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2016: Trump wird gewählt und bringt mich zum Nachdenken

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Die Wahlnacht der Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 erlebte ich am hellen Tag – in Kyoto, wohin ich gerade wegen einer Preisverleihung gereist war, nachdem mich meine Kollegen zu Hause fröhlich verabschiedet hatten. Ich war angesichts der erbittert gespaltenen Wählerschaft ziemlich besorgt und dennoch recht zuversichtlich, dass die Aufrufe zu Angst und Zorn zurückgewiesen werden würden – obwohl es sehr viel harter Arbeit bedürfen würde, die Amerikaner wieder zusammenzubringen. Meine japanischen Gastgeber kamen wiederholt in mein Hotelzimmer und erklärten mir den Ablauf der verschiedenen Zeremonien. Im Hintergrund dieser Gespräche – allerdings im Vordergrund meiner Gedanken – trafen stets die aktuellsten Wahlergebnisse ein, die in mir zunächst eine immer größere Beunruhigung auslösten, dann schließlich Trauer und auch eine tiefe Angst um das Land, seine Menschen und Institutionen. Ich war mir dessen bewusst, dass meine Angst nicht ausgewogen oder unparteiisch war – also war ich selbst ein Teil des Problems, das mir Sorgen bereitete.

Ich war in Kyoto, um einen Preis entgegenzunehmen, der von einem japanischen Wissenschaftler, Geschäftsmann und Philanthropen – außerdem Priester des Zen-Buddhismus – gestiftet worden war, der diejenigen auszeichnen wollte, die „wesentlich zur wissenschaftlichen, kulturellen und spirituellen Verbesserung der Menschheit beigetragen haben“. Während es mir sehr gefiel, dass Kazuo Inamori die Philosophie als Disziplin anerkannte, die einen bedeutsamen Beitrag leistet, empfand ich die Ehrung eher als eine Herausforderung denn als eine Auszeichnung. Ich fragte mich bereits, wie ich an diesem schwierigen Punkt der Geschichte der USA meinen Lorbeeren gerecht werden könnte.

Als das Wahlergebnis klar war, musste ich zu meinem ersten offiziellen Treffen mit den beiden anderen Preisträgern (beide Wissenschaftler) in den Büros der Inamori-Stiftung. Ich zog daher aufmunternde Kleidung an, richtete mein Haar und versuchte, Glück und Dankbarkeit auszustrahlen. Das erste offizielle Abendessen war eine lästige Pflicht. Die geselligen, durch einen Dolmetscher gefilterten Gespräche mit Fremden hatten keinerlei ablenkenden Charme. Ich wollte meine Freunde umarmen, aber sie waren weit weg. E-Mails sind eine tolle Sache, aber sie können nicht mit einer Umarmung konkurrieren, wenn es um Trost und Zuspruch geht.

In dieser Nacht wachte ich aufgrund der Kombination aus politischer Angst und Jet-Lag immer wieder auf, sodass ich ins Nachdenken kam. Gegen Mitternacht beschloss ich, dass meine Untersuchung der Gefühle in bisherigen Arbeiten nicht tiefgehend genug war. Indem ich meine eigene Angst analysierte, dämmerte es mir allmählich, dass Angst das zentrale Thema war – eine nebulöse und vielgestaltige Angst, welche die Gesellschaft der USA durchdrang. Ich hatte einige vorerst noch unvollständig durchdachte, aber vielversprechende Ideen in Bezug darauf, wie Angst mit anderen problematischen Emotionen wie Wut, Ekel und Neid verbunden ist und sie vergiftet. Ich arbeite nur selten mitten in der Nacht. Ich schlafe gut, und meine besten Ideen kommen mir meistens nach und nach, während ich an meinem Computer sitze. Doch Jet-Lag und eine nationale Krise können die Gewohnheiten ändern, und in diesem Fall hatte ich das freudige Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Ich dachte, dass das Ergebnis dieses Aufruhrs möglicherweise ein gewisses Maß an Einsicht sein würde, und – wer weiß? – es könnte eine Einsicht sein, die auch andere auf gute Ideen bringen würde, wenn ich meine Arbeit gut machen würde. Mit einem beruhigenden Gefühl der Hoffnung schlief ich wieder ein.

Am nächsten Tag stürzte ich mich – nach einem erfrischenden morgendlichen Training – in die feierlichen Zeremonien. Ich zog mein Abendkleid an und lächelte so gut ich konnte für das offizielle Porträtfoto. Die Zeremonie auf der Bühne war ästhetisch ansprechend und daher ablenkend. Fasziniert lauschte ich den Lebensläufen meiner Mitpreisträger und ihren kurzen Reden über ihre Arbeit, da sie auf Fachgebieten tätig sind, über die ich wenig weiß (von selbstfahrenden Autos bis zu Grundlagenforschung in der Onkologie), und ich war voller Bewunderung für ihre Leistungen. In meiner eigenen kurzen Rede konnte ich einige der Dinge zum Ausdruck bringen, die mir wirklich am Herzen liegen, und mich bei Menschen bedanken, die mich während meiner gesamten Karriere unterstützt haben. Mindestens genauso wichtig war mir, dass ich auch die Liebe zu meiner Familie und meinen engen Freunden zum Ausdruck bringen konnte. (Die ganze Rede hatte ich für den Dolmetscher im Voraus schreiben müssen, sodass keine spontanen Änderungen möglich waren. Die Gelegenheit, Liebe auszudrücken, war dennoch äußerst tröstlich.)

Bankette anlässlich von Preisverleihungen enden in Kyoto pünktlich und extrem früh, sodass ich um 20.30 Uhr wieder in meinem Zimmer war, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ideen, die mir in der Nacht gekommen waren, Gestalt angenommen, und indem ich sie niederschrieb, entwickelten sie sich immer weiter und wurden (zumindest für mich!) immer überzeugender. Nach zwei Abenden Arbeit hatte ich einen langen Blog-Beitrag verfasst, den ein befreundeter Journalist in Australien veröffentlichte, und dieser Blog-Beitrag nahm gleichzeitig auch eine andere Form als Buchvorschlag an.

Aber wer bin ich denn, so könnte mich ein Leser fragen, und wie bin ich dazu gekommen, mich so sehr für Gefühle politischer Einheit und Spaltung zu interessieren? Ich bin natürlich eine Akademikerin, lebe ein sehr privilegiertes Leben, umgeben von wunderbaren Kollegen und Studenten und mit jeglicher Unterstützung, die ich mir für meine Arbeit wünschen könnte. Selbst in dieser Zeit, in der die Geistes- und Kulturwissenschaften unter Druck geraten sind, unterstützt meine Heimatuniversität die Geisteswissenschaften nach wie vor sehr. Als Philosophin ohne Jurastudium freut es mich besonders, dass ich zum Teil an einer juristischen Fakultät unterrichten darf, wo ich täglich etwas über die politischen und rechtlichen Fragen dieser Nation lernen kann, während ich Lehrveranstaltungen zum Thema Gerechtigkeit und zu politischen Ideen anbiete. Ich verfüge also über einen günstigen Aussichtspunkt für einen Gesamtüberblick, doch er mag zu distanziert erscheinen, um die Ängste der meisten Amerikaner teilen zu können.

Ich war auch ein privilegiertes Kind, jedoch auf viel kompliziertere Weise. Meine Familie, die in Bryn Mawr, einem vornehmen Stadtteil im Speckgürtel von Philadelphia lebte, gehörte zur oberen Mittelschicht und war ziemlich wohlhabend. Ich erfuhr Liebe, hatte mehr als ausreichend zu essen und eine exzellente Gesundheitsvorsorge. An einer ausgezeichneten Privatschule für Frauen erhielt ich eine erstklassige Ausbildung. Die Schule bot damals Anreize für herausragende Leistungen – frei von geschlechtsspezifischem Gruppenzwang –, wie sie eine öffentliche Schule Mädchen nicht auf ebenso gleichberechtigte Weise geboten hätte. (Meine Mutter sagte immer zu mir: „Rede nicht so viel, sonst werden dich die Jungen nicht mögen“ – ein guter Rat für die damalige Zeit, doch in der Schule musste ich ihn nicht befolgen.) Ich habe schon immer gern gelesen, geschrieben und Gedankengänge konstruiert. Außerdem gefielen meinem Vater die von mir angestrebten Ziele, und er unterstützte sie. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie in Macon, Georgia, und hatte sich durch Begabung und harte Arbeit zum Teilhaber einer führenden Anwaltskanzlei in Philadelphia hochgearbeitet. Er glaubte und sagte das auch, dass der amerikanische Traum allen offen stehe. Diese Überzeugung säte in mir Zweifel. Er sagte immer wieder, dass Afroamerikaner in Amerika nicht erfolgreich seien, weil sie einfach nicht hart genug arbeiteten; doch ich beobachtete seinen tiefsitzenden Rassismus, mit dem er von Haushaltshilfen verlangte, dass sie ein separates Badezimmer benutzten, und sogar damit drohte, mich zu enterben, wenn ich in der Öffentlichkeit in einer größeren Gruppe (einer Theatergruppe) auftreten würde, zu der ein Afroamerikaner gehörte. Dadurch erkannte ich, dass sein Glaubensbekenntnis der Situation der Afroamerikaner, die durch Stigmatisierung und Rassendiskriminierungsgesetze unterdrückt und beleidigt wurden, nicht gerecht wurde. Der Abscheu meines Vaters vor Minderheiten erstreckte sich auf viele, die (trotz sozialer Hindernisse) durch harte Arbeit Erfolge erzielt hatten: insbesondere auf Afroamerikaner und Juden der Mittelschicht.

Er wusste, dass Frauen zu hervorragenden Leistungen fähig sein können. Er freute sich über meinen Erfolg und ermutigte mich, unabhängig und sogar herausfordernd zu sein. Doch auch hier stellte ich ein Problem fest, denn er hatte eine Frau geheiratet, die als Innenarchitektin gearbeitet hatte, und es verstand sich von selbst, dass sie zu arbeiten aufhörte, was zur Folge hatte, dass meine Mutter für einen Großteil ihres Lebens unglücklich und einsam war. Seine Einstellungen waren äußerst widersprüchlich. Als ich sechzehn war, ließ er mir die Wahl zwischen einem Debütantenball und dem Aufenthalt bei einer Gastfamilie im Ausland im Rahmen eines internationalen Programms (Experiment in International Living), und er freute sich sehr, dass ich mich für Letzteres entschied – doch er selbst hätte eine Frau, die sich nicht für Ersteres entschieden hätte, niemals geheiratet. Er war der Überzeugung, dass das Tragen gewagter modischer Kleidung (bei Frauen und Männern) mit intellektuellem Anspruch und Erfolg durchaus vereinbar sei; und der Spaß, den wir bei gemeinsamen Einkaufsbummeln hatten, wurde durch den subversiven Plan, dass ich bei seinem Vortrag über „Ernennungsbefugnisse“ am Institut für juristische Praxis in einem leuchtend rosa Minirock auftauchen würde, noch verdoppelt. Und doch fragte ich mich, was er wirklich darüber gedacht haben mag, wohin all dies führen würde – vor allem: zu welcher Art von Familienleben? Er ermutigte mich, genau mit jenen aufstrebenden, geschniegelten Männern auszugehen, die – wie er – niemals eine berufstätige Ehefrau gewollt hätten.

Zwischenzeitlich verstärkte jener Auslandsaufenthalt meine Zweifel am Credo meines Vaters. Ich wurde zu einer Familie von Fabrikarbeitern in Swansea in Südwales geschickt und begriff, wie Armut, schlechte Ernährung, schlechte sanitäre Einrichtungen (Außentoilette) sowie schlechte Gesundheitsbedingungen (vor allem der Kohlebergbau, der die Gesundheit etlicher Familienmitglieder ruiniert hatte) den Menschen nicht nur ein blühendes Leben, sondern auch ihre Sehnsucht und Kraft raubt. Meine gleichaltrigen Gastschwestern in dieser Familie wollten nicht studieren oder durch harte Arbeit glänzen. Wie in den britischen Arbeiterfamilien, die in Michael Apteds „Seven Up“1 und seinen Fortsetzungen so schonungslos dargestellt werden, sahen sie für sich selbst keine Zukunft, die rosiger war als das Leben ihrer Eltern, und ihre größte Freude war es, in Kneipen zu gehen und die legalen Spielkasinos in der Nähe aufzusuchen. Ich erinnere mich daran, wie ich im Bett lag, einen Roman über die britische Oberschicht las – in diesem Haus mit einer Außentoilette im Garten – und darüber nachdachte, warum Eirwen Jones, die in meinem Alter war, nicht das geringste Interesse am Lesen und Schreiben, ja nicht einmal am Lernen der walisischen Sprache hatte. Die durch Armut aufgebauten Hindernisse sind oft tief im Inneren eines Menschen verwurzelt, und viele benachteiligte Menschen können dem Weg meines Vaters nicht folgen. (Er erzählte, dass er ausreichend zu essen, viel Liebe, geistige Anregung und eine gute Gesundheitsversorgung bekommen und irgendwie eine erstklassige Ausbildung erhalten hatte. Dabei war ihm nicht bewusst, was für riesige Vorteile ihm die Tatsache, dass er weiß war, brachte. Außerdem lebte er, geboren im Jahr 1901, in einer Welt mit größeren Chancen für sozialen Aufstieg als es sie heute selbst für arme Weiße gibt.) So sah ich mich selbst in einer neuen Perspektive: nicht nur als sehr kluges Kind, sondern als Produkt sozialer Faktoren, die ungleich verteilt sind. Es war nicht überraschend, dass ich dieses Verständnis viel später durch die Mitarbeit in einer internationalen Entwicklungsorganisation und durch eine enge Partnerschaft mit Gruppen, die sich für die Bildung und die Rechte von Frauen in Indien einsetzen, vertieft habe.

Wie die meisten der Leute, die ich in Bryn Mawr kannte, war ich damals Republikanerin, und ich bewunderte die Ideen von Barry Goldwater, der die individuellen Freiheitsrechte betonte. Ich glaube immer noch, dass Goldwater ein ehrenwerter Mann war und dass er sich voll und ganz für das Ende der Rassentrennung einsetzte – er hatte seine Prinzipien sogar auf mutige Weise in sein Familienunternehmen integriert. Ich denke, er glaubte tatsächlich, dass sich die Menschen dafür entscheiden sollten, gerecht zu sein, sich gegenseitig zu respektieren und zu helfen, allerdings ohne den Zwang der Regierung. Während ich noch in der Highschool für seinen Wahlkampf zu arbeiten begann, stellte ich jedoch fest, dass die meisten meiner politischen Mitstreiter nicht von hoher Gesinnung, sondern zutiefst rassistisch waren und den Liberalismus lediglich in seiner Funktion als Schutzschirm für Ansichten unterstützten, welche die Rassentrennung befürworteten. Die Hässlichkeit jener Politik, welche die Vorherrschaft der Weißen zum Ziel hatte, stieß mich ab und überzeugte mich davon, dass Goldwater naiv war und dass allein die Gesetzgebung stark genug sein würde, die Rassentrennung zu überwinden. Mittlerweile (nach meinem Aufenthalt in Swansea) hatte ich auch begriffen, dass wirkliche Gleichberechtigung gleichen Zugang zu einer guten Ernährung und Gesundheitsversorgung erfordert. Ich begann, die politischen Ideale des New Deal zu übernehmen, und mein Vater beschwerte sich bei meiner Schule darüber, dass meine Geschichtslehrer mich „einer Gehirnwäsche unterzogen“ hätten – es war nicht das einzige Mal, dass er die geistige Unabhängigkeit, die er so stolz gefördert hatte, unterschätzen sollte.

Ich erwähnte bereits das Theater: schon früh wurden die Künste, insbesondere das Theater und die Musik, für mich zu einem Fenster in eine weniger ausgrenzende Welt. Erstens war es eine Welt, die – im Gegensatz zur weißen, angelsächsischen, protestantischen Kultur („WASP-Kultur“) von Bryn Mawr – den Ausdruck starker Emotionen unterstützte. Alle meine Lehrer förderten meinen Verstand, aber der Theaterlehrer förderte meine gesamte Persönlichkeit. Also fasste ich den Entschluss, Schauspielerin zu werden. Ich arbeitete für zwei Spielzeiten an einem Sommertheater, verließ das Wellesley College nach drei Semestern, um eine Stelle bei einem Repertoiretheater anzunehmen, und verfolgte meine Schauspielkarriere an der heutigen Tisch School of the Arts an der Universität New York – bis ich einsah, dass ich keine sehr gute Schauspielerin, dieses Leben zu unsicher und meine wahre Leidenschaft das Nachdenken und Schreiben über die Stücke war. Doch als Amateurin spiele und singe ich nach wie vor (aufgrund meiner Lebenserfahrung bin ich nun besser), und es bereitet mir Freude. Ich ermutige auch meine Kollegen zum Schauspielen (in Stücken, die im Zusammenhang mit unseren Konferenzen über Recht und Literatur stehen). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die juristische Fakultät menschlicher macht und intellektuelle Freundschaften bereichert, wenn ich mit meinen Kollegen Gefühle teile.

Im Theater begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die offen homosexuell waren. Ja, im Alter von siebzehn Jahren war ich vernarrt in einen schwulen Schauspieler, und ich verfolgte sein Leben mit der gesteigerten Anteilnahme einer enttäuschten Verliebtheit. Ich sah, dass er einen Lebenspartner hatte, der ihn besuchte und mit dem er die Absolventenringe ausgetauscht hatte, dass sie jedoch nur in der Welt des Theaters offen ein Paar waren und nicht in der größeren Gesellschaft. Dies erschien mir völlig absurd und irrational. Er war sehr viel netter als die meisten Jungen, die ich kannte: Er zeigte mehr Verständnis und Respekt. Ich denke, ich hatte mittlerweile verstanden, dass sich hinter Rassismus und Sexismus oft ein abstoßendes Eigeninteresse verbirgt. Die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, die mir – ebenso wie ihre Erscheinungsformen – bis dahin verborgen geblieben war, war ein weiteres schlimmes amerikanisches Laster, das ich in der Folge auf meiner Liste ergänzte.

Nachdem ich mich dagegen entschieden hatte, Schauspielerin zu werden, wandte ich mich wieder dem akademischen Leben der Universität von New York zu und blühte dort auf. Bald darauf lernte ich meinen späteren Mann kennen, verlobte mich und konvertierte zum Judentum. Was mich am Judentum anzog und noch immer anzieht, ist die vorrangige Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit. Außerdem liebte ich schon immer die jüdische Kultur, in die ich eingetreten bin, und fand, dass in ihr Emotionen stärker ausgedrückt und Streitigkeiten auf eine offenere Weise ausgetragen werden als in der „WASP-Kultur“. Einer meiner (sehr erfolgreichen) jüdischen Kollegen sagte über seine eigene Zeit in führenden Anwaltskanzleien, WASP-Anwälte würden einen nie kritisieren, sondern nach fünf Jahren einfach plötzlich feuern, während jüdische Anwälte zwar herumschreien und auf und ab springen, einen am Ende jedoch recht fair behandeln würden. Obwohl ich nicht mehr verheiratet bin, habe ich meinen jüdischen Namen und meine jüdische Religion beibehalten und bin jetzt mehr am Leben meiner Gemeinde beteiligt, als ich es vorher war. (Mit der mittleren Initiale „C“ ehre ich meinen Geburtsnamen, Craven.) Ich schloss mich also einer der Gruppen an, die mein Vater verachtete, und er kam nicht zu meiner Hochzeit, obwohl meine Mutter mir dabei half, sie zu organisieren. Zu der Zeit waren meine Eltern bereits geschieden.

Ich hatte also ein in mancher Hinsicht begünstigtes Leben, aber schon früh lernte ich, es als privilegiert zu betrachten und darüber nachzudenken, dass andere von solchen Privilegien ausgeschlossen waren. Eine Form der Diskriminierung, der ich nicht entgehen konnte, war die Diskriminierung von Frauen, die in meiner frühen Karriere eine große Rolle spielte (obwohl ich auch eine Menge Ermutigung erfuhr) und die wahrscheinlich erklärt, warum ich in Harvard keine Festanstellung bekam – obwohl bei einer knappen Entscheidung und zwei gespaltenen Abteilungen eine Vielzahl von Dingen angeführt werden könnte, um das Ergebnis zu erklären. Und wie die meisten berufstätigen Frauen meiner Generation habe ich die Probleme kennengelernt, die entstehen, wenn das Familienleben um neue und noch nicht vollständig durchdachte Erwartungen herum strukturiert wird. Selbst wenn beide Parteien die besten Absichten haben, sind die männlichen Erwartungen aus einer früheren Ära im Herzen schwer zu besiegen, besonders, wenn Kinder im Spiel sind. Und manchmal können zwei Menschen, die sich lieben, einfach nicht zusammenleben. Aber ich bereue gewiss nicht, mich in das Abenteuer begeben zu haben. Meine Tochter, die jetzt bei Friends of Animals in Denver für die Rechte von wilden Tieren arbeitet, gehört zu den großen Glücksquellen meines Lebens. (Ihr liebenswerter und unterstützender Ehemann, der im Alter von achtzehn Jahren in der DDR zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, weil er ein politisches Plakat aufgehängt hatte, das den Kommunismus kritisierte, hat mir die Perspektive eines Einwanderers eröffnet, der die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren Freiheiten und ihren Traditionen des Willkommenheißens und der Inklusion liebt.)

Manchmal sind Akademiker von den Realitäten des menschlichen Lebens zu weit entfernt, um gute Beiträge zu dessen Strukturen leisten zu können. Das ist ein Risiko, das mit der akademischen Freiheit und dem sicheren Arbeitsverhältnis – wunderbaren Institutionen, wie sie die Philosophen der meisten früheren Epochen nicht geschützt haben – verbunden ist. Mein eigenes Engagement und meine Bemühungen haben mich immer dazu geführt, der Philosophie das breite Spektrum der behandelten Themen zurückzugeben, das sie in der griechischen und römischen Antike auszeichnete: die Analyse der Emotionen und des Kampfes um ein gelingendes Leben in schwierigen Zeiten; das Bedenken von Liebe und Freundschaft sowie der menschlichen Lebensspanne (einschließlich des Alterns, das von Cicero so großartig untersucht wurde); die Hoffnung auf eine gerechte Welt. Ich hatte zahlreiche Partner auf dieser Suche nach einer menschlichen Philosophie (und mehrere großartige Mentoren, darunter Stanley Cavell, Hilary Putnam und Bernard Williams). Doch ich hoffe, dass mir auch meine eigene Geschichte – sowohl in ihren unverdienten Privilegien als auch in ihrem Bewusstsein für Ungleichheiten – bei meiner Suche geholfen hat.

Wenn ich an diesem Abend im November 2016 meine Freunde hätte umarmen können, hätte ich dieses Buchprojekt vielleicht nicht begonnen – oder zumindest nicht genau dann. Aber als ich diesen Weg einmal eingeschlagen hatte, waren meine Freunde wichtige Quellen der Unterstützung, des Verständnisses, skeptischer Herausforderungen und nützlicher Vorschläge. Ehrerbietung ist Gift für die intellektuelle Arbeit, und ich bin so glücklich, dass meine Kollegen und Freunde alles andere als ehrerbietig sind. Doch es gibt einen vor allen anderen, dessen skeptische Herausforderungen, provozierende Einsichten, zynischer Spott über alle Emotionen sowie unerschütterliche Unterstützung und Freundschaft dazu führen, dass ich mich meines Lebens und meiner Arbeit mehr freue und (so hoffe ich) meine Arbeit besser mache. Daher widme ich dieses Buch Saul Levmore.

1 Anm. d. Übers.: Die „Up“-Serie ist eine Reihe von Dokumentarfilmen, die von Granada Television für ITV produziert wurden und das Leben von vierzehn britischen Kindern von 1964 an, als sie sieben Jahre alt waren, begleiten.

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