Читать книгу Der magische achte Tag - Marliese Arold - Страница 8
Ein seltsamer Morgen
ОглавлениеLaura verließ die Villa und ging auf dem Kiesweg zum Tor. Der Weg war schon lange nicht mehr geharkt worden, und überall wuchs Unkraut. Wildkräuter, wie Papa sagte. Die Sträucher links und rechts hatten seit Monaten keine Gartenschere mehr gesehen. Laura schluckte. Trotzdem war es immer noch ihr Garten, in dem sie und Elias jahrelang gespielt hatten. Der schönste Garten der Welt, auch wenn Mama diese Wildnis schrecklich fand.
Das rote Auto wartete schon vor dem Tor. Laura warf ihren Rucksack auf den Rücksitz und stieg auf der Beifahrerseite ein.
»Nach Hause!«
Laura fand es immer noch faszinierend, dass kein Fahrer mehr nötig war. Sie besaßen das Auto erst seit vier Wochen. Alle Bewohner des Hochhauses beneideten die Lilienstedts darum. Papa dagegen meinte, es sei wieder mal typisch für Mama gewesen, sich so etwas anzuschaffen. Sie müsse den anderen immer eine Nasenlänge voraus sein.
Das Auto fuhr nahezu lautlos. Es besaß einen umweltfreundlichen Elektromotor. Sicher bewegte es sich durch die Straßen. Nach einigen Minuten hielt es im Akeleiweg vor der Nummer acht, einem Hochhaus, das aussah wie ein großer Würfel. Die vielen Fenster hatten nicht nur die Eigenschaft, dass man sie niemals putzen musste, sondern sie verdunkelten sich automatisch bei zu großer Sonneneinstrahlung. Nachts leuchteten sie für die Betrachter draußen in bunten Farben.
Laura fand das Hochhaus total hässlich, obwohl der japanische Architekt dafür einen Designerpreis gewonnen hatte.
»Garage!«, befahl Laura, nachdem sie ausgestiegen war.
Das Auto setzte sich gehorsam in Bewegung. Laura sah zu, wie der Wagen zur Tiefgarage einbog, dessen Tor sich automatisch öffnete.
Laura schulterte ihren Rucksack und lief zur Eingangstür. Dort hielt sie ihren Daumen auf das Sensorfeld an der Wand und wartete, bis die Tür aufging. Sie betrat die Halle, wo die bizarre Topfpflanze auf der Säule noch trauriger aussah als am Freitagnachmittag, als Laura das Gebäude verlassen hatte.
»Arme Ufo-Pflanze!«, murmelte Laura. »Keiner liebt dich!«
Die Putzroboter kamen einfach nicht mit den Grünpflanzen zurecht. Manchmal ertränkten sie sie, manchmal ließen sie sie verdorren. Der Wassersensor war nach wie vor ein schwacher Punkt, das war auch nach der Rückrufaktion der Herstellerfirma nicht besser geworden.
Laura hatte Glück, der Aufzug war gerade unten. Sie ging hinein und drückte auf den Knopf mit der Acht. Die Türen schlossen sich mit einem sanften »Zscht«, dann bewegte sich der Aufzug nach oben. Exakt acht Sekunden später stoppte er so ruckartig, dass Laura ihrerseits die Pizza stoppen musste, die sie vorhin bei Papa gegessen hatte. Zu viel Fett, zu viel Käse, zu viele Gewürze und vor allem ein viel zu großes Stück. Aber lecker.
Laura verließ den Aufzug und ging den Flur entlang. Ihre Mutter öffnete die Wohnungstür und lächelte. Wie immer war sie perfekt gestylt, selbst jetzt, an einem Sonntagabend, in ihrer Freizeit. Laura konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter zuletzt in einer Jogginghose auf der Couch herumgelümmelt hatte.
»Hallo, Laura!«
»Kannst du hellsehen?«, fragte Laura überrascht. »Woher hast du gewusst, dass ich komme?«
»Ich hab an der Anzeige gesehen, dass der Wagen wieder in der Tiefgarage parkt. Deswegen konnte ich ausrechnen, wann du hier bist. Wie war’s bei Papa?«
»Mit dem Aufzug stimmt etwas nicht«, sagte Laura, ohne auf die Frage einzugehen. »Er bremst viel zu hart.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich habe bereits die Hausverwaltung informiert. Hast du Hunger?«
»Ich hab bei Papa gegessen.«
»Oh. Was gab es denn?«
»Gemüsebratlinge mit Sojasoße und Couscous«, log Laura. Sie schob sich an ihrer Mutter vorbei, um in ihr Zimmer zu gehen. Elias’ Tür war nur angelehnt, Laura hörte die Geräusche eines Computerspiels, die Lieblingsbeschäftigung ihres neunjährigen Bruders.
Kaum hatte Laura ihren Rucksack auf dem Boden abgestellt, surrte Amy, der Haushaltsroboter, hinter ihr ins Zimmer.
»Smutzwässe, bitte«, forderte die mechanische Stimme, und die Teleskoparme streckten Laura einen leeren Wäschekorb entgegen, in den sie ihre schmutzige Wäsche werfen sollte.
»Einen Moment, Amy.« Laura zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und wühlte darin herum. Währenddessen blinkten Amys rote Augen. Der Roboter würde sich erst wieder von der Stelle rühren, wenn Laura den Wäschekorb gefüllt hatte.
Laura holte ihren Lieblingsschlafanzug, Jeans und ein Sweatshirt heraus und stopfte alles in den Wäschekorb.
»Amy dankt«, sagte der Roboter. Die Augenfarbe wechselte auf Grün, und das Blinken hörte auf. Er wollte schon mit dem Korb abdrehen, als er den Pullover entdeckte, den Laura jetzt erst aus dem Rucksack zog.
»Mehr Smutzwässe, bitte«, säuselte die Stimme, die Augen fingen erneut an, rot zu blinken. Wieder erschien der Korb vor Laura.
Laura hob genervt die Augenbrauen. Amys Sprachfehler war einfach nicht auszurotten, selbst nach mehreren Updates.
»Der Pullover muss nicht gewaschen werden, ich habe ihn nicht getragen«, erklärte Laura. »Und jetzt Abmarsch!«
Sie musste erst auf den »Weiter-im-Programm«-Knopf auf der Roboterbrust drücken, damit Amys Augen zu blinken aufhörten und wieder sanft und grün wurden.
»Amy dankt!«, wiederholte Amy und rollte aus dem Zimmer.
Laura schloss hinter dem Roboter die Tür. Dann legte sie den Pullover auf ihr Bett, faltete ihn auseinander und griff nach dem roten Samtbeutel, den sie in dem Kleidungsstück versteckt hatte. Obwohl es sie reizte, die Taschenuhr noch einmal genau zu betrachten, ließ sie den Samtbeutel in ihrem Nachtschränkchen verschwinden. Mama würde gleich hereinschneien, um sie über das Wochenende bei Papa auszufragen. Das war jedes Mal so.
Laura legte rasch ihr Fitnessarmband an, das registrierte, wie viel sie sich bewegte, wie schnell ihr Herzschlag und wie hoch ihr Blutdruck war und wie viele Kalorien sie verbraucht hatte. Seit ein Klassenkamerad ihr gezeigt hatte, wie man das Armband manipulieren konnte, trug sie es nur noch unregelmäßig. Und anstatt sich im Trainingsraum abzumühen, konnte sie die Zeit nutzen, um zu lesen. In ihrem Rucksack steckten wieder zwei Bücher von Papa.
Laura hatte den Verschluss des Armbands gerade geschlossen, als Mama schon klopfte und dann eintrat.
»Hattest du ein schönes Wochenende?«, fragte sie mit ihrer superfreundlichen Aushorch-Stimme und setzte sich auf den roten Schreibtischstuhl.
»Geht so«, murmelte Laura. Mit der Zeit hatte sie herausgefunden, welche Antworten Mama am liebsten hörte und was Laura besser nicht erzählte.
»Hat Papa eigentlich wieder eine Freundin?«
Das war eine Frage, mit der Laura nicht gerechnet hatte. Ihr wurde heiß. Sie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Papa und eine Freundin? Der Gedanke war unvorstellbar, obwohl Laura natürlich wusste, dass sich viele Leute neu verliebten, wenn sie sich von ihrem Partner getrennt hatten. Aber eine neue Frau in Papas Leben? Jemand, der in der alten Villa umherging, mit Papa am selben Tisch saß und im selben Bett …
»NEIN!«, sagte Laura im Brustton der Überzeugung. »Bestimmt nicht.«
»Überleg doch mal. Du hast nichts bemerkt?« Mama ließ nicht locker. »Vielleicht eine neue Zahnbürste im Badezimmer? Oder ein Lippenstift? Ein Fläschchen Parfüm?«
Laura schüttelte den Kopf, obwohl sie sich im Badezimmer nicht zu genau umgesehen hatte. Sie hatte zwar einige Zeit dort verbracht (sie pflegte auch auf dem Klo zu lesen), aber die Ablage vor dem Spiegel hatte sie nicht kontrolliert. Jedenfalls nicht so genau, wie Mama es erwartete.
»Nein. Wie kommst du darauf, dass Papa eine Freundin hat?«, sprudelte Laura hervor. »Wieso sollte er?« Noch während sie die letzte Frage aussprach, blitzte in ihr ein Gedanke auf. Die Andeutungen, die Mama in der letzten Zeit gemacht hatte. Die Tatsache, dass sie jetzt abends ab und zu wegging und dafür bei dem Haushaltsroboter die Funktion »Babysitter« gewählt hatte. Was absolut lächerlich war, denn Amy hatte die ganze Zeit über Wiegenlieder vor sich hin gesummt und den Schaukelstuhl angestupst, als sei dieser eine Wiege. Das Schärfste aber war, dass Amy mehrmals in Elias’ Zimmer gerollt war und ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, indem sie ihn gefragt hatte: »Jetzt kacka müssen, ja?« (Mama hatte vergessen, bei der Funktion »Babysitter« das Alter der Kinder einzustellen.)
»So ganz unmöglich wäre es ja nicht, dass Papa eine Freundin hat.« Mama räusperte sich, und Laura wusste, dass jetzt eine Neuigkeit kam, die sie lieber nicht hören wollte. »Vielleicht hast du es dir schon gedacht, aber ich treffe mich seit einiger Zeit wieder mit einem Mann.«
Laura kämpfte gegen den Wunsch an, sich die Ohren zuzuhalten und laut »La-la-la-la!« zu singen. Stattdessen schluckte sie und fragte mit belegter Stimme: »Wer ist es?«
»Er heißt Bernd Asshoff«, antwortete Mama. »Dr. Bernd Asshoff. Er ist mein Chef.«
»Oh!« Laura wusste nicht, was sie sagen sollte, während eine Stimme in ihrem Hinterkopf trällerte: Asshoff-Asshole, Asshoff-Asshole …
Lauras Mutter, Valerie Lilienstedt, arbeitete in einer großen Firma namens TEMP. Laura wusste nicht so richtig, was sie da genau tat, aber jedenfalls verdiente sie eine Menge Geld, sodass sie die teure Wohnung, das Auto und den Roboter bezahlen konnte. Außerdem überwies sie Papa jeden Monat eine stattliche Summe (was sie auch immer wieder betonte), weil dieser mit seinen Restaurationsarbeiten lächerlich wenig einnahm.
»In der nächsten Zeit werdet ihr Bernd kennenlernen«, kündigte Mama an. »Er ist übrigens seit zwei Jahren geschieden, um deiner Frage vorzubeugen.«
Laura betrachtete ihre Mutter. Sie sah angespannt aus, daran konnte auch das Make-up nichts ändern. Ansonsten war sie eine attraktive Frau mit ihren achtunddreißig Jahren. Sie hatte ein ovales Gesicht, graue Augen und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Ihre Lippen waren voll, wenn sie sie nicht gerade aufeinanderpresste wie jetzt. Laura war mit ihren 1,70 Metern inzwischen fast so groß wie sie, es fehlten nur noch zwei Zentimeter. Mamas Figur war ein Traum – und das Ergebnis vieler Stunden im Trainingsraum.
»Warum sagst du nichts?«, fragte Mama, weil Laura die ganze Zeit schwieg.
»Warum ich nichts sage?« All ihre Anspannung, ihre Wut und unterdrückten Zweifel platzten jetzt aus Laura heraus. »Weil ich keine Lust habe, diesen Bernd kennenzulernen! Du sollst keinen Freund haben und Papa keine Freundin! Ich will, dass ihr euch wieder vertragt und dass wir wieder in die alte Villa ziehen!« Sie konnte vor lauter Schluchzen nicht weitersprechen, warf sich aufs Bett und heulte in ihre Kopfkissen.
Mama begann auf sie einzureden: »Laura, sei doch vernünftig! Bernd ist sehr nett!« – »Wir können nicht einfach in unser altes Leben zurück!« – »Ich dachte, du bist alt genug, um das zu verstehen!«
Und schließlich: »Benimm dich nicht so kindisch!«
Laura hörte, wie ihre Mutter aufstand und das Zimmer verließ.
Langsam setzte sich Laura auf. Sie schniefte ein paar Mal und putzte sich mit einem Papiertaschentuch die Nase. Dann zog sie ihren Laptop aus dem Rucksack, klappte ihn auf und suchte nach dem Begriff Ewiger Kalender.
Kurz darauf war sie schlauer. Ihr Fund war anscheinend wirklich etwas Besonderes. Ein Ewiger Kalender war eine Uhr, die Stunden, Tage und Monate zählte, unermüdlich. Sie zeigte immer den richtigen Tag an, ohne sich je zu irren, egal, ob der Monat dreißig oder einunddreißig Tage hatte. Oder nur achtundzwanzig. Oder auch neunundzwanzig, wenn es sich um ein Schaltjahr handelte.
Es war eine große Herausforderung für einen Uhrmacher, eine solche Uhr zu bauen. Er musste winzigste Zahnräder zu Hilfe nehmen, um den Minuten-, den Stundenzeiger und die Datumsanzeige anzutreiben. Die Zahnrädchen mussten sich drehen und ineinandergreifen, damit die Datumsanzeige im richtigen Moment auf den nächsten Tag sprang, auf die nächste Woche, auf den nächsten Monat und auf das nächste Jahr. Was für den Betrachter so einfach aussah, war ein wahres Wunderwerk der Mechanik, verborgen im Innern der Uhr.
Im Internet wurden als erklärendes Beispiel Uhren gezeigt, die viele Tausend Euro kosteten. Keine sah jedoch so aus wie die, die Laura gefunden hatte.
Mit gemischten Gefühlen klappte sie ihren Laptop zu und steckte ihn in ihren Schulrucksack. Dann stopfte sie noch ihre Sportsachen dazu. Montags hatten sie immer Sport bei Frau Pilau – ein Fach, das Laura hasste. Denn Frau Pilau überprüfte zunächst alle Fitnessarmbänder, überspielte die Ergebnisse auf ihr Tablet und verglich dann die Leistungen der Einzelnen mit dem Trainingsstand auf dem Armband. Im Gegensatz zu Mama wusste sie bereits, dass sich die Armbänder manipulieren ließen, und sie drohte den Betrügern mit einer Mitteilung an die Eltern. Bei dem Gedanken daran schnitt Laura eine Grimasse. Ganz sicher würde es wieder Ärger mit Mama geben …
Vor dem Schlafengehen holte sie noch einmal das Samttäschchen aus ihrem Nachttisch. Sie bewunderte das Gold der Uhr, die achteckige Form, die Gravierung und das wunderschöne Zifferblatt. Immer wieder las sie den handgeschriebenen Text, der ihr nach wie vor Rätsel aufgab.
Nicht sieben Tage, sondern acht
verleihen dir besond’re Macht.
Während der geschenkten Stunden
wirst du vieles neu erkunden,
wirst auch manches neu entdecken
zu guten und zu bösen Zwecken.
Schließlich fielen ihr die Augen zu.
»Aufstehen, du Schlafmütze!«, befahl eine leicht knarrende Stimme. »Wir haben viel vor, und du willst doch keine Zeit verlieren, oder?«
Hat Amy einen Schaden?, dachte Laura, bevor sie die Augen öffnete. Sie spricht so komisch!
Normalerweise wurde Laura von dem Haushaltsroboter geweckt, der sie sanft säuselnd aus dem Reich der Träume holte.
Doch an diesem Morgen stand nicht Amy vor dem Bett, sondern auf der Bettdecke saß Samson, Lauras pechschwarzer Kater. Sie hatte damals Rotz und Wasser geheult, um ihn in den Akeleiweg mitnehmen zu dürfen. Mama, die den Kater nicht sonderlich leiden konnte, hatte schließlich nachgegeben.
»Raus mit dir!«, sagte die knarrende Stimme wieder, diesmal mit mehr Nachdruck. »Du kannst ein andermal weiterschlafen!«
Laura blinzelte. Das konnte doch nicht wahr sein! Träumte sie, oder hatte sich Samsons Mund tatsächlich bewegt? Und warum hing die goldene Taschenuhr um seinen Hals?
»Äh … Seit wann kannst du sprechen, Samson?«
»Schon immer. Frag nicht so dumm! Und jetzt raus aus den Federn!«
Samson sprang mit einem großen Satz vom Bett herunter. Er drehte sich um, um zu sehen, ob sie ihm auch folgte.
Laura schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. »Moment mal …« Sie entdeckte, dass der Samtbeutel und der Zettel heruntergefallen waren. Sie hob beides auf und legte die Sachen in die Nachttischschublade.
Samson war schon bei der Tür. »Beeil dich! Es ist schon Viertel nach sieben!«
»Äh … Seit wann kennst du die Uhr?«, fragte Laura belämmert.
Der Kater warf ihr einen beleidigten Blick zu und verschwand durch den Türspalt.
Natürlich kennt er die Uhr, er weiß genau, wann es Futter gibt!, schoss es Laura durch den Kopf. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass mit ihrem Gehirn etwas nicht stimmte. Sie versuchte, die Benommenheit von sich abzuschütteln, während sie das Zimmer durchquerte. Auf dem Flur war es ungewöhnlich still. Kein Elias, der herumschrie oder seine Schuhe gegen die Wand warf. Keine Mutter, die hektisch auf die Uhr sah und ihre Kinder antrieb, damit sie rechtzeitig zur Schule kamen.
Samson saß vor der Badezimmertür, den schwarzen Schwanz steil aufgerichtet. Seine gelben Augen funkelten.
»Ja, ja, ich mach ja schon«, murmelte Laura und huschte ins Badezimmer.
Es sah ein bisschen anders aus als sonst, und Laura war mehr denn je überzeugt, dass sie träumte. Als sie das Klo benutzte, musste sie an einer langen Kette ziehen, um zu spülen. Und die Handtücher hatten ein Muster, das Laura noch nie gesehen hatte und das ganz gewiss nicht nach Mamas Geschmack war: lauter bunte Achtecke, richtig retro!
Laura schüttelte den Kopf, putzte sich die Zähne und zog die Klamotten an, die sie wie immer schon am Abend zuvor ins Bad gehängt hatte. Mama legte großen Wert darauf, dass man morgens nicht erst alles zusammensuchen musste. Auch der Pulli kam Laura ein bisschen fremd vor, vor allem aber die blauen Leggins. Wann, zum Kuckuck, hatte sie zuletzt diese furchtbaren Leggins getragen? Sie konnte sich nicht erinnern. Was war heute nur los?
»Bist du endlich fertig?«, drängte Samson und steckte seinen Kopf zur Tür herein. Anscheinend konnte er inzwischen auch Türen öffnen, aber darüber wunderte sich Laura gar nicht mehr.
Im Flur stand ein Paar Stiefeletten, das auf Laura zu warten schien. Sie schlüpfte hinein. Die Stiefel passten wie angegossen.
Samson war schon an der Küchentür. »Hol dir schnell dein Lunchpaket und dann Abmarsch!«
»Mann!«, fauchte Laura. »Kommandier mich gefälligst nicht so rum!«
Dass sie nicht frühstückten, war nichts Ungewöhnliches. Frühstück gab es normalerweise nur bei Papa am Wochenende. Unter der Woche war kaum Zeit. Amy machte für Laura und Elias ein Lunchpaket zurecht, das sie im Auto aßen, während sie zur Schule fuhren. Mama dagegen trank im Auto nur einen Becher schwarzen Kaffee und frühstückte in der Firma.
Eilig betrat sie die Küche – und blieb wie angewurzelt stehen. Statt Amy wuselte eine fremde Frau an der Anrichte herum. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze und hatte ein zierliches Häubchen auf dem Kopf. Laura erinnerte sich, dass sie in alten Filmen solche Dienstmädchen gesehen hatte.
»Bitte ssährr!« Die Fremde reichte Laura die gefüllte Lunchbox zusammen mit einer Trinkflasche und lächelte freundlich.
Laura nahm die Box und die Flasche automatisch entgegen, ohne den Blick von der Frau abzuwenden. Diese hatte leuchtend grüne Augen, und auf ihrem schwarzen Kleid stand ein gestickter Name: Amy. Laura stolperte rückwärts aus der Küche.
Dann erinnerte sie sich daran, dass sie noch ihren Schulrucksack holen musste. Sie sauste in ihr Zimmer, während ihr Gehirn verzweifelt nach einer vernünftigen Erklärung suchte. War das vielleicht Mamas Werk? Als Strafe für den Streit gestern? Hatte sie die altmodische Kette im Klo angebracht und die Handtücher ausgetauscht? Hatte sie eine Schauspielerin für die Küche engagiert und Samson durch ein sprechendes Roboter-Tier ersetzt?
Ein ganz schöner Aufwand für einen Streit … Mama bestrafte Laura normalerweise mit Hausarrest oder Internetverbot.
Laura verwarf ihre Theorie, während sie das Lunchpaket und die Flasche in ihrem Rucksack verstaute. Aber was war dann passiert? Und wo war Mama? Wartete sie schon unten vor dem Haus im Auto, zusammen mit Elias?
Samson hockte vor der Wohnungstür und maunzte ungeduldig.
»Na endlich«, brummte er, als Laura kam. Sie verließen die Wohnung. Der Kater lief sofort voraus zum Aufzug, die Taschenuhr an seinem Hals baumelte dabei hin und her.
Laura hatte immer noch das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden. Sie musste an das Buch Alice im Wunderland denken, das sie vor einiger Zeit gelesen hatte. Dort war die Heldin einem sprechenden Kaninchen gefolgt, das ebenfalls eine Taschenuhr besaß und es schrecklich eilig hatte. Und daraufhin hatte für Alice ein haarsträubendes Abenteuer begonnen.
»Aber das war ein Buch, nicht die Wirklichkeit«, sagte Laura laut, wie um sich selbst zu überzeugen, dass so etwas nicht sein durfte.
Dann verschlug es ihr die Sprache.
Der Aufzug hatte sich in einen verschnörkelten Lift verwandelt. So einen ähnlichen hatte Laura schon einmal in einem denkmalgeschützten Gebäude gesehen. Klappernd öffneten sich die schmiedeeisernen Türflügel. Samson, der sich normalerweise vor dem Aufzug fürchtete, sprang an diesem Morgen ohne Zögern hinein. Laura schüttelte den Kopf und folgte dem Tier.
Auch das Bedienungsfeld sah anders aus, altmodischer. Laura drückte auf den Knopf mit der Bezeichnung Erdgeschoss. Klappernd schlossen sich die Türen, und der Lift bewegte sich ruckelnd und rasselnd nach unten.
Hoffentlich wache ich bald auf, dachte Laura inbrünstig.
Mit einem heftigen Ruck hielt der Lift. Er hatte das Erdgeschoss erreicht. Quietschend gingen die Türen auf, und Laura betrat die große Halle. Samson lief neben ihr her.
Die Ufo-Pflanze stand kräftig und gesund auf ihrer Säule. So viele Blätter hatte sie noch nie gehabt, seit Laura sie kannte. Überhaupt wirkten die Pflanzen in der Halle üppiger als gestern, so als hätten sie einen plötzlichen Wachstumsschub gemacht. Laura durchquerte die Halle und ging zum Ausgang. Dort befand sich auf einmal eine Drehtür. Laura schüttelte wieder den Kopf, nahm Samson auf den Arm, betrat ein Abteil und drehte es, bis sie ins Freie gelangte. Dann setzte sie Samson auf einem Sandweg ab. Der Weg war gestern noch mit Betonsteinen gepflastert gewesen. Links und rechts wuchsen üppige Heckenrosen. Von den rosafarbenen Blüten stieg ein süßer Duft auf, der Lauras Nase kitzelte. Laura liebte diese wilden Rosen. Papa hatte eine große Hecke in seinem Garten. Doch hier, im Akeleiweg acht, wuchs normalerweise nur eine karge Buchsbaumhecke, kaum zwanzig Zentimeter hoch. Heute war alles anders.
»Was ist nur los?« Laura setzte Samson auf dem Boden ab. »Bin ich verrückt geworden oder was? Kannst du mir das alles erklären?«
»Miau«, machte Samson. »Alles zu seiner Zeit. Gedulde dich noch ein wenig, dann wirst du Antworten auf deine Fragen bekommen.« Er strich um ihre Beine.
»Verflixter Kater!«, schimpfte Laura. »Du weißt doch mehr als ich! Warum sagst du mir nichts?«
Sie drehte sich um, um das Hochhaus zu betrachten. Ihr Herz begann zu stolpern. Der architektonische Würfel mit seinen glatten weißen Wänden besaß jetzt ein grobes Mauerwerk, an dem sich Efeu entlangrankte. Die bunten Fenster waren nach wie vor da, allerdings sahen sie jetzt aus wie Kirchenfenster und hatten einen Rundbogen.
Laura stöhnte. Welche Überraschungen warteten noch auf sie?