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Prolog

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01.05.1973

Man sagt, der Mai macht alles neu … aber er kann auch anders … er kann ganz anders.

Die Sonne war noch nicht ganz über den Baumwipfeln aufgegangen und die Luft feucht. Dicke Nebelschwaden schwebten über den Gräsern wie rastlose Seelen. Die dreißig FBI-Agenten waren müde und ausgelaugt. Trotzdem gingen sie in gebückter Haltung und mit wachen Augen über den taubedeckten Rasen. Einer hielt die Leine des Spürhundes, ein anderer umklammerte ein hochmodernes Suchgerät, welches für den schlimmsten aller Fälle entwickelt worden war.

Dies war der schlimmste Fall, das wusste jeder Einzelne von ihnen. Niemand sprach ein Wort. In den letzten Wochen war genug geredet worden. Viele Zeugen hatten sich gemeldet. Doch keine der Aussagen hatte ihnen geholfen. Ganz im Gegenteil. Viele Falschaussagen hatten sie nur noch tiefer ins Dunkel tappen lassen.

Die erschreckende Realität sah nämlich so aus: Noch immer fehlte jede Spur des Täters. Und dass, obwohl die Geschichte der verschwundenen Unternehmertochter in den Medien ganz groß aufgezogen wurde. Andrew Stone und seine Frau hatten alles Mögliche unternommen, um ihre Tochter Megan wiederzubekommen.

Man hatte alle Verwandten und Freunde genau durchleuchtet. Keinem konnte etwas nachgewiesen werden. Anfangs hatte man sogar Andrew Stone selbst verdächtigt. Doch auch dieser hatte ein stichfestes Alibi, außerdem hatte er kein Motiv. Im Gegenteil. Er liebte seine Tochter so sehr, dass er alles, aber auch restlos alles für Megan getan hätte. Nur jetzt in diesem Augenblick, da konnte er nichts mehr für sie tun. Viel schlimmer noch, er würde wohl nie wieder etwas für sie tun können.

Andrew musste von einem Polizeipsychologen betreut werden. Also stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen ihn ein. Das Einzige, was man wusste, war, dass das Mädchen nach einem Discobesuch nicht nach Hause kam. Nicht dass wir uns falsch verstehen … der Discobesuch ging nur bis 22.00 Uhr und der Vater wollte Megan von der Disco abholen, dort war sie aber nicht mehr aufzufinden. Megan wurde als vermisst gemeldet und man fing an zu suchen.

Nun war das Ganze schon zwei Wochen her und jeder hatte die Hoffnung aufgegeben.

An diesem Morgen war Andrew Stone persönlich an der Suche beteiligt. Er hatte mitgeholfen, die Umgebung zu sichern, um das gewaltige Waldstück in Ruhe durchsuchen zu können.

Er ging, wie alle anderen, in gebückter Haltung. Sein Rücken schmerzte und seine Augen brannten. Voller Verbissenheit dachte er an die Ruhe vor dem Sturm und blickte traurig in sich hinein.

Seine Tochter würde nächste Woche sechzehn werden. Standesgemäß stand schon ein schickes neues Auto für sie in der Garage bereit, denn den Führerschein würde Megan locker bestehen.

Sie wünschte sich einen kleinen, schicken VW Käfer. Es sollte einer von der bekannten Umbaufirma Karmann sein, ein schickes Cabriolet in der knalligen Farbe Rot. Wie konnte der Vater da widerstehen. Er nutzte seine Geschäftskontakte und da stand es nun als Überraschung in der Garage: ein nigelnagelneues Cabriolet mit allem, was dazugehört, geschmückt mit einer Riesenschleife.

Dass Megan es verdiente, stand außer Frage. Ihre Noten waren überdurchschnittlich, der Collegeabschluss fest eingeplant und auch das Studium in Harvard nur noch eine reine Formsache. Alles zielte darauf ab, dass Megan eines Tages nicht nur in das Unternehmen des Vaters einsteigen sollte, nein, die Lieblingstochter sollte es auch führen.

Megan war schlank und hatte lange braune Haare, die fast bis zu den Hüften gingen. Sie zog sich gern modisch an, am liebsten mit Designerklamotten. Geld genug war ja da. Sie sah dann auch zum Anbeißen aus. Ein Gedanke, den kein Vater gerne ausspricht.

Sie war bei Schulfreunden wegen ihrer offenen und ehrlichen Art sehr beliebt. Zwar kam Megan aus sehr gutem Hause, wirkte aber nie arrogant oder überheblich. Im Gegenteil. In ihrem Umfeld gelang es ihr immer, selbst in aussichtslosen Situationen hilfsbereit und salomonisch zu vermitteln.

Das waren Gedankengänge, die Andrew durch den Kopf jagten. So achtete er auch gar nicht mehr wirklich auf seine Umgebung.

Doch dann hallte ein lauter Schrei durch den Wald und zerstörte die trügerische Ruhe.

„Ich glaube, ich habe hier etwas … kommen Sie schnell her, das müssen Sie sich ansehen!“

Alle rannten zum Ursprung der Stimme und versammelten sich um das, was man gefunden hatte. Andrew schloss erst fest die Augen und blickte dann auf den Arm seiner Tochter, was sich aber erst später herausstellen sollte. Die Verwesung hatte schon begonnen und der schwer entstellte Frauenarm war daher als solcher nur zu erahnen. Jemand hatte sich offenbar daran zu schaffen gemacht. Aber nicht nur am Arm. Der völlig zerschundene Körper war teilweise verbrannt, teilweise schien es, als hätte jemand eine Art Säure benutzt, die einige Hautstellen weggeätzt hatte.

Das war kein Anblick für jemanden mit schwachen Nerven. Allein einen kopflosen Körper zu betrachten, bringen die meisten Menschen nicht fertig.

Eine Träne lief über Andrew Stones Wange und eine Hand legte sich auf seine Schulter, obwohl er da noch nicht wusste, dass er gerade seine getötete Tochter gesehen hatte.

„Gehen Sie nach Hause. Wir rufen Sie an, wenn wir noch etwas finden, Andrew.“ Stone nickte nur stumm und machte sich dann auf den Weg zu seinem Wagen. Er setzte sich in sein Auto und versuchte, es mit zitternden Händen zu starten. Andrew ließ den Schlüssel fallen, fluchte und brach dann in Tränen aus. Er atmete tief durch und startete das Auto. Der Weg nach Hause kam ihm erschreckend kurz vor. Zu Hause angekommen, empfing ihn seine Frau Susan vor der Haustür. Gemeinsam betraten die Stones ihre Villa in bevorzugter Lage. Sie besprachen, was Andrew an diesem Morgen widerfahren war und unterhielten sich danach nur noch über ganz belanglose Dinge. Nach einer Weile, als ihnen aufgefallen war, dass ihr Verhalten sie nicht weiterbrachte, fielen sie sich schluchzend in die Arme.

Drei Tage später klingelte bei den Stones das Telefon. Andrew Stone nahm den Hörer, schluckte trocken und bekam schwitzige Hände, als er hörte, wer am Apparat war.

„Guten Tag, Mr. Stone. Ich möchte Sie bitten, sofort in die Gerichtsmedizin zu kommen. Wir haben nun auch den Kopf der Mädchenleiche gefunden und zur Identifikation bereit gemacht. Meinen Sie, Sie sind in der Verfassung, sich diese anzuschauen?“

„Ich …“, er schaute seine Frau an, spürte, dass diese würde mitkommen wollen und ergänzte: „Nein, wir sind sofort da. Bis gleich.“ Völlig perplex legte er den Hörer auf und fragte Susan, ob sie mitkommen wollen würde. Die letzten siebzehn Jahre Ehe gaben ihm recht. Susan wollte mitkommen, so sehr sie auch gerade psychisch mit sich kämpfen musste. Dabei wollte er gar nicht recht bekommen. Lieber hätte er Susan zu Hause gelassen, um ihr das, was jetzt auf sie zukommen könnte, zu ersparen.

Ob er in der Verfassung wäre, hatte der Gerichtsmediziner gefragt. Natürlich war er ganz und gar nicht in der Verfassung, aber er musste schließlich wissen, ob das seine Tochter war. Das zermürbende Warten in den letzten Tagen machte die Stones fertig. Sekunden kamen ihnen vor wie Stunden. Im Leben hätten sie nicht gedacht, einmal mehr als zehn- bis zwanzigmal am Tag auf die Uhr zu schauen. Und das Ticken der Uhr … dieses verdammt laute Ticken … zum wahnsinnig werden. Blick auf die Frau … Blick auf die Uhr … Blick auf das Telefon … Blick auf die Tür. Und im Hintergrund immer das Tick-tack-tick-tack. Hätte eine Axt neben der lästigen Uhr gestanden, dann hätte diese wohl den Tag im Hause der Stones nicht überlebt.

Zehn Minuten später waren die beiden auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Dort wurden sie von einem Mann im weißen Kittel in einen Raum mit grellen Lichtröhren, wie man sie aus Zahnarztpraxen kennt, gebracht. In der Mitte des Raumes befand sich ein steriler Metalltisch, über den ein weißes Leinentuch gespannt war. Darunter konnte man die Silhouette eines leblosen Körpers erkennen.

Ein kalter Schauer lief den Eltern über den Rücken. Der Mann, der die Stones hergebracht hatte, verließ den Raum. Gleichzeitig kam ein anderer, etwas untersetzter Mann in den Fünfzigern auf sie zu.

Er sprach in einem der Situation völlig angemessenen Ton. Nicht zu medizinisch, nicht zu ruhig, sodass man jedes Wort hätte erahnen müssen und nicht zu laut. Er sprach weder zu schnell noch zu langsam. Genau so, als wüsste er, was die beiden Besucher gerade durchmachten.

Er klang auch nicht zu traurig, wohl um die ohnehin angespannte Sachlage nicht noch deprimierender wirken zu lassen. Aber letztendlich musste er die Stones mit dem Fund konfrontieren und das tat er souverän mit der gebotenen Konzilianz.

„Guten Tag, Mr. und Mrs. Stone. Ich weise darauf hin, dass Sie mit der eindeutigen Identifizierung der Leiche als Ihre Tochter automatisch Anzeige gegen den möglichen Täter erstatten. Aus diesem Grund möchte ich Sie bitten, sich genügend Zeit zu nehmen und uns auch nur die geringsten Zweifel mitzuteilen.“

Der Mann in dem weißen Kittel ging zu der aufgebahrten Leiche und entfernte das weiße Tuch ganz langsam und behutsam, sodass die Außenstehenden sich sukzessive auf den bevorstehenden Anblick vorbereiten konnten. Susan und Andrew Stone gingen auf den Tisch zu. Zitternd hielten sie sich an den Händen und blickten auf den toten, entstellten Körper ihrer Tochter. War es ihre Tochter? Ja, es war Megan. Bis zuletzt gab es die Hoffnung, es wäre nicht Megan … es wäre womöglich nur ein Traum oder ein Anruf würde erfolgen … vielleicht von Entführern, die mitteilten, dass Megan gegen ein Lösegeld freigelassen werden würde. Aber nein, da war sie nun … die leider traurige Gewissheit.

Susan Stone brach unter Tränen zusammen und ihr Mann konnte sie gerade noch auffangen. Susan schimpfte, schrie, verfluchte Gott und die Welt und fiel abschließend traumatisiert in Andrews Arme. Auch er hatte seine anfängliche Fassung verloren.

Mit tränenerfüllten Augen kniete er sich neben seine Frau.

Susan glich ihrer Tochter wie ein Ei dem anderen, auch wenn sie mit achtunddreißig natürlich ein paar Jahre älter als Megan war. Andrews Frau war eine Naturschönheit, kein Make-up konnte sie schöner machen. Susan war vollkommen, wie Gott sie schuf.

Dass Andrew mit seiner Körpergröße von 1,93 m genau zehn cm größer als Susan und gleichen Alters war, machte dieses Paar perfekt. Susan besaß strahlend blaue Augen, nicht enden wollende lange Beine und eine Haut, die zum Streicheln nicht nur einlud, sondern förmlich dazu aufforderte, liebkost zu werden. Er liebte Susan abgöttisch und er liebte Megan.

Und jetzt lagen beide vor ihm … Seine sonst so starke Frau und seine so lebensfrohe Megan. Die eine tot, die andere am Boden zerstört, genau wie auch er.

Seine Gedanken wurden von der Stimme des Gerichtsmediziners gestört.

„Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie Ihre Frau jetzt nach Hause bringen. Die Polizei wird sich noch bei Ihnen melden.“

Wieder in ihrer Villa angekommen, hatte er seiner Frau zwei Beruhigungstabletten gegeben. Er selbst hatte ebenfalls eine genommen und sich zu seiner Frau ins Bett gelegt.

Zwei Tage später hatte sich die Polizei endlich gemeldet und Andrew mitgeteilt, dass man den Mörder seiner Tochter trotz intensivster Suche nicht finden könne, da er nicht die geringste Spur hinterlassen hatte. Und er konnte sich sicher sein, dass die Polizei intensiv gesucht hatte. Er war ein erfolgreicher Unternehmer und in den allerbesten Kreisen unterwegs. Natürlich ist man der Meinung, dass es keinen Unterschied macht, in welcher gesellschaftlichen Schicht sich ein Mord zugetragen hat, dass vielleicht der Mörder eines Mitarbeiters von einem Burgerladen genauso akribisch verfolgt würde wie der eines reichen Menschen.

Andrew wusste, dass es anders war und der Polizeipräsident bei der Suche sicherlich mehr aufgeboten hatte als normalerweise üblich, allein schon, um eventuelle Konsequenzen zu vermeiden.

Die Beerdigung hatte trotz des sehr hohen Bekannt- und Beliebtheitsgrades nur im kleinsten Kreis stattgefunden. Es war, wie man sich vorstellen kann, keine schöne Angelegenheit. Seine Frau hatte einen weiteren Nervenzusammenbruch erlitten und wurde mit dem Krankenwagen nach Hause gebracht.

Als endlich alle den Friedhof verlassen hatten, fasste Andrew Stone, vor dem Grab seiner Tochter stehend, einen geheimen Entschluss: Irgendwann wollte er, Andrew Stone, eine hundertprozentige Aufdeckungsrate erreichen. Kein Verbrechen sollte mehr ungesühnt bleiben. Mit seinen technischen Fähigkeiten würde er es schaffen, das schwor er seiner toten Tochter und sich selbst bei seinem eigenen Leben.

Aber brachte das was? Tot ist tot … unumkehrbar.

Absolute Kontrolle

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