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Ein Dutzend Polizisten waren in der Sondereinheit. Van den Berg hatte nicht die leiseste Absicht, die Kollegen bis ins letzte Detail in seine Kenntnisse und Pläne einzuweihen. Selbst Deflandre nicht, der sein engster Partner war. Und Vermeulen würde auch nur das zu hören bekommen, war er preisgeben wollte. Van den Berg wusste um sein Image als Einzelkämpfer und das war ihm herzlich egal. Deflandre war der Einzige, dem er vertraute. Manchmal brauchte er ihn, denn es gab Dinge, die nicht einmal van den Berg allein schaffen konnte.

Ich muss Nicole anrufen, dachte van den Berg und griff im gleichen Augenblick zum Hörer. Sie nahm nicht ab - der Kommissar sprach ihr ein paar verbindliche Sätze auf die Mailbox. Nicole Vandereycken hatte bereits einen exzellenten Ruf als Polizeipsychologin, obwohl sie erst 27 war. Es war fast genau ein Jahr her, dass sie zusammen mit van den Berg einen Ritualmord aufklärte, der das ganze Land in Atem hielt. Sie hatten eine 17-jährige in der Badewanne gefunden, der man die Zunge herausgeschnitten hatte. Van den Berg hatte sich in verschiedenen Sackgassen festgerannt.

Seinen Entschluss, eine Psychologin hinzuzuziehen, hatte er spontan gefasst und weil er nicht weiterkam. Nicole hatte keinen Schimmer von Polizeiarbeit, aber sie war klug - das hatte van den Berg schnell verstanden. Nicole war unvoreingenommen, dachte nicht in Konventionen, und sie war radikal. Die Psychologin legte los wie eine Dampfwalze, sie verdächtige jeden im Dunstkreis des toten Mädchens, die beste Schulfreundin, die Eltern, sogar die Großmutter. Die gesamte Verwandtschaft des Opfers war einem gnadenlosen Kreuzverhör ausgesetzt. Der Vater des Mädchens hatte einen Wutanfall bekommen, die Großmutter war in Tränen ausgebrochen, als sie begriffen, dass man ihnen den Mord zutraute.

Van den Berg war fasziniert davon, wie cool die Psychologin Widerstände wegsteckte. Bei ihrer unerbittlichen Art, Gesprächpartner in die Enge zu treiben, fühlte sich der Kommissar mitunter an die spanischen Inquisitoren des 15.Jahrhunderts erinnert. Mit Finten und Halbwahrheiten hatte sie den Hauptverdächtigen schließlich erst in Widersprüche verwickelt und dann so sehr in die Enge getrieben, dass er mitten in der Nacht ein tränenreiches Geständnis ablegte. Nicole genoss im Brüsseler Kommissariat fortan mindestens Respekt. Nur sie selbst war nicht mit sich zufrieden gewesen, sie ärgerte sich, nicht schneller auf die Lösung gekommen zu sein. Van den Berg holte eine schwere Schwarte aus dem Regal, die er tags zuvor in einem Antiquariat erstanden hatte – die Geschichte der Habsburger. Seine Lieblingsfigur war Karl V, der in Gent geboren war, genau wie er. Ihn faszinierte, wie es die alten Kaiser geschafft hatten, ein Riesenreich durch geschickte Kriegsführung zu erobern, in dem die Sonne niemals unterging, aber vor allem, indem sie die richtigen Frauen heirateten. Große Herrscher wie Karl V, die waren seine Kragenweite. Manchmal stellte er sich vor, mit einem gewaltigen Heer in die Schlacht zu ziehen und in der Wiener Hofburg oder im Prager Hradschin zu residieren.

Sein Interesse für das 16. und 17. Jahrhundert hatte auch damit zu tun, dass das mittlerweile so unbedeutende Belgien als Teil der spanischen Niederlande ein wichtiger Teil in Europa gewesen war. Es machte ihn traurig, dass die belgische Monarchie nur noch ein vergilbtes Abziehbild seiner ruhmreichen Vergangenheit war. Dennoch verfolgte er die Politik des belgischen Königs Albert II, an dem er dessen nicht ganz uneigennütziges Eintreten für die Einheit Belgiens schätzte. Flamen, die für die Loslösung Flanderns kämpften, machten ihn rasend.

Van den Bergs Telefon schellte. Das geht aber schnell, dachte sich van den Berg. „Du hast Sehnsucht nach mir, Herr Hauptkommissar?“, fragte sie mit ihrer hellen mädchenhaften Stimme. „Du hast es erraten, aber Hauptkommissar bin ich deswegen noch lange nicht“, gab er mit einem lauten Lachen zurück. Nicole wurde ernster: „Ich hab schon gehört von dem Mädchen. Hört sich wirklich nicht schön an. Habt ihr schon was?“ „Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich weiß gar nicht, wo wir anfangen sollen.“ „Dann ist ja klar, dass du mich angerufen hast!“ „Du weißt doch, ohne dich sind wir grundsätzlich aufgeschmissen“, flachste van den Berg. „Kannst du gleich kommen?“ „Wenn ich könnte, würde ich fliegen.“

Eine halbe Stunde später flog van den Bergs Bürotür auf. Der Kommissar strahlte bis über beide Ohren, als die Psychologin vor ihm stand. Schon während der letzten Ermittlungen hatte ihn die attraktive Frau mächtig beeindruckt. Jetzt stand sie im Türrahmen seines schlichten Arbeitszimmers, ihre dunkelbraunen langen Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf geknotet. Die hautenge Jeans und die perfekt sitzende braune Lederjacke waren unheimlich sexy. Nicole hatte sich daran gewöhnt, dass Männer ihr, der Unwiderstehlichen, unterstellten, dumm zu sein. Offen ins Gesicht sagte ihr das niemand, aber zwischen den Zeilen konnte sie es oft genug heraushören. Für derartige Vorurteile hatte Nicole nur ein charmantes Lächeln übrig.

Sie sprach selten darüber, dass sie in Paris und Barcelona studiert und ihr Diplom mit Auszeichnung gemacht hatte. Van den Berg wurde leicht nervös, als er auf ihren festen Arsch starrte.

„Wer zum Teufel vergiftet ein junges Mädchen und schmeißt es dann vor eine Kirche? Ich habe wirklich schon einige kranke Sachen gesehen, aber das hier ist echt das Heftigste“, meinte van den Berg mit weit aufgerissenen Augen. „Kannst du mir schon ein Täterprofil erstellen?“ „Klar, sofort, bis ins letzte Detail“, meinte Nicole, während sie eine doofe Grimasse zog.

Van den Berg setzte einen entschuldigenden Blick auf. Sie zog ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb einige Stichworte hinein. „Eines ist dir sicher schon aufgefallen: Unser Mann steht auf junge Mädchen - wahllos hat er sie nicht ausgesucht, so wie er die hergestylt hat. Er hatte Sex mit ihr, bevor er sie umgebracht hat. Normalerweise töten Sexualtäter, um Spuren zu verwischen oder weil sie in Panik geraten. Das hier ist das Gegenteil. Er präsentiert das Mädchen wie eine Trophäe.

Die Frage ist, warum er sie umgebracht hat und dazu noch mit diesem Teufelszeug.“ Der Kommissar lauschte konzentriert. „Vielleicht hat der Typ einen Hass auf junge Frauen, zum Beispiel, weil er gekränkt worden ist.“ Van den Berg hob zweifelnd die Hände. „Das erklärt aber nicht, warum er das Mädchen vor der Kirche abgelegt hat.“ „Der Mann sucht die Öffentlichkeit - wahrscheinlich hat er ein starkes Geltungsbedürfnis. Vielleicht ist das ein religiöser Fanatiker, einer der Opfer bringt.“ „Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?“ „Natürlich ist es das. Das sind reine Hypothesen. Ich brauche einfach mehr Informationen – du bist am Zug“, sagte Nicole und blickte van den Berg herausfordernd in die Augen. „Was soll das mit dem Brandmal?“ „Spricht dafür, dass er gerne Mädchen quält –muss höllisch wehtun, so ein heißes Eisen im Fleisch zu haben.“

Van den Berg stand nicht nur auf Nicole, weil sie so hübsch war. Genauso mochte er ihren messerscharfen Verstand und ihre Art, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. „Du sprichst immer von „er“. Bist du sicher, dass „er“ keine Frau ist?“ „Ein zierliches hübsches Mädchen, das Nachthemd – für mich ganz klar eine männliche Handschrift.“ „Keine hohe Meinung, die du von uns Männern hast.“ „Findest du, ich hätte Grund dazu?“ Die beiden lachten. „Kannst du dir einen Reim auf die 8 machen?“ „Wahrscheinlich hat die Zahl weniger mit dem Opfer als mit dem Mörder zu tun. Die 8 ist die Zahl mit der größten Ästhetik – sie strahlt Harmonie aus.“ Van den Berg schaute Nicole skeptisch an. „Vor allem ist die 8 eine heilige Zahl – das ist sie übrigens in vielen Religionen. Im Christentum steht die 8 für Neubeginn.“ „Für Neubeginn? Hoffentlich nicht für den Beginn einer Mordserie. Das wäre das Letzte, was wir gebrauchen können.“

„Du weißt, dass ich gerne rum spinne, aber für eine fundierte Analyse dieses Brandmals haben wir einfach zu wenig Anhaltspunkte“, sagte Nicole ernst. „Verfluchte Scheiße, das passt mir alles überhaupt nicht. Ich glaube, wir werden uns an dieser Geschichte richtig die Zähne ausbeißen.“ Van den Berg ging zum Fenster und starrte in den Hof. Beide schwiegen und dachten noch eine ganze Weile nach. Dann hatte van den Berg genug. „Wir machen morgen weiter“. Der Kommissar brachte Nicole zur Tür und schaute ihr noch eine Weile nach, während sie den langen Gang entlanglief. Dann blickte er in den Spiegel, der an seiner Bürotür hing, und richtete seine Haare. Er sah viel jünger aus als 45, und das wusste er auch.

Nicoles Persönlichkeit hatte viele Facetten. Sie kam aus einem streng katholischen Elternhaus, ihre Schulzeit verbrachte sie größtenteils in einem Brüsseler Eliteinternat. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als sie das Studium in die großen Metropolen brachte – sie verlor ihre Naivität und lernte die Spielregeln des Erfolges. An der Sorbonne begann Nicole, sich für Geschichte, Philosophie und moderne Kunst zu interessieren. Sie legte sich einen stattlichen Bekanntenkreis zu, mit Universitätsprofessoren, Künstlern, Managern und Musikern. Die meisten Kontakte waren oberflächlich – niemand wusste, wie Nicole wirklich tickte.

Dass die junge Frau nicht nur schön, sondern auch mit großer Intelligenz gesegnet war, erkannten die Menschen, die sie kennenlernten, schon nach kurzer Zeit. Aber das war schon das Einzige, das sie begriffen.

Nicoles herausstechende Eigenschaft war ihr Ehrgeiz. Schon in der Schule wollte sie immer die Beste sein und in der Regel erreichte sie das mit beeindruckender Leichtigkeit. Sie war so charmant, dass sie die Menschen blitzschnell um den Finger wickeln konnte. In Paris und Barcelona sprengte sie die Ketten, die ihr die Eltern angelegt hatten. Sie umgab sich mit Männern, die ihr die Eltern garantiert verboten hätten. Nicole stürzte sich in Affären und holte das nach, was ihr in den Jahren zu Hause verwehrt geblieben war. Manche Liaison drang bis in Nicoles vornehmes Brüsseler Elternhaus. Die Beziehung zu ihrem Vater bekam dadurch tiefe Risse.

„Also wenn ihr mich fragt, haben wir es mit einem Geistesgestörten zu tun“, rief van den Berg den Kollegen zu, die ihn im Sitzungszimmer erwarteten. Aber was ist schon geistesgestört, fragte er sich im gleichen Moment. Die anderen Polizisten signalisierten mit ihrem synchronen Nicken, dass sie im gleichen Moment exakt die gleiche Erkenntnis hatten. Allein Nicole signalisierte Skepsis. Van den Berg war klar, dass sie ihre Gedanken ebenso wenig in der Gruppe diskutieren wollte, wie er. „Frank und Robby, ihr geht sämtliche Tötungsdelikte in Brüssel der letzten fünf Jahre durch. Nehmt euch vor allem die Sachen vor, die richtig krank sind. Schaut, ob ihr irgendwelche Sachen findet, die mit Kirchen zu tun haben. Und die Tötungsdelikte, bei denen Gift im Spiel ist. Dann brauchen wir schnellstens eine Liste mit den Leuten, die infrage kommen, vor allem mit vorbestraften Jungs, die draußen rumlaufen. Und zwar schnell – und ich meine schnell.“ Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie mit routinemäßiger Recherche nicht weiterkamen. Die Runde löste sich auf. Van den Berg zog sich mit Deflandre und Nicole eilig in sein Büro zurück. Die Blicke der beiden Männer richteten sich auf die Psychologin.

„Ich glaube nicht an einen Verrückten“, sagte sie lakonisch. „Ich denke, der Täter geht sehr überlegt und strukturiert vor. Er hat sein Opfer bis vor die Kathedrale geschleppt, außerdem hat er am Tatort keine Spuren hinterlassen. Gut, das hat natürlich auch mit dem Wetter zu tun …“ „Dass er klug vorgegangen ist, schließt doch nicht aus, dass er geisteskrank ist“, wandte van den Berg ein. „Ein Psychopath ist nicht geisteskrank“, entgegnete Deflandre. „Eric hat recht“, bestätigte Nicole. „Ein Psychopath ist in der Lage, ganz logisch zu denken, aber er pfeift auf gesellschaftliche Normen und er kennt kein Mitgefühl. Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der von etwas besessen ist, der etwas mitteilen will und der offensichtlich ein Spiel spielen will. Der Mann, den wir suchen, schiebt Gesetz und Moral beiseite - er spielt nach eigenen Regeln.“

„Meinst du nicht, das ist etwas mutig, nach dem, was wir bis jetzt wissen?“ „Wenn es dem Mörder nur darum gegangen wäre, zu töten, hätte er es viel einfacher haben können. Warum hat er die Kathedrale ausgesucht? Für den Täter war es ein großes Risiko, entdeckt zu werden. Nein, ich bin sicher, da steckt viel mehr dahinter.“

Freddy De Breuyn kam ins Büro – er stolperte über seine offenen Schnürsenkel, konnte es aber so gerade noch verhindern, den Boden zu küssen. Der Polizist war 56 und galt im Kommissariat als eine Art Unikum. Wegen seines unbeholfenen Auftretens wurde ihm meist der Schreibkram zugeschoben, also jene Arbeit, vor der sich die meisten Polizisten gerne drückten. De Breuyn war zwar ungelenk im Umgang mit Menschen, wenn es aber um das Recherchieren von Daten ging, war der Polizist ein unumstrittener Meister, denn dabei ging er überaus akribisch vor. Van den Berg hatte ihm die Detailsuche in der Datenbank nicht zufällig übertragen.

„Ich habe alles durch den Rechner gejagt“, meinte der Polizist, der mit seiner zu kurzen Hose und seiner schweren und zu großen Brille dem Klischee eines Sonderlings auch äußerlich entsprach. „Ich habe natürlich erstmal an den Ritualmord vor einem Jahr gedacht. Aber der Typ hat sich in der Haft ja gleich die Pulsadern aufgeschnitten- der scheidet ja wohl aus.“ Die Polizisten lachten über die eigenwilligen Ausführungen ihres Kollegen. Auf einen religiösen Zusammenhang und irgendwelche Kirchen bin ich nicht gestoßen, aber ich habe hier zwei Typen - die haben ihre Opfer vergiftet. „Erzähl schon“, zischte van den Berg wie elektrisiert.

„Der Witz ist, dass beide draußen rumlaufen. Nummer eins: Thierry Muller. Hat seiner Lebensgefährtin in der Nacht eine Spritze verpasst, die es in sich hatte. Ist vor sechs Monaten rausgekommen. Nummer zwei: Yves Grangé, er hat Diskobesuchern etwas in die Cocktails gemischt, das da nun wirklich nicht reingehört – E605, ein Insektengift. Er ist schon seit zwei Jahren draußen, seitdem unauffällig wie eine Betschwester. Wie gesagt: In beiden Fällen ist Gift im Spiel.“ Nicole guckte skeptisch. „Ich weiß nicht, ob das passt. Aber wir überprüfen das auf alle Fälle. Bestimmt nett, die Jungs kennenzulernen“, meinte van den Berg, der jetzt richtig aufgedreht war.

Sie hatten ein totes Mädchen. Aber was wussten sie schon über sie? Sie hatte bis zu ihrem Verschwinden in einem stinkenden Saustall gelebt. Und sie konnten davon ausgehen, dass sich das Mädchen nachts gerne in den Brüsseler Bars herumtrieb. „Wir sollten die Gegend um den Bahnhof abgrasen, da sind besonders viele Kreuze“, schlug Deflandre vor. „Der Stadtplan könnte uns weiterhelfen“, nickte van den Berg. Die Polizisten waren sich einig, am Abend an den Gare du Nord zu fahren, in eine Gegend, die sie gerne mieden, weil es da immer Ärger gab. Van den Berg würde Nicole mitnehmen.

Auf dem Weg nach Hause in die Rue de Stassart hielt van den Berg bei Renard. Die Verkäufer der Konditorei kannten ihn alle, er bestellte fast immer das Gleiche. Im Winter wählte er meist die knusprigen Schweineohren, mit feinster Schokolade überzogen. In der warmen Jahreszeit bevorzugte er die kleinen Erdbeertörtchen, die liebevoll mit Schokoguss arrangiert waren. Die süßen Leckereien waren symptomatisch für van den Bergs Lebensstil. Er war ein Genussmensch, und von allem wollte er nur das Beste.

Van den Berg fuhr zum verabredeten Treffpunkt. Als er auf die Rue de la Loi eingebogen war, klingelte sein Handy. „Komm sofort zur Église Sainte-Catherine!“, brüllte eine erregte Stimme in sein Ohr. Frank De Gruye, der erst seit zwei Monaten im Kommissariat arbeitete, klang kurzatmig. „Mal langsam!“, entgegnete van den Berg cool. „Es gibt eine Tote an der Catherine. Mehr wissen wir noch nicht. Ihr müsst da so schnell wie möglich hin.“ „Okay!“, presste van den Berg hervor. Er fühlte sich, als hätte er einen Matschklumpen im Kopf. „Sag Nicole und Eric Bescheid“, sagte er hastig, bevor er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Als er einen Lastwagen rechts überholte, blieb er beinahe an einem Laternenmast hängen. Van den Berg kannte das Geräusch, wenn das Blech an irgendetwas vorbei schrammte, nur zu gut. Es war ihm egal, er fuhr weiter so schnell es ging.

Van den Berg bereitete sich darauf vor, dass ihn wieder etwas Grauenhaftes erwartete. Er dachte kurz an das Mädchen an der St. Michel – ihm wurde klar, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten. Van den Berg raste auf die Kirche zu und stieg erst kurz vor dem Portal auf die Bremse. Ohne den Motor auszustellen, rannte er zur Tür, die verschlossen war. Es hatte wieder angefangen zu regnen, und es war kalt. Vor der Tür lag ein Mädchen, das in ein weißes Nachthemd gehüllt war, durch den Regen völlig durchnässt. Van den Berg kam sich vor wie in einer Zeitschleife, genau das hatte schon einmal gesehen. Zwei Streifenpolizisten, die zur Kirche gerufen worden waren, standen apathisch neben dem Kommissar. Van den Bergs Gesicht war krebsrot, seine Halsschlagader schwoll bedrohlich an. Intuitiv hob er den Arm des Mädchens an. Da war es wieder: das Brandmal. Wie bei der ersten Toten hatte der Mörder dem Mädchen eine Zahl eingebrannt. Diesmal war es die 1, ebenfalls inmitten eines Kreises.

Van den Berg verbrachte die nächsten Minuten vor sich hin fluchend auf der Bank vor dem Gotteshaus. Er blickte gen Himmel in den hartnäckigen Nieselregen. „Was ist los?“, rief Deflandre, der mit Nicole am Tatort eintraf. „Wieder ein junges Mädchen“, schrie der Kommissar mit beleidigtem Unterton, denn er empfand das Verbrechen wie eine persönliche Demütigung. „Ich bin mir jetzt sicher, dass wir es mit einem Psychopathen zu tun haben“, meinte Deflandre und schaute zu Nicole, als wollte er eine Zustimmung für seine Feststellung haben.

Die Psychologin, die mit ihren weichen Gesichtszügen und dem schicken Outfit nicht so recht in den Polizeidienst zu passen schien, dachte nach. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. „Ich habe leider recht behalten. Er ist auf junge Mädchen abonniert, was bei Sexualverbrechern nicht gerade außergewöhnlich ist. Es hätte mich überrascht, wenn er seinen Opfertypus geändert hätte.“ „Wir haben wieder dieses beschissene Brandmal“, fluchte van den Berg. Die Psychologin schaute sich das Zeichen genau an. „Eine 1“, sinnierte Nicole. „Die 1 – das Sinnbild für den Anfang und das Zeichen für Gott.“ Dann schwieg sie. „Das passt zu allem anderen, zu der Kirche und zu den Allmachtsphantasien, von denen du gesprochen hast“, meinte van den Berg. „Ja, aber ich bin mir nicht mehr sicher – aber frage mich nicht warum.“ „Wir überlassen das Feld den Kollegen. Wir brauchen Spuren“, sagte van den Berg, während er beschwörend die Hände nach oben reckte.

Sie entschieden, den Besuch am Gare du Nord erst einmal aufzuschieben, sie wollten später hinfahren. Erst mussten sie die Sonderkommission zusammentrommeln. Wenn sie dem Mörder nicht bald auf die Spur kamen, würden sie von den Schmierfinken zerrissen werden. Van den Berg dachte an die Boulevardpresse, an die lästigen Reporter, die jetzt erst recht penetrante und zynische Fragen stellen würden.

Zwei Opfer, beide vergiftet vor einer Kirche, dachte van den Berg. Ein hübscheres Thema konnte es für die billigen Blätter nicht geben. Im Besprechungsraum des Kommissariats waren alle Kollegen versammelt, als van den Berg ins Zimmer gehetzt kam. „Das Foto der Toten muss sofort an alle Medien raus. Fernsehen, Zeitungen, Internet!“

De Coster trat in den Raum, als sich die Zusammenkunft gerade aufgelöst hatte. „Ich bin sicher, dass wir es mit einem Profi zu tun haben. Spuren haben wir kaum gefunden, genau wie an der St. Michel. Das Opfer ist sehr wahrscheinlich wieder vergiftet worden, wir haben die gleichen Einstiche gefunden.“ Van den Berg dachte nach. „Sonst habt ihr nichts?“ „Doch“, sagte De Coster, der es manchmal gerne spannend machte. „Ich habe mir natürlich gleich das Brandzeichen angesehen.“ „Erzähl schon!“ „Es ist blasser als das, was ich mir schon anschauen durfte, ein Hinweis darauf, dass es älter ist. Die Unterschiede sind allerdings marginal, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen.“ „Vielleicht lasse ich mir auch so was machen, sieht abgefahren aus“, scherzte Deflandre, der glaubte, er müsse die gereizte Stimmung ein wenig auflockern. Nicole lächelte gequält, die Psychologin hatte nicht viel übrig für die Scherze des Polizisten, den sie ziemlich albern fand.

„Vielleicht kommen wir auf die Bedeutung der Zahlen, wenn wir sie kombinieren, vielleicht stehen sie für die Buchstaben des Alphabets, für A und H.“ „Ich denke, es dürfte Tausende Möglichkeiten geben. Das ist eine große Scheiße!“, echauffierte sich van den Berg. „Das ist doch mal eine schöne Aufgabe für die lieben Kollegen, sie sollen alle Kriminalfälle auflisten, in denen Zahlen und Kreise eine Rolle spielen.“ Van den Berg machte eine wegwerfende Handbewegung. Nicole dachte nach. „Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, die Bedeutung des Kreises zu ergründen. Die Zahl ergibt aber ganz bestimmt einen Sinn“, legte sich Nicole fest. „Vielleicht ist es eine Jahreszahl 18 …“, schlussfolgerte van den Berg. „Aber was ist dann mit den beiden fehlenden Nummern?“ Sie waren sich einig, dass sie das Zahlenrätsel nicht lösen konnten – noch nicht.

Die Telefone im Kommissariat liefen heiß. Hunderte von Hinweisen gingen zum Foto der Toten ein. Die meisten waren wertlos, aber es kamen genügend Anrufe, die jeden Zweifel über die Identität der Toten beseitigten. Die Gesuchte war Dorothee Lerisse - die vermisste Prostituierte vom Gare du Nord.

Van den Berg fuhr mit Deflandre in die heruntergekommene Bahnhofsgegend. „Jetzt haben wir wenigstens doppelten Grund da aufzutauchen“, frohlockte der Kommissar. „Vielleicht holt der Mörder seine Opfer aus den Puffs“, meinte Deflandre. „Jedenfalls haben wir eine Nutte, aber wir wissen nicht, ob Catherine auch auf den Strich gegangen ist.“

Über einem Flatscreen tickerten Kurznachrichten von der belgischen Regierungskrise. „Bald ist Flandern unabhängig“, frohlockte Deflandre, der amüsiert in van den Bergs mürrisches Gesicht blickte. „Findest du nicht, dass unser Land schon klein und unbedeutend genug ist?“ „Wenn wir die Wallonen nicht mehr mit durchziehen müssen, haben wir alle mehr Kohle. Das ist es doch, was zählt.“ Van den Berg hob abwehrend die Hand. „Ist dir klar, dass uns die Wallonen auch schon mal durchgefüttert haben?“ „Das ist lange her. Mein Vater hat mir davon erzählt, wie hochmütig die auf uns herabgeschaut haben. Als Bauern haben die uns beschimpft. Jetzt kriegen die das doppelt und dreifach zurück.“ Der Kommissar verdrehte genervt die Augen. „Komm mal runter Eric, wir sind Belgier, basta!“

In der Rue de la Prairie hing immer noch der ramponierte Zettel, der Dorothee Lerisse als vermisst meldete. Im Fenster nebenan saß eine Frau, die mit der getöteten Hure eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Auch sie hatte schulterlange dunkle Haare und ein Dekolleté, das man ohne zu übertreiben als üppig bezeichnen konnte. Die Frau öffnete die schäbige Holztür. „Was wollt ihr? Seid ihr Flics?“ „Erraten“, antwortete van den Berg lachend.

„Es geht um Dorothee Lerisse. Wie gut kannten sie sie?“ „Wir haben hier ein halbes Jahr zusammen angeschafft und hier im Haus zusammengewohnt - das heißt, in zwei Zimmern nebeneinander. Aber das ist Jahre her. Haben sie etwas von ihr gehört?“ „Schauen sie kein Fernsehen? Sie ist tot!“, bemerkte Deflandre schroff.“ Die Hure wurde blass. „Scheiße, man hat sie umgebracht, richtig?“ „Schon möglich“, wich van den Berg aus. Er kramte nach dem Foto von Catherine Bouvier in seiner Jackentasche. „Kennen sie die?“ Die Frau studierte das Foto und schüttelte den Kopf. „So eine Süße wäre mir bestimmt aufgefallen.“ Wie viele der Frauen hatten noch engeren Kontakt zu Dorothee?“ „Wie soll ich das noch wissen? Das ist lange her!“ „Wussten sie, dass das Mädchen minderjährig war?“ Die Nutte zuckte ungläubig mit den Schultern. „Glauben sie, ich lasse mir von den Mädels die Ausweise zeigen?“

Van den Berg fuhr zurück ins Kommissariat, Eric Deflandre blieb im Bahnhofsviertel. „Ich will morgen früh alle Frauen, die mit Dorothee in Kontakt standen, im Büro sitzen haben, okay?“ „Ich tue mein Bestes!“ gab Deflandre zurück.

Katakomben

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