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Unverhofft

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Es war eine tropische Nacht. Die digitale Anzeige des Thermometers hielt unermesslich die drei vorne fest. Der warme Föhn hatte über den Tag auch den letzten Tropfen Wasser in der trockenen Erde verdampften lassen. Neil hatte es aufgegeben, in seiner Wohnung die Fenster geschlossen zu halten und auf angenehmere Temperaturen zu hoffen.

Dieses blöde Discounter-Ding muss kaputt sein, dachte er und schnippte mit den Fingern gegen das Display.

Wie zum Trotz kletterte die Temperatur noch ein halbes Grad Celsius nach oben. Der Schweiß rann ihm über die Stirn und sein ganzer Körper klebte. Er hatte keine Zeit mehr. Sein Auftraggeber erwartete, dass er seine Terminvereinbarung erfüllte und zu seinem Glück streikte die Post nicht mehr.

Neil atmete resigniert aus und ließ die Schultern hängen. Bei diesen Temperaturen hatte er weder die Muse noch die Geduld, sein Werk zu vollenden.

Du hast noch gar nicht begonnen, tadelte ihn sein Gewissen.

Sein Blick schweifte durch den Raum, zeigte ihm seine angefangenen Werke und die dutzenden Utensilien, die quer verstreut waren.

Es war eine Schande, seine Bilder hier unter dem Dach aufzubewahren, aber die Zwei-Zimmer-Wohnung, die er sich neben seinem Studium gerade noch leisten konnte, hatte weder eine Isolierung auf dem Dach noch Rollläden an den Fenstern.

Wie großzügig, dass diese Wohnung drei Dachfenster auf der Südseite hatte, dachte Neil sarkastisch.

Mit Handtüchern, schweren Decken und sogar Teppichen hatte er den Sonnenstrahlen tagsüber Einhalt geboten und Schlimmeres verhindert. Aber die Hitze schaffte es dennoch und trieb sein Thermometer jeden Tag zu neuen Höhenflügen. Irgendwann würde es streiken und den Dienst versagen, da war er sich sicher.

Die Glocken der nahen Kirche schlugen zehn Mal und drangen mit ihrem melodischen Klang durch die offenen Fenster herein.

Wenigstens gibt es einen Luftzug, dachte Neil selbstironisch.

Aber alles Betteln half nichts, er musste sein neuestes Werk beginnen. Ohne die dringend benötigten Einnahmen durch den Verkauf konnte er die Miete nicht vollständig bezahlen. In seinem Nebenjob lief es miserabel und der Verkauf seiner Bilder war diesen Monat besonders schlecht.

Diese Wohnung ist die übertriebene Miete nicht im Ansatz wert. Sei froh, wenn du hinausgeschmissen wirst, weil du selbst nicht den Mut hast zu kündigen, in der Angst, bei dem knappen Wohnungsmarkt nichts Neues zu finden.

Neil fuhr sich durch sein nasses Haar. Kopfweh keimte in ihm auf und wurde durch die Stimme seines Gewissens nicht besser.

Ich fange jetzt an, redete sich Neil ein und kramte in seinen Utensilien.

Zuerst förderte er ein „Bristol smooth surface“-Malgrund von Strathmore mit 11 Inch auf 14 Inch hervor. Dann fand er sein Metalletui, das eine ausgewählte Sammlung von Graphitstiften von Cretacolor mit Härtegraden zwischen 9B und F beinhaltete. Er öffnete es, prüfte die Spitzen mit dem Zeigefinger und schleifte einige mit einer Spitzmaschine nach. Ein Knetradierer für weiche Übergänge, der statt gelb eine gräulich grüne Färbung von den Radierresten angenommen hatte, gehörte ebenso zu seiner Ausstattung wie Minenradierer für kleine und präzise Ergebnisse mit einer runden und einer rechteckigen Spitze. Zur Sicherheit legte er noch einen nicht-abrasiven Radierer dazu, der die Papieroberfläche schonte. Zwei Wattepads, ein sauberes Taschentuch und zwei Q-tips für grobe Schattierungen fanden ebenso auf dem Tisch Platz, genauso wie eine große Auswahl Papierwischer für die feinen Details von Haaren, Mund und Augen. Zum Schluss holte Neil noch zwei Schmierblätter. Normalerweise waren sie bekritzelt oder auf einer Seite bedruckt, aber heute nahm er ganz frisches Papier, um seine feuchten Hände und Arme dort abzulegen, ohne den Malgrund mit seinem Schweiß zu beflecken.

Mit feuchten Händen förderte er die Vorgaben auf dem Zettel hervor, die er zuvor aus der E-Mail abgeschrieben hatte. Es war schwer, Bilder zu zeichnen, deren Themen einen nicht interessierten oder gefielen. Ebenso waren Klassiker langweilig und wenig motivierend, aber auch konfuse Aufträge, für die es eines enormen Aufwands an Recherche und Vorbereitung bedarf. Es war für einen Künstler nicht immer einfach, Auftragsarbeiten zu erstellen, denn zu viele Absagen bedeuteten meistens das Versiegen des Geldstromes. In diesem Fall hatte Neil Glück. Es war nach seinem Geschmack, weswegen er ohne zu überlegen zugestimmt hatte. Aber sein Infekt letzte Woche und die Hitzewelle diese Woche hatten seinen Zeitplan buchstäblich weggeschmolzen wie eine Kugel Eis in den warmen Händen eines Kindes.

Er nahm den Graphitstift der Stärke 2B und begann grob mit der Skizze, die er sich vor seinem inneren Auge überlegt hatte. Die Striche waren schnell und huschten unruhig über den Malgrund hinweg. Das Schmierpapier klebte an seinem Unterarm und es war eklig. Das Kopfweh war zu einem Presslufthammer angewachsen und drohte, ein Passagierflugzeug zu werden.

Er kniff gerade die Augen zusammen und knetete seine Stirn, als eine Windböe durch seine Wohnung fegte, die Papierwischer vom Tisch wehte und seinen Malgrund gefährlich bog. Zum Glück gab es keinen Knick, sonst hätte er das teure Papier nicht mehr für diese Zeichnung verwenden können.

Hastig zwang er mit der Hand das Papier nach unten und bereute es sofort. Flink wischte er den Schweiß von dem Malgrund und schaute ungläubig zu dem offenen Fenster, vor dem er nasse Handtücher als billiger Klimaanlagenersatz aufgehängt hatte, um etwas Verdunstungskälte zu erzeugen.

Ein fernes, tiefes Grollen hallte dumpf von außen herein und kündigte ein Gewitter an.

Abkühlung, dachte er und freute sich zunächst.

Ein greller Lichtblitz blendete Neil, auf den direkt ein lauter Knall folgte. Er zuckte zusammen und im nächsten Augenblick prasselten dicke Tropfen durch seine Dachfenster herein. Neil sprang panisch auf und schloss die Fenster, um zu verhindern, dass der Regen seine Bilder zerstörte.

Schwer atmend und durchnässt sackte Neil zu Boden, nachdem er alle Fenster geschlossen hatte. Unnachgiebig schlugen die Tropfen gegen die Scheiben, als wollten sie diese durchbrechen. Die Luft stand nun in seinem Zimmer und es war noch unerträglicher als vorher. Entsetzt erkannte Neil, dass die Außentemperatur auf seinem Discounter-Ding im freien Fall nach unten war und ihm die Zunge herausstreckte, weil es wusste, dass Neil um Sorge, seine Bilder könnten durch den Wind und den Regen beschädigt werden, nicht die Fenster öffnete, ohne eine mittlere Katastrophe auszulösen. Er sollte wirklich einen anderen Platz für seine hunderte von Bildern finden.

Dachziegel, Holzbalken, Folie, eine schäbige Dämmung, die ihren Namen nicht verdiente und ein paar Holzlatten trennten Neil von dem Unwetter, das nun draußen tobte. Hagelkörner prasselten auf das Dach, während er in der stickigen Luft weiter das Bild zeichnete und versuchte, nicht bei jedem Donnerschlag seinen Schreck auf dem Malgrund zu verewigen. Immer wieder erhellten die Lichtblitze die Nacht und zeichneten lange, tiefe Schatten.

Trotz aller Schwierigkeiten hatte Neil die Skizze ausgearbeitet und entfernte die letzten Hilfslinien mit dem nicht-abrasiven Radierer. Nun begann der schwierige Teil: Dem Gesichtsausdruck Leben einzuverleiben, die Szene lebendig zu gestalten und die Schatten realistisch wirken zu lassen.

Neil prüfte seine Bleistifte ein letztes Mal, nahm einen Stift der Härte HB und begann mit den feinen Konturen des Auges. Er zeichnete das Lid nach und drückte das Graphit sanft in den Malgrund ein. Anschließend griff er zu einem Stift der Stärke 6B und zeichnete sowohl die Pupille als auch die Iris. Die Ränder zog er dabei bewusst unsauber, nahm einen Papierwischer und erschuf den gewünschten Kontrast mit einer leichten Unschärfe. Er vergaß das Unwetter und die Hitze um ihn herum und versank immer tiefer in seiner Passion. Trotz seines eher konservativen Studienganges hatte er sein Hobby nie aufgegeben und sich eine zweite Einnahmequelle aufgebaut. Seine Kunden waren meist anonyme Personen aus dem World Wide Web und bestellten meist nur ein einziges Mal bei ihm. Er veröffentlichte Ausschnitte seiner fertigen Bilder in geringer Auflösung und bot sie als kostenlosen Download an, die zu tausenden angeschaut und positiv bewertet wurden.

Erst als Neil das Gesicht modelliert hatte und ihn eine kecke junge Frau aus dem Malgrund anschaute, nahm er seine Umgebung wieder wahr. Die stickige, tropische Luft in seinem Zimmer, die vom herben Duft seines Schweißes getränkt war, und das Unwetter, das immer noch draußen wütete.

Wenn Neil nicht noch in Gedanken bei seinem Bild gewesen wäre, hätte er das blaue, kreisende Licht auf der Straße wahrgenommen, welches von der Feuerwehr kam, die versuchte, das Nachbarhaus zu stabilisieren, weil die große Kiefer aus dem Garten darauf gefallen war. Und er hätte auch das Tropfen im Schlafzimmer bemerkt, das daher rührte, dass einige Dachziegel durch den Sturm abgedeckt worden waren und nun drei Stockwerke tiefer lagen. Vielleicht hätte er wenigstens die schreienden Kinder im Stockwerk unter ihm gehört, die wegen des Gewitters nicht schlafen konnten, wenn sein Stift nicht bereits wieder den Weg zum Bild gefunden hätte und eifrig Arme und Hände zeichnete.

Erst mit einem Donnerschlag, der die Erde erzittern ließ und dem Erlöschen des Lichts erwachte Neil aus seiner Trance. Er fluchte, weil er das Bild in der Dunkelheit nicht mehr erkannte, tastete auf dem Tisch und fand schließlich sein Mobiltelefon. Bei dieser Hitze war er nur mit einer Unterhose bekleidet, die üblicherweise nur begrenzt zusätzlichen Stauraum bot.

Die Displaybeleuchtung zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, das ebenso schnell verschwand wie es kam. Denn sein Smartphone hatte gerade einmal fünf Prozent Akku-Kapazität und sein Stromnetz war temporär inaktiv.

Hätte er sich nur eine Powerbank gekauft.

Neil grübelte. Eine Taschenlampe hatte er nicht. Streichhölzer besaß er zwar irgendwo, aber ohne eine Kerze waren diese durch ihre kurze Brenndauer ungeeignet und er hatte keine Kerzen. Er hatte bei Katastrophenfilmen immer geschmunzelt, als von altmodischen Leuchtmitteln gesprochen wurde. Kerzen waren für seine Bilder gefährlich, aber er musste das Risiko eingehen, um das Bild zu vollenden. Wo bekam er eine Kerze her? Langsam drangen die Schreie der Kinder zu ihm durch und er hatte eine Idee. Er konnte seine Hausnachbarn fragen, aber bei den seltsamen Typen, mit denen er sich dieses Haus teilte, verflog seine Idee wie ein Papierflieger im Wind.

Nein, das war keine Option. Er musste einen anderen Weg finden, das Bild zu beleuchten. Ein weiterer Blitz drängte die Schatten zurück, bevor sie sich in einer beispiellosen Invasion, die jeden Kriegsherr mit Stolz erfüllte, über die ganze Wohnung ausbreiteten und sie in Finsternis hüllten.

Aber nein, das blaue, rotierende Licht der Feuerwehr drang durch seine Fenster auf der Nordseite im Schlafzimmer.

Besser als nichts, dachte Neil, räumte seine Utensilien zusammen und lief durchgeschwitzt ins Schlafzimmer. Unter seinen Füßen platschte es und es war feucht. Neil schaute auf den Boden und sah, dass sich dort das blaue Licht spiegelte. Mit dem zweiten Blick sah er das Rinnsal, das für das Wasser auf dem Boden verantwortlich war.

Das kann doch nicht wahr sein!

Sein geschulter Blick prüfte, ob eines seiner Bilder bereits mit dem Wasser in Kontakt gekommen war, aber zum Glück standen oder lagen sie auf irgendwelchen Möbeln und nicht auf dem Boden dieses Zimmers. Durch die Dachschräge war es nur wenigen vergönnt, einen Platz an der geraden Wand zu bekommen. Er warf die Utensilien auf das Bett, öffnete seinen Kleiderschrank, holte ein Betttuch hervor und wollte das Loch in der Decke stopften, aber es gab keines. Das Wasser hatte sich den Weg zwischen den Latten hindurch gesucht. Notdürftig stellte Neil einen Topf unter den kleinen Wasserfall, versuchte mit dem Bettlaken das Wasser aufzusaugen und wrang es in der Dusche aus. Der Notruf bei der Feuerwehr war überlastet und bestand aus einer Bandansage in Endlosschleife. Zudem hätte er bei dem Wetter wohl kaum jemanden gefunden, der auf das Dach gestiegen wäre, um es zu reparieren.

Wie sollte er das Bild nur rechtzeitig zu Ende bringen? Er musste es morgen mit der Post verschicken, damit es rechtzeitig ankam.

Ein grelles Licht blendete seine Augen und ein ohrenbetäubender Knall riss Neil aus seinen Gedanken. Seine Ohren pfiffen, es roch verschmort und eine fiebrige Hitze brannte auf seiner Haut.

Neil hielt sich immer noch die Ohren zu, taumelte und drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Ein Blitz war in das Dach eingeschlagen. Die elektrischen Geräte am Stromnetz waren verschmort und vereinzelt stieg beißender Rauch auf. Aber Neils einzige Sorge galt seinen Werken.

Hatten sie etwas abbekommen?

In der Dunkelheit war es schwer etwas zu erkennen. Seine Füße führten ihn zurück zu dem Tisch, wo sein aktuelles Werk darauf wartete, vollendet zu werden. Er entsperrte sein Smartphone und nutzte die gewonnene Leuchtkraft, die vom Display abstrahlte, um sein Bild anschauen zu können.

Aber was war das?

Ungläubig schaute er das Bild an.

Wieso war die Hand farbig?

Vorsichtig führte er den Finger zu der Hand und berührte sie. Sein Herz stockte und er konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Die Hand fühlte sich lebendig an.

Seine Sinne mussten ihm einen Streich spielen. Er hatte mindestens einen Düsenjäger, der in seinen Kopf Ping Pong spielte und ein ständiges Fiepen in den Ohren. Vielleicht traten aus den Elektrogeräten aber auch giftige Dämpfe aus, die ihn halluzinieren ließen. Wer wusste schon, was die heute alles verbauten.

Neil fasste neuen Mut, hob seinen Finger erneut zu der Hand und das Unfassbare passierte. Die Hand packte zu und umklammerte seinen Finger. Vor Schreck zog er den Finger zurück und aus dem Bild, das starr, grau schattiert und zweidimensional war, schälte sich eine junge, kecke Frau hervor. Ihr schwarzes Haar wallte über ihre Schultern und umspielte sanft das leere Blatt Papier, aus dem sie entstiegen war.

Mit elfenbeinfarbener, makelloser Haut, blassen Lippen und intensiven großen, blauen Augen suchte sie ihren Retter, der sie aus den Klauen der ewigen Verdammnis der Untätigkeit befreit hatte.

Man hätte meinen können, dass Neil tausend verschiedene Gedanken durch den Kopf gingen.

Wie war das möglich?

War das alles nur ein Traum?

Wie wunderschön sie aussah.

Aber ihn beschäftige nur ein einziger Gedanke.

Jetzt bekomme ich das Bild nicht mehr rechtzeitig fertig.

Aufbruch

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