Читать книгу Das, was du suchst - Marjoleine de Vos - Страница 10

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Neulich stand ich auf einer Wierde, genauer gesagt auf der Wierde von Groot-Wetsinge. Darauf thront eine kleine Kirche, aber diese Kirche gibt es nicht mehr. Zu sehen ist sozusagen noch der Fußabdruck einer Kirche, und mit ein bisschen Fantasie sieht man es vor sich – das schmale Schiff, das Ziermauerwerk an den Bögen, die Farbe der mittelalterlichen Backsteine, den etwas schiefen Turm mit seinem Satteldach. Ein Teil des Friedhofs ist erhalten geblieben. Die Kirche muss aus dem 12. Jahrhundert gewesen sein, errichtet auf einer Wierde, die schon damals mehr als tausend Jahre auf ein Gotteshaus wartete. Das komplett restaurierte Küsterhaus hingegen steht noch, beziehungsweise wieder, und auch das Pfarrhaus ist noch da, ein Steinhaus aus dem 13. Jahrhundert mit seinen hohen Fenstern, seinem Keller, seiner Aussage, schon so lange bewohnt zu sein. Es ist ganz normal, sich das mittelalterliche Amsterdam oder Utrecht vorzustellen, aber seltsam ungewohnt, sich Groninger aus dem 13. Jahrhundert vor Augen zu rufen, die in einem schönen Haus auf einem kleinen Hügel lebten und das Land bestellten, die ihre Häuser zu stets schmuckeren Gebäuden mit schönen Wohnzimmern und verzierten Schranktüren ausbauten. Man würde eher denken, hier hätten bloß ungebildete Bauern und Arbeiter gelebt. Im 15. Jahrhundert gab es schon längst eine kulturelle Blüte im Norden, früh-humanistische Gelehrte wie Rudolf Agricola, der Lehrmeister von Erasmus von Rotterdam, und Johann Wessel Gansfort pflegten von hier aus internationale Kontakte, es war also alles andere als ein rückständiges Gebiet.

Da spürt man dann doch wieder, dass man die Vergangenheit einfach nicht zu fassen bekommt. Was hat dieses Land den damaligen Bewohnern bedeutet, wie haben sie es wahrgenommen? Sie müssen sehr oft Angst vor dem Wasser gehabt haben und das zu Recht. Während der Marcellusflut Anfang des 13. Jahrhunderts ertranken Zigtausend Menschen, Häuser verschwanden, Kirchen wurden verwüstet. Ihre Heimat war menschengemacht und so fragil. Als ich mich einst mit Jellema über sein Gedicht «Kerkje van Fransum» («Kirche von Fransum») unterhielt, erzählte er mir, dass die Deiche in Groningen einer Legende nach von einem Heiligen angelegt worden seien, vom Heiligen Walfridus von Bedum. «Hat man früher in die Landschaft eingegriffen, dann in dem Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun, ja die Götter herauszufordern. Deshalb wurde der Bau des Deichs wohl Walfridus zugeschrieben – das war ein Heiliger, der durfte das.»

Das ist schon was anderes, als mal schnell ein Wohnviertel aus dem Boden zu stampfen, einen Kanal zuzuschütten, Bauland einzuebnen, auf dem gerade noch ein Obsthain stand. Natürlich sind Veränderungen erlaubt – die Menschen brauchen auch jetzt nicht für immer ehrfürchtig auf einen jahrhundertealten Kanal zu starren, sie müssen auch irgendwo leben und Auto fahren, zum Supermarkt kommen, Mais anbauen und eine Maklerfirma gründen können.

Aber das Lesen haben wir verlernt. Und wer die Landschaft nicht liest, der sieht auch nichts von dem, was erhalten werden muss, der schaut wie eine Kuh, wenn’s donnert, wenn er, wie ich, neulich jemanden sagen hört, dass man im Reitdiep-Gebiet noch alte Tiefs mäandern sieht, mit demselben Lauf wie damals, als das Wasser noch ungehindert ins Land strömte, und dass einem bei einem solchen Anblick doch das Herz aufgeht.

Diesen Leuten jedoch geht das Herz überhaupt nicht auf. Die sehen auch kein mäanderndes Tief. Die sehen einen x-beliebigen Kanal, gähn! Und irgendwann steht da ein Schild vom Groninger Landschafts- oder sonst irgendeinem rühmlichen Verband neben diesem vermeintlichen Kanal mit der Aufschrift: «Das ist kein Kanal, lieber Radfahrer, das ist ein mäanderndes Tief, etwas ganz Besonderes.»

Deshalb ist es gut, etwas zu wissen, und sei es auch noch so wenig, damit die alte Landschaft einigermaßen lesbar bleibt. Man sollte mit dem Finger darauf zeigen und sagen: «Schau nur, dort, wo man nichts sieht, ist jede Menge zu sehen. Da haben Menschen gewohnt, die es tatsächlich gegeben hat, die haben gebaut, die haben gelebt, die haben geschlafen, die sind über diese seltsam gewundenen Pfade gegangen, die haben einander geschrieben und die sind auf so einer Wierde gestorben – nirgendwo in Holland steht so viel geschrieben wie hier.» Wer seine Lesebrille aufsetzt, sieht mehr in der Landschaft, Spuren und Zeichen, sodass sie noch schöner wird unter dem großen, abwechslungsreichen, weiten Groninger Himmel.

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