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Fremde Gesichter, fremde Namen.

Jungfernstieg, Gänsemarkt, Messehallen …

Bei der nächsten Station musste Nina umsteigen. Das Gepäck war allmählich lästig, Schultern und Arme schmerzten vom Tragen. Zum Glück kam die U-Bahn, ohne dass sie lange warten musste. Noch ein paar Stationen, dann war sie dort.

Was für eine Unterkunft das wohl sein würde?

Ein leer stehendes Haus, besetzt von jungen Leuten? Vielleicht waren Strom und Wasser abgestellt?

Sei’s drum, dachte Nina. Eine Nacht ohne Dusche würde sie nicht umbringen. Sie hätte sich nach der langen Reise zwar ganz gerne frisch gemacht, aber es würde auch so gehen.

Sie tastete nach dem kleinen Lederbeutel, den sie zwischen ihren Brüsten trug. In dem Beutel war der Großteil ihres Geldes. Wenn jemand versuchte, sie zu beklauen, würde sie es merken.

An der Haltestelle, die Hughi ihr genannt hatte, stieg sie aus und verließ die Station. Jetzt nach rechts oder nach links? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.

Aufs Geratewohl ging sie nach links. Nach zwei Querstraßen stieß sie auf die gesuchte Straße. Sie gratulierte sich zu ihrem Orientierungsvermögen. Auch die Hausnummer war schnell gefunden. Sie gehörte zu einem alten Haus, hoch und düster. Die Wände waren mit Graffiti besprüht. Es gab weder ein Türschild noch eine Klingel, nur ein paar schwarze Drähte hingen aus der Wand. Die Haustür war nicht abgeschlossen und gab beim Drücken nach.

Sie betrat einen dunklen Flur. Es roch modrig. Nina erinnerte sich an ihr helles, sonniges Zimmer und verdrängte schnell das Bild. Wenn es zu schlimm war, konnte sie noch immer in ein Hotel gehen.

Das Erdgeschoss war ganz offensichtlich unbewohnt. Die Holzstufen knarrten, als Nina nach oben stieg. Das Treppenhaus war eng und ständig streifte sie mit ihrem Gepäck das Geländer oder die Wand.

Im ersten Stock gab es ein Namensschild: „E. Tender und K. Fink“.

E. und K.? Eileen und Klaus?

Nina drückte auf den Klingelknopf. Sie hörte, wie es drinnen läutete.

Nichts rührte sich.

Ausgeflogen, dachte Nina. Sie klingelte noch einmal. Davon wäre auch ein Toter wach geworden.

Nichts.

Nina hockte sich auf die oberste Treppenstufe.

Fehlanzeige. Was jetzt?

Sie könnte durch ein zerbrochenes Fenster ins Erdgeschoss steigen und dort die Nacht verbringen. Es widerstrebte ihr. Andere konnten da auch reinklettern und ihr die Kehle durchschneiden.

Bekam sie jetzt etwa Muffensausen?

Nina ärgerte sich über sich selbst. Sie holte einen Kaugummi aus dem Rucksack und schob ihn in den Mund.

Ansehen kostete ja nichts. Vielleicht ließ sich ein Zimmer absperren oder sonst wie verbarrikadieren.

Sie schulterte ihren Rucksack, griff nach ihren Taschen und stieg die Treppe wieder hinunter.

Dann ging sie um das Haus herum.

Die Fenster lagen hoch. Mit den Fingern konnte Nina das Sims gerade erreichen. Schade, dass sie sich so oft vor dem Sportunterricht gedrückt hatte. Jetzt ein Klimmzug und sich dann einfach nach oben hangeln …

Nina sah sich um. Im Innenhof standen lauter kaputte Autos, eingedrückt und verbeult. Eine regelrechte Schrottparade.

Weiter hinten entdeckte Nina eine Mülltonne. Wenn sie die herbeischaffte und unter ein Fenster rollte, dann konnte sie einsteigen …

Eine der Rollen war kaputt, und die Tonne machte einen Heidenlärm, als Nina sie durch den Hof und zum Haus schob. Dann zog sie sich darauf hoch, stand auf dem Sims und langte durch die zerbrochene Scheibe zum Griff, um das Fenster ganz zu öffnen. Es ging nicht. Entweder war der Mechanismus kaputt oder das Fenster klemmte. Nina versuchte es einige Minuten lang, dann gab sie auf. Welcher Einbrecher stellte sich so dämlich an?

Kurz entschlossen wickelte sie ihre Jacke um die Hand und stieß die Scheibe ganz ein. Klirrend fielen die Scherben auf den Boden und Nina konnte durch das Fenster kriechen.

Sie sprang ins Zimmer und ging durch die Wohnung, die anscheinend schon seit längerer Zeit leer stand. Es waren große Räume mit hoher Decke. Ein ehemals weiß gekacheltes Bad, in dem die Wanne fehlte, und ein unappetitliches Klo. Nina zog probeweise an der Spülung. Irgendwo über ihr gurgelte es in den Rohren, aber es kam kein Wasser. Abgestellt also. Strom gab es in diesem Loch wahrscheinlich auch nicht.

In einem Raum entdeckte Nina eine vergilbte Zeitung, die vom April stammte. Die Seiten waren angefressen.

Mäuse? Oder sogar Ratten?

Waren da nicht überall an den Fußleisten Spuren? Es überlief Nina kalt. Sie ließ alle Übernachtungspläne fallen.

Nein, danke.

Lieber würde sie im Freien auf einer Parkbank schlafen.

Sie kletterte wieder durchs Fenster. Im Hof stand noch ihr Gepäck.

Nina lud sich den Rucksack auf, packte die Taschen und wollte gehen.

In diesem Augenblick bog ein Wagen in den Hof. Er unterschied sich von den anderen Schrottkarren nur dadurch, dass er ein Nummernschild hatte und offenbar fahrtüchtig war.

Der Fahrer trat auf die Bremse, als er Nina sah.

„He“, rief er durchs offene Fenster, „suchst du jemanden?“

Nina schätzte den Mann auf Mitte zwanzig und zwei Zentner.

„Ja, ich will zu Klaus oder Eileen.“

„Ich bin Klaus. Brauchst du vielleicht ein Auto?“

Nina fing an zu lachen. „So ’ne Schrottkarre will ich bestimmt nicht!“

„Die sind alle völlig in Ordnung“, erklärte Klaus. „Ich weiß, optisch sind sie nicht gerade erste Klasse, aber daran arbeite ich noch.“

„Ich suche kein Auto, ich brauch einen Platz zum Pennen für heute Nacht. Am Bahnhof hab ich Hughi getroffen, der hat mir die Adresse gesagt.“

„Ist der auch mal wieder in der Gegend?“

Nina hob die Schultern. „Ich kenn ihn nicht weiter.“

Klaus gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen in eine Parklücke. Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und stieß mit dem Fuß gegen die Radkappen.

Nina wurde ungeduldig.

„Was ist jetzt? Kann ich heute bei euch schlafen oder nicht?“

Klaus grinste. „Eileen hat bestimmt was dagegen, wenn ich dich mit ins Bett nehme, Süße.“

„Idiot“, fauchte Nina. „In dein Bett will ich bestimmt nicht, danke für die Einladung. Lieber schlaf ich auf dem Fußboden oder sonst wo.“

„War doch bloß ein Scherz. Brauchst nicht gleich so biestig zu werden.“ Klaus kam näher.

Nina musterte ihn abschätzend von oben bis unten. „Ich glaub, ich verzichte besser ganz.“ Damit griff sie wieder nach ihren Taschen.

„Warte doch“, lenkte Klaus ein. „Klar kannst du bei uns schlafen. Die Wohnung ist groß genug. Bernd ist in Australien und Uwes Zimmer ist sowieso noch nicht wieder vermietet.“

Nina wurde hellhörig. „Ihr habt ein freies Zimmer?“

„Na ja, eigentlich hab ich’s schon halb einer Freundin versprochen … Aber die zieht frühestens im Oktober ein.“

Nina überlegte. Das Problem, wo sie die erste Zeit wohnen sollte, wäre wunderbar gelöst. Oder vielleicht auch weniger wunderbar? Sie war misstrauisch. Bildete sich dieser Kerl etwa ein, dass sie leicht zu haben war? Es war bestimmt anstrengend, wenn sie sich den Fettsack dauernd vom Hals halten musste.

Besser, von Anfang an die Grenzen zeigen.

„Bei mir läuft nichts“, erklärte Nina. „Ich brauch ’ne Unterkunft und weiter nichts.“

„Okay, kapiert, kapiert. Willst du dir das Zimmer nicht wenigstens mal anschauen?“

„Doch, na klar.“

Nina folgte ihm in den ersten Stock, wieder mit dem ganzen Gepäck. Sie fragte sich, wann ihr wohl die Arme abfallen würden.

Klaus sperrte die Wohnungstür auf. Nina betrat einen schmalen Flur, der noch enger wurde durch eine wuchtige Holzkommode.

„Zweite Tür links“, kommandierte Klaus.

Nina öffnete die Tür. Das Zimmer war nur halb so groß wie ihres zu Hause. Eine Liege mit einer schreiend bunten Matratze. Ein hoher, potthässlicher Schrank. Ein alter Küchentisch und ein passender Stuhl. Das war die gesamte Einrichtung.

„Urgemütlich“, sagte Nina.

„Uwe war anspruchslos.“

Nina fiel die Entscheidung schwer. Für eine Nacht würde es gehen, sicher. Aber länger?

„Ich überleg’s mir.“

„Bitte.“ Klaus öffnete die nächste Tür. „Hier ist das Bad, falls es dich interessiert.“

Nina warf einen Blick hinein. Grüne Kacheln, grüne Wanne, grünes Klo. In der Badewanne war ein Wäscheständer aufgestellt. Auf ihm trockneten fünf bunt gemusterte Boxershorts. Nina grinste.

„Sind das deine Unterhosen?“

„Was dagegen?“ Er wurde rot.

„Jeder trägt, was er mag.“

Klaus schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

„Ende der Besichtigung?“, fragte Nina.

„Die Küche ist dort.“ Er wies mit dem Daumen zu einer anderen Tür. „Oberstes Fach im Kühlschrank ist deines. Kochen und Abwasch macht jeder für sich.“

„Und wie viel kostet der Spaß?“

„Hundertachtzig.“

„Für dieses Loch?“, empörte sich Nina.

„Warm. Das ist billig für Hamburg.“

Nina zögerte. Sie schaute zu den anderen Türen. Die Wohnung hier war größer als die im Erdgeschoss. Vielleicht hatte man aus zwei Wohnungen eine gemacht.

„Ist das hier eine WG oder was?“

Klaus grinste. „Im Moment besteht die WG aus Eileen und mir. Bernd kommt erst nach Weihnachten aus Australien zurück.“

„Gibt es hier Mäuse?“

„Wie kommst du denn darauf?“

Nina zuckte die Schultern. „Ich schau mir das Zimmer noch mal an.“

Beim zweiten Mal war der Eindruck nicht ganz so schlimm. Verschiedene Sachen ließen sich leicht ändern. Nina nagte an ihrer Unterlippe. Wenn sie den Schrank neben die Tür rückte, fiel er viel weniger ins Auge. Die grellbunte Matratze würde unter der Bettwäsche verschwinden. Und ein neuer Anstrich würde dem ganzen Zimmer guttun.

Nina trat wieder auf den Flur. „Okay.“

„Und was heißt das?“, fragte Klaus nach.

„Das heißt, dass ich bleibe.“

Klaus grinste. „Ich hab doch gewusst, dass du einen guten Geschmack hast.“

Abgerutscht

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