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2. Kapitel

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Matthias war nicht zur Arbeit gegangen, er hatte angerufen und sich bei der Sekretärin krankgemeldet. Ängstlich fieberte er der Tagesschau am Mittag entgegen, kratzte sich nervös das Kinn mit dem Bartschatten. Für eine Meldung war vermutlich seit dem Unfall zu wenig Zeit verstrichen, und tatsächlich: Der Nachrichtensprecher erwähnte das Ereignis mit keiner Silbe. Nicht dass Matthias dies wesentlich beruhigt hätte, denn es war ja ohnehin bloß eine Frage der Zeit, bis die Medien darüber berichten würden.

Zuerst erwog er, das Geld in einem Schließfach zu deponieren, aber nach reiflicher Überlegung scheute er sich doch davor, mit dieser horrenden Summe das Haus wieder zu verlassen und unterwegs oder am Bahnhof, wo es Überwachungskameras gab, gesehen oder gar gefilmt zu werden.

Nachdem er die sechzig Geldbündel im Wäscheschrank versteckt hatte, ging er unter die Dusche.

Seinem Kater rückte er mit Unmengen von Kaffee und Mineralwasser zu Leibe. Danach verließ er die Wohnung, um Einkäufe zu machen und die Sporttasche, die er in einen grauen Abfallsack gesteckt hatte, zu entsorgen.

Kurz vor 19:30 Uhr hockte er angespannt vor dem Fernseher. Er hatte den Sender SRF 1 eingestellt und trank eine Cola, während er auf die Hauptausgabe der Tagesschau wartete. Und dann war es so weit: Eröffnungssignet und Nachrichtenüberblick. Der erste Beitrag zeigte den orangegesichtigen Donald Trump, der kämpferisch, mit Sturmfrisur und über der Schulter liegenden roten Krawatte in seiner Hybris die Faust höchst unpräsidial in die Kamera reckte, über Obama lästerte, über die Fake-News der Medien schimpfte und der Welt seine alternativen Fakten verkündete.

Zurück im Studio: Die Moderatorin guckte für einen kurzen Moment in die falsche Richtung (das Schweizer Fernsehen ist berüchtigt für seine kleinen Pannen und Patzer), ehe sie ihr attraktives Gesicht mit einem Nachsicht heischenden Lächeln den Zuschauern zuwandte und ihren Oberkörper in der hellblauen gestärkten Bluse reckte, um den nächsten Beitrag anzukündigen.

Matthias rauschte das Blut in den Ohren, als er im nachfolgenden Film das Fahrzeugwrack des verunfallten Mercedes erblickte; der Off-Kommentar – eine sonore, sachliche Männerstimme – drang ihm dabei wie ein Schwert in die Seele: »Bei dem Verunglückten handelt es sich um den Firmenunternehmer Maximilian Steiner, dessen sechzehnjährige Tochter Nicole vor einer Woche entführt wurde. Laut Angaben der Polizei und der Staatsanwaltschaft beabsichtigte Maximilian Steiner vergangene Nacht als Kurierfahrer das Lösegeld für seine Tochter zu überbringen, als er mit dem Wagen aus bisher noch ungeklärten Gründen von der Straße abkam und in einen Baum prallte. Dabei zog er sich tödliche Verletzungen zu.«

Von dem Geld fehle jede Spur, die Entführer des Mädchens hätten sich seither nicht mehr gemeldet, das Schicksal von Nicole Steiner sei immer noch ungewiss. Die Polizei ermittle nach wie vor in alle Richtungen und bitte die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise.

Das nun eingeblendete Bild der Entführten zeigte einen hübschen Teenager mit schulterlangem, rot schimmerndem Haar, hohen Wangenknochen, smaragdgrünen Augen und einer Stupsnase.

Fassungslos starrte Matthias auf den Fernsehschirm und blinzelte. Die ausgestrahlten Bilder ließen ihn einen Kloß im Hals spüren. Entsetzen breitete sich in ihm aus. Er hielt seinen Magen, als ob ihn seine inneren Organe quälten, sein Gesicht war schweißnass. Von Übelkeit und Verzweiflung erfasst, schleppte er sich in die Küche und trank gierig und zitternd ein Glas Wasser, als das Glas seiner Hand entglitt, auf dem Boden aufschlug und zerbrach. Er blickte auf die Scherben und sah plötzlich vor seinem geistigen Auge die zerbrochenen Autoscheiben, den toten Fahrer, das Blut im Wagen des Verunglückten und die vielen Glasscherben auf dem Beifahrersitz. Zurück im Flur lief er gehetzt auf und ab, immer an der offenen Wohnzimmertür vorbei, und kam der Fernseher in sein Blickfeld, blieb er kurz stehen und starrte auf den Bildschirm, obwohl der Beitrag längst beendet war. Erst nach einer langen Weile ging er, etwas ruhiger geworden, ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf die Couch.

Er drückte auf den Stand-by-Knopf der Fernbedienung und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Mein Gott, was habe ich da nur angerichtet«, flüsterte er in sich versunken. Lange, sehr lange saß er da wie versteinert und war zu keinem klaren Gedanken fähig, bis ihn das Klingeln seines Handys aus der Erstarrung riss. Er sog Luft ein. Beklommen nahm er den Anruf entgegen: »Hallo?«

»Sei gegrüßt, Kumpel. Wie geht es dir?« Das war Eric.

»Ging schon mal besser.«

»Hm. Kommst du noch auf ein Bier vorbei?«

»Nein, danke.« Matthias hörte im Hintergrund eine Frau lachen und nach Eric rufen.

»Julia ist bei mir. Sie ist verdammt scharf auf mich.« Eric lachte leise, seine Stimme klang gedämpft, wahrscheinlich schirmte er das Handy mit der Hand ab.

»Schön für dich.«

»Du klingst deprimiert.«

Matthias schwieg.

»Komme gleich, Julia! Was hast du gesagt, Matthias?«

»Nichts.«

»Sehen wir uns morgen bei der Arbeit?«

»Eher nicht.«

»Also dann, gute Besserung.«

»Danke. Tschüss.«

»Tschüss, bis bald.«

Matthias schaltete das Handy auf stumm, warf es auf die Couch, vergrub sein Gesicht in den Händen und stöhnte. Das Schicksal hatte ihm letzte Nacht ganz schlechte Karten in die Hand gedrückt und ihm den moralischen Boden entzogen, aber er musste es ja unbedingt herausfordern, sein Schicksal, indem er sich angetrunken ans Steuer setzte, verdammter Idiot, der er war. Sobald er einmal die Augen schloss, entstand in seinem Hirn das Bild des Autowracks am Baum. Wie mit einem Brandeisen war es seinem Gedächtnis eingeprägt worden.

Was würden die Entführer nun mit dem Mädchen anstellen? Es töten? Oder hatten sie sich ihrer gar schon vor der geplanten Lösegeldübergabe entledigt, wie das in anderen Entführungsfällen oftmals der Fall war?

Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort wusste – ja, nicht wissen konnte. In seinem Hirn purzelten die Konsequenzen durcheinander …

Er glaubte nicht, dass dieser Nicole unmittelbar geholfen wäre, wenn er sich der Polizei stellen und das Geld zurückgeben würde. Die Lösegeldübergabe war gescheitert, das war nun mal Fakt, weshalb also sollten die Kidnapper einen zweiten Deal versuchen? Jetzt, wo der Vater des Mädchens tot war, hatten sie wohl ohnehin kalte Füße gekriegt und würden vorsichtiger agieren als zuvor, mutmaßte Matthias.

Er stand auf und tigerte in seiner armseligen engen Zweizimmerbude mit den überlaufenden Eimern umher, unschlüssig, wie er sich weiter verhalten sollte. Klar, der Unfall tat ihm extrem leid, keine Frage, aber es steckte keine böse Absicht dahinter. Nichtsdestotrotz hatte er sich in eine ausweglose Situation, in eine Sackgasse manövriert, an deren Ende im schlimmsten Fall zwei Tote und sehr viel schlechtes Karma auf ihn warteten.

Sich die Haare raufend überlegte er, wie er fortan mit dieser Schuld leben sollte und wie den Alltag meistern, und dabei so zu tun, als sei überhaupt nichts passiert. Es ging jetzt darum, sich irgendwie über Wasser zu halten, obwohl es besser gewesen wäre zu ertrinken.

Ein fast voller Mond, gewölbt wie ein aufgeblähter Bauch, warf sein fahles Licht durch die Fenster auf den grauen Teppichboden. Matthias blickte in die Nacht hinaus. Die Dächer der Häuser gegenüber flimmerten in schwärzlichem Weiß, und es lag ein trauriger Friede im harten Licht des Mondes.

Er schnappte sich die Lederjacke und entschloss sich zu einem Abendspaziergang, um an der frischen Luft seinen Kopf klarzukriegen und danach noch irgendwo einzukehren und einen Kaffee zu trinken.

Das Café Rex war gegen 23 Uhr fast leer. Der Kellner, ein schmächtiger Typ mit buschigem Schnurrbart und Vollglatze, stellte Matthias den doppelten Espresso zusammen mit einem Glas Wasser auf den Tisch und kassierte gleich. Wie beiläufig blickte er auf seine Uhr, dabei hingen seine Mundwinkel leicht nach unten.

Wie Lefzen, dachte Matthias, trank einen Schluck Wasser und beobachtete das halbwüchsige Pärchen, das an einem entfernten Tisch saß. Die beiden sprachen recht laut über belanglose Dinge. Der Jüngling gab sich Mühe, abgebrüht zu klingen, das Mädchen versuchte sich in einem neckischen Ton und verwendete in jedem zweiten Satz das Wort »cool«, was sich auf Dauer ziemlich uncool anhörte.

Matthias beabsichtigte, morgen nochmals zu Hause zu bleiben, aber tags darauf wollte er wieder zur Arbeit fahren, musste er doch nun möglichst rasch zur Normalität zurückfinden, um nicht unnötig Verdacht zu erregen. Er nahm sein Smartphone zur Hand und bemerkte, dass seine jüngere freche Schwester Eva ihm über WhatsApp eine Nachricht übermittelt hatte: Er sei ein mieser Kerl, weil er sich fast nie melde. Wann er endlich mal wieder an einem Wochenende nach Hause käme, um mit ihr ins Kino und zum Essen zu gehen, wie er es ihr doch versprochen habe? Sie habe ihm viel Neues zu berichten und warte auf seine Nachricht. Ach übrigens, Istvan Javor sei vor einer Woche gestorben. Küsschen, Eva.

Matthias lächelte. Er liebte seine Schwester abgöttisch, sie hatten sich immer sehr nahegestanden. Er schrieb ihr sogleich ein paar nette versöhnliche Worte und versprach ihr hoch und heilig, sie bald zu besuchen. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr sein Verfehlen beichten würde?

Im Gegensatz zu ihm war sie ein anständiger und ehrlicher Mensch, gewiss würde sie ihren Bruder für seine Untat verachten …

Die Todesnachricht bezüglich Javor überraschte ihn. Der alte Zauselbart mit Augenbrauen, die Matthias bisweilen an ein Raupenpaar erinnerten, war ungarischer Abstammung und hatte jahrelang im selben Haus in Hamburg direkt unter ihnen gewohnt. Seine Frau hatte sich stets bei den Nachbarn beklagt, dass ihr Mann zur Hypochondrie neige, obschon es ihm gesundheitlich eigentlich gut ginge. Den lieben langen Tag lang jammere Istvan ihr die Ohren voll, was ihm alles fehle, welche Gebresten ihn plagten. Da er zudem ein Geizhals sei, weigere er sich vehement, seinen Hausarzt aufzusuchen, wahrscheinlich bräuchte er sowieso eher einen Seelenklempner, denn seine vielen eingebildeten Leiden würden nur noch übertroffen von seiner panischen Angst vor dem Sterben. Frau Javor pflegte dann jeweils die Augen zu verdrehen und anzufügen, dass er sie mit seiner Art ganz gewiss bald ins Grab bringen würde, womit sie recht behalten sollte, denn nur wenige Wochen, ehe Matthias in die Schweiz übersiedelte, segnete die rechtschaffene alte Dame das Zeitliche.

Kurz danach klingelte Javor mehrfach zu Unzeiten bei der Familie Rentz, um sich vom Sohn und Pflegefachmann Matthias gesundheitliche Ratschläge einzuholen bezüglich seiner Rückenschmerzen und der chronischen Migräne, dem Tremor in der linken Hand und den Magenkrämpfen, der morgendlichen Übelkeit sowie der nächtlichen Unruhe …

Anfänglich spielte Matthias mit, hörte Javor geduldig zu, erteilte ihm Ratschläge, aber irgendwann wurde es ihm zu bunt.

Sobald seine Schwester Eva von einem Sprachaufenthalt aus Paris zurückkehrte, erzählte er ihr davon, und sie versprach ihm mit einem schelmischen Lächeln, sich fortan um den Alten zu kümmern. Sie hatte ihrem Bruder als Souvenir einen mit den Obstgärten von Versailles bemalten Porzellankrug mitgebracht, eine Trouvaille vom Flohmarkt mit den prächtigen alten Bäumen. Eva gefiel offenbar der Gedanke, dass Marie Antoinette vielleicht genau diese Bäume angeschaut hatte.

Als der Witwer eines Abends erneut bei ihnen klingelte, öffnete Eva ihm die Tür. Javor fragte nach Matthias; Eva sagte, er sei nicht zu Hause. Sie habe von ihrem Bruder gehört, es ginge ihm, Javor, gesundheitlich nicht gut. Ob er ihr davon erzählen wolle? Sie stecke mitten in einem Medizinstudium und würde ihm gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen (tatsächlich arbeitete Eva als Sekretärin bei einem renommierten Treuhandunternehmen am Jungfernstieg in Hamburg).

Erfreut nahm er ihr Angebot an und folgte ihr ins Zimmer, wo er sich erwartungsvoll auf dem angebotenen Stuhl niederließ. Sie lächelte und ermunterte ihn, ihr von seinem Befinden zu erzählen.

»Tja, was soll ich sagen, wo soll ich anfangen, Frau Doktor? Da sind diese furchtbaren Kopfschmerzen, die mich heimsuchen, gefolgt von einem Zittern in der linken Hand und Juckreiz im rechten Fuß (…)«

Eva ließ den Redeschwall über sich ergehen, gab sich interessiert und nickte ernst. Als er verstummte und sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn trocknete, sagte sie: »Strecken Sie die Zunge raus.«

Javor tat es. Als Eva seine Zunge inspiziert hatte, kniff sie die Augen zusammen.

»Tja, nun, sieht es schlimm aus?« Der Alte zupfte sich am Bart und stierte sie an.

»Das synchrone Auftreten der geschilderten Symptome ist gewiss kein gutes Zeichen. Und Ihr Zungenbelag gefällt mir gar nicht.«

»Brauche ich Medikamente?«

»Allerdings. Warten Sie einen Moment.«

Sie ging aus dem Zimmer und kehrte wenig später mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück, und er schluckte die Medizin bereitwillig. Nun fühlte sie seinen Puls und blickte dabei auf ihre Armbanduhr. Danach sah sie ihm mit der Miene eines Leichenbestatters in die Augen.

»Ich muss doch noch nicht sterben, nicht wahr?«

Sie zuckte die Achseln. »Wir müssen alle sterben.«

»Gewiss, aber … noch nicht bald?«

»Sehen Sie, der Vater eines mir Bekannten hatte die gleichen Symptome wie Sie. Wenige Wochen später wurde er eingeäschert.«

»Um Gottes willen!« Javor wurde leichenblass und bekreuzigte sich. Erregt erhob er sich vom Stuhl, auf seinem Hals zeichneten sich rote Flecken ab.

»Ruhig Blut, Javor!« Eva war ebenfalls aufgestanden. Sie nahm ihn beim Ellbogen und führte ihn behutsam zur Haustür, und ehe sie ihn hinauskomplimentierte, erteilte sie ihm noch gesundheitliche Ratschläge.

Als Eva die Tür abgeschlossen hatte und ins Zimmer zurückkehrte, wartete Matthias bereits auf sie. Er hatte im Nebenraum gelauscht und lehnte mit verschränkten Armen schmunzelnd am Türrahmen.

»Und, was sagst du?«, fragte sie.

Er fasste sie mit beiden Händen an der Schulter, berührte mit den Lippen ihren Scheitel und nuschelte ihr ins Haar, das nach Apfel roch: »Du bist eine elende Quacksalberin, Schwesterherz. Eine von der übelsten Sorte.«

»›Frau Doktor‹, wenn ich bitten darf!« Sie knuffte ihn gegen die Schulter.

Matthias grinste amüsiert. »Was hast du dem Armen für eine Pille gegeben?«

»Na ja, eigentlich wollte ich ihm eine Kopfschmerztablette verabreichen. Doch die waren alle.«

»Und dann?«

»Da habe ich ihm eine meiner Antibabypillen gegeben.«

Er legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich.

»Du verarschst mich doch.«

»Pas du tout! Warum sollte ich?«

»Du bist unglaublich … Aber das warst du schon immer.«

»Danke. Ich war auch schon immer eine gute Schauspielerin, nicht wahr?«

Er nickte sinnierend. »Ich kann mich noch gut an jene Schulaufführung erinnern, in der du die Hauptrolle der Gaia im Stück ›Mutter Erde‹ gespielt hast. Du hattest so ein wunderbares Kleid an, voller Blüten und Blätter, und dein Gesicht war ganz grün geschminkt. Fast wie Poison Ivy in ›Batman‹, nur netter und nicht so giftig.«

Den Blick leicht gesenkt, lächelte sie versonnen vor sich hin und strich sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren.

»Ich saß in der vordersten Reihe und war so mächtig stolz auf dich. Auf deine starke Bühnenpräsenz und die Art und Weise, wie du deine Texte makellos vorgetragen hast, und wie du sofort improvisiert hast, wenn einer der Jungs seinen Einsatz verpasste oder sich verquasselte und nicht mehr weiterwusste … Am Ende beteten deine Schulkameraden dich an und lagen dir praktisch zu Füßen, und der Applaus wollte kein Ende nehmen.

Ich hab mir die Hände wundgeklatscht, und Oma neben mir nahm sich die Brille ab und wischte sich Tränen aus den Augen …«

Der Kellner holte Matthias in die Gegenwart zurück, indem er ganz in seiner Nähe demonstrativ und methodisch damit begann, mit weit ausholenden Bewegungen den Boden zu wischen.

Matthias hatte Verständnis für des Kellners Ungeduld, schließlich war es bereits Mitternacht und das Pärchen hatte sich vor einer Viertelstunde auch auf den Weg gemacht. Leise seufzend, noch immer in die Erinnerung an seine Schwester versunken, erhob er sich, nickte dem Kellner zu und ging nach Hause. Beim Verlassen des Cafés fiel ihm plötzlich ein, dass Javor nach jenem Abend, als er von Eva »behandelt« worden war, nie wieder bei ihnen geklingelt hatte.

Ganz in der Nähe seines Wohnblocks parkte ein Streifenwagen der Polizei. Erschrocken blieb Matthias stehen, als er ihn erblickte, und er sah sich schon im Treppenhaus von uniformierten Beamten in Empfang nehmen, die sodann seine Wohnung durchsuchen und das geraubte Lösegeld entdecken würden, wonach sie ihn verhafteten. Schuldgefühle kamen hoch, Reue, die Angst, erwischt zu werden.

Da vernahm er eine zeternde Männerstimme, und im Lichtkreis einer mit Efeu umrankten Laterne tauchten gleich darauf zwei Polizisten mit Gardemaßen auf, die einen gedrungenen Kerl mit wirrem Haar in abgewetzter Kleidung abführten. Einen kurzen Moment lang waren die drei Gesichter vom kühlen weißen Laternenlicht scharf umrissen. »Das waren doch bloß ein paar harmlose Ohrfeigen, weil meine Alte hysterisch geworden ist!«, schrie der Kerl.

»Hören Sie auf herumzuschreien, sonst kassieren Sie eine Geldbuße wegen nächtlicher Ruhestörung!«, herrschte einer der Ordnungshüter den Delinquenten an, öffnete die Hintertür des Streifenwagens, drückte ihm den Kopf nach unten und schob ihn unsanft auf die Rückbank.

Matthias bemerkte die Handschellen auf dessen Rücken. Betont gemessenen Schrittes begab er sich zu seinem Wohnblock und schloss die Haustür auf. Zu seiner Erleichterung hörte er den Polizeiwagen abfahren.

Noch mal gut gegangen …

Er stieg die abgetretenen steinernen Treppenstufen empor. Im Wohnzimmer ließ ihn sein schlechtes Gewissen das Tablet aktivieren und in der Rubrik »News« nach Nicole Steiner und ihrem Vater googeln, aber er fand nichts, was er nicht schon in der Tagesschau erfahren hatte. Als er weitersuchte, konnte er jedoch die Privatadresse der Familie Steiner ausfindig machen.

Clara Sachs hatte ihm eine E-Mail geschickt, sie war seine Jugendliebe, mit der er sich ab und zu in Lörrach traf. Sie unterhielten eine lockere Beziehung, aber es war nichts Ernstes, und dann und wann gönnten sie sich ein mediterranes Gericht im Peja, ihrem Stammlokal am Chesterplatz mit dem jungen, stets gut gelaunten Servicepersonal, und anschließend gerne noch ein gemeinsames Schäferstündchen in einem preiswerten Hotelzimmer.

Clara, ein Vollweib von einer Brünetten, hatte in Magdeburg und Jena Literaturwissenschaft studiert und über den genialen polnischen Philosophen, Essayisten und SF-Autor Stanislaw Lem promoviert, dessen vielschichtiges philosophisches Schlüsselwerk »Solaris« sie geradezu kultisch verehrte, ja anbetete. Seit Langem arbeitete sie selbst an einem Science-Fiction-Roman mit dem Arbeitstitel »2050 – Ensoras Chroniken«, der in ihr brenne und lodere, wie sie es ausdrückte: Der junge Hobbyastronom Sebastian Weiss beobachtet auf einem leeren Feld mit seinem Teleskop den Nachthimmel, als sich plötzlich mit einem metallischen Sirren in etwa hundert Metern Entfernung ein blinkendes, zigarrenförmiges Objekt materialisiert, dem eine schlanke Gestalt in einem silbrigen hautengen Anzug entsteigt. Als diese den Helm abnimmt und ihr dunkles Haar ausschüttelt, nähert sich ihr Sebastian vorsichtig. Die beiden kommen miteinander ins Gespräch. Die Frau im glänzenden Habitus heißt Ensora und ist mit ihrem Zeitreisemobil aus ihrer Zukunft angereist – einer finsteren dystopischen Gesellschaft, deren Herrscher sie wegen Meuterei und Hochverrats festgenommen und zum Tode verurteilt hatten. Ihr Geliebter und Kampfgefährte konnte sie im letzten Moment vor der Hinrichtung bewahren und sie in eine Zeitmaschine setzen, mit der sie ins Jahr 2020 flüchtete – das Jahr, in dem sich machthungrige, skrupellose Politiker und hohe Militärs verbündeten, um gemeinsam den Grundstein zu jener Dystopie zu legen.

Ensoras Mission bestand nun darin, die Axt an der Wurzel des Übels anzusetzen und sämtliche Hauptakteure nacheinander zu liquidieren. In Sebastian findet sie einen Verbündeten, der sich alsbald dazu bereit erklärt, die schöne Zeitreisende mit den Cyborg-Anteilen in ihrem Vorhaben zu unterstützen.

Im Anhang hatte Clara Matthias ein weiteres Buchkapitel gesandt, und er zweifelte keinen Moment daran, dass ihr geliebtes Baby dereinst als literarische Geburt in Form eines Buchs das Licht der Welt erblicken würde. Er las den Text, ging zu Bett und wälzte sich in einen unruhigen Schlaf.

Ein Traum zerrte seine schmutzige Tat wieder hoch. Schweißgebadet, schreiend, wild um sich schlagend und nach Luft schnappend wachte er auf und spürte unsichtbare Hände sein Schicksal weben. Jäh erhob er sich aus dem Bett. Eine abgrundtiefe Abscheu vor sich selbst schnürte ihm die Kehle zu.

Als der Traum allmählich verblasste und er sich beruhigt hatte, entschloss er sich dazu, zum Haus der Familie Steiner zu fahren.

Schicksalspartitur

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