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KAPITEL 1 Bürger einer Welt I. Bürger des Kosmos
ОглавлениеAuf die Frage, woher er komme, antwortete der kynische Philosoph Diogenes mit einem einzigen Wort: er sei ein kosmopolitês, was so viel wie „ein Bürger der Welt“ bedeutet (Diog. Laert. VI.63). Von diesem Moment, so fiktiv er auch sein mag, könnte man sagen, er habe in der Philosophie des Abendlandes eine lange Tradition des kosmopolitischen Denkens eingeleitet. Ein griechischer Mann weigert sich, sich über Abstammung, Zugehörigkeit zu einer Stadt, soziale Klasse, ja sogar über seine freie Geburt oder selbst sein Geschlecht zu definieren. Er besteht darauf, sich selbst durch eine Eigenschaft zu definieren, die er mit allen anderen Menschen teilt, seien diese männlich oder weiblich, Griechen oder Nichtgriechen, Sklaven oder Freie. Und indem er sich nicht nur als jemanden bezeichnet, der die Welt bewohnt, sondern sogar als einen Weltbürger, deutet Diogenes damit auch auf die Möglichkeit einer Politik oder eines moralischen Herangehens an Politik hin, das sich am Menschsein ausrichtet, das uns allen gemeinsam ist, und nicht an Merkmalen wie Herkunft, Status, Klasse und Geschlecht, die uns voneinander trennen. Es ist dies ein erster Schritt auf dem Weg zu Kants wirkmächtiger Idee eines „Reichs der Zwecke“, der Vorstellung von einem auf einem moralischen Anspruch gegründeten Gemeinwesen, das alle vernunftbegabten Wesen vereint (obwohl Diogenes, der inklusiver ist, die Gemeinschaft nicht auf die „Vernunftbegabten“ beschränkt); und ein Schritt in Richtung von Kants Vision einer kosmopolitischen Politik, die die gesamte Menschheit unter Gesetzen vereint, die nicht auf Konvention und Klassenzugehörigkeit, sondern auf einer freien moralischen Entscheidung basieren. Von Diogenes heißt es, eine „hohe Geburt und Ruhm sowie alles dergleichen [sei] für ihn nur Zielscheibe des Spottes gewesen. Er hatte dafür die Bezeichnung ‚Schmuckhüllen der Verworfenheit‘. Die einzig wahre Staatsordnung finde sich nur im Weltall (Kosmos).“ (VI.72).1
Die Idee des Weltbürgertums der kynischen und stoischen Philosophen fordert uns dazu auf, den gleichen und unbedingten Wert jedes Menschen anzuerkennen, einen Wert, der auf der Fähigkeit zur moralischen Entscheidung beruht (möglicherweise ist sogar dies zu restriktiv?), und nicht auf Eigenschaften, die von zufälligen natürlichen oder sozialen Bedingungen abhängen. Die Einsicht, dass die Politik die Menschen sowohl als gleichwertig als auch von einem über jeden Preis erhabenen Wert behandeln sollte, ist eine der tiefsten und einflussreichsten Einsichten des westlichen Denkens; sie ist verantwortlich für Vieles, was im modernen westlichen politischen Denken wertvoll ist. Eines Tages kam Alexander der Große und stellte sich vor Diogenes, als dieser sich auf dem Marktplatz sonnte. „Bitte mich um irgendetwas, was immer du dir wünschst“, sagte Alexander. Er sagte: „Geh’ mir aus der Sonne“ (VI.38). Dieses Bild der Würde des Menschseins, die ohne jeden sonstigen Schmuck erstrahlen kann, wenn sie nicht durch die falschen Ansprüche von Rang und Königtum überschattet wird, einer Würde, die nur der Aufhebung dieses Schattens bedarf, um kraftvoll und frei zu sein, ist ein Endpunkt einer Linie, die zur modernen Menschenrechtsbewegung führt.
In der Tradition, die ich beschreiben werde, ist Würde nicht hierarchisch. Sie gehört allen, die über einen grundlegenden, minimalen Grad der Fähigkeit zu moralischem Lernen und zu moralischen Entscheidungen verfügen – und sie gehört allen im selben Umfang. Die Tradition schloss nichtmenschliche Tiere ausdrücklich und demonstrativ aus. In Kapitel 7 werde ich auf das Problem zurückkommen und diese Entscheidung verwerfen. In einigen Versionen, wenn auch nicht in derjenigen von Diogenes, werden auch Menschen mit schweren kognitiven Behinderungen ausgeschlossen, wenn auch weniger explizit. Diese Mängel müssen in jeder zeitgenössischen Darstellung beseitigt werden.2 Die Idee der Würde ist ihrem Wesen nach weder hierarchisch, noch basiert sie auf der Vorstellung einer nach Ständen geordneten Gesellschaft. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit kamen Versionen der Idee von Würde auf, die hierarchisch waren und in eine feudale Gesellschaft passten. Diese Ideen oder die Traditionen, die sie begründen, werde ich hier nicht untersuchen. Es ist wichtig, den egalitären Zentralgedanken dieser stoischen Form des Weltbürgertums zu betonen, da einige Wissenschaftler, die über Würde schreiben, in letzter Zeit angenommen haben, die gesamte Geschichte dieser Idee leite sich aus Vorstellungen von Rang und Status in hierarchischen Gesellschaften ab.3
An sich muss diese Vision keine Politik beinhalten: Es handelt sich um ein moralisches Ideal. Nach Ansicht zahlreicher Vertreter dieser Tradition begründet die Idee gleicher Menschenwürde jedoch eine Reihe charakteristischer Verpflichtungen für die internationale und nationale Politik. Die Idee der Achtung vor allen Menschen war die Grundlage eines großen Teils der internationalen Menschenrechtsbewegung, und in vielen nationalen Rechts- und Verfassungstraditionen hat sie eine prägende Rolle gespielt.
Ebenso wenig ist die Idee gleicher Menschenwürde auf die philosophischen Traditionen des Westens beschränkt, obwohl ich mich im vorliegenden Buch auf diese Traditionen konzentrieren werde. In Indien, das durch hierarchische Vorstellungen von Kasten und von bei Geburt zugewiesenen Berufen zerrissen ist, hat der Buddhismus längst eine andere Idee eingeführt: die Idee der Gleichheit aller Menschen. Obwohl Gandhi die hinduistische Tradition auf eine egalitärere Weise, als dies herkömmlich geschah, neu interpretierte, wurden die buddhistischen Ursprünge des Gründungsprinzips der neuen Nation, die gleichberechtigte Staatsbürgerschaft, von Gandhi, Nehru und den anderen nationalen Gründerfiguren dadurch hervorgehoben, dass sie das buddhistische Rad des Gesetzes in die Mitte der Flagge setzten. Der wichtigste Autor der indischen Verfassung, B. R. Ambedkar, einer der bedeutendsten Juristen des zwanzigsten Jahrhunderts, konvertierte spät in seinem Leben zum Buddhismus und war sein Leben lang von ihm fasziniert. Selbst ein „Unberührbarer“ (heute Dalit), bestand er darauf, die Verfassung so anzulegen, dass die Idee der gleichen Menschenwürde in ihrem Mittelpunkt stand.4 Er schrieb ein ganzes Buch über Buddha, das 1957, kurz nach seinem Tod, veröffentlicht wurde, um zu verdeutlichen, dass die Idee menschlicher Gleichheit in dieser Tradition steht.5
Auf ähnliche Weise stellte die Freiheitsbewegung Südafrikas die Achtung der Menschenwürde in das Zentrum einer revolutionären Politik. In diesem Fall spielten stoische Lehren tatsächlich eine Rolle – neben den traditionellen afrikanischen Vorstellungen von ubuntu. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat den prägenden Einfluss von Ciceros Idee des Weltbürgertums im Leben und Werk seines Vaters Joe Appiah, dem Gründer des modernen Ghana, hervorgehoben, und die allgegenwärtige Präsenz von Ciceros Ideen, zumindest in allen anglophonen Teilen Afrikas, erörtert.6 Doch hat sich vor Kurzem herausgestellt, dass Nelson Mandela – der später einem Buch mit Interviews und Briefen den Titel Bekenntnisse (im Englischen: Conversations with Myself) gab und damit ausdrücklich auf den Einfluss des stoischen Philosophen Mark Aurel anspielte – bereits als Gefangener auf Robben Island Zugang zu den Selbstbetrachtungen hatte.7 Als die Verfassung Südafrikas geschrieben wurde, enthielt sie diese Ideen. Welche Rolle stoische Konzepte in diesem Gründungsdokument auch spielen mögen: zumindest passten sie zu den Ideen, die Mandela bereits aus seinen eigenen Traditionen und seiner Erfahrung gewonnen hatte.
Als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst wurde, waren Vertreter vieler Traditionen der Welt, darunter Ägyptens, Chinas und Europas, an der Ausarbeitung beteiligt. Wie der französische Philosoph Jacques Maritain berichtet, vermied man ganz bewusst eine Sprache, die das Eigentum nur einer bestimmten Tradition war, wie zum Beispiel die christliche Rede von der „Seele“. Die Rede von der gleichen Menschenwürde als einem ethischen Begriff, der mit keiner bestimmten Metaphysik verbunden ist, war eine Idee, die sie glaubten aufgreifen und ihr zentrale Bedeutung geben zu können.8
Die Ideen der kosmopolitischen Tradition waren demnach äußerst fruchtbar, und sie überschnitten sich außerdem mit verwandten Ideen anderer Traditionen. Doch die Begründer dieser westlichen Tradition haben auch ein Problem eingeführt, mit dem diese noch heute ringt. Denn ihrer Meinung nach müsse man, wenn Menschen eine Würde haben, der die Wechselfälle des Lebens nichts anhaben können, auf Geld, Rang und Macht verächtlich herabschauen. Diese Güter, so ihre Behauptung, sind für ein umfassendes Gedeihen des Menschen nicht notwendig. Die Würde des moralischen Vermögens ist in sich selbst vollständig. Diogenes muss Alexander nicht um ein anständiges Auskommen, eine Staatsbürgerschaft oder Gesundheitsversorgung bitten: Alles, was er zu erbitten hat, ist: „Geh’ mir aus der Sonne.“ Die moralische Persönlichkeit ist ohne jegliche äußere Unterstützung vollständig und vollkommen schön. Kosmopolitische Politik scheint den Akteuren weitgehende Pflichten des Respekts aufzuerlegen, einschließlich der Beendigung von Angriffskriegen, der Unterstützung von Menschen, die unrechtmäßig angegriffen wurden, sowie des Verbots von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich Völkermord und Folter. Sie beinhaltet jedoch keine Pflichten zu materieller Unterstützung, da eine Person den Vertretern dieser Tradition zufolge keine materiellen Güter für den Erhalt ihrer Menschenwürde benötigt.
Diese Zweiteilung der Pflichten ist aus mehreren Gründen problematisch. Erstens ist die materielle Ungleichheit eine offensichtliche Tatsache des menschlichen Lebens, die in ihren Auswirkungen zu extrem ist, um übergangen werden zu können. Ein Kind, das jetzt in den USA geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 79,1 Jahren.9 Ein in Swasiland geborenes Kind kann damit rechnen, ein Alter von 49,0 Jahren zu erreichen. Die meisten Erwachsenen in den USA und in Europa können lesen und schreiben, obwohl eine eingeschränkte Lese- und Schreibfähigkeit ein beunruhigendes Problem bleibt, das mit Armut zusammenhängt. Zwar sind einige Entwicklungsländer fast vollständig alphabetisiert: Costa Rica zum Beispiel hat eine Alphabetisierungsquote bei Erwachsenen von 97,4 Prozent, in Sri Lanka sind es 91,2 Prozent, in den Philippinen 95,1 Prozent, in Peru 93,8 Prozent, in Kolumbien 93,6 Prozent, in Jordanien 97,9 Prozent, in Thailand 96,4 Prozent und in Botswana 86,7 Prozent. In vielen Ländern hat ein Mensch jedoch eine weitaus geringere Chance, Lesen zu lernen (und sich damit für die meisten gut bezahlten Arbeitsplätze zu qualifizieren). In Indien können nur 62,9 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, in Pakistan 54,7 Prozent, in Bangladesch 58,8 Prozent, in Nigeria 51,1 Prozent, in Äthiopien 39,0 Prozent, und im Niger 15,5 Prozent. (Bei diesen Zahlen handelt es sich natürlich um Durchschnittswerte, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, das Gefälle zwischen Land und Stadt und häufig auch Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen verschleiern.) Sauberes Wasser, Gesundheitsversorgung, Sanitäranlagen, Dienste zur Unterstützung der Gesundheit und Sicherheit von Müttern, angemessene Ernährung: All diese grundlegenden Aspekte menschlichen Wohlergehens sind weltweit sehr ungleich verteilt. Der Zufall, in dem einen statt in einem anderen Land geboren worden zu sein, wirkt sich auf die Lebenschancen jedes Kindes aus. Weiblich zu sein, der Unterschicht anzugehören, in einem ländlichen Gebiet zu leben, Mitglied einer ethnischen oder religiösen Minderheit zu sein: Auch dies hat in jedem Land Auswirkungen auf die Lebenschancen. Materielle Ungleichheit existiert innerhalb jedes Landes; doch derzeit übertrifft der Abstand zwischen den einzelnen Ländern diese internen Unterschiede.10
Das erste und größte Problem dieser Zweiteilung der Pflichten besteht also darin, dass sie eine Tatsache von kolossaler Wichtigkeit vernachlässigt. Die alten Griechen und Römer verfügten nicht über unsere Vergleichsdaten. Sehr wahrscheinlich enthielt ihre Welt weniger Ungleichheiten zwischen den einzelnen Ländern, vielleicht sogar kleinere Ungleichheiten innerhalb der Länder als unsere Welt. Dennoch waren die Unterschiede groß genug, und Philosophen wie Cicero, Seneca und Mark Aurel, die weit gereist und beharrlich an imperialen Expansionsprojekten beteiligt waren, hätten sie nicht unbeachtet lassen dürfen.
Ein zweites Problem der Zweiteilung der Pflichten besteht darin, dass sie fälschlicherweise impliziert, die Erfüllung der Pflichten der Gerechtigkeit erfordere keine materiellen Anstrengungen. Das ist empirisch falsch, wenn wir zu den Pflichten der Gerechtigkeit auch die Pflicht zum Schutz der Menschen vor Angriffskriegen, vor Folter, Sklaverei und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählen. Tatsächlich können die Kosten eines Verteidigungskriegs die Kosten für die Eindämmung von Hunger bei weitem übersteigen. Haben wir das erkannt, sollten wir zugeben, dass der Unterschied nicht genereller, sondern gradueller Natur ist, und, was die Verwendung unserer Ressourcen betrifft, vielleicht noch nicht einmal das.
Es gibt jedoch eine noch größere Inkonsistenz. Die Tradition scheint davon auszugehen, dass materieller Besitz keinen Unterschied bei der Ausübung unserer Entscheidungsfähigkeit und anderer Aspekte unserer Würde macht. Wenn man wirklich davon überzeugt ist, dass die Menschenwürde völlig immun gegen Schicksalsschläge ist, dann kann sie ebenso wenig durch Sklaverei, Folter und einen ungerechten Krieg wie durch Hunger und Krankheit beeinträchtigt werden. Aber das scheint falsch zu sein: Menschen, die unterernährt sind, die keinen Zugang zu sauberem Wasser sowie zu Ressourcen auf den Gebieten von Gesundheit, Bildung und anderen „materiellen“ Gütern haben, sind nicht im selben Maße in der Lage, ihre Entscheidungsfähigkeiten zu entwickeln oder ihre grundlegende Menschenwürde zum Ausdruck zu bringen. (Um dies im Sinne der modernen Menschenrechtsbewegung zu formulieren: Die „Rechte der ersten Generation“, wie Religionsfreiheit und politische Freiheit, erfordern die „Rechte der zweiten Generation“, die wirtschaftlichen und sozialen Rechte.) Geist und Seele gehören zu einem lebendigen Körper, der auf Nahrung, Gesundheitsversorgung und andere materielle Güter angewiesen ist. Die stoische Position scheint in sich widersprüchlich, wenn sie zugibt, dass die Lebenswelt eines Menschen in mancher Hinsicht tatsächlich einen Unterschied für die Menschenwürde ausmacht und in anderer (eigentlich doch sehr ähnlicher?) Hinsicht nicht.
Ob sie nun inkonsistent ist oder nicht: Die Zweiteilung in die Pflichten der Gerechtigkeit und die Pflichten der materiellen Hilfe hat den Verlauf der internationalen Politik und die Entwicklung der Menschenrechtsbewegung entscheidend beeinflusst.11 Wir verfügen über relativ gut ausgearbeitete Grundsätze bezüglich der Gerechtigkeitspflichten, die breite Zustimmung finden und zur Grundlage für allgemein anerkannte Berichte über die „Rechte der ersten Generation“ geworden sind. Wir verfügen jedoch nicht über ebenso ausgearbeitete Grundsätze für die anderen Pflichten, diejenigen der „zweiten Generation“. Ja, wir scheinen noch nicht einmal zu wissen, wo wir anfangen sollen, wenn wir die Landesgrenzen überschreiten.
Die Essays in diesem Buch untersuchen die interessanten Ideen der kosmopolitischen Tradition, jedoch auch ihre theoretischen und praktischen Probleme. Ein Teil des Materials basiert auf meinen Castle Lectures, die ich im Jahr 2000 an der Universität Yale gehalten habe. Ich habe neue Essays über Grotius und Smith hinzugefügt, einen Essay über Kant jedoch wieder herausgenommen, da die Beiträge Kants wohlbekannt sind und vielfach untersucht wurden, und außerdem, weil Grotius und Smith die Tradition im Hinblick auf materielle Hilfe in einer Weise weiterentwickeln, wie Kant es nicht getan hat.
Dieses Buch besteht aus einer Reihe zusammenhängender Essays und bietet keine kontinuierliche historische Darstellung. Es wäre philosophisch wenig sinnvoll, jeden Denker der Tradition anzuführen, obwohl aus historischer Sicht viele von ihnen Aufmerksamkeit verdienen. Es wäre eine lange Liste, darunter viele faszinierende und wenig bekannte Denker des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.12 Das entspricht jedoch nicht meiner Absicht. Stattdessen wähle ich beispielhafte Denker aus, die einer bestimmten logischen Richtung folgen, beginnend mit Cicero (selbst kein Stoiker in allen Bereichen, den Stoikern in seiner Ethik jedoch sehr nahe stehend) und den eigentlichen Stoikern. Ich unterziehe deren Auffassungen einer gründlichen Prüfung und revidiere sie. (Dies bedeutet, dass meine wichtigsten Denker der Neuzeit, Grotius und Smith, Beispiele einer protestantisch-kosmopolitischen Tradition darstellen, und nicht der katholischen Tradition, die von Aristoteles ausgeht und sich ganz anders entwickelt hat.) Da meiner Meinung nach das Werk jedes dieser Denker, allesamt bedeutende Philosophen, verdient, nicht stückweise, sondern als ein komplexes Ganzes behandelt zu werden, ist jeder der Aufsätze im Wesentlichen eigenständig und facettenreich, wie der Denker, auf den er sich jeweils konzentriert. Allerdings treten Zusammenhänge jederzeit deutlich hervor.
Grundsätzlich gibt meine Darstellung die Ursprünge der Zweiteilung wieder und zeichnet sukzessive die Schritte nach, die von ihr weg in Richtung eines umfassenderen Verständnisses transnationaler und auch nationaler Pflichten führen, bis hin zum gegenwärtigen „Fähigkeitenansatz“ (zumindest meiner Version dieses Ansatzes). In Kapitel 2 beginne ich mit Ciceros De Officiis (Über die Pflichten) (44 v. Chr.), einem der wertvollsten und einflussreichsten Werke des politischen Denkens in der abendländischen Tradition. Es hat die meisten nach ihm unternommenen Versuche, über die moralischen Grundlagen der internationalen Beziehungen nachzudenken, beeinflusst. Cicero entwickelt das Bild einer Welt, in der die Gerechtigkeit in gewisser Weise alle menschlichen Beziehungen bestimmt. Auf eine attraktive Weise beschreibt er eben jene Pflichten der Gerechtigkeit und was sie Nationen und Individuen abverlangen. Mit seiner Behandlung der zulässigen Gründe für einen Krieg (ius ad bellum) und des richtigen Verhaltens im Krieg (ius in bello) legt er die Grundlagen für alle nachfolgenden westlichen Versuche, die Gesetze einer gerechten Kriegsführung auszuarbeiten. Doch zugleich beginnt Cicero mit unserer verwirrenden Zweiteilung: Er behandelt die Pflichten der materiellen Hilfeleistung auf ganz andere Weise als die Pflichten der Gerechtigkeit. Der Essay setzt sich kritisch mit dieser Zweiteilung auseinander. Ich weise allerdings auch darauf hin, dass Cicero, sobald er die Zweiteilung ankündigt, mit seinem faszinierenden Beharren auf einer Lehre bezüglich der negativen Verantwortung bereits erste Schritte unternimmt, sich wieder von ihr zu entfernen: Wir sind nicht nur für die Fehler verantwortlich, die wir aktiv begehen, sondern auch für viele Missstände, die wir nicht verhindern.
Die kosmopolitische Tradition hat noch ein weiteres, in ihrem Innersten angelegtes Problem, und zwar im Bereich der menschlichen Psychologie. In Kapitel 3 lege ich dieses Problem dar und gehe darauf ein, beginnend mit den griechischen Kynikern und den Stoikern der Zeit vor Cicero. Anschließend konzentriere ich mich auf den stoischen Kaiser Mark Aurel, der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, und seine komplizierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Würde. Sein Werk wirft einige Fragen auf, die für die Zweiteilung der Pflichten relevant sind. Es fordert uns auf, darüber nachzudenken, wie mit der Menschenwürde umzugehen ist, wenn sie – wie die Stoiker annehmen – unveräußerlich ist. Welchen Schaden verursacht beispielsweise die Versklavung eines Menschen, wenn die Würde des Sklaven dadurch nie beeinträchtigt wird? Ich unterziehe diese Fragen zur Würde einer genauen Untersuchung und zeige, dass der Stoizismus eine Unterscheidung zwischen Ebenen von „Fähigkeiten“ benötigt, über die er noch nicht verfügt. Letztendlich versuche ich, diese durch meinen Fähigkeitenansatz zu liefern (der sich in einigen wesentlichen Punkten vom Ansatz Amartya Sens unterscheidet). Mark Aurels Kosmopolitismus offenbart darüber hinaus Aspekte der motivationalen und emotionalen Grundlagen des Kosmopolitismus, die unsere Bedenken noch verstärken. Ist eine kosmopolitische Politik in der Lage, konkreten Personen eine Grundlage für wechselseitig aufeinander gerichtete Emotionen zu geben, die ausreicht, um ein selbstloses Verhalten zu motivieren, ohne den Sinn für persönliche Bedeutsamkeit zu verlieren? Gewiss scheinen einige Aussagen von Mark Aurel, in denen er uns auffordert, auf enge persönliche Bindungen zu unserer Familie, Stadt und Gruppe zu verzichten, fundamentale Interessen und die eigentlichen Quellen unserer Handlungsmotivation zu bedrohen. Scheinbar lassen sie uns nur ein ödes Leben, in dem es nichts mehr gibt, was noch wert wäre, geliebt oder getan zu werden.
Um zu vermitteln, wie wir dieses Problem lösen sollten, komme ich gegen Ende des Kapitels wieder auf Cicero zurück. Als engagierter römischer Patriot verlor Cicero, kurz nachdem er De Officiis verfasst hatte, sein Leben durch ein Attentat, während er einen letzten verzweifelten Versuch unternahm, die Römische Republik zu retten. In seinem Werk macht er deutlich, dass – obwohl alle Menschen durch Anerkennung und Sorge mit allen anderen Menschen verbunden sind – die motivierende Bindung an den eigenen Staat für die Gestaltung des gesamten moralischen und politischen Lebens eine besondere Bedeutung besitzt. Zugleich zeigt er, dass die richtige Form von Kosmopolitismus viel Raum für Freundschaft und Familienbande bieten kann. In den zeitgleich verfassten Werken De amicitia (Über die Freundschaft) und De senectute (Über das Alter), und vor allem in der Korrespondenz mit seinem besten Freund Atticus, zeigt er die enorme Bedeutung dieser Liebesbande für ein Leben, das im Dienste anderer steht.13 Cicero, der weitaus überzeugender als die Stoiker ist, findet einen Ausgleich zwischen dem Nahen und Fernen, und er weist den Weg zu einer vernünftigen Moralpsychologie für die heutige Welt. Er behauptet, dass Bindungen nicht nur als Motivation und Mittel zum Zweck von Bedeutung sind, sondern auch an sich wertvoll. In Kapitel 2 weise ich auf diese Gedanken Ciceros nur kurz hin, entwickle sie aber in Kapitel 3 weiter.
Mit Kapitel 4 erreichen wir die Neuzeit und wenden uns Hugo Grotius (1583–1645) zu, dessen Werk Über das Recht des Kriegs und des Friedens (1625) dem modernen Kriegsrecht die Richtung vorgibt. Darüber hinaus liefert es auch einen allgemeineren Beitrag zur Formulierung einer von moralischen Normen durchdrungenen, internationalen Ordnung. Grotius ist Cicero und den Stoikern zutiefst verpflichtet; er betrachtet sein eigenes Vorhaben als eine Fortsetzung ihres Projekts. Bekanntermaßen – und schockierend zugleich – bestreitet er, obwohl er sich selbst als frommen Christen bezeichnet, dass die Politik eines theistischen christlichen Fundaments bedarf. Grotius argumentiert gegen Hobbes’ zentrale These in der internationalen Politik, die besagt, dass zwischen Staaten keine moralischen Beziehungen existieren. Er unterstützt die auf Cicero und die Stoiker zurückgehende Idee, dass die internationalen Beziehungen auf moralischen Normen der Achtung vor jedem Mensch beruhen sollten. Ich untersuche diese Argumente und das sich daraus ergebende Bild der verschiedenen Nationen und der internationalen Moral. Wie Cicero gibt Grotius der einzelnen Nation eine moralische Bedeutung; doch er behauptet auch, dass Nationen und ihre Bürger moralische Verpflichtungen gegenüber den Menschen anderer Nationen haben. (In diesem gesamten Buch müssen wir uns vor Augen halten, dass die Anerkennung der zentralen moralischen Bedeutung der Nation in der von Grotius und mir empfohlenen Weise einen demagogischen Nationalismus der Form „Wir zuerst“, der in unserer Zeit nur allzu bekannt ist, nicht nur nicht impliziert, sondern explizit verbietet.) Grotius’ differenzierte und widerstreitende Lehre über humanitäre Interventionen gibt uns nützliche Hinweise für die Auseinandersetzung mit den Forderungen der Humanität und der nationalen Souveränität. Darüber hinaus geht er einen entscheidenden Schritt weg von der ciceronischen Zweiteilung der Pflichten, indem er neben den Pflichten der Gerechtigkeit unter bestimmten Umständen auch transnationale Pflichten der materiellen Hilfeleistung anerkennt. Es ist allgemein anerkannt, dass die Werke von Grotius eine solide und sehr einflussreiche Grundlage für einen Großteil des Völkerrechts darstellen; die materielle Hilfestellung ist jedoch ein Aspekt seines Denkens, der vernachlässigt wurde. Dieser Teil seines Denkens umfasst außerdem eine sehr nützliche Darstellung der Pflicht, hilfsbedürftige Migranten aufzunehmen. Außerdem formuliert er eine vielversprechende Grundlage für den Gedanken, dass einige Pflichten zum Schutz der natürlichen Umwelt allen Nationen gemeinsam sind. Schließlich unternimmt Grotius, wie Cicero, erste Schritte zur Lösung des Motivationsproblems von Mark Aurel, indem er sich die Weltgemeinschaft als eine Gemeinschaft vorstellt, an der jeder von uns teilhat, während er gleichzeitig seine eigene Nation als Ursprung und Träger menschlicher Autonomie und menschlicher Verbundenheit schätzt.
Adam Smith (1723–1790) wird häufig zu Unrecht als Verfechter des ungehinderten Freihandels dargestellt, obwohl eine neue Welle von Forschungsarbeiten zu seinen Werken damit begonnen hat, diese Fehleinschätzung zurückzunehmen. Tatsächlich ist es – unter den Denkern, mit denen ich in einen Dialog eintrete – Smith, der die nützlichsten Beiträge zur Aufhebung der Zweiteilung leistet, und der die Bedeutung nationaler Anstrengungen in der Umverteilung materieller Güter betont. Smith, der wiederholt Vorlesungen über Cicero und die Stoiker hielt, hat ihre Werke tief verinnerlicht, und er zitiert sie mühelos und sogar ohne Quellenangaben, da er von einer ähnlichen Vertrautheit mit ihnen auf Seiten seiner Leser ausgeht. In Der Wohlstand der Nationen (1776) geht er jedoch noch viel weiter als Grotius, indem er einen von Ciceros Fehlern mit dem Argument korrigiert, dass die Gebote der Menschlichkeit hohe Anforderungen bezüglich materieller Hilfeleistung an uns stellen, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Diese Verpflichtungen werden bis zu einem gewissen Grad auf die ganze Welt ausgeweitet. Allerdings konzentriert sich Smith auf die Kritik kolonialer Herrschaft und den damit für die kolonisierten Nationen verbundenen wirtschaftlichen Schaden. Smith gelingen auch Fortschritte in der Moralpsychologie, indem er, Cicero folgend, besondere Bindungen an Familie und Freunde verteidigt. Außerdem vertritt er eine positive, wenn auch kritische Auffassung von Patriotismus.
In Bezug auf materielle Verpflichtungen und in der Moralpsychologie gelingen Smith demnach entscheidende Fortschritte. Seine Vorstellungen von Pflicht und Motivation, insbesondere in den verschiedenen Ausgaben seiner Theorie der ethischen Gefühle (in englischer Sprache erschien die 1. Ausgabe 1759, die 6. Ausgabe 1790), werden allerdings durch eine anhaltende Faszination für den stoischen Weisen belastet, der seine Würde demonstriert, indem er zeigt, dass er keinerlei Glücksgüter benötigt. Es lohnt sich, diese Komplexität im Denken von Smith zu untersuchen, denn sie zeigt uns, wie stark geschlechtsspezifische Vorstellungen von männlicher Selbstgenügsamkeit die politische Psychologie entstellen, in seiner Zeit ebenso wie in der unseren.
Diese vier Essays zeigen philosophische Fortschritte auf, doch hinterlassen sie uns auch Probleme, die wir lösen müssen. Die beiden abschließenden Kapitel führen uns vom Kosmopolitismus zu derjenigen zeitgenössischen, normativen Sichtweise, die ich als Fähigkeitenansatz bezeichne. In Kapitel 6 untersuche ich fünf Themen, von denen in der Tradition einfach zu wenig die Rede ist, die aber heute in jeder soliden internationalen Politik eine Rolle spielen müssen. Das erste ist die Frage der Moralpsychologie. Hier vertrete ich die Auffassung, dass uns Cicero einen vielversprechenden Weg in die Zukunft weist, den wir weiter ausbauen können. Ebenso, wie wir die wesentliche und motivierende Bedeutung der Bindungen an Familie und Freunde verteidigen können, ohne leugnen zu müssen, dass wir allen unseren Mitbürgern etwas schuldig sind (was ein gerechtes System der Besteuerung vermutlich regeln würde), ist es durch eine moralische und staatsbürgerliche Erziehung auch möglich, eine Art von Patriotismus zu entwickeln, der einerseits mit starken Liebesbindungen an Familie, Freunde und Partner vereinbar ist, und der andererseits durch Anerkennung und Fürsorge geprägte Beziehungen zu Menschen außerhalb unserer nationalen Grenzen aufbaut. Dies wurde schon oft verwirklicht und bedeutenden politischen Führern wie Lincoln, Nehru, F. D. Roosevelt und Martin Luther King, Jr., ist es – zumindest für einige Zeit – gelungen, diese Art von Anteilnahme in ihren Nationen zu kultivieren.
Zweitens stelle ich mich einem Problem, das sich aus der Vielzahl der „umfassenden Lebenslehren“ der Menschen ergibt, das heißt aus ihren religiös oder säkular geprägten Ansichten darüber, worin das beste menschliche Leben besteht. Vertreter eines Weltbürgertums neigten zu der Auffassung, dass nur eine einzige, normative Sichtweise die richtige ist und dass die Menschen in Übereinstimmung mit dieser regiert werden könnten. Die Zeitgenossen von Grotius, und mehr noch diejenigen von Smith, dachten jedoch bereits anders: Religionsfreiheit und das Zulassen abweichender, dem Establishment widersprechender Auffassungen sind ihrer Meinung nach Schlüsselelemente einer guten staatlichen Ordnung. Die Idee des Weltbürgertums muss sich in Anerkennung dieser Vorstellung allerdings wandeln. Ich diskutiere, und verteidige, die verallgemeinerte Form dieser Idee der Abweichung vom Establishment, die John Rawls als „politischen Liberalismus“ bezeichnet hat: die Idee, dass politische Prinzipien nicht auf einer einzigen, allumfassenden Lebenslehre aufbauen, sondern Sektierertum so weit wie möglich vermeiden sollten, wobei ich allerdings einige grundlegende moralische Lehren befürworte, die in der Lage sein könnten, einen „überlappenden Konsens“ zwischen den Vertretern sämtlicher vernünftiger, allumfassender Lebenslehren zu erzielen. Im Anschluss daran versuche ich zu zeigen, wie sich diese Idee auf zwischenstaatliche Beziehungen übertragen lässt und welche Art von internationaler Gemeinschaft sie begründet. Bezüglich dieser Frage bedarf die Idee des Weltbürgertums einer grundlegenden Änderung, doch kann viel von ihrem Inhalt erhalten werden, wie die internationale Menschenrechtsbewegung, die nach Maritain bereits eine Form des politischen Liberalismus war, uns zeigt.
Unsere nächsten beiden Probleme sind komplizierter. Beide entstehen durch die Anerkennung der Tatsache, dass die Nation eine Einheit von praktischer und normativer Bedeutung ist. Nach Grotius ist sie in normativer Hinsicht zentral, da sie die größte Einheit ist, die ein wirksames Instrument menschlicher Autonomie darstellt und dem politischen Willen der Menschen verantwortlich ist. Sie ist außerdem von großer praktischer Bedeutung, weil ihre Institutionen in der heutigen Welt über große Macht verfügen: als Räume, in denen sowohl die Pflichten der Gerechtigkeit als auch der materiellen Hilfeleistung verwirklicht werden. Wäre die Nation nicht in normativer Hinsicht zentral, könnten wir sie in ihrer praktischen Rolle ersetzen wollen; doch sollte ihre normative Bedeutung solche Bestrebungen zügeln.
Angesichts der beiden Rollen der Nation ist unser drittes Problem die seit langem bestehende Schwäche und Unwirksamkeit der internationalen Menschenrechtsgesetze. Zu diesem Punkt führe ich aus, dass diese Schwäche nicht nur eine Tatsache ist, sondern angesichts der grundlegenden moralischen Rolle der Nation auch normativ wünschenswert. Aber sie bleibt dennoch problematisch. Denn wenn wir uns für das Wohlergehen aller Menschen interessieren: Welche Strukturen sollten wir dann unterstützen, um Fortschritte zu erzielen? Mit Blick auf den speziellen Fall der Menschenrechte von Frauen mache ich geltend, dass die Rolle internationaler Abkommen zwar eher die einer Willenserklärung und mehr moralischer als rechtlicher Natur ist, sie aber dennoch den Rechtstraditionen innerhalb jeder Nation Impulse geben können. Das Völkerrecht ändert das nationale Recht nicht direkt – und sollte dies wohl auch nicht tun. Das bedeutet jedoch nicht, dass internationale Bewegungen und Gesetze nicht in der Lage sind, einen echten Wandel herbeizuführen. Internationale Menschenrechtsgesetze helfen vor allem dabei, dass sich politische Bewegungen mit dem Ziel organisieren, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und Zustände in ihren eigenen Nationen zu verändern. Bei allem Respekt vor zahlreichen Theoretikern der Menschenrechte: Es ist, da ich den moralischen Status der Nation und die nationale Souveränität so nachdrücklich unterstützt habe, nicht wünschenswert, dass die Dinge sich anders verhielten.
Mein viertes Problem ist ähnlich: Wie steht es um die materielle Hilfeleistung angesichts der Rolle der Nationen? Auch diese Frage ist sowohl normativ als auch praktisch. Wir können sehr gute moralische Argumente dafür vorbringen, dass reichere Nationen und ihre Bürger ärmeren Nationen viel mehr helfen sollten, als dies gegenwärtig der Fall ist. Das ist es, was die Zweiteilung der Pflichten bestritt, und um die Rücknahme dieser Zweiteilung ging es mir bisher in erster Linie. Eine solche Hilfeleistung könnte normativ problematisch sein, wenn die Zahlungen in paternalistischer Weise erfolgen: Die erste Frage lautet demnach, wie Hilfeleistungen im Einklang mit dem Recht der Menschen auf eigene Gesetze bereitgestellt werden können. Doch nun erkennen wir, dass es noch ein weiteres praktisches Problem gibt, das auch bestehen bleibt, wenn wir das normative Problem lösen. Es häufen sich, wie der Ökonom Angus Deaton (hierin unterstützt von zahlreichen Wirtschaftswissenschaftlern und Theoretikern der internationalen Politik) am überzeugendsten dargelegt hat, die Hinweise darauf, dass ausländische Hilfe im Prinzip nutzlos und oft sogar kontraproduktiv ist, da die Abhängigkeit von Geld aus dem Ausland den politischen Willen einer Nation untergräbt, Gesundheit, Bildung etc. auf gute und nachhaltige Weise selbst zu organisieren. Wenn wir moralisch verpflichtet sind, etwas zu tun, jedoch nicht ausmachen können, was wir tun könnten, um die Dinge zu verbessern: was dann? Auf diese Frage versuche ich eine vorsichtige, aber nicht völlig verzweifelte Antwort zu geben.
Fünftens müssen wir uns schließlich dem Problem der Migration stellen: sowohl den Flüchtlingen, die vor Verfolgung und Krieg Asyl suchen, als auch den Migranten, die nach einem besseren Leben streben. (Da ich auf der Bedeutung materieller Bedingungen für die Entfaltung unserer menschlichen Kräfte bestehe, sind diese beiden Migrationsgründe nicht immer eindeutig voneinander zu trennen.) Von den meisten Vertretern der kosmopolitischen Tradition wurde dieses Problem ignoriert, obwohl die Römer in praktischer Hinsicht insofern einen bedeutenden Anfang machten, als sie die römische Staatsbürgerschaft auf die meisten Teile des Reiches ausdehnten, und obwohl Smith die beißende Bemerkung machte, das Problem des ungleichen Reichtums zwischen den Nationen werde größtenteils durch koloniale Plünderungen verursacht. Was immer die Gründe für die Verzweiflung sein mögen, aus der die Menschen ihren Heimatländern entfliehen: Soll die Realisierbarkeit des kosmopolitischen Projekts für die Gegenwart beurteilt werden, müssen wir hierzu etwas zu sagen haben. Es ist ein philosophisches Problem von enormer Schwierigkeit, das ein eigenes Buch verdient, und es gibt einige ausgezeichnete philosophische Analysen dazu. Hier versuche ich lediglich, den Ansatz zu skizzieren, den Herangehensweisen, die meiner ähneln und mit meiner Verteidigung der Rolle der Nation und der nationalen Identität vereinbar sind, verfolgen sollten.
Über eines der größten Probleme der kosmopolitischen Tradition habe ich, wie sich gezeigt hat, bisher geschwiegen: ihre Geringschätzung nichtmenschlicher Tiere und der Welt der Natur. Typischerweise begründet die Tradition unsere Pflichten mit dem Wert und der Würde der moralischen und rationalen Handlungsfähigkeit. Dies ist nicht einmal ein guter Ansatz für die Moralbegründung unter Menschen, denn er schließt Menschen mit schweren kognitiven Behinderungen aus, die gewiss unsere Mitbürger sind und als gleichwertig angesehen werden sollten. Und auf jeden Fall schließt er nichtmenschliche Tiere aus: Die Tradition begründet den Wert des Menschen häufig gerade mit einem abwertenden Gegensatz zu den „unvernünftigen Tieren“. Was wir brauchen, ist eine internationale Politik, die wahrhaft kosmopolitisch ist, und eine solche Politik, so lautet mein Argument, muss auf dem Wert und der Würde empfindungsfähiger Körper basieren, nicht allein auf demjenigen der Vernunft. Diese Erweiterung mag bereits am Anfang der Tradition von dem kynischen Philosophen Diogenes vorgenommen worden sein: Er schämte sich nicht für seinen animalischen Körper und eine Hierarchisierung der Fähigkeiten schien ihm wenig wichtig. Nachfolgende Denker haben es allerdings versäumt, seine Einsicht zu vertiefen, die für sie zu radikal war. Da meine derzeitige Arbeit am Fähigkeitenansatz es stark darauf anlegt, die Einsicht wieder nutzbar zu machen, wende ich mich diesem umfassenden Problem in Kapitel 7 zu.
Mein Schlusskapitel „Vom Kosmopolitismus zum Fähigkeitenansatz“ beschreibt, wo wir gegenwärtig stehen: Mit einer Version meines Fähigkeitenansatzes, die sich auf alle Nationen und alle Menschen erstreckt, der einzelnen Nation dabei allerdings einen besonderen Platz einräumt. Ich gehe den Fragen nach, wie wir die jeweiligen Ansprüche der Nation und der Welt insgesamt gegeneinander abwägen sollten, und welche Perspektiven es für die moralischen Emotionen in einer Welt von neuer Komplexität gibt. Was die Zweiteilung betrifft, stellt sich die Frage, wie wir die wirtschaftlichen und sozialen Rechte als nationale Pflichten betrachten sollten; und ob es angesichts der Probleme, die das vorherige Kapitel aufgeworfen hat, eine sinnvolle Möglichkeit gibt, diese Pflichten auf die gesamte Welt auszudehnen. Am Ende verteidige ich den allgemeinen Ansatz der Tradition, wenn auch nicht in allen Einzelheiten: Moralische Pflichten enden nicht an nationalen Grenzen, und wir sind durch Anerkennung und Anteilnahme mit allen anderen Menschen verbunden.
Ich schließe Kapitel 7 mit der größten Herausforderung von allen: der Ausdehnung der kosmopolitischen Tradition auf die nichtmenschlichen Tiere und die Welt der Natur. Unter den philosophischen Schulen der griechischen Antike waren die Stoiker am wenigsten an den moralischen Ansprüchen nichtmenschlicher Tiere interessiert. Sie behandelten sie ohne jeden Respekt, lehnten sämtliche Beweise für ihre komplexen Fähigkeiten ab und zeigten Gleichgültigkeit auch gegenüber ihrer Empfindungsfähigkeit.14 Wir müssen und können es besser machen.
1 Anm. d. Übers.: Die Diogenes-Zitate sind folgender Ausgabe entnommen: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, erster Band, Bücher I–VI. In der Übersetzung von Otto Apelt unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl, neu herausgegeben sowie mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Reich. Hamburg 2008.
2 Siehe Nussbaum (2008a).
3 Siehe Waldron (2012).
4 Siehe Nussbaum (2016).
5 Siehe Ambedkar (2011); ebd.; Nussbaum (2015b).
6 Vergleiche Appiah (1992); ebenso Appiah (2009, 2019).
7 Vergleiche hierzu meine Diskussion der historischen Beweise in Nussbaum (2017), Kap. 7.
8 Siehe Maritain (1943).
9 Sämtliche Daten in diesem Absatz stammen aus dem UN-Bericht über menschliche Entwicklung von 2016 (United Nations Development Programme 2016). Die USA haben mit 79,1 Jahren nicht die höchste Lebenserwartung. Diesen Platz belegt Hongkong mit 84,0 Jahren. In fünfunddreißig Ländern liegt die Lebenserwartung der Menschen oberhalb derjenigen in den USA. Dazu gehören einige Länder, die in der Regel als weniger „fortschrittlich“ gelten, wie Griechenland, Hongkong, Zypern, Singapur, Malta, der Libanon und Costa Rica.
10 Siehe Deaton (2013).
11 Siehe Moyn (2018, 2010).
12 Matthias Lutz-Bachmann von der Goethe-Universität Frankfurt leitet seit vielen Jahren ein Projekt, das sich Neuauflage und Kommentierung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher kosmopolitischer Philosophen zum Ziel gesetzt hat.
13 Vergleiche Nussbaum und Levmore (2017).
14 Siehe Sorabji (1993).