Читать книгу Abdulmesih und der liebe Gott - Markus Grimm - Страница 6
ОглавлениеKapitel 2
Ein paar Tage später bekommt Abdulmesih nun auch den Betrieb zu Gesicht. Wahrhaftig, es ist eine richtige Baufirma, mit verschiedenen Abteilungen, mit Arbeitern und Vorarbeitern, mit Lager, Werkzeughalle und Fuhrpark, und Abdulmesihs Bewunderung wächst noch mehr. All dies hat Safar in den knapp anderthalb Jahrzehnten, die er in Syrien ist, auf die Beine gestellt. In dieser Baufirma wird alles gemacht: vom Fundament über die Mauern bis zum Dach, Leitungen, Rohre, Wohnhäuser, Geschäftshäuser. Abdulmesih beginnt, als Zimmermann zu arbeiten. Die Verständigung klappt gut und wird rasch noch leichter, Abdulmesih fügt sich mit seiner Arbeit problemlos ein, und Safar merkt schnell, dass er einen fleißigen, anpassungsfähigen und verantwortungsbewussten Mitarbeiter gewonnen hat, dem er überdies noch persönlich so nahesteht. Und er denkt sich: ›Der Mesih ist eigentlich auch ein Unternehmer.‹ Nach ein paar Monaten macht er ihn zum Abteilungsleiter.
Der Winter naht. Die Arbeit wird weniger, und Abdulmesih will zurück in die Heimat. Er tauscht seinen Verdienst in türkische Lira und ist vor Aufregung fast erschrocken über die Summe, die er in Händen hält und die er jetzt nach Hause trägt. Oh ja, das hat sich gelohnt! Auch diesmal geht an der Grenze alles glatt, und die Heimat hat ihn glücklich wieder.
Und so geht es nun jahraus, jahrein: im Sommer in Syrien und im Winter zuhause. Der Schleuser lacht und raucht stets wie eh und je, bis ihm eines Nachts das Lachen im Halse stecken bleibt.
Mit seinem bewährten Kunden Abdulmesih schleicht er zu Beginn des Winters 1956 wie gewohnt durch die graue Nacht – da, plötzlich: aufgeregte Stimmen und türkisch geschriene Befehle:
»Halt, stehengeblieben!«
Erwischt! Vor Schreck zuckt Abdulmesih reflexhaft zurück, aber der Schleuser hält ihn ebenso reflexhaft fest:
»Komm bloß nicht auf die Idee wegzulaufen«, zischt er ihm zu, »die knallen dich ab.«
Sie werden gepackt und unsanft abgeführt. Im funzeligen Licht einer schäbigen Polizeistube bauen sich schließlich zwei bewaffnete türkische Grenzbeamte vor ihnen auf. Abdulmesih und sein Schleuser sitzen auf zwei wackeligen Stühlen, es ist sehr früher Morgen, die Stimmung ist seltsam still und dumpf. Der Schleuser hat seine Ruhe inzwischen scheinbar wiedergefunden, er macht schon wieder Scherze, bemüht sich um gute Stimmung und lotet offensichtlich seine Chancen aus, die beiden Türken, die misstrauische Blicke wechseln, mit irgendetwas zu bestechen.
»Zigarette? Kommt, greift zu!«
Die beiden bedienen sich und fangen an zu rauchen, werden aber kein bisschen freundlicher.
Einer setzt sich an den Schreibtisch, nimmt Stift und Papier und fragt: »Woher kommt ihr?«
»Na, woher werden wir kommen«, sagt der Schleuser und lacht jovial, »von hier natürlich, wir sind ja Türken.«
»Zeig mal deine Papiere. Und der andere da auch.«
»Hier bitteschön.«
»Was macht ihr hier?«
»Wieso, was meinst du, Herr Offizier? Wo sind wir denn hier?«
»Lass die Faxen, Freundchen«, ruft der andere drohend dazwischen, »sonst kriegst du Probleme!«
»Hier«, sagt der andere betont, »ist Grenzgebiet, und ihr wart gerade drüben.«
»Was? Da haben wir uns verlaufen!«
»So, um diese Tageszeit?«
»Freundchen«, lässt sich der andere wieder vernehmen, »ich warne dich!«
So geht es eine Weile hin und her. Abdulmesih hört zu, und ihm wird angst und bange. Die Lügen des Schleusers kommen ihm so dermaßen plump und offensichtlich vor, dass ihm fast schlecht wird. Wohin soll das alles führen?
Aber es passiert fürs Erste nicht viel. Ihre Personalien werden notiert und die Ausweise einbehalten. Beide wandern in eine improvisierte Zelle, bis der Morgen graut. Der Schleuser ist guten Mutes, und wenn Abdulmesih fragt: »Und was jetzt?«, winkt er lachend ab, lehnt sich an die Wand und döst.
Am Morgen taucht ein verschlafener Vorgesetzter auf, lässt sich einen Kaffee servieren, raucht, hört sich an, was vorgefallen ist, trinkt einen zweiten Kaffee und betrachtet beim dritten Kaffee die Ausweispapiere. Er wirkt noch humorloser als die beiden Grenzbeamten, lässt Abdulmesih und den Schleuser vorführen, und während er einen vierten Kaffee trinkt, erklärt er ihnen gelangweilt und ohne erkennbare Regung:
»Sieht aus, als wärt ihr Spione.«
»Spione?« ruft der Schleuser belustigt. »Wir?«
Der vorgesetzte Offizier hebt nur den Zeigefinger und sagt ganz ruhig: »Mund halten. Ist offensichtlich: Ihr seid Türken und kommt nachts illegal aus Syrien herübergeschlichen. Warum wohl? Sieht aus wie Geheimnisverrat, wenn du mich fragst.«
Jetzt erschrickt Abdulmesih, das kann übel ausgehen. »Herr Offizier, ist es erlaubt?«
Der Offizier hebt nur leicht das Kinn.
»Herr Offizier, auf Ehre, wir sind keine Spione. Ich bin nur ein armer türkischer Handwerker, der im Nachbarland arbeiten wollte, weiter nichts. Und dieser mein Freund hat mir dabei geholfen.« Abdulmesih weiß nicht, ob diese annähernde Wahrheit besser ist als die Märchen seines Schleusers, aber er kann das Lügen nicht mehr aushalten.
»Na ja«, meint der Offizier nach einer Pause und gähnt, »wie ich schon sagte: Geheimnisverrat. Ihr wandert vor Gericht.«
Es folgen sorgenvolle Stunden und Tage. Man führt Abdulmesih umgehend unter strenger Bewachung vor einen Justizbeamten. Der hört sich die Sache kaum an, sondern besieht sich die Aktenlage und erkennt, dass er nicht zuständig ist.
»Schwerwiegend«, sagt er nur, »wird an höherer Stelle entschieden.«
Weiter geht es in die Provinzhauptstadt Mardin, dort steht Abdulmesih vor dem Staatsanwalt. Wie kann er ihn davon überzeugen, dass er kein Spion ist?
»Das weiß ich nicht«, sagt der Staatsanwalt weder unfreundlich noch freundlich. »Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen. Sie wurden beim illegalen Grenzübertritt festgenommen, alleine das ist strafbar. Was hatten Sie in Syrien zu tun?«
»Ich habe gearbeitet.«
»Ja, das hatten wir schon, aber wo ?«
Abdulmesih weiß nicht, was er sagen soll. Er kann doch nicht von seinem Bruder anfangen. »Auf der Baustelle, als Schreiner und Zimmermann.«
»Auf welcher Baustelle.«
»Auf verschiedenen, hier und da…«
»Sehen Sie«, sagt der Staatsanwalt, »das ist genau das Problem, dass Sie nicht alles sagen. Wie soll man denn solche Angaben überprüfen?«
»Das weiß ich nicht, Herr Staatsanwalt.«
»Sehen Sie.« Nach einer Pause fährt der Staatsanwalt aber plötzlich in anderem Ton fort: »Jetzt hör mal her, junger Mann: Als Mensch glaube ich dir schon, dass du kein Spion bist, da müsste ich mich sehr täuschen. Aber als Staatsanwalt kann ich dich nicht davonkommen lassen. Was ich tun will, ist: Ich erspare dir – und deiner Familie, für die du sorgst, wie ich vermute, wenn ich dich so ansehe – ich erspare dir eine Verurteilung zum jetzigen Zeitpunkt. Allerdings besteht der Spionageverdacht nach wie vor. Du bleibst bis auf Weiteres unter behördlicher Aufsicht, bis der Verdacht ausgeräumt ist, und wirst nur gegen Kaution entlassen.«
»Danke, Herr Staatsanwalt.«
Fürs Erste ist Abdulmesih erleichtert, immerhin darf er – wenn auch immer noch unter Bewachung – wieder zurück zu seiner Familie, die sich schon die ärgsten Sorgen macht. Hier in Midyat hinterlegt er die Kaution und ist endlich wieder frei und dankt seinem Gott. Aber jetzt hat ihn die Staatsmacht im Visier und lässt ihn nicht aus. Gleich am nächsten Tag muss er beim Militär zur Musterung anrücken.
»Voll tauglich «, bescheidet ihm der Musterungsbeamte mit soldatischem Nachdruck, »willkommen bei der Truppe! Erwarten Sie umgehend den Stellungsbefehl!«
Der kommt schon nach wenigen Tagen: Abdulmesih wird einberufen zum Militärdienst in Manisa. In der Familie herrscht Bestürzung: Manisa liegt ganz am anderen Ende der langgestreckten Türkei, im westlichen Teil Anatoliens, fast am Mittelmeer. Viel weiter könnte man Abdulmesih nicht wegschicken, in Manisa jedenfalls werden ihm keine heimlichen Grenzübertritte einfallen. Zum Packen bleiben ihm wiederum nur ein paar Tage.
Am Tag der Abreise weint Mutter Sara, deren Jüngster jetzt nach einem Ort verschwindet, von dem sie keinerlei Vorstellung hat, eineinhalbtausend Kilometer weit weg. Sie segnet Abdulmesih, wünscht ihm Kraft und erinnert ihn an Gott. Sie hat keine Ahnung, wie man sich einen Christen im türkischen Militär vorzustellen hat, und Abdulmesih auch nicht. Wie wird es ihm da ergehen? Abdulmesih ist nicht frei von Angst, aber entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.
»Mutter«, sagt er und fasst ihre Hände, »ich weiß, wer ich bin und woher ich komme, sorge dich nicht. Ich werde schreiben und euch alles wissen lassen.«
Vor Abdulmesih liegt nun eine kleine Weltreise. Mit dem Bus fährt der offiziell Neunzehnjährige nach Diyarbakir und von dort mit dem Zug nach Manisa. Die Stadt ist annähernd dreimal so groß und bevölkert wie Midyat, auch das Klima ist völlig anders, deutlich wärmer. Christliches kann er hier nicht entdecken, dafür osmanische und seldschukische Moscheen und Medresen. Auf seiner langen Zugfahrt ist Abdulmesih auch durch weite und arme Landstriche gekommen, Manisa aber macht einen reichen Eindruck, es ist eine alte Residenzstadt der Sultane.
Wo findet er hier nun die Kaserne ?
An der Pforte meldet er sich, weist seine Papiere vor und kommt zur schweren Infanterie. Die Kaserne ist weitläufig und nicht ganz leicht zu überblicken, offenbar gibt es hier viel Personal. Männer in braunen Uniformen und mit gleichem, kurzem Haarschnitt eilen zielstrebig durch Flure und über das Gelände. Abdulmesih muss sich orientieren. Schließlich findet er seinen Schlafsaal, in dem sich alsbald alle jungen Rekruten versammeln sollen.
»Aus welchem Grund, was findet hier statt?« fragt Abdulmesih einen Bettnachbarn.
»Islamkunde.«
Abdulmesih schluckt, offenbar hat das Schicksal es so eingefädelt, dass die erste Probe nicht lange auf sich warten lässt. Dann strafft er sich innerlich und wartet, was kommt.
Es kommt der Hauptmann der Kompanie, auch er in Uniform, mit einer Brille und mit kurzen, lichten Haaren – ein eher kleiner Mensch, der ohne Uniform ganz gemütlich wirken könnte. Markiges Auftreten liegt ihm offenkundig fern. Trotzdem nehmen alle selbstverständlich Haltung an. Der Hauptmann nickt und schaut freundlich in die Runde.
»Rekruten«, spricht er wenig spektakulär, »ich grüße Sie. Hoffe, Sie haben sich gut eingefunden. Nun, Sie wissen es, vor dem Schlafengehen ist der Religionsunterricht an der Reihe. Nehmen Sie Platz.«
Alle setzen sich.
»Wir sind, Sie wissen es«, fährt er fort und geht auf und ab, »die Streitkräfte eines Staates, der sich seit dem großen Atatürk die Säkularität auf die Fahne geschrieben hat. Gleichwohl hat der Islam seinen unumstößlichen Platz nicht nur in unserem Staat, sondern vor allem auch bei uns, den Streitkräften. Wir stehen ein für unser Vaterland, aber auch für unseren Glauben. Deshalb gehört der Islamunterricht zu Ihrer Ausbildung. Nun«, sagt er, bleibt stehen und schaut in die Runde, »in unserer schönen Türkei gibt es gleichwohl verschiedene religiöse Bekenntnisse, nicht nur unseren Islam. Ist also einer unter Ihnen, der kein Muslim ist?«
Abdulmesih hört das, als wäre die Frage eigens an ihn gerichtet. Obwohl der Hauptmann weiter freundlich wirkt, kann Abdulmesih nicht einschätzen, was sich hinter der Frage verbirgt und welche Konsequenzen folgen können. Aber er überlegt nicht lange, sondern hebt entschlossen die Hand.
»Aha«, sagt der Hauptmann, »dann kommen Sie bitte mal her, Rekrut.«
Abdulmesih erhebt sich und geht nach vorn – was passiert jetzt mit ihm, was hat der Hauptmann vor? Aus der Nähe sieht er fast noch freundlicher aus.
»Was also sind Sie?« fragt er.
»Ich bin Aramäer, Herr Hauptmann.«
»Aramäer?«
» Syrisch-orthodoxer Christ, Herr Hauptmann.«
»Ach, ich verstehe, Sie kommen wohl aus dem Südosten.«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
Der Hauptmann legt den Finger an die Lippen und denkt kurz nach. »Aramäer«, beginnt er nach einer Weile, »hm, und woran glauben Sie, als Aramäer?«
»An Gott natürlich, Herr Hauptmann, woran sonst?«
»Aha, aber ist Ihr Gott auch mein Gott?«
»Aber Herr Hauptmann, Sie wissen selbst: Es gibt keinen Gott außer Gott.«
Der Hauptmann lächelt. »Ja, ganz recht, eine schöne Antwort. Und was ist eure Heilige Schrift? Ihr habt doch sicher eine.«
»Die Bibel, Herr Hauptmann.«
»Die Bibel? Nun, die gilt ja auch uns Muslimen als heilig. Hm, so kennt ihr auch Moses und die Propheten und Maria und Jesus?«
»Allerdings, Herr Hauptmann.«
»Hm, und so glaubt ihr auch an die Güte Gottes und seine Menschenfreundlichkeit.«
»Gewiss, Herr Hauptmann.«
Der Hauptmann, der die ganze Zeit nicht aufgehört hat zu lächeln, sagt: »Das ist gut, Rekrut, sehr gut. Nun, ich will Sie als einen Christen nicht zur Islamkunde nötigen, es sei denn, Sie möchten teilnehmen.«
Jetzt nimmt Abdulmesih all seinen Mut und Stolz zusammen und erwidert freundlich, aber bestimmt:
»Wenn es erlaubt ist, Herr Hauptmann, möchte ich der Islamkunde fernbleiben.«
»Es ist erlaubt«, sagt der Hauptmann, ohne mit der Wimperzu zucken, »Sie sindfrei. Vielleicht halten Sie sich in der Kantine auf, bis das Trompetensignal zur Nachtruhe ertönt. Sie können wegtreten.«
Abdulmesih nimmt Haltung an, grüßt und verlässt den Raum. Vor der Tür atmet er durch und lacht. Das hat er richtig gemacht. Ihm fällt das Jesuswort aus dem Evangelisten Johannes ein: ›Die Wahrheit wird euch frei machen. ‹
»Alle Achtung, du traust dich was«, sagt später, als sie die Betten zurechtmachen, ein anderer junger Rekrut halblaut zu Abdulmesih.
»Was traue ich mich?«
»Na, dich als Christ zu bekennen.«
»Als was sonst?«
»Ja«, sagt der andere nachdenklich, »recht hast du, als was sonst? Ich hab trotzdem nichts gesagt.«
»Was hast du nicht gesagt?«
»Dass ich auch einer bin, ein Christ.«
Abdulmesih freut sich. »Du auch?«
»Ja, ich auch, aber ich hatte Angst.«
Das versteht Abdulmesih, und auch wieder nicht. »Angst, wovor? Es ist erstens nichts passiert, außer dass ich vom Islamunterricht freigestellt worden bin. Und zweitens ist Angst das Falsche. Unser Herr Jesus Christus sagt doch immer, wir sollen uns nicht furchten.«
»Ja, ich weiß, aber das kann ich doch nicht durch schieres Wollen.«
»Durch schieres Wollen nicht, aber durchs Tun. Du musst einfach schneller sein als die Angst und darauf vertrauen, dass du niemals allein bist.«
Abdulmesih findet heraus, dass in der 110 Mann starken Kompanie insgesamt drei Christen sind. Aber nur er hat sich gemeldet.
Gleich anderntags muss die ganze Kompanie der frischgebackenen Rekruten zum Appell antreten. Einige werden zum Küchendienst eingeteilt, während die anderen auf dem Trainingsplatz ihren Körper in verschiedenen Gangarten ertüchtigen dürfen – das ist der sogenannte Grunddienst. Abdulmesih muss aber nur selten auf dem Bauch durchs Gelände robben, denn für ihn als Schreiner gibt es weitaus sinnvollere Einsatzmöglichkeiten. Es ist genauso, wie er es damals zu seinem Schullehrer gesagt hat: Schreiner werden immer gebraucht. Und in der Kaserne gibt es viel zu reparieren.
»Sie machen das sehr ordentlich, Rekrut«, lobt man ihn, »und hier wäre auch schon gleich das Nächste.«
Nach vier Monaten Grunddienst werden etliche Truppen verlegt. Die Reise geht mit dem Bus nach Norden, nach Bandirma am Marmarameer. Von dort bringt sie eine riesige Fähre innerhalb einiger Stunden in die etwa 150 Kilometer entfernte Hafenstadt Yalova. Der junge Abdulmesih aus dem fernen Hochland des Tur Abdin sieht und riecht zum ersten Mal in seinem Leben das gewaltige Meer. Er schaut mit schmalen Augen an den fernen Horizont, der Wind bläst ihm kühl um die Ohren, und sein Herz wird weit und froh. Auch das Meer ist alt, älter sogar als der Tur Abdin, es ist am Anfang der Schöpfung das Erste, woraus alles Lebendige aufsteigt. Zugleich ist es aber so frisch und bewegt, so unbegrenzt und tief und ganz lebendig. Und dahinter, hinter dem Meer, dort hinter dem Horizont? Was für Leben werden wohl dort gelebt ?
In Yalova geht die Fähre vor Anker, und wahre Hundertschaften von Soldaten strömen an Land und werden wie eine riesige Schafherde zusammengetrieben. Offiziere aus unterschiedlichen Regimentern warten schon auf die Ankömmlinge, um sie je nach Bedarf zu rekrutieren. Zuerst darf der Oberst der Militärpolizei, ein schneidiger Mann in seinen Fünfzigern, seine Leute auswählen, zwölf braucht er, und Abdulmesih ist gleich mit dabei. Alles geht so schnell und ist zugleich so überraschend, dass er kaum mitkommt. Dann muss er innerlich lachen: Der Spion als Militärpolizist, das ist auch eine Laufbahn! Die Laufbahn eines aufgeweckten Aramäers im türkischen Heer.
Sofort geht es mit dem Bus eineinhalb Stunden weiter nach İzmit, hier ist seine neue Kompanie stationiert, im äußersten Nordwesten der Türkei, 90 Kilometer östlich von İstanbul. Spätabends kommen sie an, alle sind hundemüde und legen sich direkt in ihre Betten, aus denen sie am nächsten Morgen im Befehlston wieder herausgeholt werden.
»Aufgeht’s, alle Mann in den Bus!« ruft ein Offizier mit rauer Ironie.
Man wechselt verschlafene Blicke. »Wohin soil’s denn gehen?« fragt einer.
»Nicht fragen! Tempo, die Herren, nicht so faul!«
Abdulmesih hat es gestern schon gemerkt: Hier herrscht ein besonderer Ton, an den er sich erst noch gewöhnen muss, der ihm aber nicht schlecht gefällt.
Sie steigen in den Bus, schaukeln durch die Straßen, und am Ende folgt eine wundersame Überraschung.
»So, aussteigen, die Herren!«
Wo sind sie gelandet, was ist das hier? Das türkische Bad!
Abdulmesih kann sich nicht erinnern, ob er schon jemals so porentief sauber war. Fast strahlend vor Sauberkeit, so kehrt die Truppe wieder zurück zum Stützpunkt, wo alle komplett frisch eingekleidet werden, von der Unterwäsche bis zu den Schuhen. Nicht zum ersten Mal hat Abdulmesih den Eindruck, dass er ein Glückspilz ist.