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BEGEGNUNG IN DER KATHEDRALE
ОглавлениеDraußen tobte ein Schneesturm und die sakrale Stätte, in der ich mich zum Schutz niedergelassen hatte, war für mich wie das ruhige Auge eines Zyklons. Um diese Tageszeit war die dreischiffige Kathedrale von Saint Belem menschenleer. Die Kirchenorgel strahlte in den ganzen Raum und brachte die kalte Luft zum Vibrieren, während die Steinwände den Weihrauch von Jahrhunderten ausdünsteten.
Mit einem Knarren öffnete sich plötzlich hinter mir das Südportal. Ich spürte den eisigen Luftzug im Nacken und hörte Schritte. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, dass sich gleich darauf ein älterer Herr direkt neben mich auf die Bank setzte, wo es doch mehr als genügend freie Plätze gab. Er zog seinen Hut vor mir, und ich nickte ihm zu. Beide lauschten wir in der Folge andächtig der majestätischen Musik, während ich den Mann aus dem Augenwinkel beobachtete. Er schien das spitzbogige, mit Maßwerk verzierte Buntglasfenster in der linken Wandfläche zu betrachten. Es zeigte, wie ich nun bemerkte, den Sündenfall von Adam und Eva.
Mein Name ist Peter Gent, ich handle mit Antiquitäten und bin seit vier Jahren verwitwet. Meine Frau Ruth starb bei einem Autounfall. Als ich sie damals im pathologischen Institut identifizieren musste, schien ihr Leichnam von einem flirrenden Glanz umgeben. Ich griff nach ihrer Hand, dabei verrutschte das Leintuch und gab den Blick frei auf ihren zerfetzten Oberkörper.
Dieser Anblick, der mir rasch das Bewusstsein nahm, verfolgt mich bis zum heutigen Tag. Mit Ruth war auch ein großer Teil von mir gestorben, und im Nebel der Depression bin ich noch immer unfähig, ein neues Lebenskapitel aufzuschlagen.
Die Musik war verstummt. Der Fremde wandte sich mir zu und fragte: »Kommen Sie oft hierher und beten?«
»Nein, ich bete nie. Allein der Schneesturm trieb mich hierher«, sagte ich.
»Warum beten Sie nie?«
»Weil mir der alte Knabe da oben ohnehin nicht antworten würde.«
»Wie recht Sie haben«, sagte er gemessen lächelnd und deutete auf den Sündenfall. »Haben Sie schon darauf geachtet? Kein Mensch weiß heutzutage mehr, dass dieses Werk von Gérard Garouste stammt. Unfähige Kunsthistoriker ordneten es einer falschen Epoche zu.«
Darauf wusste ich nichts zu erwidern.
Er blickte mich durchdringend an und ich sah in seine wachen, listigen Augen, über denen buschige Brauen thronten. Sein Gesicht erschien mir kraftvoll. Er war in Ehren ergraut und wirkte sehr gepflegt, vielleicht an der Grenze zur Dekadenz. Ich schätzte ihn um die fünfundsechzig. Auf mich machte er den Eindruck eines erfolgreichen Geschäftsmanns. Der schwere, holzige Geruch seines Aftershaves stieg mir in die Nase und machte mich fast ein wenig trunken. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Die baldachinartigen Rippengewölbe mit dem Sternenmuster schienen in himmlische Sphären entrückt. Ich hatte das Gefühl eines rauschartigen Emporgehobenwerdens. Die dünnen, in die Höhe schießenden Rundpfeiler weckten in mir die Imagination von Antennen des Glaubens. Ich blickte zum Chor, in dessen Mitte befand sich ein monumentales Triumphkreuz, das mit Vogelkot beschmutzt zu sein schien.
Der Alte neben mir räusperte sich und sagte: »Darf ich Ihnen vielleicht eine kleine Geschichte erzählen?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Es würde uns ein wenig die Zeit verkürzen, nicht wahr?«
»Genau das dachte ich mir auch … Dann also los. Wie Sie wissen, mein Herr, schuf Gott am Anfang Himmel und Erde und setzte danach die Sterne ans Firmament. Aber man muss sich fragen, was einem Schöpfer all seine Werke nützen, wenn niemand zugegen ist, der sie betrachtet und sich daran erfreuen kann. Gott wird zur selben Einsicht gekommen sein, denn bald schon formt er aus den Elementen der Natur den ersten Menschen und haucht ihm seinen Odem ein. Er muss jedoch feststellen, dass Adam sich mit der Zeit sehr einsam fühlt. Daher stellt er ihm ein Weib namens Eva zur Seite …«
So erzählte er mir die Schöpfungsgeschichte, die einige mir unbekannte Aspekte hervorhob, und ich lauschte ihm mit Zurückhaltung. Am Ende heftete er den Blick auf das große Kruzifix und wollte von mir wissen, was ich über die genauen Todesumstände Christi wüsste.
»Nun, Sie wissen selbst, dass er gekreuzigt wurde. Da fällt mir gerade ein, dass ich neulich eine Sendung über das Turiner Grabtuch …«
»Ach«, fiel er mir ins Wort, »verschonen Sie mich bloß mit diesem mittelalterlichen Fetzen Stoff, bei dem es sich nur um eine Fälschung Leonardo da Vincis handelt.« Er winkte verächtlich ab. »Sie müssen wissen«, führte er fort, »dass dieses Linnen mit dem geisterhaften Abdruck eines Gekreuzigten ein Auftragswerk für den damals amtierenden Pabst war. Damit sollten die Pilger in Scharen angelockt werden, auf deren Spenden die Kirche erpicht war. Leonardo fertigte also diese falsche Reliquie an, aus den Evangelien wusste er ja genau um die Verletzungen, die Jesus auf seinem Leidensweg zugefügt wurden. Er hat die Fälschung auch recht gut hingekriegt, muss man sagen. Mit Ausnahme der Fußwunden, die bei ihm über den Rist verlaufen. Aber woher hätte er auch wissen sollen …«
»Was?«
»Dass die Soldaten des römischen Hinrichtungskommandos Jesus die Nägel seitlich durch die Fersenbeine trieben.«
»Und woher wissen Sie es? Ist das nicht nur ein Detail?«
»Nun, ich weiß es einfach, und es ist mehr als nur ein Detail.«
»Inwiefern?« Er hatte mich neugierig gemacht.
»Sehen Sie, die Passionsgeschichte muss im direkten Kontext zum Sündenfall betrachtet werden. Christi Kreuzigung war nicht ausschließlich das Werk von Menschen, denn die römischen Schergen handelten größtenteils fremdbestimmt, ohne sich aber dessen bewusst zu sein. Dysmas und Gestas, die beiden Leidensgenossen Jesu rechts und links von ihm, wurden mit Stricken an den Kreuzen fixiert. Christus hingegen nagelte man ans Holz … Aber wieso eigentlich diese unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Hinrichtung? Haben Sie sich diese Frage noch nie gestellt?«
»Offen gestanden, nein«, sagte ich, worauf sein Blick verschlagen und rätselhaft wurde. Sodann fuhr er in einer Stimme, die niemals irrt fort: »Dann erkläre ich es Ihnen und Sie verstehen dann, warum Christus Gott um Vergebung für seine Peiniger bat, da diese nicht wüssten, was sie täten. Die Sache ist wie folgt: Nachdem Gott das erste Menschenpaar aus dem Paradies verbannt hatte, wandte er sich an die Verführerin, die Schlange. Er sagte zu ihr, er werde dereinst einen Mittler auf Erden senden, der ihr das Haupt zertreten würde. >Ach<, gab die Schlange zur Antwort, eifersüchtig bist du bloß auf mich, weil ich den Menschen die Erkenntnis über Gut und Böse verschaffte. Ohne diese Fähigkeit aber könnten sie sich immer nur für dich entscheiden. Ist es das, was du wolltest? Ihnen die Wahlfreiheit rauben? Was jenen Mittler anbelangt, Jesus, wie er heißen wird, er möge zu mir kommen. Ich werde auf ihn warten. Trachtet er danach, mir das Haupt zu zertreten, so will ich im Gegenzug Evas Tat ungeschehen machen, indem ich dir die Frucht darreiche, die sie vom Baum der Erkenntnis pflückte, indes auf meine Weise: Ich hänge sie in Gestalt deines Sohnes Jesus zurück an den Baum, aber dies wird der bittere Baum des Todes sein. Die Menschen werden ihn verspotten, geißeln und seine Fersen durchstechen‹.«
Ich blickte auf das Kruzifix, dessen Längsbalken die Mittelachse einer strengen und vollkommenen Symmetrie im Chor- und Altarbereich bildete. In qualvoller, tödlicher Verzerrung blickte das Antlitz des Schmerzensmannes auf die vorderen, leeren Bankreihen. Von einer unbestimmten Unruhe ergriffen, drehte ich dem Fremden das Gesicht zu: »Verzeihung, wer sind Sie eigentlich? Und was wollen Sie von mir?«
Kühl und abschätzend musterte er mich: »Mein Name ist nicht wichtig, Peter Gent.«
»Woher wissen Sie wer ich bin?«
»Peter, ich weiß so vieles. Aber wissen Sie, dass Ihre Frau im zweiten Monat schwanger war, als sie in ihrem Wagen in den Tod raste?«
Ich erstarrte und stierte ihn fassungslos an. Das Herz pochte mir bis zum Hals.
»Nun«, fuhr er wie amüsiert fort, »Ihr Blick spricht Bände. Sie wussten es mit Bestimmtheit nicht. Es war auch kein Unfall, sondern ein Suizid … Gewiss denken Sie noch ab und zu an die kokette junge Dame, der sie vor sechs Jahren den Florentiner Barockspiegel aus dem siebzehnten Jahrhundert verkauften. Immerhin wurde sie Ihre Geliebte. Doch Ruth, Ihre Frau, ist Ihnen auf die Schliche gekommen. Als sie Ihre ständigen Seitensprünge nicht länger verkraften konnte, brachte sie sich um, hinterließ Ihnen jedoch keinen Abschiedsbrief, denn sie wollte nicht, dass Sie sich bis an Ihr Lebensende mit Selbstvorwürfen quälen müssten.« Er hüstelte ostentativ.
Mich fror es bis ins Mark und ich zitterte, währenddem er weiter ungehemmt auf dem Geheimnerv herumdrückte, den er in mir getroffen hatte: »Ihr toter Sohn wäre übrigens ganz nach Ihnen gekommen, Peter, Sie können also davon ausgehen, dass Sie der leibliche Vater des Jungen …«
»Halten Sie den Mund, Sie dreckiges Schwein!« Die Wut hatte meine Erstarrung gelöst und ich wollte schon auf ihn einprügeln, doch die Kraft, die von seinen Augen ausging, ließ mich innehalten. Fest und gebieterisch ruhte sein Blick auf mir. »Bei der Kollision«, fuhr er gelassen fort, »wurde Ihrer Frau der Brustkorb eingedrückt. Sie verblutete und erstickte langsam und höchst qualvoll, während Sie sich zur selben Zeit mit Ihrer Gespielin vergnügten.«
Seine Worte fuhren wie Hiebe auf mich herab, und um mich herum begann sich alles zu drehen. Wie angenagelt hockte ich auf der Bank, und mir wurde speiübel.
Er stieß mich an und holte dann aus der Tasche seines Mantels einen Apfel hervor, den er mir unter die Nase hielt: »Sehen Sie, einen solch prächtigen Apfel pflückte Eva einst von meinem Baum … Wissen Sie, so wie euer Gotte brauche auch ich ab und zu einen Menschen als Zeuge meiner erhabenen Werke. Einstein hat einmal gesagt, Gott würfelt nicht, und er findet meine Zustimmung. Gott hat niemals gewürfelt, aber er spielt seit jeher mit mir Schach. Und wir werden wohl noch viele Züge ziehen. Und Sie, Peter, sind nur einer jener unbedeutenden Bauern auf unserem Schachbrett, der leicht geopfert werden kann. Wahrlich, noch ehe der Winter dem Frühling weichen muss, werden Sie sich mir ergeben, das garantiere ich Ihnen. Der Geruch Ihres Blutes wird wie köstlicher Weihrauch zu mir herabsteigen. Ihr Schicksal ist besiegelt!«
Als er mich aus engen Pupillen tückisch anfunkelte, überkam mich eine irre Furcht. Stumm schaute ich zu, wie er in den Apfel biss. Saft spritzte mir ins Gesicht und jäh fühlte ich mich auf eine nicht zu benennende Weise besudelt. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, stand der Versucher auf und verließ die Kirche. Ehe das Portal ins Schloss krachte, hörte ich noch den Schnee knirschen.
Der Sturm schien sich gelegt zu haben. Genau genommen hatte er sich mitten in meine Seele verlagert, um sich dort weiter auszutoben. Zusammengekauert wie ein wirbelloses Tier saß ich da und bebte. Und zum ersten Mal in meinem Leben fing ich an zu beten.
Die Besucher der Abendmesse setzten sich auf die Bänke. Mein Blick schweifte zu der Eule, die sich gerade auf dem Kruzifix niederließ. Seltsamerweise schien außer mir keiner der Kirchgänger von dem Todesvogel Notiz zu nehmen.