Читать книгу Die Nacht, in der alles - Marisa Wendt - Страница 5
ОглавлениеSZENE 2
Der Tag, an dem zwei verirrte Seelen auf die Theaterbühne fanden
MIRIAM
Ich hatte die Schnauze voll an dem Tag. Ich hatte Englisch zurückbekommen und das Ergebnis war scheiße, vier minus, und ich mochte Englisch zwar eigentlich ganz gern, hatte aber zu wenig gelernt. Der Kinderlärm zuhause hatte mich abgelenkt, und der Fernsehlärm. Ich hasste Kinderlärm und ich hasste Fernsehlärm. Am schlimmsten war der Fernsehlärm von Kindersendungen.
Deshalb hatte ich dann auch beschlossen, die Korrektur der Englischarbeit im Jugendzentrum zu machen. Ganz in Ruhe, ohne das Geschrei von Janine und den Zwillingen und von Spongebob Schwammkopf. In den Gemeinschaftsräumen vom Jugendzentrum war es aber auch zu laut, und deshalb hatte ich mich in das Büro von Sebba geschlichen. Ich war gerade dabei, eine Wörterbuchseite zu entziffern, über der war mir irgendwann mal eine Kugelschreibermine ausgelaufen, als Sebba aus seiner Mittagspause zurückkam.
Hannah spielt Sebba.
SEBBA
Nanu, mein Schreibtisch ist belegt?
MIRIAM
(am Wörterbuch) Sorry, bin gleich weg.
SEBBA
Rutsch mal.
Sebba setzt sich neben Miriam und schaut ihr über die Schulter. Kurze Pause.
SEBBA
„Desire“.
MIRIAM
Was?
SEBBA
Das Wort, was du suchst. Ich glaube, es ist „desire“.
MIRIAM
Stimmt ... ist noch was?
SEBBA
Ja. Also, ich weiß nicht, ob du unten die Plakate für unser Theaterprojekt gesehen hast.
MIRIAM
Klar, irgend so ein komischer Name –
SEBBA
Kulturinvasion. Ich leite das.
MIRIAM
Sowas kannst du?
SEBBA
Hör mal! Ich hab mal Theaterpädagogik studiert!
MIRIAM
Sorry.
SEBBA
Ich hab mich gefragt, ob du nicht mitmachen willst.
MIRIAM
Ich? Wieso?
SEBBA
Weil du kreativ bist und intelligent und talentiert und weil du Ausstrahlung hast.
MIRIAM
Klar, und einen perfekt trainierten Arsch, und alles, was ich anfasse, verwandelt sich in Gold.
SEBBA
... und weil ich mich persönlich sehr über deine Unterstützung freuen würde. Ist auch gar nicht so aufwändig. Proben sind immer Freitag um 17 Uhr hier im Theatersaal. Mal nicht kommen ist okay, oft nicht kommen geht nicht. Und du musst gar nicht so viel machen: Du lernst deinen Text. Du verhältst dich umgänglich, auch gegenüber den Teilnehmern, die du nicht kennst.
MIRIAM
Teilnehmer, die ich nicht kenne?
SEBBA
Das Projekt ist nicht nur für Leute hier im Jugendzentrum. Wir machen auch Werbung in Schulen. Auch in den Gymnasien.
MIRIAM
Und was krieg ich dafür?
SEBBA
Du kannst mal abschalten. Du kannst dich austoben. Du wirst gleichermaßen gefordert und gefördert. Und: Du kannst du selbst sein.
MIRIAM
Indem ich anderen was vorspiele?
SEBBA
Miriam, das ist Theater! Theater heißt nicht „sich verstellen“. Theater heißt „man selbst sein“. Ich weiß, dass du sonst nicht so oft du selbst sein darfst. Bei Kulturinvasion darfst du es. Das kriegst du dafür. Und meine ewige Dankbarkeit.
MIRIAM
Ich kann das ja mal versuchen. Ich muss nur erst zuhause fragen.
SEBBA
Du bist ein Schatz. (steht auf)
Ich hol mir noch einen Kaffee. Lass dir Zeit mit deiner Englischarbeit ... für dich ist das übrigens alles eine gute Möglichkeit, andere Leute kennenzulernen, glaube ich. Mal frischen Wind reinzukriegen. Ich hab heute ein bisschen Werbung im Schillergymnasium gemacht, und die Jugendlichen dort wirkten sehr nett.
HANNAH
... ein bisschen Werbung gemacht. Von wegen. Gepredigt hat der.
Miriam spielt Sebba.
SEBBA
Theater, oh, Theater! Theater ist nicht nur Unterhaltung, Schauspiel ist keine Lüge, sondern Schauspiel ist gelebte Ehrlichkeit. Theater ist viel realistischer als das Leben! Nur auf der Bühne ist der Schauspieler er selbst. Das Publikum applaudiert nicht der Illusion, sondern der Wahrhaftigkeit!
HANNAH
Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme. Auf einer Bühne stehen, gesehen werden, Applaus bekommen, bewundert werden, vielleicht sogar geliebt werden. Allein dafür, dass ich ich bin und das jedem zeige. Ich hatte vorher immer gedacht, dass es im Theater darum geht, jemand anders zu sein. Und jetzt saß da dieser wirklich unfassbar sympathische Mann und erzählte, dass es eigentlich darum ginge, sich selbst herzuzeigen. Ich hatte das Gefühl, dass er nur mit mir sprach, während ich da saß und an seinen Lippen hing und mein Gesicht glühte.
MIRIAM
... knallrot wie ne Tomate und mit diesem feuchten Glanz in den Kuhaugen. Wie auf Droge. Du hast Sebba am Anfang immer so angeglotzt, als hättest du was genommen. Und später Kilian.
HANNAH
Hast du dir etwa nie gewünscht, dass so eine Art ... ein Prinz daher kommt und dich rettet?
MIRIAM
Nö. Wenn du wirklich Aschenputtel bist, dann lernst du ganz, ganz schnell, dir selbst zu helfen. Sonst hilft dir keiner. Gut, das sieht man vielleicht anders, wenn man nicht Aschenputtel ist, sondern Rapunzel mit der blonden Wallemähne und von ganz oben auf den Rest der Welt runterguckt.
Hannah schweigt.
MIRIAM
Schon gut. Sebba war schon wirklich okay. Den hab ich ja auch gemocht. Der hat uns nie bewertet. Komm, erzähl halt weiter.
HANNAH
Ja, soviel gibt es nicht mehr zu erzählen. Ich hab den Flyer von Sebba mitgenommen und hab ihm noch ein paar Fragen gestellt. Mit Tomatengesicht und Kuhaugen. Und dann bin ich nach Hause gefahren und wollte gleich die E-Mail mit der Anmeldung abschicken. Aber da war niemand, den ich um Erlaubnis fragen konnte. Papa – arbeiten. Mama – im Kloster.
MIRIAM
Ernsthaft?
HANNAH
Ja. In Indien. Das war ein Schweigekloster. Die hat sich ja ständig selbst verloren und musste sich dann wiederfinden. Und im Schweigekloster kann man ja schlecht anrufen, also hab ich stattdessen Papa angerufen.
MIRIAM
(imitiert Telefongeräusche) Tuuut ... tuuut ...
HANNAH
Und ihn gestört.
MIRIAM
Tuuut ... tuuut ...
HANNAH
Wie immer.
Miriam spielt Hannahs Vater.
VATER
Jetzt nicht.
HANNAH
Papa, ich bin es, Hannah –
VATER
Wer?
HANNAH
Hannah!
VATER
Welche Hannah?
HANNAH
Jetzt übertreib mal nicht.
MIRIAM
Na gut. (als Hannahs VATER) Du, Hannah, das ist jetzt gerade ganz ungünstig, ich komme gerade von einem Meeting. Und ich muss gleich noch zu einem anderen Meeting.
HANNAH
Papa, ich wollte nur eben fragen, ob ich bei Kulturinvasion mitmachen darf.
VATER
(zu einem Mitarbeiter) Ja, nur einen kurzen Moment. (zu Hannah) – Was kostet das?
HANNAH
Gar nichts.
VATER
Was ist das denn wieder für ein Blödsinn? (zu Mitarbeiter) – Ja, ich komme gleich!
HANNAH
Da lerne ich schauspielern und am Ende gibt es eine Aufführung.
VATER
(zu Mitarbeiter) Gleich! (zu Hannah) – Wo steht im Moment nochmal dein Notendurchschnitt?
HANNAH
... bei eins Komma sechs.
VATER
Ja, schön, Hannah. Dann mach das doch. Du, ich muss jetzt wirklich auflegen, mein Schatz. Oh, und ich komme heute erst nach Mitternacht heim, ich habe da noch so ein Meeting. Bestell dir doch abends einfach eine Pizza, ja? Und sei brav! (zu Mitarbeiter) – Ja, ich komme!
HANNAH
Ja. Das war nicht schön, aber zielführend.
MIRIAM
„Bestell dir doch abends – einfach mal so – eine Pizza“.
HANNAH
Ja, das ging fast jeden Abend so.
MIRIAM
Krass. Krass teuer.
HANNAH
So teuer ist Pizza nun auch wieder nicht.
MIRIAM
Im Durchschnitt acht Euro pro Stück. Ein Hartz-IV-Empfänger hat am Tag vier Euro 20 für Essen.
HANNAH
Das weiß ich nicht. Ich bürste schließlich den ganzen Tag meine blonde Wallemähne und habe sonst keine Probleme. Da krieg ich gar nicht mit, was da unten alles läuft. Wie war das denn bei dir so, Aschenputtel? Hast du damals überhaupt nachgefragt, ob du beim Theater mitmachen darfst?
MIRIAM
Ja, ich hab halt meine Mutter um Erlaubnis gefragt, aber das ging dann eigentlich ziemlich schnell. Die hat mir ja eh fast alles erlaubt. Das können wir auch überspringen.
Hannah spielt Miriams Mutter.
MIRIAM
Ich sagte, wir können das auch überspringen!
MUTTER
(rauchend auf dem Sofa vor dem Fernseher) Boah ey, du olle Tusse, jetzt misch dich nicht in die Erziehung von der anderen Schlampe ein, du bist eh nur in die Familie eingetauscht!
MIRIAM
Das soll meine Mutter sein?
HANNAH
Ja klar. Ich meine – sie hatte einen pinken Jogginganzug an, das eine Mal, als ich sie getroffen habe. Ich meine – einen PINKEN Jogginganzug?!
MIRIAM
Ja, schon gut, dann weiter im Text. Also, Mama, ich will bei Kulturinvasion mitmachen.
MUTTER
Was soll ‘n das sein?
MIRIAM
So ein Theaterprojekt, da lerne ich schauspielern und vielleicht sogar singen und –
MUTTER
Und wer bringt dann Janine morgens zur Schule?
MIRIAM
Morgens?! ... Mama, kannst du mal bitte den Fernseher ausmachen?
MUTTER
Nö. Boah ey, jetzt mach dich nicht auch noch an den getauschten Ehemann ran!
MIRIAM
Ey, meine Mutter ist doch kein Asi, natürlich hat die den Fernseher ausgemacht!
Miriam stellt den Fernseher aus.
MUTTER
Miriam, Liebes ...
MIRIAM
Ja?
MUTTER
Wir können Schauspielunterricht leider nicht bezahlen.
MIRIAM
Das kostet nichts, Mama.
MUTTER
Ach so. Ja, dann ist gut. Solange die Schule nicht drunter leidet. Oh, hättet ihr nicht übrigens heute die Englischarbeit zurück kriegen müssen?
MIRIAM
Ja, also wie gesagt, mit meiner Mutter ging das ganz schnell.
HANNAH
Na gut.
Dann also zu Szene 3. „Schicksalhafte Begegnungen“.
MIRIAM
Die Titel klingen wie aus einem deiner kitschigen Prinzessinnenromane. – Protagonisten: Hannah, Miriam und ein paar heiße Männer. Ort: Dieses Jugendzentrum in dieser norddeutschen Kleinstadt. Und vor dem Jugendzentrum: Hannah, die sich nicht reintraut. Und bitte.