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1. Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften

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Kulturwandel 1900

Die Entstehung der Kulturwissenschaft ist ganz wesentlich bedingt durch den Kulturwandel um 1900 und die Reaktionen, die er hervorrief. Sozialpolitische Fragen wurden von einem kulturkritischen Diskurs überlagert, dem bald die Fähigkeit zur Diagnose sämtlicher Gebrechen der modernen Lebensbedingungen zugeschrieben wurde. Das ging mit einer inflationären Verwendung des Wortes Kultur einher, einem pathetischen Leitwort der Jahrhundertwende, dem sich endlos neue Komposita abgewinnen ließen, und der häufig negativen Verwendung des Wortes, in der sich das Unbehagen an Defiziten der Moderne genauso äußerte wie der Wunsch nach neuer Integration von Teilkulturen oder Weltanschauungen (Perpeet 1976). Man suchte nach tragfähigen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen. In Reaktion darauf spitzten sich die Debatten in den Wissenschaften zu und kulminierten in der Erfindung einer neuen Orientierungsmacht (vom Bruch 1989), der sich keine seriöse Disziplin mehr entziehen konnte.

Krise der Wissenschaften

Auch die Wissenschaften fanden sich in einer Krise wieder. Erkannt wurde jetzt der Normverlust gerade der Disziplin, die im 19. Jahrhundert nach dem Wegfall metaphysischer Letztbegründungen zur Leitdisziplin aufgestiegen war: die Philosophie. Sie war dazu verpflichtet, dass sie nach Prinzipien fragte, nach der Einheit des Wissens, aber dieses Selbstverständnis kam ihr abhanden. Anstatt nach universalen Wahrheiten zu forschen, war nun das Beschreiben von Wirkungen wichtiger, zumal die Zahl der Fachgebiete, die sich mit der vom Menschen selbstgestalteten Lebenswelt befassten, sprunghaft anstieg. Das ist einer der Ansatzpunkte für die Kulturphilosophie. Vielleicht noch wichtiger: die Fortschrittsidee verlor ihre Akzeptanz und damit zusammenhängend der Glaube an die Legitimation von Kultur durch Geschichte. Aus der Geschichte kann man keine Sinngebungen beziehen – das hatte der Weltkrieg eindrücklich demonstriert.

Kontinuitätsbruch

Am Beginn der Kulturphilosophie steht also ein Kontinuitätsbruch (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann 1998, 341). Er bezieht sich zuerst auf die materiale Seite der Wissenschaften. Kultur ist nicht mehr der schlechthin gegebene Gegenstand, den man nur zu erschließen brauchte, sondern allenfalls ein Geschehenszusammenhang, dem nicht einmal eine bestimmte Intention zugeschrieben werden konnte. Kultur ist nicht einfach mehr die Antwort, vor der alle Fragen verstummen, sondern das Problem selber. Kultur ist nun ein zentraler Gegenstand der Wissenschaft, weil sie ihrer eigenen Stellung im Gefüge der Welt unsicher geworden ist. Selbst wenn alle führenden Kulturwissenschaftler weiterhin den Anspruch erhoben, der Gesellschaft konsensfähige Werte und Normen vermitteln oder wenigstens Orientierungswissen anbieten zu können, bereitete die inhaltliche Bestimmung des Kulturbegriffs mehr und mehr Schwierigkeiten (vom Bruch 1989,16). Schon deshalb kann von einer langen Tradition der Kulturwissenschaften keine Rede sein. Ihre Voraussetzung war der Kontinuitätsbruch.

Reflexivität und Kritik

Hinzu kommt ein zweites. Die damals diagnostizierten Geltungsverluste waren tiefgreifend, weil sie eine Überprüfung der theoretischen Prämissen des wissenschaftlichen Denkens forderten. Am Beispiel des geschichtlichen Denkens ist das evident. Einerseits hat man zuviel Tradition, aus der positivistischen Faktenhäufung angestautes Wissen, aus dem aber keine Legitimation mehr folgt, andererseits verhindert der Traditionsmangel, die Erkenntnis von der Unbrauchbarkeit traditionellen Wissens ein Anknüpfen an unhinterfragbaren Wahrheiten. Dieses Dilemma wirft die Wissenschaften auf sich selbst zurück. Ein Grundzug der Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften ist daher ihre Verbindung von Reflexivität und Kritik. Ihr Ziel ist nicht mehr einfach das Vermehren des Wissens über Kultur oder Kulturen, wie das noch im 19. Jahrhundert unbestrittene Aufgabe war, sondern die Beobachtung dieses Wissens von außen. In zunehmendem Maße gehört dann dazu die Rekonstruktion der kulturellen Systeme, in denen das Wissen eine Rolle spielte (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann, 1998, 349). Diese synthetisierende Funktion der Kulturwissenschaft kann man nicht genug betonen, ging es doch darum, den ständig wachsenden Datenmengen und Wissensbestände, aufgehäuft durch den Positivismus, mit einer Kategorisierung zu begegnen. Von Beginn an ist dieser Theorieanspruch unauflösbar mit dem Begriff der Kulturwissenschaft verbunden und hierin unterscheidet sie sich von der in der Tat älteren Kulturgeschichte, der Völkerkunde und anderen, thematisch differenzierten Fächern. Die Ebene der Beschreibung verliert an Gewicht, wenn der Gegenstand nur noch indirekt gegeben ist oder erst neu konstituiert werden muss. Und das bedeutete: die Reflexion des Zusammenhangs von Kulturkritik, Kulturtheorie und selbstbeobachteter Forschungspraxis war zum Dauerproblem geworden.

Neukantianismus

Die Kulturwissenschaft als neues Regulativ geht terminologisch aus dem Neukantianismus (1865–1918) hervor, einer philosophischen Schule, die auf die lebensphilosophische und kulturphilosophische Herausforderung reagierte und ihre richtig aufgeworfene Problemstellung mit strengen wissenschaftstheoretischen Maßstäben und rationalen Begrifflichkeiten aufnahm. Insbesondere der vom entfesselten historischen Forschen vorangetriebene Wertrelativismus provozierte die Abkehr vom bloßen Sammeln und Ordnen der Fakten sowie die Überwindung der Empirie in einem wissenschaftstheoretischen Programm, bei dem die erkenntnistheoretische Prüfung der verwendeten Begriffe in einer Selbstbesinnung der Philosophie mündete. Man suchte die Grundlagen des Philosophierens zu überdenken und stieß dabei auf die axiomatische Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

Ihre Erkenntniskonzepte gehen von zwei grundsätzlich verschiedenen Denkformen aus: während der Naturforscher das Allgemeine in Form von Gesetzesaussagen in seinen Gegenständen aufspürt, nomothetisch vorgeht, verfährt der Kulturwissenschaftler ideographisch, also in einer Denkform, die das Einmalige, Originäre und Unwiederholbare erschließt. Mit dieser Unterscheidung hat der Philosoph Wilhelm Windelband (1848–1915) in seiner Straßburger Rektoratsrede über Geschichte und Naturwissenschaft (1894) den Anstoß gegeben für die Differenzierung der Denkformen und die Profilierung einer Logik der Geschichtswissenschaften. Sie sind eben auf ihre sprachliche Vermittlung angewiesen und können nicht zu nomothetischen Aussagen vordringen, vielmehr sind sie auf Fragen der Geltung hin orientiert und beschäftigen sich mit dem Nachweis von universell gültigen Normen. Wenn man nun die Funktion der Geisteswissenschaften in der Moderne gegen die Übermacht der Naturwissenschaften retten wollte, mussten sie durch eine Methodenlehre untermauert, also begrifflich gefestigt und unterschieden werden.

Rickert und sein Begriff der Kulturwissenschaft

Dieser Aufgabe widmet Heinrich Rickert (1863–1936) seine Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, in der 6. und 7. Auflage 1926). Als Schüler Windelbands erweitert er die genannte Unterscheidung um ein rationales System, mit dem der Bereich der Kultur unter Berücksichtigung der methodologischen Anforderungen als Forschungsfeld beschrieben werden konnte. Eine Konkurrenz zu den existierenden Einzelwissenschaften war nicht zu befürchten, weil konkrete Arbeitstechniken nicht zum Konzept des Entwurfs gehörten. Rein formal versucht Rickert eine Definition von Kultur, die mit dem neukantianischen Wertbegriff arbeitet und darunter „die Gesamtheit der realen Objekte“ sieht, „an denen allgemein anerkannte Werte oder durch sie konstituierte Sinngebilde haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden.“ (46). Hier erscheinen also nur bestimmte Objekte als Tatsachen der Beschreibung. Das hat mit der Differenz der Denkformen zu tun, denn die Methoden erfassen unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche. Rickert möchte die von Windelband eingeführte Differenz auch nicht statisch verstehen, sondern es geht ihm darum, analog zu dem Begriff „Natur“ (124), der die eine Form von Wissenschaft bezeichnet, einen Terminus zu finden, der dem Betätigungsfeld der Geisteswissenschaften und ihrem speziellen Verfahren angemessen ist. Die Interessen und Aufgaben der nicht naturwissenschaftlichen Disziplinen soll er bündig zusammenfassen:

Vorläufig jedoch denkt man bei dem Worte „Geist“ in der Regel noch vor allem an seelisches Sein, und solange man das tut, kann der Terminus Geisteswissenschaft nur zu methodologischen Unklarheiten und Verwirrungen führen. Denn nicht darauf kommt es an, dass die einen Wissenschaften Körper, die andern Seelen erforschen. Die Methodenlehre hat vielmehr darauf zu achten, dass die einen Disziplinen es mit der wert- und sinnfreien Natur zu tun haben, die sie unter allgemeine Begriffe bringen, die andern dagegen die sinnvolle und wertbezogene Kultur darstellen und sich deshalb mit dem generalisierenden Verfahren der Naturwissenschaften nicht begnügen. Sie brauchen eine individualisierende Betrachtung, (…) Dieser Umstand wird durch die Bezeichnung: historische Kulturwissenschaften viel besser zum Ausdruck gebracht als durch das vieldeutige und daher nichtssagende Wort Geisteswissenschaften. (12)

Geisteswissenschaftliche Erkenntnis

Die neue Bezeichnung ist also ein Sammelbegriff für das spezifische Verfahren, mit dem die ideographische Denkform ihren Gegenstand methodisch bearbeitet. Sie ist somit neben dem naturwissenschaftlichen der zweite Erkenntnismodus, der seine Wirklichkeit ganz anders konstituiert, sie erschafft. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften gibt es noch ein leitendes Prinzip, das für Rickert die Differenz ausmacht:

Als Kulturwissenschaften handeln sie von den auf die allgemeinen Kulturwerte bezogenen und daher als sinnvoll verständlichen Objekten, und als historische Wissenschaften stellen sie deren einmalige Entwicklung in ihrer Besonderheit und Individualität dar, wobei der Umstand, dass es Kulturvorgänge sind, ihrer historischen Methode zugleich das Prinzip der Begriffsbildung liefert, denn wesentlich ist für sie nur das, was als Sinnträger in seiner individuellen Eigenart für den leitenden Kulturwert Bedeutung hat. (125)

A priori gültige Kulturwerte

Der Historiker stellt in seiner Arbeit Synthesen her und lässt sich von normativen Vorstellungen leiten. Aber diese Werte sind nicht historisch, sondern übergeordnet und unveränderlich. Der Kulturwissenschaftler weist ein System von apriorisch gültigen Kulturwerten nach und kann den Prozess der menschlichen Wertsetzungen sichtbar machen. Und gerade in seinem Versuch, den Zusammenhang von Gegenstandskonstitution und Begriffsbildung wie einen logischen Vorgang der Tatsachenfeststellung aussehen zu lassen, scheitert Rickert. Denn sein einheitliches System der Kulturwerte ist eine Fiktion, die der geschichtlichen Wandelbarkeit von Normen widerspricht und die historische Natur des Menschen verleugnet.

Georg Simmel als Philosoph und Schriftsteller

Hatte Rickert den Weg einer Formalisierung beschritten, um der wissenschaftlichen Krise Herr zu werden, so entstand das bedeutende Werk des Philosophen Georg Simmel (1858–1918) in der produktiven Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus und in konsequenter Fortführung der kulturphilosophischen Ansätze. Simmel studierte in Berlin bei den namhaften Ethnologen und Völkerpsychologen Moritz Lazarus (1824–1903) und Heymann Steinthal (1823–1899), aber auch bei anderen Philosophen und wurde 1885 mit einer Studie über Kant habilitiert. Er hielt dann Vorlesungen als Privatdozent und Extraordinarius, publizierte aber auch Vorträge und Bücher zu ganz neuen Themen, wie das Buch Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), nachdem schon 1900 eine Philosophie des Geldes erschienen war. Spät erst konnte der Außenseiter einen Lehrstuhl in Straßburg übernehmen, den er von 1914 bis zu seinem Tod innehatte. Zusammen mit Ferdinand Tönnies, Werner Sombart und Max Weber gründete er 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und wäre doch als Soziologe nicht zutreffend charakterisiert. Denn in seinem Werk spiegeln sich die Haupttendenzen der wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit und man kann nicht von einer stringenten Evolution hin zur Begründung einer neuen Disziplin sprechen; vielmehr stehen streng methodisch-akademische Schriften gleichberechtigt neben literarisch-journalistischen Arbeiten und Essays, die vollkommen neue Felder mit ästhetischen Mitteln erschließen und die aus heutiger Sicht als kultursoziologische Texte gelesen werden können. Simmel war jederzeit verschiedensten Einflüssen des Denkens gegenüber offen, er wollte die Spannung zwischen logisch-philosophischem und freiem Denken erhalten, ohne zu einem geschlossenen System vorzustoßen (Lichtblau 1997). Seine Texte beschäftigen sich nicht nur mit Grundfragen der Moderne, sondern sie verkörpern in ihren Schreibweisen einen modernen Denkstil, den sie damit auch programmatisch mit dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Stil konfrontieren. Simmel wollte die damals neue Soziologie gar nicht als eigenständige Disziplin etablieren, sondern sie im institutionellen Rahmen der Geisteswissenschaften belassen und lediglich als ausgewiesene Methode der Geschichtswissenschaft betreiben (Jung 1999, 79). An der allmählichen Ausdifferenzierung soziologischer Probleme kann man heute sehen, wie derartige Prozesse von Vorbereitungsphasen zehren und noch undifferenzierte Erprobungen neuer Denkstile vorausgehen müssen, bevor sich dann disziplinäre Strukturen formieren.

Vergesellschaftung von Individuen

Im Anschluss an Rickert betont Simmel den Eigensinn der kulturellen Wertsphären. Anders als Rickert interessieren ihn aber konkrete Prozesse der Vergesellschaftung von Individuen. Sie sind gekennzeichnet durch einen grundsätzlichen Dualismus zwischen Wirklichkeit und Welt. Die Gesellschaftlichkeit der Einzelnen – da nimmt Simmel die moderne Rollensoziologie vorweg – ist bestimmt durch Wechselwirkungen, sinnfällig im Geld, in dem die elementare Form der Vergesellschaftung objektiviert wird. Simmel beschäftigt sich immer wieder mit solchen Veräußerungsformen, in denen die Doppelstellung des Individuums, das durch seine Gesellschaftlichkeit definiert ist, aber dennoch nicht darin aufgeht, zum Ausdruck kommt. Die modernen Zwänge, denen der Einzelne nicht entkommt, führen nach der beeindruckenden Beobachtungskunst Simmels zu besonderen Stilen der Lebensführung, die er bis in kleinste Äußerungen des Alltags hinein verfolgt.

Lebensstile

Daraus entstehen Essays über die Mode, das Großstadtleben, das Abenteuer, die Koketterie, die Geselligkeit, die Mahlzeit usw. Diese Stile sind Ausdruck von der Suche nach Ersatzwelten, in denen das Individuum Entlastung von der beständigen Unruhe findet, sie sind Ausdrucksformen eines Bedürfnisses nach Ästhetisierung, dem Simmel methodisch nachforscht. Er erklärt, dass die spezifisch moderne Zerrissenheit des Menschen sich nur in solchen Symbolen veranschaulichen lasse und mit seinem Stilbegriff überträgt Simmel solche ästhetischen Kategorien auch auf seine kulturwissenschaftlichen Analysen (Lichtblau 1997, 60). Die darin enthaltene Hochschätzung ästhetischer Werte wirkt sich auf die Kulturtheorie aus.

Entfremdung

In seinem zentralen Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911, zit. nach Simmel, 1983) geht er dem Zusammenhang von Entfremdungsprozessen und dem Begriff der Kultur in der Moderne nach. Am Beispiel des Geldes zeigt sich, wie Objekte nach und nach zur zweiten Natur des Menschen geworden sind und ein Eigenleben entfalten. Simmel erklärt: in einer Fabrik entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Personen und im arbeitsteiligen Verfahren ein „Kulturobjekt“, das als Ganzes keinen Produzenten hat. Es ist nicht aus der „Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen.“ (1983, 199). Dieser Vorgang der industriellen Produktion ist sein Musterbeispiel für „objektive Kultur“. Die Sachwerte oder auch die Sozialgebilde stehen so jenseits des Subjekts und stellen Ansprüche an das Subjekt, ohne dass dieses noch wüsste, wie damit umzugehen sei. Im Gegensatz zum „Kunstwerk“, das eben deshalb „einen unermesslichen Kulturwert“ darstellt, „weil es aller Arbeitsteilung unzugängig“, im Geschaffenen „den Schöpfer aufs innigste bewahrt“ (206), treibt die objektive Kultur mit einer immanenten Logik die Entfremdung voran und verhindert, dass die Dinge wieder in die Entwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren. Dieses Paradoxon der Kultur, die sich zwanghaft verselbständigt, entspringe einem tragischen Grund:

Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. (…) dass die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat. (203)

Paradox der Kultur

Zwar werden die Kulturinhalte nur geschaffen, um dem Subjekt wieder bei der Selbstausbildung zu helfen, aber weil sie veräußert werden müssen, gehen sie auch eigene Wege und entziehen sich, können sogar sinnlos werden für das Subjekt. Und das macht die schicksalhafte Modernität der Kulturform nach Simmel aus: dass die „Brücken“ (186) zwischen der objektiven und der subjektiven Kultur abgerissen sind und die kulturellen Menschenwerke nicht mehr zur personalen Entwicklung, zur Menschwerdung im höchsten Sinne beitragen.

Ästhetisierung des Kulturbegriffs

Simmels Kulturbegriff ist in mehrfacher Hinsicht grundlegend für die Kulturwissenschaften. In konsequenter Fortführung der Kulturphilosophie entwickelt Simmel ein Instrumentarium für die Beobachtung pathologischer Erscheinungen der Moderne. Insofern handelt es sich um Kulturkritik. Der Begriff Kultur spaltet sich, er ist nun Basis und Gegenstand der Kritik in einem (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann 1998, 342). Simmel hat also einerseits die Ästhetisierung des Kulturbegriffs eingeleitet, andererseits durch die immanente Aufspaltung ihm zugleich seine Problematisierung mitgegeben. Aber indem er anerkennt, dass ästhetische Kategorien unabdingbar für die Kulturanalyse sind, kann Simmel nicht nur die Mikrologien des Alltags jenseits der großen Theorien schreiben, sondern auch zeigen, wie ästhetische Erfahrungen in die Lebensordnungen konstitutiv einwirken. Er analysiert Stilisierungen von Lebensformen, wie in seinem Essay über Die Geselligkeit (1910/1911), in denen die Tragödie der modernen Kultur durch „Spielformen der Vergesellschaftung“ abgemildert wird. Methodisch sind solche Gegenstände für Simmel zwar nur Teilbereiche einer umfassenderen Kulturwissenschaft, zu der die Soziologie Einzelergebnisse beisteuert, jedoch will er sein Vorgehen als Syntheseleistung verstanden wissen. Die Terminologien sind sekundär, soll heißen, sie erschaffen die Tatsachen auf der Grundlage einer Reflexion der von anderen Disziplinen bereitgestellten Materialien und der ständigen Beobachtung dieser Situation des Beschreibens. Simmels Kulturwissenschaft ist genau deshalb von aktueller Bedeutung, weil sie sich einer einsträngigen ideologischen Bewertung enthält und in der strikten Beobachtung divergente Forschungen zusammenführt.

Debatte über die Protestantismusthese

Eine der herausragenden Debatten, an der sich exemplarisch vorführen lässt, wie verschiedene Disziplinen im Dialog einen neuen Gegenstand und damit auch die Kulturwissenschaften erschaffen, ist die Auseinandersetzung mit der Protestantismusthese. Schon seit längerem wies man auf Zusammenhänge zwischen religiösen und ökonomischen Entwicklungen hin, die in einer Erklärung der Entstehungsgeschichte und Bedeutung des modernen Kapitalismus aufgehen sollten. Aber erst in den Studien Die protestantische Ethik und der ‘Geist’ des Kapitalismus (1904/05 und 1920) von Max Weber (1864–1920) lag eine ebenso überzeugend gebündelte wie provokative Formulierung der These vor, die als erstes Beispiel für die Funktion und Wirkung der kulturwissenschaftlichen Perspektive gelten darf.

Max Weber

Weber zeigt, dass der Typus des modernen Berufsmenschen und die moderne kapitalistische Welt ein Produkt des Puritanismus, letzten Endes also religiös bedingt sind. Die protestantische Ethik enthielt Vorgaben, die zusammen mit der Lehre Calvins zu einem neuen Verhaltensmaßstab für die Lebenspraxis seit dem 16. Jahrhundert ausgebildet wurden. Insbesondere die Annahme von der Prädestination, der Gnadenwahl des Menschen begünstigte eine streng reglementierte, ausschließlich dem Erwerb hingegebene Lebensweise. Es wurde einerseits zur Pflicht gemacht, sich für auserwählt zu halten, andererseits als hervorragendstes Mittel zur Erlangung dieser Selbstgewissheit die rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Weltlicher Erfolg sollte die göttliche Auserwähltheit garantieren, der dadurch angehäufte Reichtum sollte aber nicht der Verschwendung und dem zügellosen Konsum dienen, sondern, dem asketischen Prinzip der Bedürfnisaufschiebung folgend, zur bloßen Akkumulation von Kapital führen. Um das zu erreichen, benötigte der Einzelne eine methodisch durchdachte, rationale Lebensführung. Solche Pläne sind in den Quellenschriften überliefert, die Weber in seinen Analysen vor allem heranzog, nämlich in Tagebüchern und Autobiographien. Sie enthalten tabellarisch-statistische Aufzeichnungen über die Einhaltung von Tugenden und erlauben einen fundierten Einblick in die konsequente Durchrationalisierung des Alltags mit der vorgeschriebenen täglichen Rechenschaftspflicht vor Gott und sich selbst. Sie sind einzigartige Zeugnisse für die Selbstbeherrschung und die Prozesse der Selbstkontrolle, die man sich abverlangte und belegen minutiös die Verwandlung des Alltags in eine Art Geschäftsbetrieb zu Ehren Gottes.

Puritanismus und Kapitalismus

Weber untersucht ein historisches Paradox: die aufgeführten ethischen Grundlagen sind alle religiös bedingt, sie haben aber zu einer Gesinnung beigetragen und eine Lebenspraxis mitbegründet, die auf Dauer das genaue Gegenteil bewirkte. Eine ursprünglich stark gegen materielles Handeln ausgerichtete Religion spielte durch die Umgestaltung der Askese zu einer rein innerweltlichen bei der Durchsetzung des modernen Kapitalismus eine entscheidende Rolle und trug somit auch zum modernen Verlust der Religion bei. Aber weder waren sich die Zeitgenossen über diesen Prozess im klaren, noch hatten sie ihn beabsichtigt und das historische Ergebnis wurde auch nicht geradlinig erreicht. Vielmehr kann die Forschung im Rückblick diejenigen in der religiösen Praxis erzeugten Antriebe rekonstruieren, die den Prozess begünstigt haben müssen. Einschränkend ist freilich zu betonen, dass Weber damit nicht eine monokausale Erklärung für alle Übel der Moderne bieten wollte, sondern lediglich den Nachweis für einen einzigen konstitutiven Bestandteil des kapitalistischen Geistes. Weder macht er die Religion überhaupt verantwortlich, noch speiste sich der Kapitalismus allein aus dem beschriebenen Paradox. Mit seinem Versuch der Analyse der Entstehungsbedingungen des modernen Kapitalismus ergründet Weber die Frage, auf welche Weise Ideen in der Geschichte wirksam werden können. Er liefert einen Beitrag zur Theorie sozialer Veränderungsprozesse.

Webers Methode

Nun ist bei Weber die Methode entscheidend. Seine Informationen bezieht Weber nämlich nicht aus eigener Forschung, sondern aus der Forschungsliteratur, besonders von Theologen und Religionshistorikern (Guttandin 1998). Und deren Ergebnisse betrachtet er als Vorgaben für einen neuen Zugang zu den Quellen. Es kommt also zu einer Reformulierung von bereits zugänglich gemachten und interpretierten Quellen. Die Objekte der Forschung sind sowieso nie einfach gegeben, so dass sie lediglich noch einmal abgebildet werden müssten. Weber erklärt am Beispiel seines eigenen Begriffs „Geist des Kapitalismus“ sein Vorgehen:

Ein solcher historischer Begriff (…) muß aus seinen einzelnen, der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. (I 39)

Webers Auffassung vom Kulturbegriff

Einerseits baut sich der Begriff erst im Laufe der Untersuchung auf, er füllt sich gewissermaßen in seiner Anschaulichkeit, mit der er sich dem Material annähert, andererseits ist er ein Resultat der Perspektive, mit der ein Forscher an das Thema herangeht und daher vom jeweiligen Blickwinkel abhängig, den das Forschungsinteresse diktiert. Die Analyse ist prinzipiell für andere Aspekte offen. Max Weber nennt das: „Eingliedern“ der Wirklichkeit „in konkrete genetische Zusammenhänge“ (I 40). Maßgebend ist der Forschungszweck; er steuert die Begriffsbildung. Charakteristisch für Webers Methode ist die Technizität, mit der die Formierung des Gegenstands Geschichte aufgefasst wird. Und was Weber als „Geist des Kapitalismus“ bezeichnet, ist ein komplexes Beziehungsgeflecht von Kausalitäten und Deutungen, das den Gegenstand konturiert und dem Leser erst am Ende in voller Gestalt vor Augen tritt:

Wenn überhaupt ein Objekt auffindbar ist, für welches der Verwendung jener Bezeichnung irgendein Sinn zukommen kann, so kann es nur ein „historisches Individuum“ sein, d.h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkte ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen. (I 39)

Der Historiker konstruiert den sogenannten „Geist des Kapitalismus“, indem er gedankliche Wertbeziehungen herstellt und sein Objekt der Betrachtung aus dem historischen Material herausschält.

Idealtypus

Seine Arbeit versteht Weber als Kulturwissenschaft. Zunächst bringt Weber Kultur und Sinnbildung des Menschen in einen Zusammenhang. Nur einzelnen, ausgezeichneten Bereichen ihrer Lebenswelt verleihen Menschen eine kulturelle Bedeutung. Der Wissenschaftler hat sich an diese wertorientierten Wirklichkeiten zu halten, denn der Sinn, der den Dingen einmal gegeben wurde, haftet an ihnen und bildet eine Sphäre zwischen den inneren Vorgängen und den Tatsächlichkeiten. Den Objektbereich Kultur kann man am alltagspraktischen Lebensvollzug studieren, weil er dort werthaft ausgeprägt wurde. An seinem Beispiel der Religion interessieren Weber daher nur ihre Relevanz für das Alltagsleben und die äußeren Wirkungen, die sie hervorbringt. Nur darin ist ihre kulturelle Wirklichkeit empirisch nachweisbar, sie ist historisches Individuum. Man kann aber auch ihre Bedeutung für die Kultur untersuchen und eine Sinnverwandtschaft zum Kapitalismus herstellen. Dann arbeitet der Forscher mit Idealtypen. Denn jene, die Menschen einer Epoche beherrschenden Ideen selbst kann der Forscher nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie ja konkret nur in Abschattierungen vorkommen.

Kulturmuster

Das Instrument Idealtypus ist eine gedankliche Formulierung von Sachverhalten, die für den Zweck der Erkenntnis zur Eindeutigkeit gesteigert wurden. Er existiert virtuell, auch unabhängig von der Empirie und fasst das ihr Gemeinsame übergreifend zusammen. Er abstrahiert einzelne Gesichtspunkte zu innerer Widerspruchslosigkeit und hat nichts mit Vorbildhaftigkeit zu tun. Als formales Instrument hilft der Idealtypus, konkrete historische Erscheinungen ohne Umweg über die Aufzählung aller Inkonsequenzen als Bestandteile charakteristischer Züge zu identifizieren. Der Idealtypus „kapitalistischer Geist“ ist selber vollkommen unwirklich und in der Realität nicht zu beobachten, als logisches Gedankengebilde jedoch ist er in der Lage, Kulturerscheinungen nach ihrer Bedeutung und den ihnen inhärenten Wertideen zu ordnen. Weber sucht mit seinen Studien zum Protestantismus nach den Regelhaftigkeiten von Handlungsnormierungen, er interessiert sich für die historische Durchsetzung von Wertideen und ihre geschichtliche Variabilität. Für Weber ist es die Aufgabe der Kulturwissenschaften, nach solchen Kulturmustern zu suchen. Damit leisten sie einen entscheidenden Beitrag zur Erklärung des spezifisch Typischen einiger Merkmale der modernen Kultur. Im Kern will Weber das schlechthin prägende Kulturmuster des abendländischen Rationalismus seit der Neuzeit entwerfen.

Schon von ihrem Ansatz her ist die Kulturwissenschaft bei Weber als eine Konstruktion der Konstruktion (Guttandin 1998) angelegt. Sie überformt die herkömmliche Kulturgeschichte, legt ihre Ergebnisse der eigenen Methode zugrunde und entwirft neue Zusammenhänge: sie zielt eigentlich auf Theoriebildung. Weber führt die divergenten Stränge der zeitgenössischen Diskussion zusammen und bündelt die Thesen zum Kapitalismus unter dem neuen Gesichtspunkt der ökonomischen Bedingtheit von Kulturerscheinungen und der Religionen als Systemen der Lebenspraxis. Die gesamte Debatte, die Weber mit seinen Studien auslöste, ist daher auch ein Signum für die Neuorganisation des Wissenschaftssystems. „Kapitalismus“ als kulturkritische Epochenbezeichnung, aber auch als wissenschaftlicher Bewegungsbegriff zur Deutung der Moderne erfuhr seinen Durchbruch erst mit dieser Auseinandersetzung. Sombart, Weber, Troeltsch und viele andere streiten um die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Einrichtungen unter den Bedingungen des Kapitalismus (vom Bruch 1989), aber auch um den Wert und die Brauchbarkeit von Deutungsmustern, wie sie von Weber bereitgestellt wurden. Die traditionellen Konzepte der Kulturgeschichte bei Lamprecht und Gothein werden mit den moderneren der historischen Sozialpsychologie eines Sombart oder auch der Religionssoziologie von Troeltsch konfrontiert. Max Weber muss sich gegen den Vorwurf der idealistischen, sogar spiritualistischen Geschichtsschreibung wehren und ihm werden Mängel in der Relevanz seines Ansatzes vorgehalten, denn der Kapitalismus sei doch schon lange vorher fest verankert gewesen.

Webers Objektivitätsaufsatz

Weber begründet die Kulturwissenschaften mit seinem transzendentalen Ansatz. Im Aufsatz Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis von 1904 (Weber 1985) geht er von der Kulturfähigkeit des Menschen aus, davon, dass der Mensch selbst Kultur schafft im Sinne eines endlichen Ausschnitts aus der sinnlosen Abfolge des Geschehens (Weber 1985, 180). Aber dieser Vorgang ist selbst wiederum Ergebnis von sozialen Handlungen. Kultur wird bei Weber handlungsförmig konstituiert. Sie entsteht aus Sinnzuschreibungen, aus Akten der Stellungnahme, also kognitiven Akten. Webers Bedeutung liegt sicher auch darin, dass er theoretisch Handeln und Kultur als voneinander abhängige Größen gesehen hat (Gephart 1998). Und die Kulturwissenschaft reflektiert die Voraussetzungen solcher Zuschreibungsvorgänge, deren Teil sie selber ist:

Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, (…) Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich. (Weber 1985, 184)

Die relative Objektivität der kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse wird im Wandel der Werte zugleich den Horizont der jeweiligen Wertgemeinschaften verschieben. Der Streit der Werte und Wertzuschreibungen verlängert sich in die Wissenschaften hinein, die selber nur begriffliche Verdichtungen von alternativen Geschichtsbildern bieten können. Es ist also nicht die Aufgabe der Kulturwissenschaft, die faktische Konkurrenz unvereinbarer Geschichtsdeutungen und Kulturnormen in einem homogenen System aufzuheben, sondern ein Programm bereitzustellen, mit dem die Forschung flexibel auf die Ergebnisse der zu Webers Zeit neu formierten Human- und Sozialwissenschaften reagieren kann.

Ernst Cassirer

Ein solches Grundlagenprogramm entwirft dann der Philosoph Ernst Cassirer (1874–1945), dessen Werk erst heute eine verdiente Renaissance erfährt. Einer der Gründe für seine späte Rezeption könnte in seiner Biographie liegen. Cassirer hat in Berlin bei Georg Simmel Vorlesungen über Kant gehört, wurde im Kreis der Marburger Neukantianer promoviert und lehrte dann einige Jahre als Privatdozent neben Simmel in Berlin. Erst 1919 erfolgte der Ruf nach Hamburg und in der für ihn wichtigsten Phase bis 1933 publizierte er seine bedeutendsten Werke. Sie entstanden in engem Kontakt mit den Gelehrten der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Durch die Judenverfolgung der Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen, führte sein Weg über Oxford und Göteborg schließlich nach New York, so dass seine Wirkungsmöglichkeiten in Deutschland durch die Diktatur abgeschnitten wurden und nach dem Krieg in der angelsächsischen Forschung gesucht werden müssen. Seine Widerlegung des akademischen Neukantianismus gelangte zu einem Konzept, das er schon in den zwanziger Jahren entworfen hatte und bis zuletzt in mehreren Schriften entfalten konnte. Er wollte die Trennung von naturwissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Erkenntnisformen überwinden, erschuf eine neue Basis für eine Philosophie, die von der grundsätzlichen kulturellen Bedingtheit des Menschen und seiner Wissenssysteme ausgeht. Mit der Durchbrechung des Szientismus setzte bei Cassirer ein neues Interesse für die Konstitutionsformen des ‘natürlichen’ Weltbildes und für die kategorialen Strukturen der Wahrnehmung wie auch der Alltagserfahrung ein. Vorbereitet durch die Erkenntnisse der Völkerpsychologie war die Annahme der Einheitlichkeit, Konstanz und Gleichartigkeit menschlicher Vernunft ohnehin schon grundsätzlich in Frage gestellt. Die Annahme von transzendentalen, mithin überhistorischen Erkenntnisformen wurde suspekt. Allenthalben drängte nun die wachsende Einsicht in die Verschiedenheit der Anschauungs- und Denkweisen über die formale Reflexion hinaus zur Untersuchung der Verwurzelung von Erkenntnisformen in Lebensintentionen. Man beschäftigte sich mit der Differenz von Lebens- und Denkformen.

Kulturalität des Menschen; Kritik des Idealismus

Cassirers elementares Konzept der Kulturalität des Menschen ist in seinem Hauptwerk formuliert, der Philosophie der symbolischen Formen (1923, 1925, 1929) in drei Bänden, und sie darf als Gründungsurkunde der Kulturwissenschaften gelten. Schon im Ansatz verschiebt er die Frage Kants nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung hin zur neuen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung:

Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat. (PSF, I, 11)

Er beschränkt also die Reichweite des traditionellen Idealismus, erweitert aber dagegen das Arbeitsgebiet um Themen wie Sprache, Mythos, symbolisches Denken. Zwar bestreitet er die Möglichkeit eines philosophischen Systems und lehnt die Metaphysik ab, aber die systematische Perspektive bleibt doch bestehen, um dem Problem der menschlichen Orientierung auf die Spur zu kommen. Das Wahrheitsproblem ist allerdings nur noch ein Sonderfall des allgemeinen Bedeutungsproblems. Denn Leben steht immer unter dem Prinzip symbolischer Formung, es eröffnet sich kein Weg in ein ursprüngliches oder vorrationales An-sich; die theoretischen Bestrebungen auf diesem Feld der Transzendentalphilosophie werden immer unergiebig bleiben, solange nicht der Dualismus des Sinnlichen und Geistigen beseitigt wird.

Symbolische Form

Sein Theorem von der symbolischen Form bedeutet, dass die konkreten geistigen Energien des Menschen sich notwendig in sinnhaften Gestalten manifestieren müssen. Und dabei denkt Cassirer an eine Wechselwirkung. Weder kann Geistiges isoliert von der Materialisation bestehen, noch kann Wirklichkeit überhaupt losgelöst von aller geistigen (und damit eben sinnstiftenden) Verarbeitung erfasst werden. In dieser umfassenden Beschreibung der symbolischen Formung ist die Erkenntnistheorie aufgehoben und in eine Untersuchung verschiedener Kulturformen überführt. Wenn man also alle möglichen Äußerungsformen, in denen sich der Gehalt des Geistes erschließt, zum Ausdruck bringen könnte, wäre das alte Ideal der allgemeinen Charakteristik, von dem schon Leibniz träumte, erfüllt. Cassirer entwickelt eine verführerische Vision:

Wir besäßen alsdann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfasst und generell mitbestimmt würden. (PSF, I, 19)

Symbolische Prägnanz

Da für Cassirer ein symbolfreier Bereich nicht existiert, folglich jeder geistige Bedeutungsgehalt sich an ein konkretes sinnliches Zeichen knüpft, wird deutlich, dass er seine Definition vom landläufigen Verständnis abgrenzt. Am Beispiel des einfachen Linienzugs: wir können eine Linie als geometrische Figur, als Ornament oder als mythisches Zeichen deuten, ihr in der Wahrnehmung eine bestimmte Sinn-Form zuweisen. Dieses Belegen des sinnlich Gegebenen mit Bedeutung nennt Cassirer auch „symbolische Prägnanz“ (PSF, III, 235). Im Wahrnehmen wirkt immer auch ein nichtanschaulicher Sinn, den wir (nur) auf diese Weise zur Darstellung bringen (Schwemmer, Cassirer 1997, 69–125). Wir nehmen etwas nicht direkt wahr, sondern „als“ etwas. Und als solches ist es immer schon Bestandteil der Wahrnehmung selber (Schwemmer, Cassirer 1997, 119). Es geht um dieses Herstellen von Ganzheiten, das sich in Weltbildern ausdrückt und das wir in den Grundformen des Weltverständnisses studieren können. Cassirer verwendet einen ungewöhnlich weit gefassten Symbolbegriff, der weit über das literarische Verständnis hinausgeht.

Das Bewusstsein bildet Reihen

Alle Formen (Raum, Zeit, Kategorien) gewährleisten eine Synthese der Erfahrungen. Das menschliche Bewusstsein bildet ständig Reihen und arbeitet mit logischen Verknüpfungen. Jedes einzelne Datum verweist auf einen komplexeren Zusammenhang, in dem es erst Sinn macht. Auf dieser natürlichen Symbolik baut jede „künstliche Symbolik“ auf, also die verfeinernde kulturelle Symbolik, die Menschen mit der Sprache, der Kunst, der Technik, der Wissenschaft oder dem Mythos schaffen (PSF, I, 41). Und so bestimmt Cassirer die symbolischen Formen als Prägungen:

Der Mythos und die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft sind in diesem Sinne Prägungen zum Sein: sie sind nicht einfach Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigen Bewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche als Eines und Vieles konstituiert. (PSF, I, 43)

Zentral sind also Bewusstseinsfunktionen und Sprachstrukturen, mit denen wir unsere Erfahrung organisieren und daher entwickelt der erste Band der PSF eine Sprachphilosophie. Von Humboldt ausgehend fragt Cassirer danach, mit welchen grammatischen und linguistischen Mitteln die einzelnen Sprachen bestimmte Anschauungen organisieren und Weltsichten zustande kommen lassen. Er fragt nach dem Anteil der Sprache beim Aufbau kulturell geformter Weltbilder. Im zweiten Band rekonstruiert er das mythische Denken, seine Muster in Anlehnung an die damals neuen Ergebnisse der Ethnologie. Der dritte Band legt dann eine Gesamtschau der Gestalt- und Entwicklungspsychologie vor, in der dargelegt wird, dass die Wahrnehmung von Ausdruck jeder Dingwahrnehmung genetisch vorausgeht. In der Wahrnehmung bilden wir Reihen und Ordnungen. Das sich darbietende Phänomen rückt ein in unterschiedliche Weisen der Repräsentation. Und diese legen den Verlauf der Wahrnehmung fest (PSF, III, 155). Nicht zuletzt sind auch seine Ausführungen über die Symbolisierungsleistung der Darstellungsfunktion von allgemeinem Interesse. Die Befunde der Sprachpathologie, der Aphasieforschung zeigen, dass beim Versagen der Sprache sich auch Raumauffassungen verändern und die Gegenständlichkeit ein ganz anderes Aussehen bekommt. Die sprachliche Form prägt unser Denken und beeinflusst eben auch den Aufbau wissenschaftlicher Begriffswelten.

Semiotische Theorie des Geistes

Cassirers Philosophie ist heute auch deshalb aktuell, weil sie nicht bloß in die Nähe der Semiotik rückt, sondern der Semiotik eine fundamentalere Art der Bedeutung voranstellt, die das Zeichen wie auch die symbolische Form a priori setzt. Das Zeichen ist mehr als nur zufällige Hülle des Gedankens, es ist sein notwendiges und wesentliches Organ. Die Formen der Kultur stützen sich zwar auf eine Zeichengebung, so dass „Symbolik und Semiotik“ (PSF, I, 18) zusammengehören, aber beide sind letztlich in der „symbolischen Prägnanz“ begründet. Die synthetische Leistung ist vorgängig. Cassirers semiotische Theorie des Geistes (Paetzold, 1994, 24f.) geht in einer Theorie der Symboltätigkeit auf, in der das Zeichen zum reinen Beziehungszeichen wird. Man kann die Semiotik als universale Theorie nicht allein von der Sprache her aufbauen, sie muss eine Semiotik des Codes in Angriff nehmen (Paetzold, 1994, 36f., 63).

Theorie der Kulturfunktionen

Außerordentlich modern ist der Versuch zu einer Theorie der Kulturfunktionen, den auch seine späteren Schriften bieten. Im amerikanischen Exil veröffentlichte Cassirer 1944 sein Buch An Essay on Man, das erst 1990 ins Deutsche übertragen wurde. Mit ihm stößt er zu einer systematischen anthropologischen Begründung der Kulturwissenschaft vor, die seine PSF fortsetzen soll:

Die Philosophie der symbolischen Formen geht von der Voraussetzung aus, dass, wenn es überhaupt eine Definition des „Wesens“ oder der „Natur“ des Menschen gibt, diese Definition nur als funktionale, nicht als substantielle verstanden werden kann. (VM, 110)

Symbolisches Netz

Weder die angeborene Anlage noch irgendein metaphysisches Prinzip reichen aus bei der Bestimmung des Menschen, sie ist allein zu gewinnen aus seinem Wirken und aus der Grundstruktur seiner Tätigkeiten. Und das ist Aufgabe der neuen Wissenschaft, denn mit den herkömmlichen Disziplinen wird gerade das Spezifische des Menschseins nicht erfasst. Das Arbeitsgebiet benennt Cassirer mit der Metapher vom „symbolischen Netz“. Der Mensch lebt (nur) in einem symbolischen Netz von Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Technik usw.:

Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. Aller Fortschritt im Denken und in der Erfahrung verfeinert und festigt das Netz. Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie nicht mehr als direktes Gegenüber betrachten. (VM, 50)

Mensch als animal symbolicum

Im Symbolischen unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen und mit dieser Definition als „animal symbolicum“ (VM, 51) hat Cassirer den Weg gewiesen zu einer neuen, nicht mehr rein auf Verstandestätigkeiten gegründeten Bestimmung. Mit dem Schlüsselbegriff überschreitet er auch die Fixierung auf die Philosophie und fordert ihre Ergänzung um Biologie, Ethnologie, Geschichte, Soziologie, Psychologie und Literaturwissenschaften.

Damit ändert sich auch der Status der Geisteswissenschaften. Im letzten Kapitel des Essay on Man hat Cassirer gezeigt, wie sich auch die Wissenschaft als eine der symbolischen Formen selber nach und nach als Kulturprodukt ausdifferenzierte. Und schon einige Jahre zuvor, noch in Göteborg, war das wichtige Buch Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) erschienen. Die symbolischen Formen, so führt schon die erste Studie aus, sind „Medien“, die der Mensch sich erschafft, um sich zugleich von der Welt zu trennen wie auch sich fester mit ihr zu verbinden (LK, 25). Der Mensch lebt mehr in seiner „Bildwelt“. Die Geisteswissenschaften sind daher aufgerufen, sich an diese spezifische „Ausdruckswahrnehmung“ (LK, 40 und 45) als Gegenstand für die Kulturwissenschaft zu halten.

Logik der Kulturbegriffe

Die Bemühungen zielen auf eine Logik der Kulturbegriffe (Graeser, 1994, 124), also auf die methodische Grundlegung der Kulturwissenschaft. Kulturbegriffe sind eine Klasse eigener Art. Sie ähneln den Stilbegriffen der Kunstgeschichte und haben nicht die Aufgabe, jeden Einzelfall abzudecken, sondern Erscheinungen „zu einer Einheit zusammen“ zu sehen (LK, 73). Das erinnert an die Debatte um Max Webers Protestantismusbegriff, der gleichfalls ein Deutungsmuster anbot. Cassirer umschreibt die Kulturbegriffe als „Sinnbegriffe“ (LK, 73) und nennt als Beispiel Jacob Burkkhardts „Renaissance-Mensch“. Er hat in dieser Reinform sicher nie existiert, der Begriff aber charakterisiert genau das „Wesen“ des zu beschreibenden Problems. Wichtig ist nun, dass Cassirer immer auch die eigene Begriffsarbeit des Wissenschaftlers in seine Reflexion einbezieht. Im ständigen Strom der Kultur, der ununterbrochen neue Symbole schafft, gliedert sich die Wissenschaft in die „Akt-Analyse“ ein (LK, 98), d.h., sie hält sich nicht bei der ohnehin unlösbaren Frage nach der Entstehung der Symbolfunktion auf. Die „Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, (…) um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.“ (LK, 86). Diese „Palingenesie der Kultur“ (LK, 77) ist das Ziel. Vom Standpunkt einer Gedächtniswissenschaft aus, die Cassirer wohl vorschwebt, kann er auch die pessimistische Variante von der „Tragödie der Kultur“ bei Georg Simmel mit einer optimistischeren Sicht konfrontieren. Im Drama der Kultur gibt es keine endgültigen Siege und Niederlagen, sondern immer nur Wiedererweckung, Durchdringung und Auseinandersetzung mit anderen Kulturen. Dieser historischen Dialektik des Kulturbewusstseins nachzugehen, ist die eigentliche Aufgabe der Kulturwissenschaft (LK, 111–127).

Metaphysikverdacht

Die Permanenz, mit der immer neue Formen und mediale Strukturen aus der ständigen Ausdifferenzierung des Symbolischen hervorgehen, fängt Cassirer mit einer alten Metapher ein, er spricht davon, dass die Menschheit sich in ihren Kulturformen „einen neuen Körper geschaffen hat, der allen gemeinsam zugehört“ (LK, 127). Letzten Endes erscheint damit der Kulturbegriff wieder als Restposten der Metaphysik (Orth, 2000, 197ff.). Denn die Setzungen, die Cassirer vornimmt, sind selbst nicht mehr zu begründen. Medium und Bedeutung sind ebenso verbunden wie Bedürfnis und Bedeutung, ohne dass das erklärt werden könnte. Die Theorie zehrt also von metaphysischen Annahmen, sie lässt sie im Hintergrund stehen.

Vier Aspekte der ersten Phase

Mit der Position, die Cassirer eingenommen hat, endet die erste Phase der Kulturwissenschaft und ihrer Konzeptbildung. Aus heutiger Sicht kann man vier Aspekte hervorheben, die eine Anknüpfung an dem Geleisteten rechtfertigen: in der ersten Phase wird Kultur als ein Problembegriff etabliert. Er erscheint nicht strikt definierbar, sondern lediglich erläuterbar. Die Kulturwissenschaft ist zunächst eine Reaktion auf das Reflexivwerden des Wissens in der Moderne. Zweitens: als methodische Konsequenz auf die Tatsache, dass ihr Gegenstand nur indirekt gegeben ist, möchte Cassirer die Kulturwissenschaft im Sinne einer Gedächtniswissenschaft begründen. Sie ermöglicht die Selbstreflexion, die Selbsterneuerung der Kultur und betont vor allem die prinzipielle Kontingenz jeder Kulturform. Auch der Wissenschaftler muss sich über die Relativität seiner eigenen Praxis im Klaren sein. Bei Cassirer ist drittens deutlich, dass der Mensch mehr ein Kulturphänomen ist als ein anthropologisches (Orth, 2000, 211). Notwendig ist daher eine semiotisch angereicherte Symboltheorie, die kulturelle Kodierungspraktiken untersucht (Paetzold, 1994). Und viertens strebt die Kulturwissenschaft eine zweite Ebene der Beobachtung an. Sie soll konkurrierende Theorien vergleichen und ineinander übersetzen (Graeser, 1994, 183). Damit wird der philosophische Systemgedanke verdrängt durch ein Konzept mit integrativen Zügen, das heute vorbildlich wirkt.

Einführung in die Kulturwissenschaft

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