Читать книгу Der Mörder Ihrer Majestät - Martin Cordemann - Страница 4

002

Оглавление

Wer war ich? Meine Kehle schnürte sich zu. Panikattacke! Wie konnte das sein? Wie konnte ich… ich atmete schnell, viel zu schnell.

Die Tür ging auf. Jemand kam herein. Sah mich an. Sah meinen Blick.

„Sie sind wach!“ rief er voller Erstaunen.

Meine Attacke hörte nicht auf, ich sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

Sofort lief er zu etwas außerhalb meines Blickfeldes und kurz darauf ließ die Attacke nach. Meine Atmung beruhigte sich wieder. Dann trat er zurück in mein Blickfeld. Er trug Weiß und lächelte.

„Sie sind wach“, wiederholte er. Es schien ihn zu erfreuen. Mich hätte es auch erfreut, wäre mir nicht eine Erkenntnis gekommen, die alles bisher erreichte irgendwie nichtig erscheinen ließ.

Wer war ich?

Ich hatte meinen Körper wieder, wenn man so wollte, aber wem gehörte dieser Körper? Es war meiner, das nahm ich an. Alle Gedanken, die auf etwas anderes schließen ließen, die andere Möglichkeiten eröffneten, verdrängte ich aus meinem Kopf. Obwohl sie einiges erklären würden. Wenn man… meinen Geist genommen und ihn in einen anderen Körper transplantiert hätte. Das würde erklären, warum sich alles so fremd anfühlte, so fern, warum ich nicht wusste, wer ich war. Das hätte bedeutet, dass bei der Übertragung etwas schief gegangen, etwas verloren worden war.

Aber das war idiotisch. Das gab es in Büchern. In alten… Büchern.

Panikattacke!

„Schon wieder?“ rief der Mann in Weiß und verschwand.

Ja, schon wieder. Mein Atem beschleunigte sich. Meine Kehle verengte sich. Wie konnte das alles sein? Dass ich Dinge wusste, Dinge wie Bücher, wie meinen Körper, dass ich Begriffe kannte, Hand, Fuß, Arm, Panikattacke, aber dass ich nicht wusste, wer ich war, wie mein Name lautete? Wie war das möglich? War das überhaupt möglich?

Das Mittel wirkte, meine Atmung beruhigte sich wieder. Zwei Panikattacken in so kurzer Zeit, das war kein gutes Zeichen. Und wenn ich meinen Gedanken weiter folgte, würden es bestimmt nicht die letzten Attacken gewesen sein.

„Sie müssen sich beruhigen“, sagte der Mann in Weiß nun. „Ich will Ihnen kein Schlafmittel geben. Dass Sie wach sind, ist ein gutes Zeichen.“

Ich versuchte zu nicken, war mir aber nicht sicher, ob sich mein Körper auch nur einen Millimeter bewegt hatte. Ich versuchte, ihm mit meinen Augen anzudeuten, dass ich verstanden hatte.

„Sie haben mich verstanden, sehr gut.“ Er nickte. „Sie können Ihren Körper noch nicht bewegen. Das liegt an den Medikamenten. Aber wenn Ihre Genesung weiter so gut voran geht, können wir die Dosis bald verringern.“ Er lächelte. „Sie sind auf dem richtigen Weg.“ Sagte er. Dann ging er.

Ich starrte vor mich hin. Weiße Wand, bleiches Fenster. Dadurch war die Sonne gekommen. Nahm ich an. Die Sonne…

Ich bekämpfte eine weitere Attacke. Ich wollte kein Schlafmittel. Ich wollte wach bleiben. Es war das erste Mal seit langem, dass ich lang genug wach war, um mir Gedanken zu machen. Gedanken, die mich in eine Sackgasse führten. Die mir Angst bereiteten. Nicht die Gedanken selbst, die Schlussfolgerungen.

Ich atmete ruhig und regelmäßig. Ich hatte Kontrolle. Vorerst.

Mein Körper war da. Wie es schien, vollständig. Das war ein Anfang. Es bedeutete nicht, dass er funktionierte. Er konnte einen schweren Schaden davongetragen haben. Wenn es mein Körper war, kam der Gedanke von eben zurück. Was, wenn sie meinen Geist in einen anderen Körper übertragen haben? Ich hätte laut auflachen können, wenn ich meinen Körper unter Kontrolle gehabt hätte. Allein der Gedanke war lächerlich. Absurd. Blödsinnig. Das war Utopie, Science Fiction, Horrorgeschichten. Sowas dachten sich Leute aus, so etwas gab es nicht in der Wirklichkeit. Ich glaubte nicht…

Ich…

Ich?

Wer war ich?

Wer bin ich?

Warum wusste ich das nicht?

Tief durchatmen, langsam atmen, ruhig bleiben.

Ich näherte mich wieder der Schwelle, die zu einer Attacke geführt hatte. Die Schwelle der Erkenntnis konnte man sagen. Oder der Unerkenntnis? Der Erkenntnislosigkeit? Der Ausweglosigkeit. Es kam alles aufs Selbe hinaus.

Durchatmen.

Wo war das Problem? Ich wusste nicht, wer ich war, na und? Das war schon anderen Leuten passiert…

Das war die Stelle, Erkenntnis, durchatmen!

Woher wusste ich das?

Das war die Frage, das Problem, der Auslöser der Attacke. Wenn ich nicht wusste, wer ich war, woher wusste ich dann diese anderen Dinge? Woher wusste ich, dass ich einen Körper hatte? Und dass er nicht funktionierte? Dass ich ihn nicht fühlen konnte? Was „fühlen“ war? Dass es einen Arm, ein Bein, ein Ohr, eine Lunge gab und dass diese Dinge so hießen? Woher kannte ich so etwas wie den Begriff „Science Fiction“? All das ergab keinen Sinn!

Durchatmen, aufs Atmen konzentrieren.

Atmen!!!

Atmen!

Atmen.

Mein Körper war da. Ja. Aber mein Geist… was war mit meinem Geist? Warum wusste ich nicht, wer ich war? Wie konnte ich etwas so wesentliches vergessen?

Oder… hatte ich es nie gewusst?

Neue Bilder, neue Ideen stürzten auf mich ein. Was, wenn ich kein Mensch war? Sondern ein Roboter? Was, wenn man mich gerade geschaffen hatte? Programmiert mit einem umfangreichen Gedächtnis – aber ohne einen Namen! Das würde alles erklären.

Fast alles.

Warum sagte ich mir dann ständig, dass das der Stoff war, aus dem man Science Fiction Geschichten machte, Geschichten, die ich in meiner Kindheit gelesen hatte. Warum hatte ich eine Kindheit gehabt, wenn man mich gerade erst erschaffen hatte?

Ich seufzte. Je mehr ich mich mit diesen phantastischen Geschichten befasste, umso ruhiger wurde ich. Das war alles so unrealistisch, so weit her geholt, dass mich der bloße Gedanke daran beruhigte. Das gab es nicht. Das hatte man sich nur ausgedacht. Das war keine Wirklichkeit. Würde es vielleicht niemals werden. Es waren Geschichten. Es waren… Zukunftsgeschichten.

Wieder ein Ansatzpunkt für eine Attacke. Ich atmete durch.

Die Zukunft. Offenbar hatte ich in meiner Kindheit, an die ich mich selbst nicht erinnern konnte, viel zu viele von diesen Geschichten gelesen und nun lief meine Phantasie Amok und präsentierte mir ein unwahrscheinliches Szenario nach dem anderen. Also die Zukunft, liebe Phantasie, was hast du mir zu der Zukunft zu erzählen und warum ist das ein Wort, das sich gerade darauf hinentwickelt, ein neuer Auslöser zu werden?

Weil die Zukunft Dinge möglich macht!

Was sollte das bedeuten, die Zukunft macht Dinge möglich? Dinge, die in meiner Kindheit… Science Fiction waren. Und unmöglich. Aber was, danke, Phantasie für deine aufdringliche Einmischung, wenn ich mich nicht mehr in meiner Zeit befand sondern in der Zukunft? Wenn ich einen Unfall gehabt und man mich auf irgendeine Weise haltbar gemacht und erst in der Zukunft wieder „aufgetaut“ hatte? Dann konnte all das Wirklichkeit geworden sein, dass man… meinen Geist in einen Roboterkörper ohne Vergangenheit gesteckt hatte.

Ein lautes Lachen hallte durch mein Zimmer, mein Lachen!

Das war nicht nur zu lächerlich, es hatte mich auch aus meiner Lähmung befreit. Und von meinen Angstzuständen. Ich lachte, bis ich vor Lachen keine Luft mehr bekam – ein gutes Zeichen. Fand ich jedenfalls. Der Mann in Weiß schien anderer Ansicht zu sein.

„Soll ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben?“ fragte er unsicher. Es schien nicht so oft vorzukommen, dass hier jemand laut auflachte, besonders niemand, der unter Panikattacken litt. Das schien ein sehr widersprüchliches Bild von mir aufzubauen.

Ich versuchte, den Kopf zu schütteln, aber es gelang mir nicht. Auch sprechen war nicht möglich. Ich machte Geräusche, in der Hoffnung, dass sie beruhigend auf ihn wirkten. Ich beruhigte ihn?! Das war mehr als seltsam. Aber er schien zu verstehen und nickte mir zu.

„Ich sage dem Oberarzt bescheid, der wird sich freuen. Sie sind auf dem besten Weg.“ Dann war er wieder verschwunden.

Und ich war allein.

Mit meinen Gedanken.

Aber ohne meinen Namen.

Oder meine Vergangenheit.

Ohne zu wissen, wer ich war.

Aber immerhin hatte ich etwas herausgefunden. Etwas starkes, bedeutendes: Ein Mittel gegen meine Angstzustände. Wann immer sich meine Kehle zuschnürte musste ich mir nur die abstrusesten Ideen ins Gedächtnis rufen und dann würde das Lachen mich retten. Jedenfalls hoffte ich das!

Mein Traum wurde unterbrochen. Oder war es ein Traum, der die Wirklichkeit unterbrach? Ich wusste es nicht. Vor mir standen drei Männer, ihre Gesichter hingen in der Luft, sahen auf mich hinunter.

„Ist er das?“

„Das ist er.“

„Ganz sicher?“

„Wir haben einen Abgleich gemacht.“

„Es gibt keinen Zweifel.“

„Er ist es.“

„Dann haben wir ihn wieder.“

„Ja.“

„Bereiten Sie ihn vor.“

„Sollen wir wirklich?“

„Aber natürlich.“

„Ist das nicht…“

„Es ist das Mindeste, was wir für ihn tun können.“

„Hat er all das wirklich getan?“

„Das hat er.“

„Dann… sollten wir fortfahren.“

„Machen Sie sich immer klar, dass er diese Behandlung verdient hat.“

„Jawohl.“

Die Gesichter verschwanden im Dunst und die Angst schlich sich an mich heran. Was wollte man mit mir tun? Was hatte ich getan? War ich vielleicht ein Mörder? Ein Attentäter? Ein Feind des Staates? Hatte ich grausame Dinge getan und nun hatte man mich gefasst? Wartete ich hier auf meine Hinrichtung? Versorgte man mich vorher medizinisch, damit ich die Hinrichtung auch so richtig wahrnehmen konnte? Was hatte man mit mir vor? Was hatte ich getan? Das Lachen war verschwunden, die Angst war wieder da… das Beruhigungsmittel tat seine Wirkung.

Als ich aufwachte, war der Traum verschwunden. Leiser Donner drang von draußen herein. Ein Gewitter, vermutlich.

„Das sind nur die Bomben“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, all das ist weit entfernt.“

Ich musste mir keine Sorgen machen… aber ich machte mir welche. Weil ich nicht wusste, wer ich war und was ich getan hatte.

„Alles wird gut werden“, sagte die Stimme. „Wir werden Sie heilen. Sie werden noch ein langes Leben haben.“

Ein langes Leben? Also keine Hinrichtung im Morgengrauen? War ich kein Mörder, der seine gerechte Strafe bekam? Ich wünschte, ich wüsste, wer ich war. Aber vielleicht war ich ja nicht der einzige. Vielleicht wusste niemand hier, wer ich war? Vielleicht war ich an einem Ort gestrandet, an dem niemand mich kannte – und wo mir niemand sagen konnte, wer ich war? Vielleicht würde ich es dann niemals erfahren…

Ich war wieder einmal in einen Dämmerzustand hinabgeglitten. Als ich diesmal aufwachte, sah ich in ein strahlendes Gesicht. Nicht das Gesicht des Mannes in Weiß, ein anderes Gesicht – und es schien sich zu freuen, mich zu sehen.

„Dich kann wirklich nichts umbringen, oder?“ fragte es grinsend. Ich versuchte zu antworten, aber das Gesicht winkte ab. „Ich weiß, du kannst noch nicht sprechen, das wird wohl noch ein paar Tage dauern.“

Endlich einmal eine Diagnose. Er sah aber nicht so aus, als wäre er Arzt, also wusste ich nicht, wie viel ich auf sein Wort geben konnte. Er verhielt sich auch nicht wie ein Arzt, eher wie ein… Freund. Er schien den fragenden Ausdruck auf meinem Gesicht zu bemerken.

„Du weißt doch, wer ich bin, oder?“

Mein Gesichtsausdruck verriet ihm, dass dem nicht so war.

„Oh meine Güte… kannst du dich an irgendwas erinnern?“

Ich wollte den Kopf schütteln, aber wieder musste mein verneinender Gesichtsausdruck ausreichen.

„Damit hatte ich nicht gerechnet, Junge“, sagte das lächelnde Gesicht nun. „Sicher, ich wusste, dass es dich schwer erwischt hat, aber das…“ Er zuckte die Schultern. „Aber wenigstens bist du noch am Leben, was?“ Er wollte mir auf die Schulter klopfen, wie zur Aufmunterung, aber der Mann in Weiß oder ein anderer Mann in Weiß hielt ihn zurück. Es war schwer zu erkennen, die weiße Figur befand sich ganz am Rand meines Blickfelds. Und ich konnte den Kopf nicht bewegen, um mein Gesichtsfeld zu erweitern. „Ruh dich gut aus“, sagte das lächelnde Gesicht. „Die sorgen hier gut für dich. Und in ein paar Wochen bist du wieder auf den Beinen.“

Ich war mir ziemlich sicher, dass das gelogen war. Auch, wenn ich nicht wusste, wer ich war, ich hatte so einen Instinkt dafür, wenn man mir etwas vormachte.

„Sie sollten jetzt vielleicht lieber…“ sagte eine Stimme außerhalb des Blickfelds.

„Ja, Sie haben wahrscheinlich recht. Ich wollte nur mal sehen, ob es wirklich stimmt.“ Das lächelnde Gesicht beugte sich über mich. „Sag mir bescheid, wenn die hier nicht gut für dich sorgen!“ Es entfernte sich wieder. „Und gute Besserung, du Held!“ Es lächelte mir noch einmal zu und verschwand dann. Nur seine Stimme blieb mir noch einen Moment, während sie sich langsam entfernte: „Sorgen Sie dafür, dass er sich schnell erholt. Tun Sie alles für ihn. Er hat es verdient. Er ist der Held der…“ Die Tür hatte sich geschlossen und die Worte waren zu undeutlich geworden.

Ich seufzte, eins der wenigen Dinge, die ich tun konnte. Seufzen und lachen. Nach Lachen war mir im Moment nicht zumute. Obwohl es das vielleicht sein sollte. Denn wenn ich auch nicht wusste, wer ich war, so gab es offensichtlich jemanden, der das tat. Einen Freund. Meinen Freund! Ein freundliches, lachendes Gesicht, das mich als… als Helden bezeichnet hatte.

Das gab mir ein wenig zu denken. Eigentlich war das etwas, worauf man stolz sein sollte. Ich war ein Held. Möglicherweise hatte ich großes vollbracht. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, warum man mich als Held bezeichnen sollte.

Oder hatte es mit dem Grund zu tun, warum ich hier war? Stand meine Heldentat, wenn ich denn eine vollbracht hatte, in direktem Zusammenhang damit? Hatte ich mir meine Verletzungen dabei zugezogen? Oder war ich schon vorher ein Held gewesen und das hier hatte ich mir bei einem gewöhnlichen Haushaltsunfall zugezogen?

Ich wusste nicht, welche Geschichte ich bevorzugen sollte? Die, dass mich meine Heldentaten in diese Situation gebracht hatten. Oder die, dass ich ein großer Held war, der dann in seiner Freizeit gestrauchelt war, bei irgendeiner sportlichen Tätigkeit oder dergleichen. Möglich war beides – oder nichts davon.

Ich atmete tief durch!

Es war äußerst deprimierend, wenn einem die eigene Geschichte fremd war. Wenn man nicht die geringste Ahnung hatte, warum die Leute einen behandelten, wie sie einen behandelten.

Der Mann in Weiß erschien. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören, meine Gedanken hatten mich abgelenkt. Vielleicht war ich deshalb hier, weil mich meine Gedanken abgelenkt hatten, während ich etwas Wichtiges hätte tun sollen und dann hatte ich nicht aufgepasst und der Unfall oder was auch immer war geschehen. Hatte es sich so abgespielt?

„Sie sind auf dem richtigen Weg“, sagte der Mann in Weiß, doch langsam schien das wie eine Floskel zu wirken. Ich war auf dem richtigen Weg, alles würde besser, bald war alles wieder gut. Glaubte man selbst daran, wenn man es nur oft genug hörte? Ja, würde es wahr werden, nur weil man es oft genug hörte? Das wäre ein riesiger Fortschritt für die Medizin gewesen. Wenn man sich wirklich nur noch einreden musste, dass man gesund würde, dann würde man sich viele schwierige Operationen ersparen können. „Es ist wichtig, dass Sie auch selbst daran glauben.“ Da hatten wir es, das Eingeständnis der Medizin, dass sie sich überlebt hatte und nun die Selbstregeneration regierte – solange man nur daran glaubte. „Sie haben großes geleistet!“ Aber was? Was hatte ich geleistet? „Sie sind ein wahrer Held!“ Warum? Wofür? Wie hieß ich?

Der Mann in Weiß verschwand und ließ die Wand in Weiß zurück. Sie war das einzige, was mir Gesellschaft leistete. Sie und das bleiche Fenster. Es schien ein trüber Tag zu sein. Oder war es Nacht, und was das Fenster erleuchtete, waren die Laternen? Gab es hier Laternen? Wo war dieses Krankenhaus? Wo war ich? Wer war ich? Was…

„Es ist leider unumgänglich, Ihnen Beruhigungsmittel zu verabreichen“, hörte ich eine Stimme sagen und öffnete vorsichtig die Augen. Ein neuer Mann in Weiß stand vor mir, möglicherweise der Arzt. „Es sieht so aus, als hätten Sie noch immer hin und wieder Angstattacken“, sagte er. „Um sicher zu gehen, dass Ihnen nichts passiert, leiten wir dann Beruhigungsmittel in Ihr System. Wir wollen, dass Sie bald genesen. Sie sind uns sehr wichtig.“

Ich versuchte, etwas zu sagen, doch es kam nur unverständliches Gekrächze aus meinem Mund.

„Es ist ein gutes Zeichen, dass Sie versuchen, zu sprechen“, meinte der Arzt, „aber im Moment sind Sie noch zu geschwächt dafür. Aber versuchen Sie es weiter, es ist wichtig, dass Sie nicht aufgeben.“

Es war immer wichtig, dass man nicht aufgab. Aufgeben war etwas für Schwächlinge! Wer aufgab, konnte sich direkt selbst aufgeben.

„Sie haben… woran können Sie sich erinnern?“

Ohne, dass ich dafür etwas tun musste, wurde mein Gesicht eine verzweifelte Masse.

„Sie haben also Schwierigkeiten, sich zu erinnern?“

Die Verzweiflung blieb.

„Wissen Sie, wo Sie sich hier befinden?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie, wer ich bin?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie, wer Ihr Freund ist?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie… wer Sie sind?“

Die Verzweiflung kehrte in meine Augen zurück. Der Arzt erkannte sie.

„Sie wissen also nicht einmal, wie Sie heißen?“

Noch mehr Verzweiflung.

„Das tut mir so leid“, sagte er leise. „Ich, ich hoffe, dass wir etwas dagegen tun können. Wir können fast alles heilen, wissen Sie, aber das…“ Er seufzte und innerlich tat ich es ihm nach. „Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, damit Sie wieder der werden, der Sie waren, bevor…. bevor das hier passiert ist.“

Er nickte mir noch einmal tröstend zu, dann war er verschwunden. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen. Ich war allein. Mit mir. Mit jemandem, den ich nicht kannte. Über den ich nichts wusste. Den ich aber auch nicht fragen, nicht kennenlernen konnte. Die einzigen Menschen, die mir hätten sagen können, wer ich war, waren gegangen. Sie hofften, dass meine Erinnerung zurückkommen würde. Ich hoffte es auch. Es war furchtbar, in Ungewissheit zu leben. In der Ungewissheit, wer ich war.

Dunkle Gedanken füllten meine Träume. Sie warfen ihre langen Wurzeln aus und rankten sich hinüber bis in den Tag. Ich hatte das Gefühl… es war nicht wirklich eine Erinnerung, die zurückgekehrt war, es war eher ein ungutes Gefühl. Das ungute Gefühl, dass dort draußen vielleicht nicht alles so weiß und hell war, wie in meinem Krankenzimmer.

Irgendetwas Dunkles, Beklemmendes schnürte mir die Kehle zu. Hatten wir Krieg? Ja, da war… eins der Gesichter hatte so etwas gesagt. Nicht das Wort Krieg, aber etwas über Bomben. Die Gewitter. Es hatte mehrere gegeben, seit ich das erste Mal wach geworden war. Erst hatte ich dem keine Bedeutung beigemessen, doch inzwischen hatte ein Gefühl der Beklemmung von mir Besitz ergriffen. Die Welt war anders, anders als sie sein sollte. Sie war düster und grausam und blutig und böse. Oder bildete ich mir das vielleicht nur ein? War das alles nur ein schlechter Traum, der jetzt versuchte, mein Denken zu beeinflussen? Ich wusste es nicht. Aber ich hatte ein ungutes Gefühl.

Die Sonne schien, die Gewitter waren verstummt, mein großer Zeh juckte. Das waren gute Neuigkeiten. Ich war auf dem Weg der Genesung. Nur noch ein paar Wochen oder Monate und ich konnte wieder dort hinaus und… tun, was immer ich früher getan hatte.

Es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, was mein Beruf gewesen war. Und ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn nun nicht mehr würde ausüben können. Wenn ich wieder laufen lernte, war das ein Wunder. Das Atmen fiel mir inzwischen leicht und ich hatte schon lange keine Panikattacke mehr gehabt. Nach und nach kehrte auch das Gefühl in meine Beine und Arme zurück. Nur die Erinnerung, die blieb nach wie vor verschüttet.

Hatte ich einen Beruf gehabt, bei dem ich auf meine Erinnerung angewiesen war? War ich Pilot? Oder Arzt? Nun, dann konnte ich mich wohl bald nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen.

Ich sah auf das Fenster. Es war nicht durchsichtig, aber warme, orangene Sonnenstrahlen fanden trotzdem ihren Weg hindurch und zu mir. Fenster, Arm, Sonne, für alles gab es einen Namen. Nur für mich gab es keinen.

Doch, es gab einen. Aber man hatte ihn mir noch nicht gesagt. Nicht, dass das einen Unterschied gemacht hätte. Ich hatte vieles vergessen, selbst den Namen meines „Freundes“, der sich so gefreut hatte, mich lebendig zu sehen.

Ich hätte natürlich spekulieren können, wie ich hieß, aber das war blödsinnig. Es führte zu nichts. Sollte ich mir vorstellen, dass ich Frank hieß, nur um dann wenig später festzustellen, dass mein Name Peter war? Nein, es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber warum sagte man mir nicht, wer ich war? Wäre das ein zu großer Schock? War es nicht Schock genug, dass ich nicht wusste, wer ich war? Oder hatte es einen Vorteil, dass ich darüber im Dunkeln tappte?

Meine ersten Worte waren mehr ein Husten, aber der Arzt konnte sie verstehen. Jedenfalls tat er so. Es war auch der Tag, an dem mein „Freund“ wiederkam.

„Ich hatte eine Menge zu tun, tut mir leid, dass ich jetzt erst wiederkomme“, sagte er.

„Uaahh“, war meine etwas vage Antwort.

Mein „Freund“ sah den Arzt an, oder er sah in die Richtung, aus der zuvor seine Stimme gekommen war.

„Er kann sprechen?“

„Es ist ein Anfang.“

„Freund“ strahlte mich an. „Wenn du so weitermachst, singst du uns in ein paar Tagen was vor.“

Erst laufen, jetzt singen, was als nächstes? Fliegen? Musste man einem Patienten unrealistische Versprechungen machen? Nahm man an, dass er zu krank war, um zu verstehen, dass das nur leeres Gerede war? Oder sollte das aufmuntern, stimulieren, dafür sorgen, dass der Heilungsprozess schneller voran ging?

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sagte „Freund“. „Und du weißt wirklich nicht, wer ich bin?“

„Argh!“

„Mann!“ Er lachte. „Hey, weißt du, dass du mir noch Geld schuldest?“ Er sah mich ernst an. Dann lachte er wieder. „Nein, war nur Spaß! Du schuldest niemandem was… wir schulden dir eine Menge. Eine ganze Menge!“ Er nickte mir zu. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich dir irgendwann ein zweites Mal vorstellen müsste, Junge, aber offensichtlich muss es wohl sein. Ich bin Mel, Mel Agis.“

Endlich, ein Name zu einem Gesicht. Aber wo war mein Name – und wie sah mein Gesicht aus? Ich hatte keine Idee. Weder für das eine, noch für das andere. Ich wusste nicht, wie mein Körper aussah. War ich sportlich, war ich fett? Ich hätte eine Menge abgenommen haben können, durch das Liegen im Bett. Durch die künstliche Ernährung. Ich wusste gar nichts!

„Ich sehe schon wieder diesen verzweifelten Blick“, sagte Mel. War er „Mel“? Hatte ich ihn so genannt? Oder hatten wir Spitznamen füreinander? Nannte ich ihn „Agi“? Oder vielleicht „Chef“? War er mein Vorgesetzter? Zu viele wirre Gedanken konnten Panik auslösen…

„Ganz ruhig! Atme tief durch, du Held. Du hast schon schlimmeres durchgestanden als das hier.“

Hatte ich?

„Ja, das hast du. Das hier muss doch ein Urlaub für dich sein.“

Es war eher das Gegenteil, es war die Hölle. Sich nicht rühren, sich nicht verständlich machen zu können, nicht zu wissen, wer man war, warum man hier war und was mit einem geschah… es war schrecklich!

„Du willst wissen, wer du bist?!“

Ja, das wollte ich.

„Ich kann dir deinen Namen sagen.“

Ich wollte ihn hören.

„Dein Name ist…“

Er machte eine dramatische Pause. Warum? Was war mit meinem Namen? War er ein Geheimnis? War er eine Gefahr? War ich der Präsident? War ich ein Diktator? Würde mein Name ein Schock für mich sein? Würde er alle Erinnerungen zurückbringen, Erinnerungen an schreckliche Dinge, die ich getan hatte? Würde mein Name mich vernichten, mir den Mut nehmen, die Kraft, würde er Erinnerungen über mich spülen, die mich das Vergessen zurückwünschen lassen würden? War ich der größte Massenmörder der Geschichte?

„…Arnold Zudikas.“

Das… sagte mir gar nichts!

Er sah mich fragend an. Ich versuchte, die Schultern zu heben. Es gelang sogar ein wenig. Sein Blick zeigte Verständnis.

„Ich fürchte, das muss für heute reichen“, sagte er, lächelte mir noch einmal zu und ging mit einem „Besser dich, du Held!“

Ich würde es versuchen.

Der Arzt trat in mein Blickfeld.

„Ruhen Sie sich jetzt aus“, meinte er. „Und probieren Sie später noch einmal, langsam zu sprechen. Wir schicken Ihnen jemanden, der Ihnen dabei hilft, sobald er frei für Sie ist. Sie sind auf dem besten Weg!“

Ja, das hörte ich ständig. Ich war auf dem besten Weg, auf dem Weg der Besserung, in ein paar Tagen würde ich singen und laufen und tanzen und springen können. Ich war… Arnold Zudikas.

Es war erschreckend, wie wenig mir das half. Es war kein Name, der irgendeine Reaktion bei mir auslöste. Keine Erinnerungen wurden dadurch geweckt, keine Bilder, nichts. Es war nur ein Name. Es war mein Name, offenbar. Aber er schien mir nichts zu bedeuten.

Das war fast noch frustrierender, als an das Bett gefesselt zu sein und sich nicht rühren zu können. Da gab es einen ersten Hinweis auf die eigene Vergangenheit, einen möglichen Schlüssel zur Erinnerung – doch der Schlüssel passte nicht. Oder er bewegte sich nicht im Schloss. Nichts passierte. Ich hatte einen Namen, mehr nicht. Arnold Zudikas. Das war ich. Wahrscheinlich. Vielleicht war ich es mal gewesen. Vielleicht verbanden andere Menschen mehr mit Arnold Zudikas, mir kam er schlicht unbekannt vor, fast schon unbedeutend.

Wer war Arnold Zudikas? War er Zahnarzt? Pilot? Grundschullehrer? Nun, er war ein Held. Zumindest war er das für Mel. Nein, zumindest nannte Mel ihn so. Aber vielleicht war das nur ironisch. Vielleicht war Arnold Zudikas der größte Feigling, den Mel Agis kannte? Vielleicht war ich durch eine große, durch Feigheit ausgelöste Dummheit hier gelandet? Vielleicht zog er mich nur auf damit, dass ich ein Held wäre?

Ungewissheit! Ständige Ungewissheit! Es war frustrierend.

„Un“, sagte ich, „ge“, und mühsam „wiss“, Schlucken, „heit!“

Mein erstes Wort, mein erster Satz, meine erste Aussage. Doch in Wirklichkeit wollte ich sagen: „Fru“, Atmen, „triet!“ Es sollte frustrierend heißen und es war frustrierend, dass ich frustrierend nicht sagen konnte. Arnold Zudikas. Nein, an die beiden Wörter würde ich mich noch nicht heranwagen. Vielleicht ein andermal. Wenn sie eine Bedeutung für mich bekommen hatten. Falls sie jemals eine Bedeutung für mich bekamen!

Schlimme Träume kamen in der Nacht. War es Nacht? Durch das Fenster schien immer dasselbe fahle Licht. Außer, wenn es die Sonne schaffte, sich durch die matte Scheibe zu stehlen. Wenn es denn die Sonne war. Doch im Moment gab es nichts davon zu sehen oder zu spüren, warm auf der Haut. Nur das Fahl. Und ein wenig Gewitter. Donner. Krieg? Waren es Bomben? Wo fielen sie? Wer warf sie? Auf wen?

Ja, wir waren im Krieg. Oder? In einem Konflikt. Es war nicht sicher da draußen. Die dunklen Gedanken, das dunkle Gefühl, dass da draußen etwas Ungutes vor sich ging, das mich vor einiger Zeit beschlichen hatte, war zurückgekehrt. Irgendetwas war dort. Die Beklemmung kehrte zurück. Es war… nicht die Welt, von der ich in meiner Jugend gelesen hatte. Nicht diese ganze Science Fiction. Es war… etwas Schlimmes. Oder bildete ich mir das nur ein? Waren das die Alpträume, die sich ihren Weg in mein Bewusstsein suchten?

Ich atmete langsam durch. Das Gewitter verstummte. Ich kannte meinen Namen. Und doch… hatte ich ein ungutes Gefühl!

Langsam wurde es besser. Ob es daran lag, dass sie ständig behaupteten, es würde mir besser gehen oder ob die Medikamente endlich ihre Wirkung zeigten, ich wusste es nicht. Wichtig war nur das Ergebnis.

Ich konnte meine Füße fühlen, meine Hände, meinen Kopf wieder etwas bewegen, sogar mit den Schultern zucken. Meine Aussprache ließ noch zu wünschen übrig, aber ein „Nein“ konnte ich durch Kopfschütteln vermitteln – und ein „Ja“ durch Nicken. Nur mein Gedächtnis ließ noch auf sich warten.

„Ich habe hier etwas für Sie“, sagte eines Tages der Mann in Weiß, ein Pfleger namens Phil, wie ich inzwischen wusste.

„Sind es meine Erinnerungen?“ fragte ich, aber ich sagte es nicht laut, denn so weit war ich noch nicht.

„Für Ihre Genesung“, meinte er und stellte ein kleines Bild auf den Nachttisch. Ein Bild. Wie sollte das bei meiner Genesung helfen? Gut, es brachte ein wenig Farbe in das Weiß in Weiß des Zimmers. Ich versuchte, den Kopf zu drehen und langsam schaffte ich es. Ein Bild… von einer Frau. Und zwei Kindern. Marion. Carl. Steffi. Woher…

Woher wusste ich die Namen? Woher…

Gefühle überkamen mich. Warme Gefühle. Ich kannte sie. Marion, Carl und Steffi. Meine Frau und unsere beiden Kinder. Ich kannte sie, ich kannte sie!

Ich atmete schneller, nicht aus Angst, sondern vor Freude! Ein Gefühl des Glücks hatte Besitz von mir ergriffen. Ich spürte, wie mir innerlich warm wurde, ich spürte, wie sich auf meinen Lippen ein Lächeln bildete. Ja, das war meine Familie!

„Geht es Ihnen gut?“ fragte Phil besorgt.

Ich nickte. Besser war es mir lange nicht gegangen. Ich fühlte mich glücklich, erfüllt. Die Leere war verschwunden. Die Gedanken, wer ich war, warum ich hier lag, wofür das alles – alles weg! Ich hatte wieder einen Grund zur Freude, einen Grund zum Leben!

„Das“, brachte ich mühsam hervor, „Familie!“

„Ja“, nickte Phil und lächelte. „wusst ich doch, dass Sie das freuen würde!“

Dann ließ er mich mit meiner Familie alleine. Ich betrachtete das Bild, verschwand förmlich darin. Gefühle übermannten mich. Ich wusste nicht viel über sie, nur ihre Namen – und dass ich sie liebte. Es war wunderbar, sie zu sehen, endlich wieder etwas zu fühlen, endlich wieder das Gefühl zu haben, zu irgendetwas dazu zu gehören. Dass es da draußen etwas gab, jemanden gab, der auf mich wartete – und zu dem ich zurückkehren wollte.

Die Leere war verschwunden.

Die Angst war verschwunden.

Die Unsicherheit war verschwunden.

Ich lächelte. Meine Familie. Meine Liebe. Mein Ziel.

Phil, der Pfleger, hatte recht gehabt. Meine Laune besserte sich, mein Lebenswille war wieder da. Aus dem Fünkchen war nun ein loderndes Feuer geworden. Jetzt hatte ich einen Grund, mich anzustrengen, jetzt wollte ich gesund werden, nicht für mich, sondern für sie, um sie endlich wieder zu sehen. Ich strahlte, vor Freude. Es war das schönste Erlebnis seit langem. Glücklich schlief ich ein.

Mel Agis, mein Freund, ließ mir Nachrichten bringen. Er selbst, sagten die Nachrichten, hatte gerade zuviel zu tun, wichtige Dinge, ich würde das verstehen, wenn ich wieder auf der Höhe wäre, aber er wünsche mir gute Besserung, mir, dem Helden.

Ich machte gute Fortschritte. Phils kleines Geschenk hatte mir neue Hoffnung gegeben und neue Motivation. Die Übungen, die dazu führen sollten, dass ich meine Arme und Beine, dass ich mich wieder bewegen konnte, ging ich mit mehr Elan an als zuvor. Selbst das Sprechen klappte schon ganz passabel. Und immer, wenn es zu schwierig wurde, wenn das Bein zu schwer zum Heben war, die Finger zu weit entfernt, das Wort zu schwierig, dann sah ich zum Bild meiner Familie – und versuchte es wieder und wieder, bis ich es schaffte.

Ich hatte eine Familie, ein Ziel, Erfolg – da war nur eine Sache. Meine Erinnerungen an mich waren noch immer verborgen. Was Marion und Carl und Steffi anging, so kam immer mehr zurück. Spaziergänge, Spielen, ins Bett bringen, ein Lächeln – Bilder, die mit Gefühlen verknüpft waren. Ich konnte sie spüren, wusste, wer sie waren, ohne, dass ich dafür eine intellektuelle Ebene benötigte. Sie waren eine Einheit von Bildern und Emotionen.

Aber ich? Wo war ich? Zu mir gab es keine Bilder, keine Gefühle, keinen auslösenden Reiz, der eine Rückkehr der Erinnerungen in Gang setzen könnte. Selbst in Verbindung mit den Kindern oder mit meiner Frau, ich fühlte sie, aber nicht mich. Fast so, als wäre ich nur ein Beobachter in der Geschichte von jemand anderem.

Doch ich sollte nicht zu stark daran denken, denn das würde nur wieder zu Frustrationen führen. Ich sollte mich über das freuen, was ich hatte. Vielleicht würde das ja zu mehr führen. Vielleicht… wenn ich sie wieder sehen, in den Armen halten, spüren würde, vielleicht würde dann auch die Erinnerung an mich selbst wiederkehren. Aber… vielleicht war das auch gar nicht nötig. Vielleicht würde es mir völlig reichen, sie in meinen Armen zu halten und mit ihnen zusammen zu sein, vielleicht konnte ich dann darauf verzichten, wer ich früher einmal gewesen war, nur, weil sie für mich da waren und ich für sie. Das war eine beruhigende Vorstellung. Nicht darauf angewiesen zu sein, dass wirklich alles zurückkehrte. Nur mit ihnen zusammen zu sein. Das wäre schön.

„Kann ich sie sehen?“ fragte ich.

Der Arzt, Dr. Fronz, schüttelte den Kopf.

„Aber…“

„Sie sind noch nicht so weit“, sagte er. „Sie… wissen noch nicht einmal…“

Wer ich bin?

„…wie Sie aussehen!“

Das… wusste ich nicht. Ich hatte gedacht… Ich hatte angenommen… Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht. Ich lag in einem Bett, ich konnte mich nicht bewegen, ich hatte mein Gedächtnis verloren. Der Gedanke, was für einen Anblick ich vielleicht bieten würde, war mir nie gekommen.

Was für einen Anblick mochte ich bieten? Auch wenn mein Körper sich am Anfang völlig zerschlagen angefühlt hatte, so schien er doch auf dem Weg der Besserung zu sein. Ich würde laufen können, sagte man mir, schon bald. Also wenn es nicht an meinem Körper lag…

Vielleicht war es mein Gesicht? Vielleicht war ich grauenvoll entstellt? So entstellt, dass mich niemand außerhalb dieses Zimmers sehen sollte? Würde ich meiner Familie einen Schrecken einjagen, wenn sie mich so sahen? Würden sie angsterfüllt davonlaufen? Würden sie vor Mitleid schluchzen? Vielleicht würden sie mich gar nicht wieder erkennen. So wie ich mich nicht wieder erkennen konnte.

„Sie sind auf dem Weg der Besserung“, sagte Dr. Fronz. „Denken Sie immer nur daran.“

Ich versuchte es. Ich hatte es versucht. Nein, ich hatte nicht daran gedacht – ich hatte an sie gedacht. An die Menschen, die ich liebte. Der Gedanke an sie hatte mich mit Glück und Hoffnung erfüllt, doch jetzt… hatte sich etwas dazwischen geschoben. Ein Kloß war in meinem Hals aufgetaucht, eine unbestimmte Trauer erfüllte mich. Dass es einen Grund gab, warum sie mich nicht sehen sollten… das erfüllte mich mit Angst. Was war so schlimm?

Ich versuchte, durchzuatmen. Um das schlechte Gefühl zu beseitigen. Es gelang mir nicht.

Dr. Fronz bemerkte meine Veränderung. Er deutete auf das Bild.

„Wissen Sie, wie viel Fortschritte Sie gemacht haben, seit das hier steht?“ Ich wusste es. „Es ist wichtig, dass Sie weitermachen. Für Ihre Familie. Hab ich recht?“ Er sah mich an.

„Ja“, hauchte ich.

„Gut. Dann geben Sie Ihre Hoffnung nicht auf. Tun Sie es für Ihre Familie!“

Ich sah das Bild an. Begrub das schlechte Gefühl. Ich tat es für sie. Sie waren der Grund, warum ich noch lebte, sie waren der Grund, warum ich wieder sprechen konnte, sie würden der Grund sein, warum ich wieder laufen konnte. Und stehen. Und fühlen. Sie fühlen. In meinen Armen. Sie waren der Grund, warum ich nicht aufgab!

Der Mörder Ihrer Majestät

Подняться наверх