, die Korrektur der Englischarbeit im Jugendzentrum zu machen. Ganz in Ruhe, ohne das Geschrei von Janine und den Zwillingen und von Spongebob Schwammkopf. In den Gemeinschaftsräumen vom Jugendzentrum war es aber auch zu laut, und deshalb hatte ich mich in das Büro von Sebba geschlichen. Ich war gerade dabei, eine Wörterbuchseite zu entziffern, über der war mir irgendwann mal eine Kugelschreibermine ausgelaufen, als Sebba aus seiner Mittagspause zurückkam.

Hannah spielt Sebba.

SEBBA

Nanu, mein Schreibtisch ist belegt?

MIRIAM

(am Wörterbuch) Sorry, bin gleich weg.

SEBBA

Rutsch mal.

Sebba setzt sich neben Miriam und schaut ihr über die Schulter. Kurze Pause.

SEBBA

„Desire“.

MIRIAM

Was?

SEBBA

Das Wort, was du suchst. Ich glaube, es ist „desire“.

MIRIAM

Stimmt ... ist noch was?

SEBBA

Ja. Also, ich weiß nicht, ob du unten die Plakate für unser Theaterprojekt gesehen hast.

MIRIAM

Klar, irgend so ein komischer Name –

SEBBA

Kulturinvasion. Ich leite das.

MIRIAM

Sowas kannst du?

SEBBA

Hör mal! Ich hab mal Theaterpädagogik studiert!

MIRIAM

Sorry.

SEBBA

Ich hab mich gefragt, ob du nicht mitmachen willst.

MIRIAM

Ich? Wieso?

SEBBA

Weil du kreativ bist und intelligent und talentiert und weil du Ausstrahlung hast.

MIRIAM

Klar, und einen perfekt trainierten Arsch, und alles, was ich anfasse, verwandelt sich in Gold.

SEBBA

... und weil ich mich persönlich sehr über deine Unterstützung freuen würde. Ist auch gar nicht so aufwändig. Proben sind immer Freitag um 17 Uhr hier im Theatersaal. Mal nicht kommen ist okay, oft nicht kommen geht nicht. Und du musst gar nicht so viel machen: Du lernst deinen Text. Du verhältst dich umgänglich, auch gegenüber den Teilnehmern, die du nicht kennst.

MIRIAM

Teilnehmer, die ich nicht kenne?

SEBBA

Das Projekt ist nicht nur für Leute hier im Jugendzentrum. Wir machen auch Werbung in Schulen. Auch in den Gymnasien.

MIRIAM

Und was krieg ich dafür?

SEBBA

Du kannst mal abschalten. Du kannst dich austoben. Du wirst gleichermaßen gefordert und gefördert. Und: Du kannst du selbst sein.

MIRIAM

Indem ich anderen was vorspiele?

SEBBA

Miriam, das ist Theater! Theater heißt nicht „sich verstellen“. Theater heißt „man selbst sein“. Ich weiß, dass du sonst nicht so oft du selbst sein darfst. Bei Kulturinvasion darfst du es. Das kriegst du dafür. Und meine ewige Dankbarkeit.

MIRIAM

Ich kann das ja mal versuchen. Ich muss nur erst zuhause fragen.

SEBBA

Du bist ein Schatz. (steht auf)

Ich hol mir noch einen Kaffee. Lass dir Zeit mit deiner Englischarbeit ... für dich ist das übrigens alles eine gute Möglichkeit, andere Leute kennenzulernen, glaube ich. Mal frischen Wind reinzukriegen. Ich hab heute ein bisschen Werbung im Schillergymnasium gemacht, und die Jugendlichen dort wirkten sehr nett.

HANNAH

... ein bisschen Werbung gemacht. Von wegen. Gepredigt hat der.

Miriam spielt Sebba.

SEBBA

Theater, oh, Theater! Theater ist nicht nur Unterhaltung, Schauspiel ist keine Lüge, sondern Schauspiel ist gelebte Ehrlichkeit. Theater ist viel realistischer als das Leben! Nur auf der Bühne ist der Schauspieler er selbst. Das Publikum applaudiert nicht der Illusion, sondern der Wahrhaftigkeit!

HANNAH

Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme. Auf einer Bühne stehen, gesehen werden, Applaus bekommen, bewundert werden, vielleicht sogar geliebt werden. Allein dafür, dass ich ich bin und das jedem zeige. Ich hatte vorher immer gedacht, dass es im Theater darum geht, jemand anders zu sein. Und jetzt saß da dieser wirklich unfassbar sympathische Mann und erzählte, dass es eigentlich darum ginge, sich selbst herzuzeigen. Ich hatte das Gefühl, dass er nur mit mir sprach, während ich da saß und an seinen Lippen hing und mein Gesicht glühte.

MIRIAM

... knallrot wie ne Tomate und mit diesem feuchten Glanz in den Kuhaugen. Wie auf Droge. Du hast Sebba am Anfang immer so angeglotzt, als hättest du was genommen. Und später Kilian.

HANNAH

Hast du dir etwa nie gewünscht, dass so eine Art ... ein Prinz daher kommt und dich rettet?

MIRIAM

Nö. Wenn du wirklich Aschenputtel bist, dann lernst du ganz, ganz schnell, dir selbst zu helfen. Sonst hilft dir keiner. Gut, das sieht man vielleicht anders, wenn man nicht Aschenputtel ist, sondern Rapunzel mit der blonden Wallemähne und von ganz oben auf den Rest der Welt runterguckt.

Hannah schweigt.

MIRIAM

Schon gut. Sebba war schon wirklich okay. Den hab ich ja auch gemocht. Der hat uns nie bewertet. Komm, erzähl halt weiter.

HANNAH

Ja, soviel gibt es nicht mehr zu erzählen. Ich hab den Flyer von Sebba mitgenommen und hab ihm noch ein paar Fragen gestellt. Mit Tomatengesicht und Kuhaugen. Und dann bin ich nach Hause gefahren und wollte gleich die E-Mail mit der Anmeldung abschicken. Aber da war niemand, den ich um Erlaubnis fragen konnte. Papa – arbeiten. Mama – im Kloster.

MIRIAM

Ernsthaft?

HANNAH

Ja. In Indien. Das war ein Schweigekloster. Die hat sich ja ständig selbst verloren und musste sich dann wiederfinden. Und im Schweigekloster kann man ja schlecht anrufen, also hab ich stattdessen Papa angerufen.

MIRIAM

(imitiert Telefongeräusche) Tuuut ... tuuut ...

HANNAH

Und ihn gestört.

MIRIAM

Tuuut ... tuuut ...

HANNAH

Wie immer.

Miriam spielt Hannahs Vater.

VATER

Jetzt nicht.

HANNAH

Papa, ich bin es, Hannah –

VATER

Wer?

HANNAH

Hannah!

VATER

Welche Hannah?

HANNAH

Jetzt übertreib mal nicht.

MIRIAM

Na gut. (als Hannahs VATER) Du, Hannah, das ist jetzt gerade ganz ungünstig, ich komme gerade von einem Meeting. Und ich muss gleich noch zu einem anderen Meeting.

HANNAH

Papa, ich wollte nur eben fragen, ob ich bei Kulturinvasion mitmachen darf.

VATER

(zu einem Mitarbeiter) Ja, nur einen kurzen Moment. (zu Hannah) – Was kostet das?

HANNAH

Gar nichts.

VATER

Was ist das denn wieder für ein Blödsinn? (zu Mitarbeiter) – Ja, ich komme gleich!

HANNAH

Da lerne ich schauspielern und am Ende gibt es eine Aufführung.

VATER

(zu Mitarbeiter) Gleich! (zu Hannah) – Wo steht im Moment nochmal dein Notendurchschnitt?

HANNAH

... bei eins Komma sechs.

VATER

Ja, schön, Hannah. Dann mach das doch. Du, ich muss jetzt wirklich auflegen, mein Schatz. Oh, und ich komme heute erst nach Mitternacht heim, ich habe da noch so ein Meeting. Bestell dir doch abends einfach eine Pizza, ja? Und sei brav! (zu Mitarbeiter) – Ja, ich komme!

HANNAH

Ja. Das war nicht schön, aber zielführend.

MIRIAM

„Bestell dir doch abends – einfach mal so – eine Pizza“.

HANNAH

Ja, das ging fast jeden Abend so.

MIRIAM

Krass. Krass teuer.

HANNAH

So teuer ist Pizza nun auch wieder nicht.

MIRIAM

Im Durchschnitt acht Euro pro Stück. Ein Hartz-IV-Empfänger hat am Tag vier Euro 20 für Essen.

HANNAH

Das weiß ich nicht. Ich bürste schließlich den ganzen Tag meine blonde Wallemähne und habe sonst keine Probleme. Da krieg ich gar nicht mit, was da unten alles läuft. Wie war das denn bei dir so, Aschenputtel? Hast du damals überhaupt nachgefragt, ob du beim Theater mitmachen darfst?

MIRIAM

Ja, ich hab halt meine Mutter um Erlaubnis gefragt, aber das ging dann eigentlich ziemlich schnell. Die hat mir ja eh fast alles erlaubt. Das können wir auch überspringen.

Hannah spielt Miriams Mutter.

MIRIAM

Ich sagte, wir können das auch überspringen!

MUTTER

(rauchend auf dem Sofa vor dem Fernseher) Boah ey, du olle Tusse, jetzt misch dich nicht in die Erziehung von der anderen Schlampe ein, du bist eh nur in die Familie eingetauscht!

MIRIAM

Das soll meine Mutter sein?

HANNAH

Ja klar. Ich meine – sie hatte einen pinken Jogginganzug an, das eine Mal, als ich sie getroffen habe. Ich meine – einen PINKEN Jogginganzug?!

MIRIAM

Ja, schon gut, dann weiter im Text. Also, Mama, ich will bei Kulturinvasion mitmachen.

MUTTER

Was soll ‘n das sein?

MIRIAM

So ein Theaterprojekt, da lerne ich schauspielern und vielleicht sogar singen und –

MUTTER

Und wer bringt dann Janine morgens zur Schule?

MIRIAM

Morgens?! ... Mama, kannst du mal bitte den Fernseher ausmachen?

MUTTER

Nö. Boah ey, jetzt mach dich nicht auch noch an den getauschten Ehemann ran!

MIRIAM

Ey, meine Mutter ist doch kein Asi, natürlich hat die den Fernseher ausgemacht!

Miriam stellt den Fernseher aus.

MUTTER

Miriam, Liebes ...

MIRIAM

Ja?

MUTTER

Wir können Schauspielunterricht leider nicht bezahlen.

MIRIAM

Das kostet nichts, Mama.

MUTTER

Ach so. Ja, dann ist gut. Solange die Schule nicht drunter leidet. Oh, hättet ihr nicht übrigens heute die Englischarbeit zurück kriegen müssen?

MIRIAM

Ja, also wie gesagt, mit meiner Mutter ging das ganz schnell.

HANNAH

Na gut.

Dann also zu Szene 3. „Schicksalhafte Begegnungen“.

MIRIAM

Die Titel klingen wie aus einem deiner kitschigen Prinzessinnenromane. – Protagonisten: Hannah, Miriam und ein paar heiße Männer. Ort: Dieses Jugendzentrum in dieser norddeutschen Kleinstadt. Und vor dem Jugendzentrum: Hannah, die sich nicht reintraut. Und bitte.

Die Nacht, in der alles

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