Читать книгу Beatrice – Rückkehr ins Buchland - Markus Walther - Страница 10
ОглавлениеEin alter Bekannter
Beatrice hätte nie gedacht, dass sie das Schicksal nochmal so tief ins Buchland führen würde. Seitdem sie das Antiquariat geerbt hatte, hatte sie sich nicht mehr so weit in die Gänge hineingewagt. Sie wusste um das mächtige Eigenleben des geschriebenen Wortes, wusste um die Magie, die die Realität um die Fiktion krümmte wie das Weltall den Raum um die Masse. Es gab hier Gänge, die sich verschoben, Bücher, die sich bewegten, und Wesen, denen sie nie wieder begegnen wollte. Ja, sie liebte das Buchland. Aber sie hatte auch einen höllischen Respekt vor dem, was im Buchland zu finden war.
Jetzt, nur bewaffnet mit einer Taschenlampe, konnte niemand von ihr erwarten, dass sie sich zum Blinden Buchmacher aufmachen würde. „Nein, meine Lieben“, flüsterte sie den Büchern zu, „das Spiel mache ich nicht mit. Ich bin nicht eure Marionette.“
Entschlossen schob sie die Karte zurück an ihren Platz, stieg die Sprossen hinab und …
Die Taschenlampe flackerte. Ihr Licht färbte sich von hellem Gelb zu schwachem Orange. Just als Beas Füße den sicheren Boden berührten, erlosch das kleine Birnchen hinter der Scheibe gänzlich.
„Scheiße“, stellte Bea aus tiefstem Herzen fest. Dabei drehte sie sich zwei oder drei Mal um die eigene Achse, um zu sehen, ob es vielleicht irgendwo ein Funken Helligkeit in ihrer Nähe gab. Ein fataler Fehler! Jetzt hatte sie endgültig ihre Orientierung verloren.
Sie streckte vorsichtig die Arme in beide Richtungen aus. Die Leiter musste ja noch neben ihr stehen. Die Leiter lehnte doch am Regal, das vorhin, als sie gekommen war, rechter Hand gewesen war. Wenn sie die Leiter fände, diese dann links zurücklassen würde, musste der Gang sie zurück zum Ausgang führen. Soweit die Theorie …
Fast gleichzeitig fanden ihre Fingerspitzen den Holm einer Leiter; auf beiden Seiten des Ganges, sich genau gegenüberstehend. „Das ist ein ziemlich schlechter Scherz“, beschwerte sich Bea beim Schicksal.
Das war es nicht. Nach Lachen war ihr eigentlich auch gar nicht mehr zumute, denn sie hatte nun keine Ahnung, wie sie wieder herausfinden sollte. Und zu ihrem Verdruss musste sie feststellen, dass sie einen der elementarsten Patzer gemacht hatte, die man hier unten machen konnte: Sie war aufs Geratewohl in die Gänge gelaufen. Weil sie den Weg zu den Kinderbüchern auswendig kannte, hatte sie auf die Kordel verzichtet.
„Ruhig bleiben“, befahl sie sich. Das Zittern in ihrer Stimme trug nicht dazu bei. Sie atmete tief durch, schloss die Augen (was in Sachen Sicht keinen Unterschied machte) und lauschte. Jetzt, wo sie sich darauf konzentrierte, konnte sie die Bücher wieder hören. Ihr Flüstern war kaum wahrnehmbar. Es war mehr ein Tuscheln. „So“, sagte Bea etwas aufgeräumter, „jetzt seid ihr dran. Ein bisschen Hilfe könnte nicht schaden. Wie komme ich hier wieder raus?“ Im nächsten Augenblick gesellte sich zu der absoluten Schwärze auch noch eine absolute Stille.
„Was soll das?“ Bea wollte wütend klingen. Sie tat es nicht.
Ein hohes Fiepen, irgendwo in einem entfernten Gang, entlockte ihr ein verzweifeltes Stöhnen. Von all den Wesen, die ihr in der Vergangenheit hier im Buchland begegnet waren, fürchtete sie am meisten die Ratten.
Doch anstelle des leisen Trippelns kleiner Füßchen vernahm Beatrice kurz darauf das schwere Pochen, das festes Schuhwerk auf Steinboden erzeugte. Sie war nicht allein!
„Wer … Wer ist da?“
Obwohl das Klangmuster auf einen langsamen, gemächlichen Schritt schließen ließ, näherte sich die Geräuschquelle rasch.
Abstruse Gedanken blitzten in Bea auf: Mors. Vitae. Wie weit war sie von der Tür zu den Großen Büchern entfernt? Hatte sie sich geöffnet? Würde sie gleich dem Buchhalter gegenüberstehen?
Ihre Beine hatten – ohne ihren Kopf – eine längst überfällige Entscheidung getroffen: Sie rannten blindlings drauflos. Die Arme nach vorne gestreckt wie ein Zombie, der in aller Dringlichkeit eine Toilette suchte, stolperte und strauchelte sie durch die Finsternis. Sie kam keine zwanzig Meter weit. Ein Bibliothekswagen stand aus unerfindlichen Gründen mitten im Weg.
„Das hat weh getan“, stellte jemand fest. „Darf ich dir aufhelfen?“
Eine Hand griff unter Beas Achseln, zog sie sanft nach oben.
„Wer ist da?“, fragte sie etwas lahm, während sie sich den schmerzenden Ellenboden rieb.
Der Fremde richtete den Wagen auf und schob ihn an den Rand des Ganges. Dann hörte Bea, wie er wieder zu ihr zurückkam. „Noch alles heil?“
„Wer sind Sie?“
„Du kennst mich“, sagte die Stimme.
Ja, sie kannte die Person. Aber für den Moment ließ sich für Beatrice die Stimme nicht einordnen. Doch ihr Unterbewusstsein schaufelte nach und nach einige Assoziationen nach oben. Eine Holzhütte, eine Werkbank, Bucheckenzangen, Zwingen, Falzbeine, Winkel und Schienen. Das ganze Zeugs, das man brauchte, als ein …
„… Buchbinder“, sagte Beatrice überrascht.
„Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen.“ Ein leiser Vorwurf lag in den amüsiert vorgetragenen Worten. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass du den Weg zu mir finden würdest. Aber so ist es auch gut.“
„Ich finde gerade gar nichts“, gab Bea kleinlaut zu.
„Warum?“
„Es ist stockfinster.“
„Ach, halb so wild. Das ist es für mich hier unten immer. Ich habe nur eine ungefähre Ahnung von der Gegend um uns herum. Den Rest malt mein Kopf.“ Stimmt, dachte Beatrice. Die hervorstechendste Eigenschaft, wenn man in diesem Fall von Eigenschaft sprechen konnte, war die Blindheit des Buchbinders. Ein ganzes Kapitel hatte Beatrice ihm in ihrem Buch gewidmet. „Der Blinde Buchbinder“, entfleuchten die Gedanken ihrem Munde.
„Nenn mich Markus“, sagte der Buchbinder in aller Vertraulichkeit.
„Markus“, wiederholte Beatrice. Sie schien diesen Namen abzuschmecken, seinen Klang mit der Person in Verbindung zu bringen, an die sie sich noch erinnerte. Schlank, eine ziemlich hohe Stirn, im besten Alter und in seiner süffisanten Art ebenso arrogant wie Herr Plana. Ja, so hatte sie ihn einst beschrieben. Trotzdem fiel es ihr schwer, ihn sich richtig ins Gedächtnis zu rufen, denn ihre Begegnung mit ihm in seiner Hütte war jetzt ungefähr zwei Jahre her. „Markus?“ Irgendwie passte der Namen nicht.
„Hört sich nur halb so geheimnisvoll an wie der Blinde Buchbinder. Ich weiß. Aber eine kleine Plauderei ist doch bei Weitem angenehmer, wenn man sich freundschaftlich ansprechen kann“, erklärte der Buchbinder. „Sollen wir uns nicht setzen?“
„Eigentlich möchte ich bloß so schnell wie möglich hier raus“, sagte Bea ehrlich. Ihr schlug das Herz immer noch bis zum Hals. Und auch wenn sie die Tatsache tröstete, dass sie nun nicht mehr allein war, so war die gesamte Situation, in der sie sich befand, doch extrem verstörend.
„Angst vor der Dunkelheit?“ Markus schmunzelte. „Habe ich mir abgewöhnt.“ Dann wurde seine Stimme eine Spur ernsthafter. „Aber ich kann dich verstehen. Das Ambiente ist leicht unheimlich geworden. Die Freunde deines Herrn Plana sind im Moment auch nicht mehr so freundlich zu dir, wie sie es einst ihm gegenüber gewesen sind. Was glaubst du, woran das liegt?“
Beatrice zuckte mit den Schultern und wurde sich erst dann der Tatsache bewusst, dass Markus es nicht sehen konnte. „Keinen Schimmer. Ich habe nach einem Buch gesucht, das verschwunden ist, habe aber nur einen Vermerk vorgefunden. Wissen Sie etwas über …“
„… Pippi?“ Markus seufzte schwer. „Ja. Ich weiß, dass ein Buch von ihr fehlt.“
„Wie kann das sein? In diesem Keller gibt es alle Bücher.“
Markus Stimme kam nun von unten. Er hatte sich offensichtlich auf den Boden gesetzt. „Erinnerst du dich noch, was dein Herr Plana über die Seelen der Bücher erklärt hat? Es steckt Seele in ihnen. Die Seelen der Figuren und auch sehr viel Seele von den Autoren. Plana hat sich in gewisser Weise davon genährt. Sie haben ihm Substanz verliehen.“
„Ja. Deshalb musste ich ihm immer vorlesen, ich erinnere mich. Aber was hat das mit dem verschwundenen Buch zu tun?“ Beatrice ließ sich im Schneidersitz neben Markus nieder.
„Hmm. Da musst du selbst drauf kommen“, sagte er bedächtig. „Eine Geschichte verrät nie ihre Geheimnisse zu Beginn. Oder wie Carlyle gesagt hat: Kein gutes Buch oder irgendetwas Gutes zeigt seine gute Seite zuerst.“ Eine kleine Pause folgte, dann wechselte er scheinbar das Thema. „Es wäre ein herber Verlust, wenn ein bedeutsames Buch aus dem Buchland einfach so verschwinden würde. Ein Auktoral würde alle Hebel in Bewegung setzen, um die Lücke zu schließen.“
„Ich bin kein Auktoral“, erwiderte Bea leise. Irgendwie wurde sie schon wieder zu diesem Punkt gelenkt. „Ich habe nur das Buchland-Buch geschrieben. … wie es von mir verlangt wurde.“
Markus schnaubte. „Verlangt? Ich glaube, du hättest es so oder so geschrieben. Aber da kann ich mich irren.“
„Du bist der Buchbinder! Warum machst du nicht einfach ein neues Pippi-Buch?“
„Wie sollte ich? Denkst du, ich kenne alle Manuskripte auswendig? Nein. Bücher hierher bringen, das können nur die Autoren.“
„Tja, dann weiß ich auch nicht, wie ich helfen soll.“
„Hmm. Vielleicht solltest du, wenn du oben an Herrn Planas Sekretär sitzt, nochmals darüber nachdenken. Vielleicht fällt dir dann ein, wie du helfen kannst. Vielleicht beweist du so, ob du irgendwann mal das Zeug zum Auktoral hast.“
Beatrice verdrehte die Augen und ärgerte sich sofort, dass ihre Geste des Unmuts abermals unbemerkt blieb. „Ich will doch gar nicht Auktoral werden.“
„Genauso wie du keine Schriftstellerin werden wolltest“, stellte Markus fest. Die Worte trieften vor Ironie.
„Ich soll mich also gleich an den Sekretär setzen? Toller Tipp.“ Beatrice hatte inzwischen einen ihrer jähen Stimmungswechsel vollbracht. Ihre Stimme klang nicht mehr ängstlich oder verunsichert. Sie klang schnippisch. „Ich mache mich gleich mal auf den Weg. Wo geht es lang?“
„Zur Treppe geht es da lang“, sagte Markus. Offensichtlich deutete er mit dem Zeigefinger in eine Richtung.
Beatrice vergaß ihren Kloß im Hals. Sie wurde jetzt richtig sauer. „Am lustigen Stein gelutscht, oder was?“
Die Geräusche neben Beatrice ließen darauf schließen, dass sich der Buchbinder erhob. Kurz danach griff er ihr zielsicher unter den Arm und zog sie auf die Beine.
„Pssst! Sei ganz leise.“
Bea war ganz leise.
„Hör genau hin!“
Sie hörte genau hin.
„Da ist etwas.“
Da war etwas.
„Vor dir.“ Zwei bernsteinfarbene Punkte glommen in undefinierbarer Ferne auf. Kaum zu sehen. Aber sie waren eindeutig da. „Da kennt sich jemand besser aus als du“, sagte Markus. „Lauf einfach hinterher. Die Treppe wartet auf dich.“
Die Treppe! Beatrice dachte an das Horror-Outfit, dass sich die Stufen und die Wände angelegt hatten. „Wissen Sie, was mit der Treppe passiert ist?“
„Ja.“
Beatrice starrte weiter in die Richtung, in der sie die blassen Lichter sah. Sie wollte sie nicht aus den Augen verlieren. Erwartungsvolle Stille. Dann: „Und … was ist mit der Treppe passiert?“
„Das, was mit allem hier unten geschieht.“ Der Blinde Buchbinder flüsterte. Seine Lippen berührten fast Beas Ohr. „Das Buchland verändert sich. Es passt sich an. So wie ein Buch sich seinem Leser anpasst, passt sich das Buchland seinen Besuchern an. Jeder bringt was Anderes mit herein. Deshalb nimmt auch jeder etwas Anderes mit heraus.“
„Warum passt sich das Buchland an?“
„Es ist ein Konstrukt der Phantasie. Jeder Mensch begegnet einer Geschichte anders. Eine Geschichte ist das, was man in sie hineindenkt. Nicht der Schreiber vollendet die Geschichte. Der Leser gibt ihr die endgültige Gestalt. Seine Erfahrungen, Sehnsüchte, Erwartungen färben, formen, kneten erst das geschriebene Wort des Schreibenden.“ Markus holte tief Luft. „Mit Plana an deiner Seite war das Buchland geheimnisvoll und gleichzeitig faszinierend. Als der Buchhalter es durchschritt, war es kalt und bedrohlich für dich. Als du mich besuchtest, war es wandelbar und kreativ. Erinnerst du dich? Für Plana gab es Treppen. Für mich gab es eine Rutsche. Und der Buchhalter benötigte weder das eine noch brauchte er das andere.
Da Plana ein Teil von dir war, siehst du das Buchland heute noch immer so, wie es sich damals auf ihn eingestellt hatte. Aber nun ändert sich etwas. Du spürst es, oder?“
Der Atem des Buchbinders streifte kalt ihren Nacken. Eine Gänsehaut ließ sie schaudern. „Alles wird angsteinflößend und gefährlich.“ Ja, alles. Sogar dieser Mann hinter ihr.
„Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass ein neuer Besucher das Buchland durchstreift.“ Markus’ leise Stimme wurde langsam zu einem Zischen.
Beatrice kniff die Augen zusammen. Die beiden Punkte, die ihr den Weg zum Ausgang versprachen, verschwammen zusehends mit dem undurchdringlichen Schwarz. „Wer?“
„Eine Macht, die beinahe so groß ist wie der Tod. Sie ist so alt wie die erste Geschichte, die einst in einer Höhle erzählt worden ist. Sie ist allgegenwärtig.“
„Scheint kein angenehmer Mensch zu sein“, sagte Beatrice unsicher.
Markus’ Stimme bewegte sich fort. „Habe ich von einem Menschen gesprochen?“
„Wovon“, stieß Beatrice hervor, „sprechen Sie denn sonst?“ Keine Antwort. „Theatralischer Auftritt. Theatralischer Abgang. Wie passend.“
Beatrice ging ein paar Schritte. Die leuchtenden Punkte, die sie immer noch anvisierte, verschwanden kurz, nur um dann etwas weiter entfernt wieder aufzutauchen. Dabei konnte Beatrice das leise Schwingen von Flügeln vernehmen.
Beatrice verfolgte, so schnell es eben in dieser Finsternis möglich war, die Punkte, die mal hier, mal da vor ihr aufleuchteten, um dabei von Zeit zu Zeit regungslos wartend zu verharren, mal ungeduldig auf und ab zu wippen. „Nicht so schnell“, keuchte Bea manchmal. Die Punkte schienen sie dann zu verstehen, verlangsamten ihr Tempo. Doch wenn die Bibliothekarin zu nahekam, gab es ein kraftvolles Flattern, gefolgt von einem Rauschen und ein gutes Stück weiter vorne leuchteten jäh wieder braune Flämmchen, die geduldig warteten.
„Was bist du?“, fragte Bea.
Die Erwiderung war unverständlich, aber überaus aussagekräftig: „Schuhuhu.“
Irgendwann empfing sie das matte Licht der Treppe. Die Büchereule setzte sich auf das Bord der aktuellen Charts. Dort begann sie damit, sich ausgiebig zu putzen. Ein paar beigefarbene Federn schwebten sanft zu Boden.
Beatrice ging vorsichtig zu ihr hin, strich sachte mit dem Daumen über den Rücken. „Danke.“ Die Bernsteinaugen, umrahmt von kreisrunden kleinen Tellern, begegneten Beas Blick, zwinkerten weise und ruckten dann wieder hin und her.
„Ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen gewesen. Kann ich dir etwas Gutes tun? So als Bezahlung für deine Mühen?“
Der große Eulenkopf nickte eifrig. Ein Satz mit angelegten Flügeln beförderte sie an den Anfang des Regalbretts. Dort griffen die Vogelkrallen sich Platz eins und Platz zwei der Belletristik-Hitparade.
„Die willst du haben?“
Kopf hoch. Kopf runter.
„Nur zu.“
Die Schwingen des Nachtvogels breiteten sich aus, schlugen in ihrer ganzen imposanten Spannbreite majestätisch ein paar Mal und dann … war Bea wieder allein.