Читать книгу Unheimliche Tage II - Martin J. Ost - Страница 3
Schock
ОглавлениеFast zwei Jahre waren nun nach unserem denkwürdigen Abenteuer auf dem Planeten Zwielicht vergangen, in das wir von Außerirdischen, die sich Bakarer nannten, verwickelt worden waren. Diese hatten damals den Tod meiner Frau Christine vorgetäuscht. Durch die Bakarer lernte ich dann auch Angelika kennen, die genau wie ich eine äußerst seltene Immunität gegen die Strahlung eines Erzes hatte, welches für die Bakarer von unermesslichen Wert war. Christine, deren Verlust mich an den Rand der völligen Verzweiflung gebracht hatte, wurde von den Bakarern einer Art Gehirnwäsche unterzogen. Sie lebte jetzt mit dem Mann von Angelika, dem von Seiten der Bakarer das Gleiche wie Christine widerfahren war, zusammen. Keiner der Beiden konnte sich auch nur im Geringsten an uns und sein früheres Leben erinnern, die Bakarer hatten alle Erinnerungen an das vorherige Leben konsequent ausgelöscht.
Nach anfänglichem erheblichem Widerstand hatte ich mich in meine Begleiterin, mit der ich haarsträubende und gefährliche Erlebnisse auf Zwielicht überstehen musste, verliebt. In dem kleine Ort im ostwestfälischen Eggegebirge, in dem ich lebe, hatte ihr Einzug in mein Haus so kurz nach dem für die Einwohner realem Tod meiner einheimischen Ehefrau einige mehr oder weniger verständnislose Reaktionen hervorgerufen, aber die Wogen hatten sich rasch geglättet. Angelika hatte im Umgang mit den Menschen viel Fingerspitzengefühl gezeigt und ihr offenes, selbstbewusstes aber nie arrogant wirkendes Wesen brachte ihr mit der Zeit viele Sympathien ein. Obwohl sie vom Typ her völlig anders als Christine war, kamen wir beide sehr gut miteinander aus und bereits nach kurzer Zeit war ich mit ihr genau so glücklich, wie ich es vorher mit Christine gewesen war.
Vor einem halben Jahr hatten wir Nachwuchs bekommen. Wir hatten für unsere neugeborene Tochter spontan den Namen Freya im Sinn gehabt, in Erinnerung an die charismatische Anführerin der Nachfahren der Cherusker, mit denen wir eine überraschende Begegnung auf dem eher ungastlichen Planeten Zwielicht, der sich tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt befand, gehabt hatten. So nannten wir das Kind dann auch, was zu dem ein oder anderen Kopfschütteln bei Bekannten und Verwandten führte. Aber die kannten natürlich auch nicht den Hintergrund für unsere Namenswahl.
Wir hatten noch einmal im September 2013 das seit über zweitausend Jahren für Menschen unerkannt unter dem Eggegebirge stationierte Raumschiff, das den Namen des germanischen Gottes Wotan trug, aufgesucht und Informationen, unter anderem auch Filme und Fotos aus unserer heutigen Umgebung, aus der auch die nun auf Zwielicht lebenden Cherusker stammten, dort deponiert. Kando, unsere Kontaktperson auf Seiten der Bakarer, hatte zugesagt, diese Dinge den Cheruskern zukommen zu lassen. Dieses Zugeständnis hatte Angelika damals dem Bakarer in der Raumstation über Zwielicht abgerungen, während ich am Boden zerstört und völlig lethargisch bereits im Raumschiff auf den Rückflug zur Erde wartete. Minuten zuvor hatte mir Kando mitgeteilt, dass ich mit meiner Frau Christine nie wieder zusammen leben würde.
Seit jenen Tagen hatten wir nichts mehr von den Bakarern und den Cheruskern gehört. Trotz unseres Bedauerns, dass es keinen Kontakt mehr zu Freya und ihren Leuten gab, verblasste allmählich die Erinnerung an diese Zeit ein wenig. Vergessen würden wir die dramatischen Ereignisse aus jenen Tagen jedoch nie.
Auf dem Rückflug zur Erde hatte mich Angelika damals in die Realität zurückgeholt. Ihr Einfühlungsvermögen, zusammen mit ihrem körperlichen Reizen bewusst eingesetzt, ließen meine seelischen Qualen relativ schnell verblassen. Gemeinsam hatten wir wenige Tage nach unserer glücklichen Rückkehr auf die Erde die Stadt Marburg aufgesucht, in der Christine nun mit Angelikas Mann zusammenlebte. Beide waren in dem Glauben, sich bereits lange zu kennen und miteinander verheiratet zu sein. Selbstverständlich hatten die Bakarer dies auch durch die entsprechenden Dokumente belegt.
Wir sprachen die Beiden, nachdem sie ihr Haus gemeinsam verlassen hatten, unter einem Vorwand an, und keiner von ihnen zeigte auch nur das geringste Zeichen von einem Wiedererkennen. Trotz einer gewissen Trauer, die in meinem Kopf zurückblieb, waren danach meine letzten Zweifel und Vorbehalte an einer Verbindung mit Angelika ausgeräumt und als sich unsere Tochter ankündigte hatten wir im Mai 2014, gerade zehn Monate nachdem wir uns kennen gelernt hatten, geheiratet.
Ein Jahr war seitdem vergangen. Freya hatte sich seit ihrer Geburt im Dezember 2014 gut entwickelt und war ein für ihr Alter hübsches und kerngesundes Kind. Da Angelikas Arbeitgeber ihr einen Raum zur Verfügung stellen konnte, in dem sie unsere Tochter bei Bedarf stillen und wickeln konnte, hatte sie bereits drei Monate nach der Geburt ihre Tätigkeit in einer Reparaturwerkstatt für Kraftfahrzeuge, die ihr sehr viel Spaß machte, wieder aufgenommen. Mittlerweile hatten wir uns beide an den anderen Rhythmus, den das Leben mit einem Kind bringt, gewöhnt.
Als wir an diesem Dienstag, dem 19. Mai 2015 nach getaner Arbeit zu dritt gemütlich in der Küche zusammen saßen, konnten wir noch nicht ahnen, dass wir in wenigen Minuten den Auftakt zu einer Reihe von dramatischen Ereignissen erleben würden, die unser Leben, wieder einmal, gründlich durcheinander bringen würden.
Angelika hatte Freya gerade gestillt, als die sich die Türklingel bemerkbar machte. Ich erhob mich. „Hast Du eine Ahnung, wer das sein könnte?“ - Angelika, die gerade ihre Bluse wieder schloss, hielt einen Moment inne. Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht die Amann. Ich hatte ihr einen Schmetterlingsflieder versprochen, der in unserem Garten übrig ist. Er steht schon im Flur. Gib ihr einfach den Topf.“ - „Kein Problem, wird gemacht.“ Ich begab mich in Richtung der Haustür. Frau Amann war unsere Nachbarin. Sie ließ kaum einen Kaffeeklatsch aus, an dem sie sich beteiligen konnte. Ihre scharfe Zunge wurde von vielen gefürchtet. Sie lag stets auf der Lauer nach Neuigkeiten, vor allem aus dem zwischenmenschlichen Bereich. So bekam sie viele Dinge mit, die sie dann anschließend mit dem größten Vergnügen und gegebenenfalls, wenn es der Erhöhung der Dramatik dienlich war, mit dem einem oder anderen frei erfundenen Detail an den Kaffeetafeln ihres Wirkungsbereiches wiedergab.
Angelika und ich waren ihr, als wir so kurz nach dem Tod von Christine zusammen gezogen waren, aus nahe liegenden Gründen als „gefundenes Fressen“ erschienen. Aber es war uns gelungen, sie auflaufen zu lassen. Wir ließen sie in dem Glauben, wir seien Geschwister und hätten eine Liebesbeziehung miteinander. Da jedoch bereits einige Dorfbewohner den wahren Sachverhalt kannten, was sie aber nicht mitbekommen hatte, wurde die Spötterin, als sie eine noch zusätzlich dramatisierte Version über unsere Beziehung aus ihrer Sicht verbreitete zur Verspotteten. In der Folgezeit fehlte sie mehrfach an den verschiedensten Kaffeetafeln. Angelika nutzte die Gunst der Stunde, besuchte sie mit einer Flasche Wein und einem selbstgebackenen Kuchen und unterhielt sich längere Zeit mit ihr. Abgesehen vom Altersunterschied waren die beiden Frauen viel zu verschieden, um Freundinnen zu werden, aber seit diesem Besuch verschonte uns Frau Amann mit und in ihrem Klatsch und gelegentlich tauschten wir auch schon einmal Gartenerzeugnisse oder andere Dinge miteinander aus. Heute sollte sie also von uns einen Schmetterlingsflieder bekommen.
Ich schnappte mir den Topf, der im Flur bereit stand und ging damit zur Haustür. Als ich sie geöffnet hatte, kostete es mich große Mühe, ihn nicht fallen zu lassen.
Sie stand vor mir. Christine. Meine ehemalige Frau, die offiziell als verstorben galt und nach ihrer „Gehirnwäsche“ durch die Bakarer mit einer anderen Identität in Marburg lebte und sich nicht mehr, wie Kando, der Bakarer, versichert hatte, an ihr früheres Leben erinnern konnte.
Das schien so jetzt nicht mehr zu stimmen. Christine sah mich an und auf ihrem Gesicht erschien ein amüsiertes Grinsen. „Hallo Werner, gut dass Du schon da bist, ich muss nämlich den Haustürschlüssel vergessen haben. Was hast Du eigentlich mit dem Topf vor? Und warum guckst Du so verdattert?“ Sie gab mir einen kurzen Kuss und ging an mir vorbei ins Haus. Im Flur hatte Angelika einige Bilder aufgehängt, die sie bei ihrem Einzug mitgebracht hatte. Christine blieb davor stehen, offensichtlich irritiert. „Hast Du die Bilder heute alle aufgehängt? Die meisten sind ja ganz hübsch, aber seit wann machst Du so etwas klammheimlich? Oder sollte das eine Überraschung sein?“
Ich starrte sie immer noch an, unfähig auch nur einen Ton heraus zu bringen. Mit Christines Erscheinen hatte ich nie gerechnet, dazu war mein Vertrauen in die Fähigkeiten der Bakarer zu groß gewesen. Christine interpretierte meine konfuse Verhalten anders. „Mensch Werner, Du siehst ja völlig überarbeitet aus. Die Bilder hier alle so perfekt aufzuhängen muss ganz schön anstrengend gewesen sein. Seit wann kannst Du eigentlich schon so früh mit der Arbeit aufhören?“ Sie schenkte mir ein warmes Lächeln, wie sie es früher oft getan hatte, bevor sie so plötzlich und brutal aus meinem Leben verschwunden war. „So einen Bärenhunger wie heute hatte ich schon lange nicht mehr. Komm her, ich mache uns etwas zu Essen.“ Sie öffnete die Tür zur Küche. Gleich darauf sah sie mich fragend an. Angelika und ich hatten in der Küche vor einiger Zeit verschiedene Änderungen vorgenommen. Daher sah die Küche ganz anders aus als zu dem Zeitpunkt vor knapp zwei Jahren, als Christine verschwunden war. Sie bemerkte die Veränderungen sofort. „Das gibt es doch gar nicht. Du hast ja hier auch….“. Sie brach ab, als sie Angelika und das Kind erblickte. „Oh, wir haben Gäste. Entschuldigen Sie bitte meinen Auftritt“, sagte sie zu Angelika gewandt und reichte ihr die Hand. „Ich bin Christine Caldenberg, Werners Mann.“ Erwartungsvoll blickte sie Angelika an. Ich war ihr in Erwartung der kommenden Katastrophe gefolgt und blickte nun über ihre Schulter auf die Szene in der Küche. Wie in Trance stellte ich fest, dass ich in der einen Hand noch immer den Topf mit dem Schmetterlingsflieder hielt. Ich konnte die Überraschung in Angelikas Augen erkennen, gleichzeitig wurde mir klar, dass auch sie genau wusste, wer da jetzt mit ausgestreckter Hand vor ihr stand.
Ihre Irritation währte nur kurz. Sie verlagerte das Kind von dem rechten in den linken Arm, erhob sich und ergriff Christines Hand. Sie blickte ihr fest in die Augen. „Guten Tag, ich bin Angelika Caldenberg.“ Christines Irritation nahm zu. Sie blickte zwischen uns beiden hin und her. „Ist das eine Verwandte von Dir, die Du mir bisher unterschlagen hast?“ fragte sie mich. Mein Unbehagen wuchs immer mehr, während meine Gedanken mit einem derartigen Tempo Karussell fuhren, dass sie verwischten und nicht mehr greifbar waren. Mit einer energischen Willensanstrengung versuchte ich, das Karussell anzuhalten. Und tatsächlich kam mir plötzlich eine Idee. Ich wandte mich an Christine. „Du, Christine, sag mal, was für ein Datum haben wir heute?“ – „Willst Du mich auf den Arm nehmen? Das wirst Du doch wohl selber wissen! Deine Ablenkungsmanöver waren auch schon einmal besser.“ Dabei warf sie mir einen ihrer verführerischen Blicke zu, die ich immer besonders gemocht hatte. Auch dieses Mal erschauerte ich wieder innerlich. Aber das war jetzt wirklich nicht der richtige Moment, dieses Gefühl auszukosten, zumal sich in diesem Raum zwei Frauen befanden, die beide Anspruch auf mich erhoben und nach Lage der Dinge auch eigentlich hatten. „Bitte, es ist wichtig. Würdest Du meine Frage beantworten?“ – „Von mir aus. Dann werde ich Deinem maroden Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wir haben heute den 10. Juli.“ Ihre Antwort traf mich wie ein Peitschenhieb. Am 10. Juli 2013, also vor knapp zwei Jahren, war Christine von einem Autofahrer tot im Wald aufgefunden worden. Dass dies nicht Christine, sondern lediglich eine perfekte, tote Nachahmung ihres Körpers gewesen war, hatte ich erst später erfahren. Außer Angelika und mir wusste auf der Erde niemand davon. „Welches Jahr?“ hörte ich mich wie aus weiter Ferne stammeln. „Werner, spinnst Du jetzt endgültig? Was soll bloß unser Gast denken?“ – „Bitte, welches Jahr haben wir?“ – „Ist Dir nicht gut?“ Der Schweiß, der mir mittlerweile auf die Stirn getreten war, ließ eine solche Frage durchaus logisch erscheinen. Christine blickte mich fragend an. Dann sagte sie: „2013 natürlich. Bist Du jetzt zufrieden?“
Angelika griff mit ihrem freien Arm nach der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag und beförderte sie mit einem Schwung in Richtung Christine. „Sehen Sie sich doch bitte einmal das Datum auf der Zeitung an“, sagte sie zu ihr. Christine verstand nun überhaupt nichts mehr. Sie blickte erst zu Angelika und dann zu mir. „Kann es sein, dass ihr beide ein Problem habt, was ich bis jetzt noch nicht begriffen habe?“ – „Ich glaube, wir alle haben im Moment ein Problem. Sehen Sie sich die Zeitung an und Sie wissen, was ich meine“, sagte Angelika mit ruhiger Stimme. Achselzuckend nahm Christine die Zeitung in die Hand und überflog die Schlagzeilen. Dann hielt sie inne. „Das ist merkwürdig. Da muss jemand ziemlich gepennt haben. Das Datum oben im Kopf und unten im Wetterbericht sowie bei den Börsennachrichten ist immer der 19. Mai 2015. Das kommt davon, wenn Unternehmen glauben, unendlich viel Personal einsparen zu können.“ Ich sah sie an. „Christine, das Datum stimmt. Heute ist der 19. Mai 2015. Du bist seit dem 10.Juli 2013 zum ersten Mal wieder in diesem Haus.“
Aus ihrem Gesicht wich die Farbe. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Für eine ganze Weile war es völlig ruhig, niemand räusperte sich oder sprach ein Wort. Christine brach schließlich das Schweigen. Ihre Stimme hatte einen leichten, aber deutlich wahrnehmbaren schrillen Unterton, den ich bis dahin noch nie bei ihr bemerkt hatte. „Das ganze scheint mir irgendeine merkwürdige Inszenierung zu sein, deren Sinn ich offensichtlich noch nicht ganz begriffen habe. Als erstes möchte ich jetzt wissen“, sie streckte energisch die Hand aus um mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Angelika zu weisen, „wer ist diese Frau und was hat sie hier zu suchen? Wieso heißt sie auch Caldenberg? Was ist das für ein Kind, das sie im Arm hat?“ Ich versuchte mit meinem Blick ihre Augen zu fixieren. Sie ließ es nicht zu. Auf ihrem Stuhl kauernd machte sie nun einen verwirrten und auch gleichzeitig verlorenen Eindruck. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und getröstet, aber das hätte uns in diesem Moment keinen Schritt weiter gebracht. Als ich jetzt zu sprechen begann, wählte ich meine Worte mit Sorgfalt und Bedacht. „Bevor ich Deine Fragen beantworte, möchte ich Dir, soweit ich davon Kenntnis habe, erzählen was in den letzten zweiundzwanzig Monaten passiert ist.“ Ich versucht noch einmal Augenkontakt mit ihr aufzunehmen. Dieses Mal hatte ich Erfolg. „Am 10. Juli 2013 fand ein Autofahrer etwas abseits der Landstraße Richtung Warburg einen toten Körper. Er sah aus wie Du und war auch so bekleidet. Dein Auto stand mit laufendem Motor und geöffneter Fahrertür auf der Straße. Niemand, auch ich nicht, zweifelte daran, dass es sich bei diesem toten Körper um Dich, Christine Caldenberg, handelte. Da keine offensichtliche Todesursache erkennbar war, wurde sogar eine Autopsie durchgeführt. Das Ergebnis lautete auf Tod durch plötzliches Herzversagen. Der Körper wurde schließlich als Christine Caldenberg begraben und ich, Deine Eltern und Andere waren traurig und verzweifelt. Später bekam ich heraus, dass Dein vermeintlicher Tod von Außerirdischen, die sich Bakarer nennen, inszeniert wurde. Sie manipulierten Dein Gedächtnis indem Sie die Erinnerung an Dein bisheriges Leben löschten und Dir einen neuen Lebenslauf „einprogrammierten“. Seitdem hast Du mit einem anderen Mann als Ehemann in Marburg an der Lahn gelebt. Ich bin einmal dort gewesen und habe mit Dir gesprochen. Du hast mich nicht erkannt.“ Während meiner Schilderungen hatte ihr Gesicht eine zunehmend rote Farbe angenommen und als sie jetzt sprach, konnte ich mühsam unterdrückte Wut in ihrer Stimme wahrnehmen. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Schwachsinn gehört. Und am allerwenigsten hätte ich das von meinem Mann erwartet. Was soll der Mist?“ Ihr Blick fiel auf Angelika. Was jetzt kam, war mir klar. „Willst Du mich in die Psychiatrie einweisen lassen, damit Du bei dieser Schlampe freie Bahn hast? Wo hast Du die bloß aufgegabelt? Hast Du vielleicht auch schon etwas mit dem Früchtchen zu tun, das sie da im Arm hat? Da fährt man morgens nichts ahnend zur Arbeit und der Mann hat nicht besseres zu tun, als seine Gespielin ins Haus zu holen, es nach deren Geschmack umzuräumen und seiner Frau, die Abends wiederkommt, eine haarsträubende, lächerliche Geschichte zu erzählen.“ Sie schluchzte auf. „Gerade bei uns hatte ich gedacht, dass wir eine besonders gute Ehe führen würden. Aber Du bist so ordinär und erbärmlich wie die meisten anderen Männer auch.“ Tränen liefen jetzt über ihr Gesicht. Sie war nur noch ein Häufchen Elend.
Hilflos blickte ich zwischen den beiden Frauen hin und her. Dann kam mir eine Idee. Ich wartete, bis sich Christine ein wenig beruhigt hatte. Dann sprach ich sie erneut an. „Du meinst also, wir haben heute den 10. Juli 2013. Erzähl mir doch bitte einmal, was heute alles passiert ist. Fang mit dem Aufstehen an, erzähl mir über die Fahrt zur Arbeit, was Du alles an Deinem Schreibtisch im Büro gemacht hast und welche Straßen Du auf der Rückfahrt benutzt hast.“ Sie sah mich aus ihren verheulten Augen an. „Was soll der Quatsch? Ich bin nicht verrückt, und da wirst Du mich auch nicht hinbekommen.“ - „Das will ich auch gar nicht. Ich möchte Dir nur beweisen, dass wir jetzt im Jahre 2015 sind.“ - „Das ist lächerlich.“ - „Fang doch einfach an. Wie war das, als Du heute Morgen aufgestanden bist?“ - „Also gut. Ich weiß zwar noch immer nicht, was das bringen soll, aber wenn es Dich beruhigt, erzähle ich es Dir. Also, ich bin wie immer gegen halb sieben kurz nach Dir aufgestanden. Weil ich heute eine Terminsache auf dem Schreibtisch hatte, habe ich mich im Bad und beim Frühstück beeilt und bin etwa eine viertel Stunde früher als sonst gegen kurz nach sieben losgefahren.“ Ich sah Christine an. Der heutige Tag war eher kühl, die Temperatur betrug kaum 15 Grad Celsius und sie war entsprechend angezogen. Sie trug einen modischen Pullover, schwarze Jeans und ihre Füße steckten in leichten Stiefeletten. Der 10. Juli 2013 hingegen war ein warmer, wenn auch nicht heißer Sommertag mit Temperaturen um die 25 Grad Marke gewesen. Ich erinnerte mich noch genau, wie sie damals angezogen war. Sie trug ein hübsch geschnittenes pastellfarbenes Kleid, das ihr bis an die Knie reichte und Leinenschuhe in passender Farbe. Es war jedenfalls ein deutlicher Kontrast zu ihrer jetzigen Bekleidung. Ich unterbrach sie. „Was hast Du heute Morgen angezogen?“ Sie antwortete ohne nachzudenken. „Mein neues Kleid, was ich mir zusammen mit den dazu passende Schuhen am vorherigen Wochenende gekauft habe.“ Irritiert sah sie auf ihre Jeans und die Stiefeletten. „Weiter“, drängte ich sie, „wie war die Fahrt zur Arbeit?“ Zögernd löste sie den Blick von ihrer Kleidung. „Normal“, sagte sie nach einem Moment, „ich bin auf die Umgehungsstraße gefahren und habe dann nach drei Kilometern die Abkürzung durch den Wald genommen.“ - „Beschreibe mir die Strecke.“ - „Was soll das, Du kennst sie doch.“ - „Tu es trotzdem. Erzähl mir, was Du heute Morgen gesehen hast.“ - „Nichts besonders. Nach gut einem Kilometer kam ich, wie immer, an der Schutzhütte vorbei, sie war leer.“ - „Wie ging es weiter?“ Sie zögerte. „Weißt Du noch, ob auf dem Parkplatz an der Waldlichtung schon Autos standen?“ - „Ich kann mich nicht erinnern, wahrscheinlich habe ich nicht hingesehen.“ - „Was hast Du heute als Erstes im Büro getan?“ - „Ich kann mich auch daran nicht erinnern.“ - „Kannst Du dich überhaupt an irgend etwas erinnern, was dort heute passiert ist?“ Sie sah mich mit großen Augen an. „Nein“, sagte sie schließlich. „Sieh Dich an. Du hast gesagt, Du hast Dein neues Kleid mit dem passenden Schuhen angezogen. Wann hast Du dich umgezogen?“ – „Ich weiß es nicht.“ - „Was für ein Auto fährst Du?“ – „Einen Opel-Astra.“ – „Sag mir die Nummer.“ - „HX-KF 944“. - „In Ordnung. Komm mit nach draußen.“ Offensichtlich nachdenklich geworden, folgte sie mir. Ich öffnete die Haustür. „Mit welchem Auto bist Du gekommen?“ - „Mit dem da“, sie zeigte auf ein Auto, das vorhin hier noch nicht gestanden hatte. Höchstwahrscheinlich war sie mit diesem Fahrzeug gekommen. „Was ist das für ein Typ“, fragte ich sie. „Ein VW-Golf.“ - „Lies mir bitte das Nummernschild vor.“ - „MR-IE 981“ – „Danke. Heute Morgen hattest Du ein Kleid an und bist in einem Opel-Astra zur Arbeit gefahren. Nachdem Du die Schutzhütte an der Nebenstrecke nach Warburg passiert hast, kannst Du dich an nichts mehr erinnern. Abends kommst Du in Jeans und in einem VW-Golf mit fremden Kennzeichen zurück. Ist das nicht alles etwas merkwürdig?“ - „Ja, allerdings. Ich glaube, jetzt möchte ich doch noch mehr von Dir hören.“
Bevor wir ins Haus zurückgingen, bat ich sie um den Autoschlüssel. Im Handschuhfach fand ich den Kfz-Schein. Er war auf den Namen Ilse Erhardt ausgestellt. Als Geburtsdatum wurde der 12. September 1986 angegeben. Dies entsprach Christines Geburtsdatum. Ich las den Namen laut vor. Christine schüttelte den Kopf. „Dieser Name sagt mit überhaupt nichts.“
Im Wohnzimmer angekommen, schaltete Christine den Videotext des Fernsehers ein. Nachdem sie sich auch dort von der Richtigkeit des Datums überzeugt hatte, hörte sie sich ruhig und gefasst meinen Bericht an, der meine Erlebnisse der letzten zweiundzwanzig Monate zusammenfasste. Ich erzählte noch einmal von ihrem augenscheinlichen Tod, meiner Verzweiflung und der ihrer Eltern, der Beerdigung und den merkwürdigen Vorgängen danach. Ich berichtete von der merkwürdigen Drang, den ich in meinem Kopf verspürte und der mich in den Bienwald in der südlichen Pfalz führte, wo ich dann auf Angelika traf. Wir hatten, wie wir später erfuhren beide eine extrem seltene Resistenz gegen die Strahlung eines Erzes das auf einem fremden Planeten lagerte. Es wurde von den außerirdischen Bakarern, die es trotz einer überaus hoch stehenden Technologie nicht selber bergen konnten, dringend benötigt. Für diese Aufgabe waren wir ausgewählt worden und das war der Auslöser für die Vorgänge, die das Leben von mindestens vier Menschen durcheinander wirbelten.
Bevor Angelika und ich auf dem unwirtlichen Planeten Zwielicht viele Gefahren bestanden und uns gegenseitig mehrfach das Leben retten mussten, hatte man unsere Ehepartner aus dem Verkehr gezogen. Wir sollten uns ganz auf unsere Aufgabe konzentrieren und nicht mehr das Gefühl haben, wir hätten noch etwas zu verlieren. Immerhin töteten sie die Bakarer nicht, sondern veränderten lediglich die Erinnerung an ihr früheres Leben und lenkten ihr gegenwärtiges Leben in völlig neue Bahnen. Für die bisherigen Bekannten und Verwandten waren die Personen jedoch offiziell gestorben. Die falschen Leichen von Christine und Angelikas Mann sahen nicht nur echt aus, sie überstanden auch eine Autopsie, ohne Verdacht zu erregen Pikanterweise hatten die Bakarer die beiden als Ehepaar zusammengebracht und sie sie im Mai 2013 in Marburg an der Lahn angesiedelt. Aber wieso konnte Christine sich jetzt plötzlich wider erinnern? An einen Fehler der Bakarer glaubte ich immer noch nicht. Was steckte also dahinter?
Diese Sachverhalte erläuterte ich nun Christine, auch unsere Begegnung mit den Nachfahren der Cherusker, die noch heute auf Zwielicht leben, erwähnte ich. Ich schilderte die dramatische Bergung des Erzes und unsere Rettung aus höchster Lebensgefahr durch einige Bakarer, die für uns dabei ihr Leben riskierten. Ich berichtete von der Behandlung auf der Raumstation, die uns nicht nur wieder die Gesundheit zurückgab, sondern unsere Körper auch leistungs-und widerstandsfähiger gemacht hatte und den Streit mit Kando, der mir die Rückkehr zu ihr verweigerte. Damit beendete ich meinen Bericht. Kando hatte Angelika und mir zwar ausdrücklich verboten, über alle Dinge im Zusammenhang mit den Bakarern und Zwielicht auf der Erde zu berichten, aber da Christine von den Ereignissen unmittelbar betroffen war, sah ich Kandos Weisung in Bezug auf sie als ungültig an und so war sie die erste Person auf der Erde, die von mir über diese unglaublichen Geschehnisse erfuhr.
Ich sammelte meine Gedanken. Jetzt kam nur noch die Geschichte von Angelika und mir und da hatte ich berechtigte Zweifel, dass diese Christine gefallen würde. Angelikas Blick traf mich. Die Botschaft, die sie mir damit übermittelte, war eindeutig: „Erzähle auch den Rest.“ Also fuhr ich fort, wobei ich mich so kurz wie möglich fasste: „Nach unserer Rückkehr auf die Erde stellte ich fest, dass Du mit einem anderen Mann zusammen lebtest und mich nicht mehr erkanntest. Angelika und ich heirateten und das Kind auf ihrem Arm ist unsere Tochter.“
Ich verstummte. Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Dann brach Christine das Schweigen. „Ich bin jetzt zurück und beabsichtige, meine durch höhere Gewalt unterbrochene Ehe wieder aufzunehmen.“ Sie sah Angelika an: „Sie können selbstverständlich noch so lange das Gästezimmer benutzen, bis sie eine andere Unterkunft gefunden haben. Vielleicht wollen Sie ja auch zu Ihrem Mann zurückkehren, falls er sie wieder erkennt. Wegen des Kindes wird sich sicherlich eine Regelung finden. Bei uns wird es allerdings nicht bleiben können, ich möchte eigene Kinder haben.“ Angelika sah sie kühl an. „Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, dass ich einfach meine Koffer packe und mich wie ein Dieb in der Nacht davon schleiche. Und wenn einer von uns beiden das Gästezimmer benutzt, dann Sie. Natürlich nur so lange, bis Sie etwas anderes gefunden haben.“ - „Ich bin mit diesem Mann verheiratet und habe die älteren Rechte. Sie und mein Mann haben im guten Glauben geheiratet, das will ich gerne zugeben, vorausgesetzt, diese unglaubliche Geschichte, die ich gerade gehört habe stimmt tatsächlich. Aber jetzt bin ich wieder da und ich möchte, dass Sie so schnell wie möglich gehen.“ - „Sie irren sich. Wir beide sind verheiratet. Sie sind Ilse Erhardt und auch verheiratet. Aber nicht mit diesem Mann. Und übrigens, seit wann zählen in einer Ehe die älteren Rechte?“ - „Sie wollen also nicht gehen?“ - „Nein.“ Angelika sagte nur noch diese eine Wort, kalt und bestimmt. Panik stieg in mir hoch. Wie sollte das hier weiter gehen? Es war eine groteske Situation in der ich mich befand, und ich konnte noch nicht einmal etwas dafür. Innerlich verfluchte ich Kando, den Bakarer, der uns diese Sache eingebrockt hatte.
Christine drehte sich zu mir um. „Werner, ich erwarte jetzt eine klare Aussage von Dir. Wenn unsere Ehe eine Zukunft haben soll, wird diese Person jetzt unverzüglich in das Gästezimmer umziehen. Würdest Du das bitte veranlassen!“ Das ging mir jetzt alles viel zu schnell. Christine schien die Situation bewusst auf die Spitze zu treiben um eine schnelle Entscheidung zu provozieren. Was versprach sie sich davon? Schließlich war ich jetzt nach den bei den Behörden vorliegenden Fakten völlig legal mit Angelika verheiratet und hatte ein Kind mit ihr. Hoffte sie, dass ich zu ihren Gunsten eine übereilte Entscheidung treffen würde?
Was ich tatsächlich brauchte, war Zeit um mich mit dieser unmöglichen Situation auseinanderzusetzen. Aber mir war auch klar, dass es gut möglich sein konnte, mit dieser Forderung beide Frauen gegen mich aufzubringen. Jede war der Ansicht, eindeutig im Recht zu sein. Jede erwartete daher vermutlich eine schnelle Entscheidung ohne langes Nachdenken von mir. Trotzdem war eine gründliche Analyse ohne Zeitdruck meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, die wenigstens eine kleine Chance bot, den Konflikt zu versachlichen. An eine Lösungsmöglichkeit mochte ich im Moment noch überhaupt nicht denken. Ich war gerade dabei, meine Gedanken entsprechend zu formulieren, als die Türklingel erneut anschlug.
Froh über den kurzen Aufschub erhob ich mich, um an der Haustür nachzusehen. Die rothaarige, attraktive Frau in den Vierzigern, die davor stand, kam mir bekannt vor, doch in meiner momentanen Verfassung konnte ich sie nicht einordnen. Sie flog mir in die Arme. „Werner, wie schön, Dich wieder zu sehen!“ Für eine Sekunde stieg meine Verwirrung weiter an, dann setzte die Erinnerung ein. Freya. Die Anführerin der Cherusker auf Zwielicht. Für einen Moment war ich wieder auf Zwielicht. Ich sah sie vor mir, wie sie ihren Leuten, die plötzlich auf dem vermeintlich menschenleeren Planeten wie aus dem Nichts erschienen waren, in meiner deutschen Muttersprache befahl, die Bogen zu senken und uns willkommen hieß. Wie kam sie jetzt auf die Erde, hierher, zu unserem Haus? Irgendetwas Bedeutendes musste geschehen sein oder würde geschehen. Ihr praktisch gleichzeitiges Erscheinen mit Christine konnte einfach kein Zufall sein.
Im Nachbarhaus bewegte sich eine Gardine. Frau Amann. Wenn die wüsste, was hier bei uns los ist, dachte in einem Anflug von verzweifeltem Humor, würde sie versuchen, bei mehreren Kaffeetafeln gleichzeitig anwesend zu sein. Das war jetzt noch genau das, was im Moment noch fehlte, um mein Glück perfekt zu machen.
Hastig zog ich Freya ins Haus. „Ich habe Dich zuerst gar nicht mehr erkannt. Wie kommst Du hierhin?“ – „Das ist eine etwas längere Geschichte. Einen Teil davon kann ich Dir erzählen, den Rest wirst Du von unserem gemeinsamen Freund Kando erfahren. Er will Euch auch in Kürze besuchen. Ich glaube, er braucht Euch wieder.“
Ich stöhnte innerlich auf. Meine letzte Begegnung mit ihm war nicht gerade freundschaftlich verlaufen und ich legte nicht unbedingt Wert auf ein Wiedersehen mit dem Bakarer. Schlagartig wurde mir jedoch in diesem Augenblick auch klar, dass er etwas mit den Vorgängen um Christine zu tun haben musste. Auch Freya wäre ohne sein Zutun wohl kaum in auf die Erde gekommen.
„Komm mit, wir haben schon überraschenden Besuch.“ Ich ging voraus. ‚Das wird bestimmt ein lustiger Abend’, fügte ich sarkastisch in Gedanken hinzu.
Freya und Angelika erkannten sich sofort wieder und begrüßten sich herzlich. Danach wandte sich Freya an Christine. Sie ging auf sie zu und gab ihr die Hand. „Sie sind sicher Christine“, sagte sie. Diese sah sie verblüfft an. „Das stimmt, woher kennen Sie mich?“ Freya zeigte auf mich: „Werner hat von Ihnen erzählt. Er war fest entschlossen, sie aus den Fängen der Bakarer zurück zu bekommen. Dafür wollte er alles riskieren und er hat es geschafft, wie ich sehe. Übrigens sollten wir das „Sie“ weglassen. Da wo ich her komme, gibt es da nicht. Ich bin Freya.“ Sie schenkte Christine ein freundliches Lachen. Christine wirkte in diesem Moment wie versteinert, Tränen traten in ihre Augen. Auch Angelika machte keinen übermäßig glücklichen Eindruck. Mit ein paar knappen Sätzen klärte ich Freya über die tatsächliche Situation auf. „Oh je, “ meinte sie, „ich habe ganz vergessen, dass es auf der Erde etwas anders als auf Zwielicht zugeht. Bei uns hätten wir jetzt ein Dreierverhältnis und alles wäre in Ordnung.“ - „Aber hier nicht und nicht mit mir“, sagte Christine bestimmt. „Und mit mir auch nicht“, fügte Angelika hinzu. ‚Bloß das nicht’, dachte ich. Angelika war für mich eine Frau wie aus dem Bilderbuch und auch an Christine hatte ich die besten Erinnerungen, niemals hätte ich mich freiwillig von ihr getrennt. Aber das gute Einvernehmen hatte zur Folge, dass man entsprechend viel Zeit intensiv miteinander verbrachte und dies sich auch des Öfteren als ziemlich fordernd herausstellte. Zwei Frauen dieser Art, selbst wenn sie sich untereinander verstehen würden, wären für meinen Geist und Körper nicht zu verkraften gewesen.
Ich beendete die entstandene Pause, bevor es peinlich wurde, indem ich alle bat, am Wohnzimmertisch Platz zu nehmen. Dann wandte ich mich an Freya: „Freya, wie geht es Euch und was hat Dich hierher gebracht?“ Sie nickte mir zu. „Wie ich Dir eben schon sagte, dies ist eine etwas längere Geschichte. Sie begann kurz nach Eurem Besuch bei uns auf Zwielicht. Seitdem wurde unsere Siedlung vermehrt von Hornteufeln angegriffen. Waren es davor immer nur einzelne Exemplare gewesen, die uns Ärger bereiteten, griffen Sie jetzt in größeren Verbänden von zehn bis zwanzig Tieren an. Unsere Bogenschützen hatten größte Mühe mit dieser neuen Situation fertig zu werden. Seit Beginn dieser Angriffe haben wir schon mehr als zwanzig Menschen verloren, davon etwa zur Hälfte Bogenschützen. Nach dem zweiten größeren Angriff, bei dem alleine fünf Menschen getötet wurden, baten wir die Bakarer um wirkungsvollere Waffen. Sie lehnten ab. Nach jedem weiterem größerem Angriff wiederholten wir unsere Bitte erfolglos. Sie stellten uns lediglich eine weitere irdische Baumaschine zur Verfügung, um vermehrt Befestigungen bauen zu können. Wir erweiterten diese also. Es ist allerdings im Moment ein Wettrennen mit der Zeit, denn die Zahl der angreifenden Hornteufel wird immer größer und ihre Angriffe werden immer gefährlicher. Diese Bestien müssen eine gewisse Intelligenz besitzen. Dann geschah vor etwa vierzehn Tagen etwas Seltsames. Der fast immer trübe Himmel über Zwielicht wurde durch grelle Blitze erhellt, obwohl es dort Gewitter wie auf der Erde nur extrem selten gibt. Meistens waren diese Blitze lautlose Erscheinungen, gelegentlich waren jedoch unterschiedliche Geräusche zu hören. Gegenstände drangen in die Atmosphäre ein, sie zogen glühende Feuerschweife hinter sich her. Einige verglühten noch in der Luft, andere schienen am Boden aufzuschlagen. Ein größerer Brocken ging ganz in der Nähe unserer Siedlung nieder. Wir hörten ein lautes Pfeifen und dann einen dumpfen Krach, als er aufschlug. Er glühte noch stundenlang und strahlte eine große Hitze ab. Als er dann abkühlte und wir uns ihm nähern konnten, hatten wir den Eindruck, er könnte künstlichen Ursprungs sein. Vielleicht hatte er zu einem Raumschiff gehört, das auseinander gebrochen war.
Vor etwa einer Woche landete dann wieder ein automatischer Transporter der Bakarer in der Nähe unserer Siedlung. Die Bakarer hatten ein Gerät mitgeschickt, mit dem wir Gegenstände, die aus dem All in der Nähe unserer Siedlung niedergegangen waren, abtasten sollten. Darüber hinaus wurde ich zur Raumstation beordert. Ich begab mich also zu dem aus dem All herabgefallenen Gegenstand und verfuhr mit dem Abtaster wie von den Bakarern vorgeschrieben.
Kurz danach wurden wir wieder von Hornteufeln angegriffen. Dieses Mal waren es über Dreißig, so viel wie noch nie. Wir hatten die Straßen gerade noch rechtzeitig räumen können und sie versuchten erstmals in unsere Häuser einzudringen. Es kostete uns große Mühe, den Angriff abzuwehren, aber schließlich töteten wir sie alle. Wir selbst verloren allerdings auch drei Menschen, in deren Haus einige Hornteufel eindringen konnten. Wir verstärken jetzt an jedem Haus Türen und Fenster.
In unserer Siedlung gibt es übrigens unterschiedliche Ansichten darüber, ob die Häufung dieser Vorfälle etwas mit Eurer damaligen Unternehmung zu tun hat. Ich bin wie die Mehrheit der Meinung, dass es sich um ein zufälliges Zusammentreffen von zwei unabhängigen Ereignissen handelt, andere glauben allerdings, das ihr, wenn auch wahrscheinlich unabsichtlich, irgend etwas ausgelöst habt, dass diese Angriffe begünstigt.
Auf jeden Fall war ich fest entschlossen, als ich kurz nach dem Angriff die Fähre zur Raumstation bestieg, nochmals um effektivere Waffen zu bitte und keine weiteren Ablehnungen der Bakarer mehr hinzunehmen.
Als sich die Fähre der Station näherte, konnte ich erkennen, dass diese stark beschädigt war. Große Teile schienen einfach aus ihr herausgerissen worden zu sein, überall klafften Löcher. Einige kleinere Raumschiffe der Bakarer schwebten in der Nähe der Aufbauten und schienen mit Reparaturen beschäftigt zu sein.
Meine Fähre legte an einem unbeschädigt wirkenden Teil der Raumstation an. Die Bakarer, die sonst für die Angelegenheiten unserer Siedlung zuständig waren, sah ich nicht. Ich fragte mich, ob sie die Ereignisse, die sich hier abgespielt hatten, überhaupt überlebt hatten. Ein automatisches Wegweisungssystem brachte mich gleich zu Kando, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nur flüchtig kannte. Er nahm das Gerät entgegen, mit dem ich weisungsgemäß den Klumpen aus dem All abgetastet hatte und leitete es über irgendein internes Transportsystem unverzüglich weiter. Dann bot er mir einen Platz an und setzte sich mir gegenüber. Höflich erkundigte er sich nach der Siedlung auf Zwielicht und fragte, ob es irgendwelche Probleme gäbe. Ich berichtete von den zunehmend schlimmer werdenden Angriffen der Hornteufel und wiederholte meine Forderung nach wirkungsvolleren Waffen. Er sah mich an. „Vor knapp zwei Erdenjahren waren doch Besucher von der Erde bei Ihnen. Würden Ihnen Waffen der Art, wie diese bei sich trugen, genügen?“ Freya sah Angelika und mich an. „Ich hatte Eure Waffen ja nicht in Aktion gesehen, aber auf Grund der Berichte in Fernsehaufzeichnungen der Erde, die wir von den Bakarern ja von Zeit zu Zeit erhalten, wusste ich, dass sie unseren jetzigen Bogenwaffen auf jeden Fall weit überlegen sein mussten. Also bejahte ich seine Frage. „Würden Ihnen hundert Gewehre und eine entsprechende Menge an Munition genügen?“ Ich war verwirrt. Hatten sich die Bakarer bisher strikt geweigert, überhaupt über bessere Waffen zu diskutieren, boten sie mir jetzt gleich einhundert Gewehre an. Ich hatte im günstigsten Fall mit ein paar einzelnen Exemplaren, bestenfalls zehn Stück, gerechnet. Was war der Grund für diesen Meinungsumschwung? Ich überlegte nur kurz. Dann nickte ich. „Für den Anfang sollte das genügen, sofern sie die Munition nicht zu knapp bemessen.“ - „Sie werden eine ausreichende Menge erhalten. In spätestens einer Woche.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Er kam wieder auf Euren Besuch zurück. „Wie sind sie eigentlich mit dem unverhofften Besuch von der Erde ausgekommen?“ - ‚Gut. Am Anfang haben wir uns zwar fürchterlich erschrocken, weil wir nie mit anderen Menschen außerhalb der Siedlung gerechnet haben und wir haben sie mit unseren Waffen bedroht. Aber nachdem wir sei dann kennen gelernt hatten, waren wir traurig, weil die Beiden gleich weiter mussten. Ich möchte mich übrigens noch bei Ihnen bedanken, dass sie die Botschaften und die Geschenke der Erdenbewohner an uns weiter geleitet haben. Darüber haben wir uns sehr gefreut. Als sie bei uns zu Gast waren, haben sie übrigens vor allen Bewohnern über das Leben auf der Erde erzählt und viele Fragen von uns zu diesem Thema beantwortet. Es war ein großartiges Erlebnis für uns.“ - „Möchten Sie die Beiden nicht einmal auf der Erde besuchen?“ Diese Frage kam für mich total überraschend. Dieser Tag hatte es wirklich in sich. Spontan und ohne weiter nachzudenken sagte ich ja. Kando sah mich an: „Gut. Sie werden in zwei Tagen zur Erde gebracht. Alles, was sie wissen müssen, werden Sie während der Reise erfahren. Ich werde mich jetzt unverzüglich dorthin begeben. Wir brauchen die Beiden noch einmal auf Zwielicht. Darüber hinaus auch seine erste Frau, die für die Offiziellen auf der Erde tot ist. Besuchen Sie die drei und bereiten Sie sie darauf vor, dass sie ihre schöne Erde für ein paar Tage verlassen müssen. Sie werden mit ihnen zurückkehren und ich bitte Sie, diese auf Zwielicht nach Ihren Möglichkeiten zu unterstützen. Ich werde kurz nach Ihrer Ankunft die Runde komplett machen.“ Danach verschwand Kando. Ich blieb noch zwei Tage auf der Raumstation und wurde dann zu einem Raumschiff gebracht. Nachdem ich in einer Raumstation innerhalb dieses Sonnensystems umgestiegen war, landete ich in einem Raumschiff namens Wotan hier ganz in der Nähe unter dem Eggegebirge. Unauffällige Leuchtzeichen haben mich dann bis hierher geführt.“ - „Habe ich das richtig verstanden, Kando will uns hier aufsuchen?“ - „Genau so hat er sich ausgedrückt. Bei seinem Aussehen wird er sich allerdings irgendwie tarnen müssen.“ - „Die Bakarer müssen schon öfter hier gewesen sein, trotzdem kenne ich keine Berichte, die auf Außerirdische hinweisen, die so aussehen wie die Bakarer. Die werden das problemlos schaffen.“ - „Wenn ich an das Chaos denke, was er bisher schon angerichtet hat, “ sagte Angelika und schoss einen nicht gerade freundlichen Seitenblick auf Christine ab, „was passiert wohl erst, wenn er hier erscheint? Übrigens, ich habe jetzt trotz allem Hunger. Wer möchte etwas essen?“ - „Das ist eine gute Idee. Ich habe auch Hunger.“ Ich blickte zu Freya. Die lehnte jedoch ab. „Danke. Ich habe meine eigene Kost mitgebracht.“ - „Und Sie, möchten Sie etwas essen?“ fragte Angelika Christine. „Ja“, sagte diese einfach. Angelika ging in die Küche. Ich ging hinüber zu der Wiege, in der unsere Tochter schlief. Sie hatte sich bisher durch unsere Unterhaltung nicht stören lassen. Ich hob sie auf uns sie wurde wach und brabbelte fröhlich vor sich hin. „Freya, guck mal, die große Frau mit den roten Haaren heißt genau wie Du“, sagte ich zu ihr. Während die kleine Freya einen kleinen Schrei von sich gab, sah die große Freya durchaus erfreut aus. „Wie Du siehst, hast Du einigen Eindruck bei uns beiden hinterlassen, wir haben ihr ganz bewusst Deinen Namen gegeben.“ - „Das freut mich.“ Christine machte ein eher grimmiges Gesicht. „Wenn dieser Außerirdische, Kando oder wie er auch immer heißt, nicht wäre, wäre dies jetzt unser Kind. Zum Teufel mit diesem Kerl.“ - „Ja, er hat in der Tat einiges durcheinander gewirbelt.“ - „Er hat mir meinen Mann weggenommen und diesen mit einer anderen Frau verkuppelt. Und dieser Mann weigert sich jetzt, zu mir zurück zu kommen.“ - „Du bist erst seit zwei Stunden wieder hier. Ich habe schrecklich unter Deinem vermeintlichen Tod gelitten. Glaub mir, es war die schlimmste Zeit meines bisherigen Lebens. Auch wenn ich es zuerst nicht wahr haben wollte, aber Angelika hat diese Wunde geheilt. Sie hat mir mein Leben zurückgegeben. Du hast jetzt fast zwei Jahre mit einem anderen Mann zusammengelebt. Du weißt wahrscheinlich im Moment gar nicht, wie gut dieses Leben war.“ Sie sah mich an. Ihr Blick drückte Trotz und Ärger aus. „Christine“, Freya mischte sich ein, „dies ist keine Angelegenheit, in der Du ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema anwenden kannst, hier die armen Betrogenen, da die bösen Betrüger. Es handelt sich hier um eine komplexe Situation, in der eine andere, uns technisch weit überlegenen Macht, die primär um ihr eigenes Wohlergehen besorgt ist, die Fäden zieht. Aber auch wenn die Bakarer ihre eigenen Belange in den Vordergrund stellen, haben sie noch den Anstand, uns nicht nur rücksichtslos als Werkzeug zu benutzen. Um diese Situation zu klären und zu einem für uns allen akzeptablen Ergebnis zu bringen, brauchen wir Zeit. Außerdem müssen wir vor Allem wissen, was dieser Kando jetzt mit uns vorhat. Du solltest jetzt nicht über das Knie brechen.“ Ich wunderte mich wieder einmal. Obwohl Freya auf einem Planeten tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt lebte, war ihr Deutsch auf der Höhe der Zeit, selbst allgemeine Redewendungen waren ihr nicht fremd. Christine warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Vielleicht ist mein Benehmen ein wenig merkwürdig. Aber ich bin total verwirrt. Bis eben habe ich gedacht, wir hätten den 10. Juli 2013, dann komme ich nach Hause, mein Mann hat eine andere Frau und eine kleine Tochter von ihr und wir haben den 19. Mai 2015. Bis vor gut zwei Stunden dachte ich, ich wäre glücklich verheiratet und jetzt stehe ich auf dem Abstellgleis. Weißt Du, was das für ein Alptraum ist?“ - „Ich kann es Dir nachempfinden, aber gerade deshalb müssen wir jetzt besonnen bleiben. Schuldzuweisungen und Forderungen sind in dieser Situation nicht sinnvoll.“ Christine nickte. „Also warten wir auf den Mistkerl, der uns alles eingebrockt hat. Was bildet der sich bloß ein?“ - „Dummerweise hat er weitaus mehr Macht als wir alle“, sagte ich, „einmal habe ich mit ihm angelegt, ich hatte jedoch keine Chance. Christine senkte den Kopf. „Verdammte Scheiße“, sagte sie und begann lautlos zu weinen. Freya und ich sahen uns an. Wohl fühlten wir beide uns auch nicht. Ihr Bericht über die Zerstörungen an der Raumstation beunruhigte mich mehr, als ich es vor mir selber zugeben wollte. War das eine interstellare Auseinandersetzung zwischen zwei außerirdischen Rassen, in die wir mit hineingezogen würden? Ich wünschte mich weit weg von alledem und dabei stolperten meine Gedanken über die Frage: ‚Mit wem? Angelika oder Christine?’ Schnell versuchte ich an etwas anderes zu denken. Was war das bloß für ein Schlamassel, in dem wir gerade steckten!
„Essen Sie was“, Angelika schob Christine einen Teller hin und legte anschließend Besteck dazu. Sie verschwand wieder in der Küche und kam mit zwei Tellern für uns beide zurück. Noch einmal ging sie in die Küche und brachte jetzt eine Flasche Wein und zwei Gläser mit. Sie sah Christine an. „Möchten Sie Wein?“ - „Danke. Ich glaube ein Schluck ist im Moment nicht verkehrt.“ Angelika stellte ein Glas vor ihr ab und füllte es. Das zweite Glas reichte sie mir. „Trinken Sie keinen Wein?“ fragte Christine sie. „Ich würde gerne, aber ich stille noch.“ Danach herrschte für eine Weile Schweigen. Angelikas Essen war wie immer gut. Im Geiste verglich ich die Kochkünste der beiden Frauen. Beide waren gute Köchinnen, Angelika war vielleicht noch etwas besser. ‚Hör auf damit, was soll das? Willst Du jetzt eine Checkliste aufstellen und dann die Frau nehmen, die die meisten Punkte hat?’ ging ich mit mir selbst ins Gericht. ‚Aber Du hast jetzt ein großes Problem, wie willst Du das denn lösen?’ fragte eine andere Stimme. „Ich weiß es nicht“, sagte ich auf einmal laut. Die drei Frauen sahen mich fragend an. „Entschuldigung, ich habe laut gedacht. Das war wohl eine Stressreaktion.“ Es schellte. „Vielleicht ist das Kando“, meinte Freya. Ich sah aus dem Fenster. „Nein. Es ist unsere liebe Nachbarin, Frau Amann.“ - „Die will nur die Pflanze abholen, gibst Du sie ihr bitte?“ rief Angelika aus der Küche, in die sie gerade hinüber gegangen war. Ich ging auf den Flur, schnappte mir den Topf mit dem Flieder und öffnete die Tür. „Guten Abend, Herr Caldenberg“, sagte Frau Amann und trat an mir vorbei ins Haus. Ich hielt den Topf hoch. „Hallo, ich habe Ihren Flieder schon hier.“ Sie reagierte nicht und steuerte unbeirrt auf das Wohnzimmer zu. Auch das noch! Ärgerlich lief ich hinter ihr her. „Entschuldigen Sie, aber wir haben Besuch.“ Mit einem seltsamen Lächeln sah sie mich an. „Genau deswegen bin ich hier. Sie gestatten?“ Mit diesen Worten setzte sie sich. Gleichzeitig lösten sich ihre Umrisse lautlos auf. Vor uns saß Kando. „Nun, wie hat Ihnen meine Verkleidung gefallen?“ fragte er uns im Plauderton, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Angelika, die in der Tür zur Küche stand, löste sich als Erste aus der Erstarrung. Sie funkelte Kando an. „Was haben Sie mit Frau Amann gemacht?“ - „Ganz ruhig, Frau Caldenberg. Ihr ist nichts geschehen. Sie liegt im Keller ihres Hauses auf einem Sofa und schläft bis übermorgen. Wenn sie dann wach wird, wird sie einen ordentlichen Kater haben und ein paar leere Weinflaschen vor sich finden,“ er brachte so etwas wie ein Grinsen zustande, soweit das einem Bakarer überhaupt möglich war. „Sie sind pervers“, Angelika war stinksauer, während ich mir eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen konnte. Auch Christine, die vorher noch nie einen Bakarer gesehen und einen mächtigen Schrecken bei der Verwandlung von Kando bekommen hatte, grinste jetzt ein wenig. Sie hatte sich immer ein wenig vor der klatsch-und tortensüchtigen Nachbarin gefürchtet. „Es ist nur eine kleine Revanche“, sagte Kando. „Eigentlich sollte sie nur ein wenig schlafen, während ich in ihrer Gestalt einmal an einem dieser so genannten Kaffeekränzchen teilnehmen wollte. Schließlich bin ich ja gehalten, meine kulturellen Kenntnisse über die Erdbewohner und insbesondere die Deutschen zu erweitern. Also habe ich mir die Daten ihres nächsten Termins beschafft und bin an ihrer Stelle dort hingegangen. Es war schrecklich. Nicht nur, dass in dem Haus der Gastgeberin die Türen sehr niedrig waren, ich musste mich bei meiner Größe ständig bücken; denn auch wenn ich durch eine Projektion als Frau Amann kleiner erscheine, bleibe ich so groß wie ich bin. Es gab daher auch schon einige verblüffte Gesichter beim Händeschütteln, da auch hier die Proportionen nicht ganz stimmten. Das isst sowieso eine blödsinnige Angewohnheit von Euch Erdenbewohnern, die ihr abschaffen solltet. Die einzigen Lebewesen, die dadurch Problem bekämen, wären Eure Viren und Bakterien, die nicht mehr so schnell übertragen würden. Am schlimmsten war jedoch der Kuchen. Ich habe ja schon das eine oder andere irdische Nahrungsmittel probiert, die schmecken alle nicht besonders für mich, aber Kuchen ist wirklich schlimm. Nachdem ich mit Mühe und Not ein Stück davon vernichtet hatte, wurde mir immer mehr davon aufgedrängt. Den Gesprächen konnte ich entnehmen, dass diese Amann immer vier bis fünf Stücke von diesem Teufelszeug in sich hineinsteckt. Um nicht allzu sehr aufzufallen musste ich wohl oder übel drei Stück Kuchen essen und mehrere Tassen nicht minder scheußlichen Kaffee trinken. Dann redete ich von Übelkeit um keine weitere Kuchenstücke mehr in mich hineinstopfen zu müssen. In der Tat war mir auch irgendwie unbehaglich zumute. Dafür habe ich der Amann jetzt einen Alkoholkater besorgt.“ - „Sie mussten da doch nicht hingehen. Jetzt bestrafen Sie andere Leute für Ihre eigene Dummheit“, sagte Angelika kopfschüttelnd, „und wieso können Sie da überhaupt mitreden? Haben Sie auch noch ihre Gedanken ausspioniert?“ - „Das ging eben nicht anders. Sie regen sich übrigens viel zu viel über Kleinigkeiten auf.“ - „Das sind keine Kleinigkeiten!“ - Nein? Gut, sprechen wir eben von Mentalitätsunterschieden zwischen zwei völlig verschiedenen Rassen. Erwarten Sie nicht, dass Ihre Standards für mich verbindlich sind. Die USA, die ja angeblich Freunde der Deutschen sind, kümmern sich ja auch nicht um moralische Standards wie sie Ihnen und Ihren Landsleuten vorschweben“ - „Entschuldigen Sie, großer Meister, wie konnte ich das nur vergessen? Aber Sie haben hier ein verdammtes Chaos angerichtet. Wofür? Was wollen Sie?“ Ich war überrascht. Angelika war immer sehr beherrscht und normalerweise brachte sie nichts aus der Ruhe. Aber Christines plötzliches Erscheinen und ihre Forderung, das Haus zu räumen musste doch an ihren Nerven gekratzt haben. Kando fiel das offensichtlich auch auf. „Bei unserem letzten Zusammentreffen waren Sie wesentlich umgänglicher. Gehe ich Recht in der Annahme, dass Ihre momentane gereizte Verfassung etwas mit Ilse Erhardt alias Christine Caldenberg zu tun hat?“ Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort. „Damit kommen wir gleich zum Thema. Wenn ich diese Dame nicht vermutlich für eine wichtige Aufgabe brauchen würde, hätte ich ihre Gedächtnisblockade, die sie ihr vorheriges Leben vergessen lies, nicht gelöst.“ Christine sah Kando an. „Ich kann mich an die letzten zweiundzwanzig Monate nicht erinnern. Können Sie mir mehr dazu sagen?“ - „Ja, Sie haben als Ilse Erhardt in Marburg gelebt und waren dort auch verheiratet, übrigens mit dem ehemaligen Mann Ihrer Nachfolgerin“, er wies auf Angelika, „den wir in derselben Art aus dem Verkehr gezogen haben wie Sie.“ – „Diese Frau ist nicht meine Nachfolgerin, sie wird gehen müssen.“ Angelika ignorierte diese Bemerkung. Sie wandte sich an Kando. „Und was haben Sie nun mit meinem Ex-Mann gemacht? Ihm einen dritten Lebenslauf verpasst?“ - „Genau das. Es ist das mildeste Mittel gewesen, und nach Möglichkeit greifen wir zu diesen. Aber ich möchte jetzt zur Sache kommen. Bitte hören Sie mir alle zu: Wir Bakarer stehen vor einem Problem, das wir so noch nicht hatten. Wir haben vermutlich zum ersten Mal in unserer Geschichte einen Konflikt mit einer anderen raumfahrenden Rasse.“ - „Wieso sagen Sie „vermutlich“? Wissen Sie nicht, ob Sie Krach mit Angehörigen eines fremdem Volkes haben, wenn die Ihnen die halbe Raumstation über Zwielicht demoliert haben?“ - „Freya hat Ihnen also schon davon erzählt. Die Schäden an der Raumstation sind tatsächlich durch erhebliche Gewalteinwirkung entstanden und wir vermuten, dass die Urheber intelligente Wesen nicht bakarischer Herkunft sind. Es ist sogar möglich, dass diese uns technisch weit überlegen sind.“ ‚Wie schön’, dachte ich, ‚Dann kommst Du arrogantes Arschloch endlich mal zurück auf den Teppich.’ „Ich kann mir schon vorstellen, was Sie denken“, fuhr Kando fort und sah mich an. „Denken Sie immer daran, die Erde befindet sich seit tausenden von Jahren in unsrem Einflussbereich und wir lassen Sie bis auf wirklich geringfügige Ausnahmen völlig in Ruhe. Die Menschen allein entscheiden, ob sie diesen Planeten in die Luft jagen oder in ein Paradies verwandeln. Wir akzeptieren Ihre Souveränität, obwohl es einfach für uns wäre, sie alle zu unterwerfen. Wir schützen und versorgen die menschliche Kolonie auf Zwielicht. Dann ist es doch wohl nicht vermessen, wenn wir drei Menschen mit für uns wertvollen Fähigkeiten um Hilfe bitten?“ – „Ganz so selbstlos wie sie sich jetzt darstellen, sind sie sicher nicht, “ sagte Angelika, „bei den Menschen auf Zwielicht haben Sie ganz offensichtlich egoistische Hintergedanken. Aber lassen wir das. Wofür brauchen Sie uns und unsere besonderen Fähigkeiten? Und welche Fähigkeiten hat sie?“ Ihre rechte Hand deutete auf Christine. „Das sollen Sie jetzt erfahren. Ich versuche dabei, mich auf das Wesentliche zu beschränken.“ Kando blickte bedeutungsvoll über die Anwesenden. Trotz seines fremdartigen Aussehens wirkte diese Geste durchaus menschlich. Er fuhr fort. „Vor gut drei Wochen Ihrer Zeitrechnung materialisierte sich plötzlich neben einem unserer größten Raumschiffe ein riesiges unbekanntes Objekt. Es war von unserem Raumschiff lediglich zweitausend Kilometer entfernt. Normalerweise erfassen unsere Ortungsinstrumente Gegenstände in dieser Größenordnung bereits in Entfernungen von Zig-Millionen Kilometern, aber bei diesem Objekt war das nicht der Fall. Es hatte sich praktisch völlig unbemerkt „angeschlichen“. Von diesem in etwa zylinderförmigen Objekt ging eine unbekannte Strahlung aus, die völlig ungehindert auch in unser Raumschiff eindrang. Der Kommandant leitete daraus eine Bedrohung für seine Besatzung und das Schiff ab und da alle eilig angebahnten Kontaktversuche bis zu diesem Zeitpunkt erfolglos geblieben waren, befahl er das Objekt anzugreifen. Es war der erste Kampfeinsatz eines Raumschiffes in unserer Geschichte. Nach weniger als einer Minute hatten die Waffen unseres Raumschiffes das Objekt vollständig zerstört. In dem Moment, als es explodierte, hörte auch die unbekannte Strahlung auf. Unsere Aufzeichnungen dieser Strahlung konnten übrigens von unseren Wissenschaftlern bis jetzt noch nicht interpretiert werden. Bisher hat jedoch noch kein Besatzungsmitglied weder einen gesundheitlichen Schaden erlitten noch sonstige Auffälligkeiten gezeigt. Auch wissen wir nicht, ob dieses Objekt eine Art Raumschiff mit lebender Besatzung war und ob es irgendwelche Absichten, welcher Art auch immer, gegenüber unserem Raumschiff hatte. Die Entscheidung zum Angriff durch unseren Raumschiffskommandanten ist aus der Situation, in der er sich befand, nachvollziehbar. Unter den jetzigen Umständen könnte es sich jedoch um eine der gravierendsten und folgenreichsten Fehlentscheidungen unserer Geschichte handeln. In den letzten zwanzig Tagen, gemessen nach ihrer Zeit, wurden nämlich drei große, gut bewaffnete Raumschiffe von plötzlich erschienenen Objekten der Art, wie das von uns Zerstörte, angegriffen und vernichtet. Den Besatzungen blieb in jedem Fall gerade noch Zeit für einen Notruf. Offenbar hat jedoch niemand einen dieser Angriffe überlebt. Dann erschien vor gut einer Woche eines dieser Objekte gut tausend Kilometer vor der Raumstation über Zwielicht und griff sie sofort an. Trotz ihres wirkungsvollen Defensivsystems wäre sie vollständig zerstört worden, wenn nicht zwei unserer Raumschiffe, die sich in der Nähe befanden, eingegriffen hätten. Als diese nun ihrerseits angriffen, verschwand das Objekt so plötzlich, wie es gekommen war. So wurde die Raumstation gerettet. Sie wurde allerdings erheblich beschädigt. Immerhin konnten wir bei diesem Angriff einige Erkenntnisse gewinnen und da kommen Sie jetzt ins Spiel.“ Kando sah Angelika und mich an. „Als wir sie beide auf der Raumstation wegen Ihrer bei der Bergung des Bakariums erlittenen Strahlenschäden behandelten, zeichneten unsere Geräte auch ihre Erlebnisse auf, die sie auf dem Planeten hatten. Wir taten dies hauptsächlich, um neue Erkenntnisse über Zwielicht zu gewinnen. Dabei machten unsere Wissenschaftler eine für sie sehr aufregende Entdeckung. Es handelte sich um ihren Besuch in diesem künstlich angelegten Gebäude, das von einer raumfahrenden Spezies, den „Heszen“, wie sie sich offenbar selbst nennen, angelegt wurde. Die Heszen waren uns bisher nicht bekannt. Wir halten es durchaus für möglich, dass es diese Heszen sind, mit denen wir jetzt zu tun haben. Zumindest sind es die einzigen uns bekannten Wesen, die interstellare Raumfahrt betreiben. Um mehr über diese Rasse in Erfahrung zu bringen, möchten wir, dass Sie beide, “ dabei deutete Kando auf Angelika und mich, „mit einem Aufzeichnungsgerät von uns in diese Gebäude zurückkehren und es dort in Betrieb setzten. Wir hoffen, dass wir so weitere Erkenntnisse gewinnen können, die uns in die Lage versetzen, diesen unglücklichen Konflikt zu beenden.“ – „Sie haben also in unseren Gedanken herumgeschnüffelt“, ich war sauer, „ich kann nicht sagen, dass mir so etwas gefällt.“ – „Aber wundern werden Sie sich ja wohl nicht“, Kando blickte mich ungerührt an, „vermutlich würden Sie es eher merkwürdig finden, wenn wir es nicht getan hätten, obwohl wir es gekonnt hätten. Im Übrigen haben wir ihre Gedanken nur gelesen und uns auf für uns interessante Dinge beschränkt. Keinesfalls haben wir sie manipuliert. Dass Frau Angermann sie nach ihrer schroffen Zurückweisung durch sie doch geheiratet hat, war eine freie Entscheidung. Von ihnen Beiden.“ Christine schoss einen mörderischen Blick auf Angelika ab, die wiederum mit Kando haderte. „Müssen Sie die Situation eigentlich noch weiter aufheizen, indem Sie hier unser Privatleben breittreten? Wie soll das jetzt weiter gehen und warum haben Sie uns ausgerechnet diese Person auf den Hals gehetzt?“ „Diese Person“ war natürlich Christine und diese schien die sonst so selbstsichere und beherrschte Angelika aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Kando hob – in einer wiederum sehr menschlichen Geste – die Hände. „Entschuldigen Sie, ich vergaß die Überempfindlichkeit der Erdbewohner in diesen Angelegenheiten. Eifersucht auf Andere kommt bei uns nicht und auf Zwielicht nur äußerst selten vor.“ – „Aber hier auf der Erde kommt sie durchaus vor. Und ich sage Ihnen, ich mag diese Frau nicht, weil sie etwas mit meinem Mann hat“, wies Christine ihn zurecht, während von Angelika ein verächtliches Schnauben zu hören war. „Sie haben mein Leben mehr als durcheinander gebracht“, fuhr Christine an Kando gewandt fort, „vielleicht erklären Sie mir jetzt einmal, was für einen Sinn das alles haben soll?“ – „Das werde ich. Aber erst einmal möchte ich feststellen, dass es für den Erfolg der Mission wichtig ist, dass alle vier Personen hier gut zusammen arbeiten, so schwer es für den Einzelnen auch sein mag. Denken Sie daran, es ist auch in Ihrem eigenen Interesse. – Über Sie haben wir aus nahe liegenden Gründen sehr ausführliche Erkenntnisse,“ fuhr er hauptsächlich an Christine gewandt fort, „dabei fiel uns auf, das Ihr Gehirn sehr empfänglich für Impulse einer Art ist, die denen ähneln, die wir beim Angriff auf die Raumstation aufgezeichnet haben. Fähigkeiten dieser Art scheinen viele Menschen ansatzweise zu haben, bei Ihnen sind sie jedoch relativ stark ausgeprägt. Vermutlich gibt es auf der Erde auch noch Menschen, die diese Fähigkeit in noch ausgeprägterem Maß besitzen, aber für eine aufwendige Suche haben wir im Moment keine Zeit und daher sind wir auf Sie zurückgekommen. Wir haben im Moment noch nicht einmal eine konkrete Aufgabe für Sie, aber wir hätten Sie gerne auf der Raumstation dabei.“ – „Wie komme ich denn dahin? Haben Sie etwa hier gleich um die Ecke Ihr Raumschiff geparkt?“ Ärger und Sarkasmus schwangen in ihrer Stimme mit. „Nicht direkt um die Ecke, aber nicht allzu weit von hier“, antwortete Kando mit sachlicher Stimme. „Ein paar Fragen habe ich auch noch,“ Angelikas Stimme hatte einen ähnlichen Tonfall wie die von Christine, „wann sollen wir zum Beispiel aufbrechen, wie viel Zeit wird das alles in Anspruch nehmen, was sagen wir unseren Arbeitgebern und Bekannten? Und noch etwas: Was ist mit unserer Tochter? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir sie hier zurück lassen?“ - „Ihre Tochter können Sie mitnehmen, der Aufenthalt in dem Gebiet, in dem die Cherusker leben, stellt für sie keine Gefahr dar, sie hat ein wenig von Ihrer Immunität gegen Bakariumstrahlung geerbt. Wenn Sie auf Zwielicht unterwegs sind, werden sich Freya und ihre Leute sicherlich auf sie aufpassen, oder?“ Er blickte Freya an. „Selbstverständlich“, sagte diese, „ich werde mich persönlich darum kümmern.“ – „Vielen Dank, “ Kando konnte durchaus höflich sein, „was die Dauer Ihres Aufenthaltes betrifft, hoffe ich, dass ein Rahmen von zehn bis vierzehn Tagen nicht überschritten wird. Es kann allerdings auch erheblich länger dauern. Ich schlage vor, dass Sie morgen bei ihren Arbeitgebern um mindestens vierzehn Tage Urlaub bitten, Ihnen wird sicherlich eine halbwegs plausible Begründung einfallen.“ Er wandte sich an Christine. „Sie sind übrigens wie Ihr Mann spurlos verschwunden. So etwas kommt ja auch immer mal wieder vor. Für aufwendige Aktionen mit falschen Leichen fehlte dieses Mal die Zeit.“ Christine sah ihn mit offenem Mund an als er ungerührt fort fuhr: „Morgen Nacht werden wir dann mit der Wotan die Erde verlassen. Ich werde Sie jetzt auch verlassen und mich noch ein wenig dem Studium der dörflichen Kultur widmen.“ Damit erhob er sich und im Bruchteil einer Sekunde war aus Kando wenigstens vom Anblick her wieder unsere Nachbarin Frau Amann geworden. „Hübscher Trick“, sagte ich und versuchte möglichst ungerührt zu wirken, „können Sie eigentlich jede menschliche Gestalt annehmen? – „Im Prinzip ja“, antwortete er mit der Stimme von Frau Amann, „aber wenn es echt aussehen soll, ist es eine zeitaufwendige Prozedur. Darüber hinaus wird nur ihr Auge getäuscht, meine Proportionen bleiben die gleichen und die sind größer als die von Frau Amann. Das würde auf die Dauer zu Problemen bei der Aufrechterhaltung der Täuschung führen. Bis Morgen.“ – „Sie sollten den Flieder mitnehmen“, sagte Angelika und reichte ihm den Topf, „wenn Sie sich schon in irdischer Kultur üben wollen, pflanzen sie ihn doch gleich rechts neben der Zauntür an.“ – „Ich glaube, dazu fehlen mir die einschlägigen Kenntnisse.“ – „Dann gießen Sie die Pflanze morgen wenigstens, damit sollten Sie normalerweise nicht überfordert sein.“ – „Wie Sie meinen. Also gute Nacht.“ Damit verließ er das Haus und begab sich zum Nachbargebäude. Ich beobachtete ihn noch, wie er die Tür aufschloss und dann verschwand, bevor ich in das Wohnzimmer zurückkehrte. „Kann mir vielleicht mal jemand erzählen, was das alles mit diesem merkwürdigen Planeten und diesem noch merkwürdigeren Außerirdischen zu bedeuten hat?“ – „Ich werde noch einmal die Kleine stillen. Werner, Du könntest noch eine Couch in das Gästezimmer schieben, da steht nämlich nur ein Bett drin und die Beiden wollen bestimmt nicht zusammen darin schlafen. Freya, würdest Du inzwischen Christines Frage beantworten?“ Zu meiner Verwunderung protestierte Christine erst einmal nicht gegen ihre beabsichtigte Unterbringung im Gästezimmer, obwohl sie Anspruch auf das Schlafzimmer erhoben hatte. Freya wandte sich an Christine. „Dies muss alles ziemlich verwirrend und auch beängstigend für Dich sein. Die Bakarer haben Dir wirklich Einiges zugemutet und jetzt stürzen Sie uns in ein neues Abenteuer, von dem wir nicht wissen, ob und wie gefährlich es ist. Aber“, sie schenkte Christine einen aufmunternden Blick, „wenn wir zusammenhalten, werden wir es schaffen. Ich bin sicher, wir beide werden gut miteinander auskommen. Und jetzt werde ich Dir etwas über Zwielicht und von den Bakarern erzählen.“
Während Christine nun ein wenig entspannter wirkte und Freya zu erzählen begann, verließen wir das Wohnzimmer und gingen in die obere Etage. Angelika stillte Freya Junior, während ich aus dem Abstellraum eine Liege holte und in das Gästezimmer stellte. Dann ging ich in unser Schlafzimmer. Angelika war bereits dort. Vorsichtig legte sie die Kleine in ihre Wiege und deckte sie zu. Dann sah sie mich an. „Was ist das jetzt bloß wieder für ein Alptraum. Ich dachte, wir hätten genug für die Bakarer getan und unsere Ruhe redlich verdient.“ - „Das dachte ich auch, aber sie müssen ganz schön unter Druck stehen. Sie werden in ihrer momentanen Situation nach jedem Strohhalm greifen, und so etwas sind wir jetzt für sie.“ - „Am wenigsten gefällt mir die Sache mit Christine. Wissen die eigentlich, was sie uns allen antun?“ - „Ich denke schon. Aber in dieser Situation überwiegen natürlich ihre eigenen Interessen. Das sie dabei bei uns alte Wunden aufreißen nehmen sie in Kauf. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie es im Moment in meinem Kopf zugeht.“ - „Ich kann das sehr wohl. Mir geht es auch nicht besser.“ Sie sah mir direkt in die Augen. „Ich weiß, wie sehr ihr Euch geliebt habt. Aber für mich ist das Vergangenheit. Die Gegenwart, das sind unsere Tochter, Du und ich. Ich werde von dieser Position keinen Zentimeter abweichen...“ - „Das habe ich auch nicht erwartet. Entschuldige, aber ich bin total konfus. Ich hole mir jetzt eine Flasche Bier und dann möchte ich schlafen. Vernünftige Gedanken kriege ich jetzt sowieso nicht mehr auf die Reihe.“ - „Tu das, ich bleibe gleich hier. Zeig den Beiden bitte aber noch das Gästezimmer.“ Ich ging hinunter und schnappte mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Dann sah ich ins Wohnzimmer. Freya und Christine waren in einem intensiven Gespräch vertieft. Offensichtlich verstanden sich die Beiden auf Anhieb gut. Innerlich atmete ich ein wenig auf, von dieser Seite gab es zumindest keine weiteren Probleme. „Ich unterbreche Euch mal kurz“, mischte ich mich in ihr Gespräch, „das Gästezimmer ist fertig. Treppe rauf, zweite Tür links. Ein Bad ist gleich daneben.“ – „Ich weiß“, Christine funkelte mich an, „ ich habe niemals gedacht, dass ich in meinem eigenen Haus im Gästeschlafzimmer untergebracht werde, während sich mein Mann mit einer anderen Frau, die ihm von ich weiß nicht wo zugelaufen ist, in unserem gemeinsamen Schlafzimmer herumwälzt. Seit wann stehst Du eigentlich auf diesem Typ? Dein Geschmack hat sich in letzter Zeit offenbar deutlich verschlechtert.“ Ich starrte sie an. In ihre Situation hinein versetzt, konnte ich ihren Ausbruch verstehen. Wir befanden uns in einer Dreieckssituation, die es tausendfach immer wieder in Deutschland und auf der Welt gab. Dass in unserem speziellen Fall ausnahmsweise keiner der drei Beteiligten irgendetwas für diese Situation konnte, machte diesen Fall zwar irgendwie einmalig, aber die Lage keinesfalls besser.
Freya rettete die Situation ziemlich souverän. „Christine, jeder von uns hat heute ziemlich viel Außergewöhnliches erlebt. Dadurch befinden wir uns in einer Situation, die mehr als nur komplex ist. Im Moment wissen wir vieles noch nicht. Aber auch wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen werden, wird es schwierig sein, angemessene Lösungen für alle Probleme zu finden. Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, müssen wir uns alle zusammenraufen. Ich weiß, das ist besonders für Euch drei sehr viel verlangt, aber es geht nicht anders. Sol ich jetzt noch den Rest erzählen, bevor wir schlafen gehen?“ Nach kurzem Zögern nickte Christine. „In Ordnung, erzähl weiter.“ - „Gute Nacht“, ich drehte mich ohne weitere Worte um und ging die Treppe hoch.
„Na, hat unser Blondie gezickt?“, fragte Angelika, als ich die Schlafzimmertür hinter mir schloss. „Sie war nicht gerade erfreut, dass sie in diesem Haus im Gästeschlafzimmer übernachte muss. Das hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.“ - Angelika blickte die Wand an, als sie sagte: „Ich kann sie ja sogar irgendwie verstehen. Aber noch mal: Ich werde diesen Platz nicht räumen.“ Ich öffnete die Bierflasche und nahm einen tiefen Schluck. „Im Moment kann ich keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Und morgen sollen wir unsere Chefs davon überzeugen, dass wir plötzlich zwei Wochen Urlaub brauchen. Ich glaube, wir sollten versuchen zu schlafen, morgen müssen wir halbwegs fit sein.“ Müde sah sie mich an. „Du hast Recht. Immer eins nach dem Anderen.“ Sie zog ihre Decke hoch. Bald darauf schliefen wir beide.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Wirre Träume, in denen ich mich wieder auf Zwielicht befand und mit den dortigen Kreaturen kämpfte, hatten eine erholsame Nacht verhindert. In anderen Traumfetzen, an die ich mich erinnerte, waren Angelika und Christine aufeinander losgegangen und schlugen auf die jeweils Andere ein.
Angelika war schon aufgestanden. Zur Körperpflege benutzte sie das geniale Gerät der Bakarer, das allen Schmutz vom Körper in Sekunden verschwinden ließ. Selbst die Zähne wurden gereinigt und auch ein Gefühl von Mundfrische stellte sich ein. Kando hatte das als Haarbürste getarnte Gerät Angelika nach einigem Zögern am Ende unseres Einsatzes auf Zwielicht geschenkt. Es durfte nicht geöffnet werden, sonst würde es sich selbst zerstören. Obwohl es nur auf uns Beide abgestimmt sein sollte – Kando hatte damals offenbar doch schon auf eine sich anbahnende Beziehung zwischen Angelika und mir gesetzt – funktionierte es auch bei unserer Tochter, was ihre Pflege natürlich deutlich erleichterte. Heimliche Versuche an Freunden zeigten dagegen keine Wirkung. Angelika reichte mir das Gerät und ich hielt es über meinen Kopf. Wohltuende Frische breitete sich in meinem Körper aus.
Angelika legte Freya in ihre Tragetasche. „Ich frühstücke schon einmal und lasse etwas für Dich stehen. Wenn ich so plötzlich Urlaub haben will, muss ich heute bei der Arbeit noch ein paar dringende Dinge erledigen .Es kann durchaus später werden. Sie gab mir einen Kuss. „Mach’s gut“, und schon war sie draußen.
Als ich ein paar Minuten später in die Küche kam, war sie bereits zur Arbeit gefahren. Die Kaffeemaschine lief noch und war mit mehr Wasser gefüllt als sonst. Ich registrierte, dass der Tisch für zwei Personen gedeckt war. Da Freya sich wie auf Zwielicht ernährte, musste das zweite Gedeck wohl für Christine sein. Auch wenn sie diese aus nachvollziehbaren Gründen nicht mochte, kam Angelika nichts desto Trotz ihrer – unfreiwilligen - Aufgabe als Gastgeberin nach.
Da von den beiden Frauen noch nichts zu hören war, machte ich mich nach dem Frühstück auf den Weg zur Arbeit. Mein Arbeitgeber war Zulieferer für die Automobilindustrie. Wir hatten gerade die Produktion Kosten sparend reorganisiert. Nachdem ich auf der Raumstation über Zwielicht eine regenerative Behandlung erfahren hatte, waren nicht nur meine Körperfunktionen verbessert worden, auch mein Gehirn schien effizienter zu funktionieren und so hatte ich einige Ideen beigesteuert, die dem Unternehmen nun erhebliche Geldausgaben ersparten. Die Produktion lief bereits seit einigen Tagen störungsfrei und daher sah mein Chef keinen Anlass, mir den gewünschten Urlaub zu verweigern. „Du hast Dir den Urlaub wirklich verdient“, meinte er. „Erhole Dich gut. Wenn Du zurück bist, reden wir über einen Bonus. Der steht Dir zu, weil Du dem Gewinn in diesem Laden einen ordentlichen Schub verpasst hast. Grüß Angelika, ich freue mich schon darauf, wenn wir demnächst mal wieder eine Flasche Wein zusammen leeren.“ Das war jetzt schon etwas länger her. Vor ihrer Schwangerschaft hatten wir öfter zusammen mit seiner Frau den einen oder anderen Wein aus seinem wohl sortierten Weinkeller ausgetrunken. „Ja, allmählich wird es mal wieder Zeit für eine kleine Sause. Wenn Du nichts dagegen hast, gucke ich noch einmal auf meinen Schreibtisch und gehe dann, sobald alles Wichtige erledigt ist.“ – „Kein Problem. Komm gesund wieder. Bis bald. Wo wollt ihr überhaupt hin?“ – „Wir werden ein paar alte Freunde besuchen, die etwas abseits gelegen wohnen und dann…mal sehen.“ – „Wenn ihr bei Angelikas Vetter, diesem Privatwinzer vorbeikommen solltet, bring mir doch ein paar Karton von seinem Weißburgunder mit.“ – „Ich glaube nicht, sein Wohnort liegt ein wenig außerhalb unserer Richtung.“ - „Dann alles Gute. Tschüß, “ rief er mir nach, als ich die Tür hinter mir schloss. Das können wir alle gebrauchen, schoss es mir durch den Kopf. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins bemächtigte sich meiner. Tränen traten mir in die Augen. Einen Moment verharrte ich auf dem Flur, dann riss ich mich zusammen und ging in mein Büro. Innerhalb kurzer Zeit hatte ich meinen Schreibtisch aufgeräumt und meinen Vertreter eingewiesen. Es war ausnahmsweise wirklich einmal eine günstige Zeit zum Urlaub machen. Um die Mittagszeit verließ ich die Firma. Vor dem Gebäude rief ich Angelika an. „Mein Chef ist fast in Ohnmacht gefallen, als ich Urlaub haben wollte. Ich musste ihm etwas von dringenden und unaufschiebbaren Privatangelegenheiten erzählen. Außerdem habe ich ihm versprochen, eine notwendige Reparatur, die normalerweise erst morgen fertig sein sollte, noch heute zu erledigen. Es wird also später.“ Immerhin, sie hatte es geschafft, auch Urlaub zu bekommen, damit hatten wir die Chance, nach dem Einsatz für die Bakarer wieder unauffällig in unser Privatleben zurück zu kehren. Wenn alles gut ging.
Christine fiel mir wieder ein. Siedend heiß überkam mich ein anderer Gedanke. Wenn sie jetzt mit Freya durch den Ort lief und alte Bekannte begrüßte, die meinten, sie läge auf dem Friedhof… Sie hatte sich vom Aussehen und der Frisur zwar ein wenig geändert, aber wer genauer hinsah und sie von früher kannte, würde sie zweifellos erkennen, vor allen Dingen, wenn sie sich als Christine Caldenberg zu erkennen gab. Ich spurtete zu meinem Wagen. Das hätte gerade noch gefehlt. Als ich zu Hause ankam, war das Haus leer. Christines Auto war nicht da. Da auch von Freya nichts zu sehen war und die beiden Frauen sich offenbar von Anfang an gut verstanden hatten, hielt ich es für möglich, dass sie gemeinsam etwas unternahmen. Freya musste bei ihrem ersten Besuch auf der Erde ja eigentlich vor Neugier platzen.
Als Christines Wagen gegen 15.00 Uhr wieder in unserer Einfahrt erschien, fand ich meine Vermutung bestätigt. Freya saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Auf ihrer Nase prangte eine überdimensionale Sonnenbrille. Sie war begeistert. „Christine ist eine sehr gute Fremdenführerin. Sie hat mir die Gegend gezeigt. Wir waren außerdem auf dem Hermannsdenkmal und dem Kälbertod.“ – „Velmerstot“, unterbrach Christine sie lachend, „da hast Du wohl etwas falsch verstanden.“ – „Ja, mag sein, jedenfalls war es sehr schön. Wir haben auch noch eine kleine Wanderung gemacht. Wenn man nur Felsen und trübes, diffuses Licht kennt, wirkt die Erde wie ein Paradies. Nur das Licht hier ist für meine Augen viel zu grell. Christine hat mir deshalb eine Sonnenbrille gekauft. Ich glaube, ich würde sonst nichts mehr sehen. Schade, dass es heute Nacht schon wieder zurückgeht.“ – „Immerhin scheinst Du der erste Mensch von Zwielicht zu sein, der seit zweitausend Jahren wieder auf der Erde gewesen ist.“ – „Ja, und ich werde mit den Bakarern reden. Jeder von uns sollte in seinem Leben einmal die Möglichkeit haben, die Erde für ein paar Tage zu besuchen und ich würde auch noch einmal gerne wiederkommen.“ – „Schön dass es Dir so gut gefallen hat.“ – „Das hat es wirklich, auch Dank Christine.“ – „Das war sehr nett von Dir, ihr die Gegend zu zeigen“, ich warf Christine einen dankbaren Blick zu. „Sie ist in Ordnung. Das habe ich gerne für sie getan“, entgegnete sie. „Übrigens“, fuhr sie fort, „Du könntest mir auch einen Gefallen tun. Zeig mir bitte auf dem Friedhof die Stelle, an der ich angeblich beerdigt bin.“ – „Wenn Du das gerne möchtest, mache ich das. Aber Du solltest Dich besser unauffällig verhalten und Dein Aussehen nach Möglichkeit soweit wie möglich ändern. Auf dem Friedhof sind immer Leute unterwegs und viele Menschen kannten Dich hier. Wenn Dich einer von denen erkennen sollte, gibt es unter Umständen Aufsehen, welches wir in unserer momentanen Situation nun wirklich nicht auch noch haben müssen.“ Also lieh sich Christine die Sonnenbrille von Freya und bedeckte ihre Haare mit einem Kopftuch, das sich nach einigem Wühlen in der Tiefe eines Kleiderschrankes fand. Damit war sie nicht mehr auf Anhieb zu erkennen und wir machten uns auf den Weg.
Wir legten die kurze Strecke trotzdem aus Vorsichtgründen mit dem Auto zurück und so standen wir bereits nach kurzer Zeit vor dem Grab. „Da steht mein Name, mein Geburts-und Todesdatum, Werner, um Gottes Willen, wer oder was liegt da bloß drin?“ Sie war leichenblass geworden. „Es ist eine perfekte Kopie Deines Körpers. Ich habe sie für echt gehalten, und der Arzt, der die Obduktion vorgenommen hat, auch. Ich war damals total verzweifelt.“ – „Du hast Dich schnell trösten lassen.“ – „Niemand hat damals geahnt, dass Du noch lebst. Als ich das dann von den Bakarern erfuhr, habe ich gehofft, Dich zurück zu bekommen. Erst nachdem keine Hoffnung mehr dafür bestand, habe ich mich, wie Du das nennst, getröstet. – „Freya hat mir davon erzählt. Damals musst Du noch voller Hoffnung gewesen sein.“ Sie hielt einen Moment inne. „Und, ist sie ein vollwertiger Ersatz?“ – „Ich habe mich vom ersten Augenblick gut mit ihr verstanden. Sie war eine gute Freundin und eine noch bessere Soldatin. Ohne sie würde ich nicht mehr leben. Ich habe aber während der ganzen Zeit, die wir miteinander auf diesem verdammten Planeten verbracht haben, nicht einmal daran gedacht mit ihr eine Affäre anzufangen. Wir sind uns erst näher gekommen, als ich erfuhr, dass wir nicht mehr zusammen kommen würden. Mittlerweile ist unser Verhältnis zueinander sehr gut.“ Sie nickte. „Sie ist eine intelligente und attraktive Frau. Es wird nicht einfach für mich werden, sie aus dem Feld zu schlagen.“ – „Um Himmels willen“, entfuhr es mir ein wenig zu laut. Einige Friedhofsbesucher, die sich in der Nähe befanden, blickten zu uns herüber. Nicht auszudenken, wenn sie Christine erkennen würden, fuhr es mir durch den Kopf. Rasch zog ich sie fort. „Was hast Du vor?“ fuhr ich in gedämpften Ton fort. Sie sah mir durch die riesige Sonnenbrille direkt in die Augen. „Werner, versetz Dich doch einmal in meine Lage. Mir fehlen in meinem Kopf fast zwei Jahre. Für mich ist es, als wäre ich gestern zur Arbeit gefahren, morgens war noch alles wunderbar, ich verabschiede mich von meinem Mann und verlasse das Haus. Dann komme ich abends zurück, erkenne die Wohnung kaum noch und mein Mann sitzt da mit einer anderen Frau, mit der er auch noch ein Kind hat. Kalendermäßig sind zwei Jahre vergangen, für mich aber haben wir bis gestern zusammengelebt. Wir waren glücklich verheiratet. Ist es da nicht legitim, wenn ich meine Ehe fortführen will? Ich werde dafür kämpfen. Die andere Frau muss gehen.“ Sie wirkte fest entschlossen, und ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie versuchen würde, ihr Vorhaben umzusetzen. Sollte es jedoch zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen, war sie Angelika hoffnungslos unterlegen. Die ehemalige Bundeswehrangehörige war durchtrainiert und obwohl schlank, sehr kräftig. „Tu mir einen Gefallen“, sagte ich daher zu ihr, „egal, was passiert, keine Gewalt.“ – „So gut solltest Du mich eigentlich noch kennen. Von Gewalt habe ich noch nie etwas gehalten und ich werde auch keine anwenden. Ich könnte sonst mein Gesicht nicht mehr im Spiegel ertragen. Übrigens, wo stehst Du eigentlich in dieser Situation?“ Da war sie, die Frage, vor der ich mich seit gestern fürchtete. Es gab zwei Frauen, die berechtigt waren, mir diese Frage zu stellen. Und mir war klar, sie würden sie auch stellen. Alle beide. Christine hatte den Anfang gemacht.
„Ich bin seit gestern, wie Du Dir vielleicht vorstellen kannst, ziemlich durcheinander, “ antwortete ich nach einigem Zögern, „für mich ist das alles so überraschend wie für Dich und Angelika auch. Erwarte also im Moment bitte kein substanziellen Äußerungen von mir.“ – „Dann gibt es einen Unterschied zwischen uns Beiden. Im Gegensatz zu Dir weiß ich, was ich will.“
Den Weg zum Auto und die Rückfahrt legten wir schweigend zurück. Im Wohnzimmer trafen wir auf die beiden anderen Frauen. Angelika schilderte gerade, was sich nach unserem Aufbruch bei den Cheruskern ereignet hatte. Als wir hinzukamen, war sie gerade an der Stelle angelangt, wo uns ein paar Bakarer schon mehr tot als lebendig unter Gefahr für ihr eigenes Leben in Sicherheit gebracht hatten. Sie erzählte von unserem Aufenthalt und der regenerativen Behandlung auf der Raumstation und berichtete auch, wie ich versuchte, Kando anzugreifen, als er mir sagte, ich würde Christine nicht wieder sehen können. Christine hörte ihren Ausführungen interessiert zu. Meine anschließende Verführung durch sie auf dem Rückflug an Bord des Raumschiffes, also den Beginn unserer Liebesbeziehung, schilderte sie für meinen Geschmack in Anwesenheit von Christine zu ausführlich. Sie ließ dann aber auch den bei mir noch einmal an unserer Beziehung aufgekommenen Zweifel nicht weg, als ich von ihr erfahren hatte, dass Christine nun in Marburg lebte. Sie erzählte auch von unserer Fahrt dorthin und ihre Ängste, mich zu verlieren. „Sie haben meinen Mann also nur herumgekriegt, weil ich für ihn nicht mehr erreichbar war. Jetzt bin ich wieder da. Haben Sie da keine Angst?“ Angelika drehte sich in ihrem Sessel herum. Sie blieb sitzen. Ganz offenbar hielt sie es nicht für nötig, Christine auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. „Angst? Nein. Ich habe Respekt vor Ihrer damaligen Beziehung. Mein Mann hat mir einiges darüber an den langen Abenden auf Zwielicht erzählt. Sie muss sehr innig gewesen sein, so wie es unsere heute ist. Diese ist Gegenwart, die andere ist Vergangenheit.“ Sie sagte dies in einem völlig ruhigen Ton, dem jegliche Schärfe fehlte. Christine ließ sich nicht einschüchtern. „Ich glaube nicht, dass hier das letzte Wort schon gesprochen ist. Wir werden sehen.“