Читать книгу Dr. Ohio und der zweite Erbe - Mark Stichler - Страница 6

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Im Grün der Tannen

schimmert der Waldsee vage

wie dunkle Augen

Mit langen, bedächtigen Schritten ging Dr. Ohio über den knirschenden Kies der schlecht gepflegten Auffahrt zu Höpfners Villa. Der alte Kasten stand auf einer Anhöhe oberhalb der Straße durchs Aichtal, dahinter zog sich ein Streifen düsterer Tannenwald. Von der Veranda aus hatte man einen schönen Blick ins Tal, durch das sich ein kleines Bächlein schlängelte. Das Haus stand, wie das Sanatorium, in dem Dr. Ohio arbeitete, außerhalb der nächsten Ortschaft. Unter den Ulmen und Espen, die das Bachufer im Tal säumten, waren nur vereinzelt alte Häuser zu sehen. Die meisten hatten früher als Mühlen gedient und standen zum Teil leer.

In den Kies waren dicke Reifenspuren eingegraben. Vor dem Haus stand eine breite, metallicblau glänzende Limousine. Jaguar, dachte Dr. Ohio, als er zur Tür ging und klingelte. Eine Weile passierte gar nichts. Er strich noch einmal die Ärmel seines dunkelbraunen Anzugs glatt und rückte die schmale, schwarze Krawatte zurecht.

Dann ein Rascheln und Kratzen hinter der Tür, als ob schon lange jemand dort gestanden hätte und nur so tat, als würde er jetzt erst durch die Vorhalle kommen. Die Haushälterin öffnete, Hanne, eine ältlich wirkende Frau mit streng nach hinten gekämmten Haaren, grauen Strähnen und einem leichten Zittern um den Mund. Dr. Ohio kannte sie von seinen früheren Besuchen. Er hatte das sichere Gefühl, dass sie geweint hatte, und in Ermangelung von Verwandtschaft sprach er ihr sein Beileid aus. Sie sah ihn dankbar an.

„Kommen Sie mit, Doktor. Die anderen warten schon.“

Sie führte ihn durch die dunkle Vorhalle, deren Ecken nur zu erahnen waren. Die holzgetäfelten Wände wiesen helle Stellen auf, an denen früher Bilder oder Geweihe gehangen hatten. Ein großer, ausgeblichener und ausgetretener Perserteppich bedeckte den steinernen Fußboden.

An der Treppe aus schwerem, schwarzem Holz, die hinaufführte in den ersten Stock, verharrte sie kurz, nur einen Augenblick, aber doch lange genug, um Dr. Ohio aus dem Tritt zu bringen. Sie drehte sich im Gehen halb zu ihm um und sah ihn mit dunklen Augen fragend an. Oben öffnete sie die Tür zur Bibliothek und ließ ihm den Vortritt. Hier hatte Dr. Ohio oft mit Höpfner an einem der kleinen, im Raum verteilten Tische gesessen. Hinter Höpfners breitem, antikem Mahagonischreibtisch saß jetzt Dr. Laudtner. Värie Wieri stand mit mürrischem Gesichtsausdruck an eines der Bücherregale gelehnt, die sich auf jeder Seite des Raums bis zur Decke erstreckten. Auf den Tischen waren Leselampen verteilt. Schon Höpfners Großvater hatte die Bibliothek eingerichtet und man merkte dem dunklen Holz und den Möbeln ihr ehrwürdiges Alter an.

Auf einer Seite des Schreibtischs saßen auf Holzstühlen mit ungepolstertem Lederbelag zusammengesunken eine kleine Frau und ein hagerer Mann mit wettergegerbtem Gesicht, hellen Augen und sehr großen Händen. Dr. Ohio hatte ihn schon des Öfteren gesehen. Es war Henrik, der Gärtner, der sich auch um alle handwerklichen Belange des Anwesens kümmerte. Wer die Frau war, wusste er nicht.

Als Ohio eintrat, sah Dr. Laudtner von einem Schriftstück auf, das er ausführlich zu studieren schien, zog eine mit feinem Goldrand umfasste, halbe Lesebrille von der Nase und ging mit ausgestrecktem Arm auf ihn zu. Auf der Innentasche seines aus feinem, dunkelblauem Tuch gewebten Jacketts war das große Emblem einer Marke oder eines Colleges zu sehen. Die Haushälterin setzte sich still auf einen Stuhl neben den Gärtner.

„Dr. Ohio, nehme ich an“, sagte Dr. Laudtner und schüttelte ihm weich die Hand. Er war Ende 30, schätzte Ohio. Seine halblangen, etwas ungepflegt wirkenden schwarzen Haare hatte er mit Gel nach hinten gekämmt, wo sie über den Kragen seines gestreiften Hemds ragten. Sein Kopf und seine Statur wirkten massig, aber kraftlos. Das teigige Gesicht und die weichen, schlaffen Wangen erinnerten Ohio an das Verspeisen von zu viel Gänseleberpastete mit süßen Weinen.

„Bitte. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen?“ Er zeigte mit der Hand auf einen freien Stuhl. „Sie wissen es sicher schon. Es geht um den tragischen Tod von Herrn Höpfner. Charlie“, sagte er, als müsse er die Nähe zum Toten mit dem Erwähnen seines Vor- beziehungsweise Spitznamens betonen, lächelte automatisch und hielt einen Augenblick inne, als würde er dem Klang des Namens nachlauschen. Und als sei das genug des Gedenkens an den Toten, machte er plötzlich eine für seine Körperfülle erstaunlich graziöse Kehrtwende und setzte sich wieder hinter den großen Schreibtisch.

„Tja“, fuhr er fort, setzte die Lesebrille auf und nahm ein Schriftstück in die Hand. „Tja. Unsere Kanzlei vertritt die Angelegenheiten der Familie Höpfner schon über Generationen. Deshalb liegt die traurige Pflicht der Testamentsverwaltung und -eröffnung auch bei mir.“ Er sah über den Rand der Brille jeden einzelnen der Anwesenden an. „Erst vor kurzem war Herr Höpfner – Charlie – bei mir und hat zu seinem Testament einen verschlossenen Brief legen lassen. Er soll, so sein Wille, sofort nach seinem Tod im Beisein der anwesenden Personen verlesen werden. Noch bevor das Testament eröffnet oder seine persönlichen Angelegenheiten geordnet sind.“

Mit einem Schlag klappte Wieri das Buch zu, in dem er geblättert hatte, warf es auf einen der Lesetische und kam näher. Alle waren zusammengezuckt. Wieri setzte sich mit nach vorne gebeugtem Oberkörper auf die Kante eines Sessels, die Ellbogen auf die Knie gelegt und die Spitzen seiner Finger leicht ineinander verflochten. Mit seinen wässrigen Augen fixierte er den Anwalt. Dr. Laudtner räusperte sich und strich seine Haare glatt.

„Ja, also ...“ Das Öffnen des Umschlags zerriss die angespannte Stille. Der Anwalt zog einen gefalteten Bogen Papier heraus, entfaltete ihn und huschte mit schnellen Augen darüber.

Während er mit unbewegter Stimme vorlas, rutschte die kleine zusammengesunkene Frau auf ihrem Stuhl nach vorne. Die Haushälterin ließ ein kleines Schniefen hören und Wieri schien den Anwalt mit seinen Blicken ertränken zu wollen. Dr. Ohio schweifte ab, hinaus durchs Fenster nach draußen, während er den Formalien lauschte, die der Anwalt vorlas.

„... im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte ... verfasse ich diesen Zusatz ...“

Draußen lösten sich Sonne und Wolken in schnellem Rhythmus ab und zeichneten wunderliche, vergängliche Muster auf das Geländer des Balkons und den schwarzen Wald weiter hinten. Sonne-Wolken-Mix heißt das im flotten Meteorologen-Slang, dachte Dr. Ohio. Dann konzentrierte er sich wieder auf Dr. Laudtner.

„Dieser Zusatz zu meinem Testament soll sicherstellen, dass meine Angelegenheiten nach meinem Ableben in meinem Sinne geregelt werden“, las der Anwalt. „Ich habe deshalb nachträglich zwei Personen zu Verwaltern meines Testaments bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt fühle ich mich wohler beim Gedanken zu wissen, dass diese zwei Personen für die Vollstreckung meines Nachlasses sorgen werden. Wie es jetzt ist, wenn Sie diese Zeilen lesen, weiß ich ja noch nicht ...“

Värie Wieri zuckte mit einer Augenbraue. Das Los der Ungläubigen ist es, ewig in Unwissen zu leben. Wieri hatte Höpfner so lange bei seinen Studien zum Calvinismus unterstützt. Und dann war er vom Glauben abgefallen ... Und Abtrünnige werden bestraft ... Er selbst war bekennender Anhänger und hatte keine Zweifel, was mit Carl Höpfner geschehen war und wo er sich befand.

„Ein Verwalter soll Dr. Laudtner sein“, las der Anwalt weiter. „Seine Kanzlei hat sich stets um die Angelegenheiten meiner Familie gekümmert. Er hat Einblick in die geschäftlichen Belange, alle wichtigen Papiere sind bei ihm deponiert und es gab nie einen Grund zur Beschwerde, was unsere geschäftlichen Beziehungen anging. – Danke“, fügte Dr. Laudtner hinzu und sah verklärt auf zu einem imaginären, im Äther schwebenden und auf sie herabblickenden Carl Höpfner. „Der zweite Verwalter soll Dr. Ohio sein, wenn er die Verpflichtung auf sich nimmt. Er soll sich hauptsächlich um den Nachlass in meiner Bibliothek kümmern, meine privaten Dinge ordnen, zu denen sich Informationen hauptsächlich in meinem Schreibtisch und in der Bibliothek befinden. Ich bitte deshalb darum, dass bis zur Klärung meiner Angelegenheiten außer Dr. Laudtner und Dr. Ohio niemand die Bibliothek betritt.“

Wieri hatte bis jetzt angespannt, aber ruhig auf seinem Stuhl gesessen und an seinen Fingernägeln gekaut. Den Blick hielt er weiterhin starr auf den Anwalt gerichtet. Doch als Dr. Laudtner die Verfügung zur Bibliothek verlas, schwammen seine Wasseraugen über und er war nicht mehr zu halten. Empört sprang er auf, bekam hektische, rote Flecken im Gesicht und brüllte los:

„Was? Das ist ..., das kann er doch nicht machen! Das ist ... ungesetzlich!“ Und er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

Ohio und der Anwalt zuckten erschrocken zusammen, die anderen Anwesenden rutschten nervös auf ihren Stühlen hin und her. Ohio hatte Wieri immer für unberechenbar gehalten – dennoch kam dieser Ausbruch für ihn völlig überraschend. Die Hausangestellten schienen an sein impulsives Wesen schon eher gewöhnt zu sein.

Nur mit Mühe gelang es Dr. Laudtner, den tobenden Calvinisten zur Ordnung zu rufen. Schließlich winkte Wieri ab und ging nervös an einer der Bücherwände auf und ab.

„... Ich weiß, dass Herrn Wieri das zuerst einmal sehr verärgern wird“, las Dr. Laudtner schnell weiter und sah ihn bedeutsam an. Wieri winkte wieder ab. „Meine Wahl soll keine Herabsetzung bedeuten. Aber ich bin sicher, dass Dr. Ohio meine Angelegenheiten am ehesten genau in meinem Sinn abwickeln wird. Natürlich nur in dem Fall, dass er die Aufgabe übernimmt.“

Der Anwalt legte den Brief auf den Tisch und sah Dr. Ohio an. Alle anderen sahen ihn ebenfalls an und Dr. Ohio wurde ein bisschen unwohl in seiner Haut. Was hatte er mit diesen Leuten zu schaffen? Er hatte das Gefühl, alle würden ihre Stühle näher rücken und selbst die Wände sich ihm zuneigen, um seine Antwort nicht zu verpassen. War er wirklich so gut mit Höpfner befreundet gewesen? Wodurch hatte er dieses Vertrauen verdient? Aber vielleicht war die Frage ja die Antwort darauf. Ohio kratzte sich am Ohr.

„Tja, das kommt ein bisschen plötzlich“, sagte er leise. „Ich weiß ja gar nicht, was da auf mich zukommt.“

„Sie müssen nicht“, sagte Dr. Laudtner mitfühlend. „Sie haben es ja gehört. Wenn Ihnen das Ganze zu viel wird ...“

Wieri kam mit schleichendem Gang zum Schreibtisch.

„Genau“, sagte er eifrig und nickte dem Anwalt bestätigend zu. „Sie müssen ja nicht.“ Er sah forschend in Ohios undurchdringliches Gesicht. Dann zog er sich schnell wie eine Schlange wieder an die Wand zurück. Es herrschte Schweigen.

„Also?“, sagte Dr. Laudtner schließlich.

Dr. Ohio warf einen wimpernschlagschnellen Blick hinüber zu Wieri.

„Ich mache es natürlich“, sagte er zu Dr. Laudtner. „Keine Frage. Ich hoffe, das Ganze wird sich nicht zu einem Vollzeitjob auswachsen.“

Einen Augenblick, nur ganz kurz, hatte er das Gefühl, als würden Dr. Laudtners blaue Augen trübe, dann lächelte der Anwalt milde, stand auf und gab Dr. Ohio die Hand.

„Na also. Keine Sorge. Das wird ein Kinderspiel. Wir zwei schaukeln das schon.“

„Das ist das Letzte“, zischte Wieri, eilte durch den Raum und warf die schwere Tür hinter sich zu.

„Keine Panik“, beruhigte Dr. Laudtner Ohio. „Der kriegt sich schon wieder ein. Er ist etwas impulsiv, unser guter Wieri. Aber im Grunde seines Herzens ... ein guter Christ.“

Dr. Ohio lächelte unbestimmt. Es war ihm noch nie so ganz klar gewesen, was denn die Attribute eines guten Christen waren und ob es wirklich Grund zur Beruhigung gab, wenn jemand so bezeichnet wurde.

„Ich schlage vor, dass ich mich um den ganzen Papier- und Behördenkram kümmere, während Sie sich zu gegebener Zeit, das heißt am besten nach der Testamentseröffnung, an Charlies persönliche Papiere machen. Sie bekommen von mir einen Schlüssel zur Bibliothek. Alle anderen werden eingesammelt.“ Er sah zur Haushälterin hinüber. Sie nickte und alle erhoben sich. Alle waren froh, die Bibliothek verlassen zu können, und drückten sich an Wieri vorbei, der vor der Tür wartete.

„Dr. Laudtner. Auf ein Wort“, sagte er.

„Herr Wieri, ich muss Sie bitten, Ihren Schlüssel für die Bibliothek abzugeben.“

Wieri sah den Anwalt perplex an.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein. Ich arbeite dort. Jeden Tag. Ich halte mich länger und öfter darin auf als Höpfner selbst. Sich aufgehalten hat. Das ist ...“ Er konnte sich gerade noch bremsen, aber es war klar, dass er seine Rechte auf die Bibliothek höher einschätzte als die Höpfners.

„Seien Sie vernünftig“, bat Dr. Laudtner. Er nahm den widerstrebenden Wieri am Arm und zog ihn zusammen mit der Haushälterin in eine Ecke des Gangs. Dort redeten die beiden einige Minuten auf ihn ein. Die Haushälterin warf Dr. Ohio ab und zu einen schüchternen Blick zu, der ihm Mut machen sollte. Als sie zurückkamen, händigte Värie Wieri ihm seinen Schlüssel aus. Dr. Ohio war froh, dass die übrigen Hausangestellten gewartet und ihn nicht allein auf dem Gang hatten stehen lassen.

Er fragte sich, warum er angenommen hatte. Es war, so dachte er, wohl dieser schlangengleiche Blick Wieris gewesen, vereint mit dem sanften Angebot des Anwalts, er müsse den Posten ja nicht übernehmen. Aber warum hatte er die Kontrolle über sich verloren?

Dr. Ohio hatte gerade Zeit gehabt, die Schuhe auszuziehen und auf die Toilette zu gehen, als es an seiner Wohnungstür klingelte.

Schnell wusch er sich die Hände und rief: „Ich komme.“ Wo ist meine Ruhe hin, dachte er und öffnete die Tür.

„Oh, hallo“, sagte er. Vor der Tür stand Dr. Manstorff.

„Ich war schon einmal da“, sagte sie statt einer Begrüßung.

„Es tut mir leid, dass ich nicht immer auf meinem Zimmer sitze und auf deine zwei Besuche pro Schaltjahr warte“, sagte Dr. Ohio höflich.

„Hm“, machte Dr. Manstorff und trat ein. Sie betrachtete ihn aufmerksam.

„Du siehst gut aus.“

„Danke. Ich komme gerade von Höpfner und hab noch meinen Anzug an. Ich zieh mir schnell was anderes an.“ Dr. Ohio lächelte verlegen.

„Nein, nein. Du gefällst mir so. Lass den Anzug ruhig an.“

Er zuckte mit den Schultern und ging den schmalen Gang entlang hinter ihr her ins Wohnzimmer.

Auch Brigitte hatte sich zurechtgemacht, Ohio hatte es sofort bemerkt. Sie trug eine eng geschnittene, grüne Bluse und duftete dezent nach einem Parfum oder einer Feuchtigkeitscreme.

„Du riechst gut“, sagte er. Sie lachte und drehte sich schwungvoll um.

„Kenzo. Ein Landsmann von dir. Irgendwas aus Bambus.“

„Mhm.“ Ich bin ihr nicht ganz egal, dachte er und spürte einen kleinen Stich in der Magengegend. Oder jetzt nicht mehr. Seit die Zeit aus ihrer Ehe Alltag und Arbeit gemacht hat. Das ernüchterte ihn. Er ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern und einer Flasche Weißwein zurück.

Ohio hatte immer eine Flasche Weißwein im Kühlschrank. Falls sie zu Besuch kommen sollte. So wie heute. Es war selten, dass sie kam, und dann wollte er vorbereitet sein. Das erinnerte ihn an früher. Damals hatten sie auch immer Weißwein getrunken. Leichten, duftigen Moselwein ...

„Wein?“, fragte er, und sie nickte. Während er die Flasche entkorkte, sagte er: „Hast du heute frei bekommen?“

Sie lächelte müde. Die Haut spannte etwas an ihren Schläfen.

„Heinz ist auf eine Tagung gefahren.“

„Ach ja.“ Dr. Ohio erinnerte sich, dass Dr. Manstorff so etwas gesagt hatte. „Mit oder ohne Sekretärin?“

Brigitte sah ihn scharf an.

„Willst du, dass ich wieder gehe?“

„Nein. Entschuldigung.“

Sie sagte nichts und er stand vor ihr, die Flasche in der Hand.

„Es tut mir leid, ehrlich“, sagte er schließlich. „Bleib bitte.“

Brigitte setzte sich auf die Couch und nahm ihr Glas.

„Okay. Apropos Sekretärin. Ich habe von Erika gehört, dass du bei Höpfner warst.“

„Ach, ist das der Grund deines Besuchs? Reine Neugier?“

„Natürlich. Zum Wohl.“ Sie nippte an ihrem Glas. „Schmeckt gut.“

„Danke. Tja, du wirst es kaum glauben, aber ich bin zusammen mit seinem Anwalt zu seinem Nachlassverwalter bestimmt.“

Brigitte hob beeindruckt die Augenbrauen.

„Ich wusste gar nicht, dass ihr so gut befreundet wart.“

„Ich auch nicht. Aber irgendetwas hat mich dazu gebracht, anzunehmen.“

„Das finde ich ... gut. Das ist wunderbar“, sagte sie ehrlich erfreut.

„Warum?“, fragte er verwundert.

„Vielleicht kommst du ein bisschen mehr raus ... wie soll ich sagen? Du bist zu viel allein. Immer nur die Arbeit ... Ohio, das tut auf Dauer nicht gut. Heinz hat auch schon gesagt ...“

„Heinz“, unterbrach Ohio sie verächtlich. „Heinz weiß nichts von mir.“

„Wer weiß schon was von dir? Nicht mal Erika, und die bemüht sich ja wirklich redlich“, sagte Brigitte spöttisch.

„Was soll das denn nun wieder heißen? Erika ist meine Gehülfin. Sonst gar nichts.“

„Eben.“ Brigitte lächelte bestätigend und nahm einen Schluck.

Dr. Ohio erzählte ihr von dem Treffen in der Bibliothek und von der Szene, die Värie Wieri wegen des Schlüssels gemacht hatte.

„Am Ende war er dann aber lammfromm. Ich weiß nicht, was Laudtner und die Haushälterin zu ihm gesagt haben, aber er hat den Schlüssel rausgerückt.“ Dr. Ohio lachte und zeigte Dr. Manstorff den Schlüssel zu Höpfners Bibliothek.

„Da müssen ja wahre Schätze begraben sein“, sagte sie nachdenklich und fuhr mit dem Fingernagel an der Kante des Schlüsselbarts entlang.

„In der Tat. Da gibt es wirklich Schätze. Die Bibliothek hat schon sein Urgroßvater angelegt – und immerhin ist es eine Familie von Buchhändlern. Auch wenn sich Höpfner nicht so sehr fürs Geschäft interessiert hat. Er hat sich immer mehr für einen Privatgelehrten gehalten. Wieri hat zusammen mit ihm über Calvin und seine Auswirkungen gearbeitet. Bis Höpfner das Interesse verloren hat. Wahrscheinlich ist Wieri deshalb so frustriert. Und Höpfners neues Steckenpferd waren dann die Haikus. Das muss für so einen guten Christen wahrscheinlich entsetzlich sein.“

„Warum? Haikus sind doch nichts Religiöses.“

„Eben. Diese Abwendung vom Sakralen zum Profanen. Ein schwerer Schlag für den Mann.“

„Ach, Ohio.“ Brigitte winkte ab. „Du machst dir zu viele Sorgen um andere Leute. Der verkraftet das schon.“

„Das glaube ich auch. Im Übrigen ist es mein Job, mir Gedanken über andere Leute zu machen. Und deiner auch.“

Brigitte nickte und lachte.

„Tja, die Ideale. Wo sind sie hin? Jetzt leite ich mit Heinz eine Besserungsanstalt für alkoholkranke Manager mit Burn-out-Syndrom.“ Dr. Ohio vermeinte, einen bitteren Ton in ihrer Stimme zu hören.

„Ich bin euer Angestellter. Wieso sollte ich mehr Ideale haben als ihr?“

„Angestellte können sich so was leisten. Vor allem, wenn sie aus Japan kommen und der Liebe wegen hierbleiben.“ Sie sah ihn aus ihren graugrünen Augen forschend an, aber es war auch eine Wärme in ihrem Blick, die Dr. Ohio hauptsächlich dem Alkohol zuschob. Trotzdem wärmte er.

„Ach“, sagte er. „Das ist lange her.“

Draußen war es längst dunkel geworden. Ohio hatte die Stehlampe an der Couch angeknipst und im Vorbeigehen einen Hauch von Brigittes Parfum aufgewirbelt. Es war eine klare, aber kühle Nacht. So als sei es gerade eben erst Frühling geworden, dabei war es schon fast Sommer.

„Du bist aber nicht gegangen, obwohl du schon oft die Chance dazu gehabt hättest. Du hättest dich ohne weiteres selbstständig machen können mit deinem Ruf. Hast du schon einmal erlebt, dass jemand wegen mir aus dem Ausland angereist ist? Ich nicht.“

Brigitte spielte auf den rotköpfigen britischen Manager an, der unbedingt einen Termin bei Ohio haben wollte. Er zuckte mit den Schultern.

„So wie die Sache ausgegangen ist, hätte ich schon nach dem ersten Semester wieder gehen sollen. Aber konnte ich das ahnen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Siehst du? Dabei habe ich mich schon bei der Erstsemester-Party unmöglich gemacht. Danach ging überall das Gerücht um‚ ich wäre außer Rand und Band gewesen. ‚Ohio hat sogar die Tischdeko geraucht’, haben sie erzählt. Und Japaner, mit denen man mich verwechseln könnte, waren vor 25 Jahren auf dem Campus eine seltene Rarität. Jeder wusste, wer ich bin.“

Dr. Manstorff lachte laut.

„Und? Hat’s gestimmt?“

Dr. Ohio erinnerte sich an den rauchgeschwängerten Saal und das grelle Licht. Eine Menge Leute waren schon aufgebrochen, aber immer noch standen viele in den Gängen und im Saal des Unigebäudes der medizinischen Fakultät. Er saß mit ein paar anderen Jungs am Tisch und nahm alles nur noch in Bildern einer verwaschenen Videoaufnahme wahr. Auslaufende Farben, stillstehende Bewegungsstriche, die Dinge lebten. Kurze Momente unglaublicher Aufmerksamkeit folgten langen Momenten, in denen er sich kaum konzentrieren konnte. Sie bestellten noch eine Runde ...

Ohio lächelte und legte sanft seinen Zeigefinger auf den Mund.

„Das ist Geschichte. Das weiß heute keiner mehr.“

Sie sah ihn spitzbübisch grinsend an.

„Doch. Einer weiß es bestimmt noch. Ich kann Heinz fragen. War er dabei? Bestimmt war er dabei.“

Sie war ein bisschen aufgedreht vom Wein und den Erinnerungen und Dr. Ohio erkannte in ihr immer noch das Mädchen, das sie früher gewesen war. Aber Heinz’ Name ernüchterte ihn schlagartig.

„Ja, dein Dr. Manstorff war dabei, Frau Dr. Manstorff“, sagte er kalt. „Er war ja immer dabei. Leider. Aber er wird es nicht erzählen. Das hoffe ich wenigstens, wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hat.“

„Entschuldige“, sagte Brigitte leise. „Aber mach jetzt bitte kein Drama daraus, okay?“

Sie waren immer zu dritt unterwegs gewesen, seit Ohio Brigitte ein Jahr später an der Uni kennengelernt hatte. Alles hatten sie zusammen unternommen, das ganze Programm: Stocherkahnfahrten, Picknick im Schönbuch, die Kneipen in der Altstadt. Sie spazierten hinaus in die Wiesen hinter der Stadt, tranken Most in einer der Gartenwirtschaften. Auf dem Rückweg machten sie halt im „Club Zoo“. Oder sie gingen auf ein Bier in den „Blauen Salon“ und zu Konzerten in den „Club Voltaire“. Für Ohio war das alles neu und spannend, er war aufgekratzt und glücklich. Er kannte so ein Leben nicht, aber er hatte das Gefühl, genau so müsste es sein. Nur eines störte ihn: Es gab sehr selten Gelegenheit für ihn, mit Brigitte allein zu sein. Lange hatte Heinz wie ein fünftes Rad am Wagen an ihnen geklebt. Ohio wusste nicht mehr, wann ihm klar geworden war, dass in Wirklichkeit wohl er das überflüssige Rad gewesen war. Aber es musste lange nach Brigittes Hochzeit mit Heinz Manstorff gewesen sein.

Das war eine bittere Erkenntnis und trotzdem hatte er nach Jahren angefangen, für sie zu arbeiten, als beide noch Ideale hatten. Sei es aus Enthusiasmus oder aus einem Selbstzerstörungstrieb heraus, Dr. Ohio wusste es nicht und er hatte stets vermieden, einen staubigen Vorhang zurückzuziehen, zu tief in seine dunkle Seite einzudringen.

Als sie ging, gab sie ihm noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und er ließ es geschehen. Wie jedes Mal. Dieser Abschiedskuss gab ihm immer eine Ahnung davon, wie es auch hätte sein können. Und er war sich sicher, dass sie keineswegs mehr ganz überzeugt war, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Und er? Er hing schon viel zu lange an ihrem Leben.

Die Flasche war leer und der gedämpfte gelbe Schein der Stehlampe drang gerade bis zum dunklen Fenster. Weit weg blitzten ab und zu die Signallichter eines Flugzeugs. Ihr Duft hing noch im Zimmer. Dr. Ohio schenkte sich einen großen Whisky ein. War es das, wofür er lebte?

Die Blätter fallen

wie der Schlag des Schmetterlings

taumeln sie im Wind

Ohio stellte sich vor die Scheibe des Panoramafensters und betrachtete die sich spiegelnden Konturen seines unbewegten Gesichts, seine dunklen Augenhöhlen. Wieri schwebte in großer Entfernung durch seine Gedanken. Warum war er so wütend geworden? Was konnte diese Verzögerung schon für ihn bedeuten? Ohio fuhr sich durch die Haare und räumte seufzend die Gläser weg. Endlich ins Bett.

Dr. Ohio und der zweite Erbe

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