Читать книгу Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser - Martin Jürgens - Страница 8
ROBERT WALSER
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Es empfiehlt sich kaum, so zu tun, als wisse man über ihn Bescheid: »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.« (III, 406) Mit dieser Absage an das Verständnis der anderen ist die Rolle genannt, in der Robert Walser sich sah – genauer: sich zu sehen veranlaßt war. Es ist die Rolle des Unbekannten, dem und dessen Texten gegenüber nicht zuletzt die Selbstsicherheit des interpretierenden Zugriffs zweifelhaft erscheint. Diese Feststellung eröffnet jedoch nicht den Weg, Walser und sein Werk ohne Umstände jenem Begriff der literarischen Moderne zu subsumieren, der seine Legitimität immer erneut aus der Apologie des autonomen Status der jeweils zur Rede stehenden literarischen Struktur herzuleiten sucht.1 Das Dunkle, Nicht-Kommensurable, das sich dem Anspruch der Normalität und dem von ihr bestimmten Verstehenshorizont Entziehende – diese Formeln, die zur Benennung der Strukturmerkmale der literarischen Modeme immer noch Verwendung finden, lassen sich mit Hilfe der Texte Robert Walsers nicht zu positiven Kategorien erheben. Der sich jede allgemein verbindliche Perspektive versagenden Negativität der Moderne läßt sich hier so wenig an avantgardehafter Suggestivität ablesen, wie diesem Autor selbst sein Außenseitertum als Qualitätsausweis zugute kam.
Sein Autismus fand nicht zur Extravaganz; in literarischen Salons war er schlecht vorzuzeigen. Seine im Laufe seines Lebens zunehmende gesellschaftliche Isolierung geriet nie in eine Form, die sie gesellschaftlich interessant und verfügbar gemacht hätte. Nicht einmal auf den Achtungserfolg hat er sich verstanden, nicht als Schriftsteller, nicht als bürgerliches Individuum, als das er sich zu geben suchte, solange es ihm erlaubt wurde, d. h. bis zu seiner endgültigen Internierung in einer Appenzeller Nervenheilanstalt (1933). Die zum Teil enthusiastische Anerkennung, die seinem Werk von Autoren wie Musil, Benjamin, Morgenstern, Hesse, Kafka gezollt wurde, münzte sich nicht in öffentliche Wirkung und in Auflagenzahlen um; er blieb der Anonymus unter den Schriftstellern seiner Zeit.
Daran hat sich bis heute [1975!] wenig geändert. Obwohl der Nachruhm, der vor einigen Jahren einsetzte, nicht mehr einem ›Literaturgerücht‹, einem ›verwilderten literarischen Grab‹ gilt, wie Martin Walser noch 1964 mit Recht schreiben konnte2, ist Robert Walser doch ein literarischer Geheimtip geblieben – für eine kleine Lesergemeinde und für Promovierende im Fach Germanistik. Seine Aufnahme in einen Kreis mit dem Namen »Deutsche Dichter der Moderne« entspricht der Bedeutung, nicht einer breiten Wirkung seiner Texte. Für einen solchen Vorgang hätte er im übrigen seine Ironie parat gehabt; sie hätte nicht zuletzt dem Glauben an die Wichtigkeit von Literatur gegolten.
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Robert Walser wird als zweitjüngstes von acht Kindern in Biel im Kanton Bern geboren, am 15. April 1878. Im selben Jahr verlegt der Vater sein Papeterie- und Spielwarengeschäft aus der Nidaugasse im Zentrum der Stadt ins Neuquartier; der soziale Abstieg der Familie Walser kündigt sich an. Biel befindet sich – auf der ökonomischen Basis einer entstehenden Uhrenindustrie – in einer Phase rascher Prosperität und Expansion, der der gelernte Buchbinder und kleine Ladenbesitzer Walser wirtschaftlich nicht gewachsen ist. Auch das neueröffnete Geschäft muß schließlich aufgegeben werden; der Vater fängt einen bescheidenen Handel mit Wein und Olivenöl an; die Familie hat gerade ihr Auskommen. An eine Gymnasialausbildung für den jüngsten Sohn ist unter solchen Umständen nicht zu denken. Robert Walser verläßt vierzehnjährig das Progymnasium und fängt eine Lehre bei der Bieler Kantonalbank an. Zum ersten Mal ist er der Subalterne, der kleine Commis, der Gehilfe; zum ersten Mal macht er die Erfahrung, die später das Bewußtsein seiner kleinbürgerlichen Protagonisten in hohem Maße bestimmen wird: die einer immergleichen, fremdbestimmten und entfremdenden Arbeit.
Ihrer Wirkung hat sich Walser in seiner Jugend durch immer erneuten Wechsel des Arbeitsplatzes zu entziehen versucht. Noch vor dem Ende seiner Lehrzeit geht er nach Basel (1895) und nimmt eine Stellung als Bankangestellter an. Es folgen in den nächsten Jahren in raschem Wechsel Anstellungen zunächst in Stuttgart (1895/96), dann in Zürich (1896-1904). Als Bildungsweg eines angehenden Dichters, der die Welt (im Wortsinne) erfährt, sie sich nach und nach aneignet, sind diese Lehr- und Wanderjahre nicht zu schildern. Ihre Stationen tragen die Namen von Banken und Versicherungsgesellschaften, von Verlagen, von Industrieunternehmen: Bank- und Speditionsgesellschaft Speyr & Co in Basel, Deutsche Verlagsanstalt und Verlag Cotta in Stuttgart, Maschinenfabrik Oerlikon, Schweizerische Kreditanstalt, Zürcher Kantonalbank, Maschinenfabrik Escher-Wyss in Zürich. Gegen diese Namen und den »Kommerzialisiertheitsinbegriff« (X, 432), den sie insgesamt ausmachen, kommt die Evokation der Natur als Ort befriedeten Daseins und gelungener Identität nicht an. Diese Erfahrung findet sich in den frühen Gedichten Robert Walsers, der in Zürich zu schreiben beginnt, artikuliert. Der Mond scheint in ihnen nicht mehr auf den einsamen Poeten; er blickt hinein ins Kontor einer Zürcher Bank oder einer Zürcher Fabrik und sieht neben anderen kleinen Angestellten den, der ein Dichter werden will – sieht ihn »als armen Kommis / schmachten unter dem strengen Blick / meines Prinzipals. / Ich kratze verlegen am Hals«. (XI, 7) – Dieser verlegenen Geste »unter dem strengen Blick« entspricht die Verlegenheit, die der Reim in den zitierten Zeilen auslöst. Was auf den ersten strengen Blick als ein Zeichen der Ungeschicklichkeit des noch Ungeübten erscheinen mag, erweist sich als Signal dafür, daß der poetischen Subjektivität der Zugang zu einem ihrer vormals geliebten Gegenstände versagt ist. Fremdbestimmte Arbeit, das Realitätsprinzip der Kontore und ihrer Prinzipale und Poetenexistenz schließen sich aus. Mehr noch: Die aus der Heteronomie des Arbeitsprozesses resultierende Entfremdung geht in die Struktur der ästhetischen Wahrnehmung selbst ein. So tritt z. B. in dem frühen Gedicht »Ein Landschäftchen« (wahrscheinlich das erste von Walser geschriebene Gedicht überhaupt)3 an die Stelle einer Vergegenwärtigung naturhafter Totalität die Aufreihung voneinander isolierter Gegenstände und Gegenstandsfragmente; die Verfahrensweise der Buchhaltung und der Registratur wird zur Demonstration des Verlusts eines Sinn-, ja sogar eines sinnlichen Zusammenhangs:
Ein Landschäftchen
Dort steht ein Bäumlein im Wiesengrund
und noch viele artige Bäumlein dazu.
Ein Blättlein friert im frostigen Wind
und noch viele einzelne Blättlein dazu.
Ein Häuflein Schnee schimmert an Baches Rand
und noch viele weiße Häuflein dazu.
Ein Spitzlein Berg lacht in den Grund hinein
und noch viele schuftige Spitze dazu.
Und in dem allen der Teufel steht
und noch viele arme Teufel dazu.
Ein Englein kehrt ab sein weinend Gesicht
und alle Engel des Himmels dazu. (XI, 20)
Was der Titel als ein lyrisch-idyllisches Landschaftsbild ankündigt, erweist der Text als nicht mehr herstellbar. Die asyndetische Aufreihung von Teilaspekten bringt Natur nicht mehr als ein Paradigma gegebener und dem ästhetischen Bewußtsein zuhandener Ordnung zur Anschauung; sie stellt sie vielmehr unter das Zeichen des im wörtlichen Sinne Asyndetischen, des Unverbundenen. Nach dem – wie es Lothar Baier genannt hat – »Kehraus der als ›beseelt‹ gedeuteten Natur«4 ist eine einheitliche, sinnstiftende Perspektive unmöglich geworden. Die Rede von »Bäumlein« und »Blättlein« gibt den Vorwurf der Naivität, der sie treffen könnte, ironisch an den Anspruch des Idyllischen weiter, an dessen Möglichkeit sie nicht mehr glaubt, jedoch ohne – wie die vier letzten Zeilen des Textes zeigen – den Verlust von sinnhafter Unmittelbarkeit zu qualifizieren. Indem sie die Evozierung der Außenwelt als fraglos gegebene Objektivität unmöglich macht, gerät die Krise des ästhetischen Objektbezugs zum geheimen Thema des Textes.
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Krise des ästhetischen Objektbezugs: unter ihrem Zeichen steht ein großer Teil der Literatur des 20. Jahrhunderts – von Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief bis Uwe Johnsons »Mutmaßungen über Jakob«. Die sich immer neu entzündenden Zweifel an jeder Möglichkeit der Darstellung von Welt illuminieren seit der Jahrhundertwende das Panorama eines unglücklichen bürgerlichen Bewußtseins, das sich als Instanz adäquater Widerspiegelung und Aneignung von Realität nicht mehr traut. Behielt die Literatur der Romantiker die Wirklichkeit – obwohl fern von ihr – noch im Auge, bezog sie sich auf den Ort imaginierter Idealität, »eben um dieser Wirklichkeit willen« (F. Tomberg)5, so begreift sich die literarische Moderne mit zunehmender Radikalität als Negation des außerästhetisch Wirklichen selbst.
Ohne sie in Form eines theoretischen Selbstverständnisses explizit auf den Begriff zu bringen, hat das Werk Robert Walsers an dieser Tendenz teil. Deutlicher als andere zeigt es jedoch die Spuren der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Moderne zum »Wegstreben aus Wirklichkeit und Normalität« (H. Friedrich)6 veranlassen. Vor dem Mißverständnis ist es gleichwohl von Anfang an nicht sicher gewesen.
Als 1898 zum ersten Mal Texte Robert Walsers veröffentlicht werden – sechs Gedichte Im Sonntagsblatt der Berner Zeitung »Der Bund« (darunter »Ein Landschäftchen«) – apostrophiert sie der Feuilletonredakteur, der angesehene Kritiker Josef Viktor Widmann, als frühe Produkte einer »Naturbegabung«, denen »etwas Urwüchsiges, Echtes und dabei etwas sehr Feines in den Stimmungen«7 eigen sei. Der Name ihres Autors wird nicht genannt; es ist lediglich die Rede von einem ›zwanzigjährigen Handelsbeflissenen in Zürich, R. W.‹8 Durch diese Veröffentlichung wird der damals in Zürich wohnende Franz Blei auf die ›Naturbegabung‹ Walser aufmerksam. Er vermittelt den Kontakt zu Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, den Herausgebern der in München erscheinenden Zeitschrift »Die Insel«. Walser wird als Mitarbeiter dieser Zeitschrift akzeptiert; ab 1899 erscheinen hier neben Gedichten und Prosastücken seine Dramolette »Dichter«, »Aschenbrödel«, »Schneewittchen« und »Die Knaben«. Obwohl einige Zeitungen – wie Robert Mächler in seiner Walser-Biographie schreibt – Verse des Dichters »als Proben des ›Irrsinns‹ ab[drucken], den die ›Insel‹ für Dichtung ausgebe«9, scheint eine literarische Karriere ihren Anfang zu nehmen.
Bei seinen Besuchen in München – er trifft hier u.a. mit Richard Dehmel, Max Dauthendey, Frank Wedekind zusammen – hält Walser jedoch auf Distanz. Für eine Existenz auf der ›Insel‹ literarischer Assembleen taugt er nicht; es treibt ihn »aus allen Salons, wo Feinheiten und Exküsen herrschen« (III, 36). Die »Luft der vornehmen Abgeklärtheit« (III, 36) meidet er wie die der staubigen Kontore; das »tadellose, schnurgerade, tipptoppe, elegante Benehmen« (III, 36) ist seine Sache so wenig wie die subalterne Verlegenheit des Commis.
Robert Walser schlägt sich auf keine Seite – weder auf die des Irrealitätsprinzips der Literatenkreise noch auf die des Realitätsprinzips der Lohnabhängigkeit. Seine Existenz bleibt – wie es in seinem Roman »Der Gehülfe« heißt – »ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender Anzug« (V, 21). Angesichts der sich ihm bietenden Alternativen sieht er sich auf sich selbst als Instanz der Formulierung einer möglichen Identität verwiesen. Zur Maxime seiner literarischen Arbeit wird die permanente, experimentell verfahrende Selbstreflexion, motiviert durch die Hoffnung auf eine unbekannte Potenz, die in der Sprache als dem Material mit dem er umgeht, verborgen liegt. Der seinen Texten eigenen ›Sprachverwilderung‹, von der Walter Benjamin in seinem Essay über Walser schreibt, liegt diese Hoffnung zugrunde:
Wenn ich gelegentlich spontan drauflosschriftstellerte, so sah das vielleicht für Erzernsthafte ein wenig komisch aus; doch ich experimentierte auf sprachlichem Gebiet in der Hoffnung, in der Sprache sei irgendwelche unbekannte Lebendigkeit vorhanden, die es eine Freude sei zu wecken. (X, 431 f.)
Dieser ›Lebendigkeit‹ ist Walser vor allem mit seiner frühen und mittleren Kurzprosa auf der Spur. In ihr erscheint die Realität des Dargestellten zunehmend als a priori durch Sprache konstituiert. Mehr noch: An die Stelle darzustellender objektiver Welt tritt mehr und mehr das Medium ihrer Vermittlung; das Mittel der Darstellung gerät zum literarischen Gegenstand. Aus dem Blickwinkel kritischer Distanziertheit heraus organisiert Walser seine Arrangements von sprachlichen und motivischen Versatzstücken, treibt er sein ironisches, hoch formalisiertes Spiel mit den literarischen Beständen, das sich selbst in seinem Vollzug immer wieder unterbricht und kommentiert. In dem Maße, wie sich auf diese Weise der Konstitutionsprozeß der walserschen Prosa immer schon auf der Basis seiner Reflexion vollzieht, der jeweilige Text als Produkt ästhetischer Arbeit sich als Reflexionsform seiner Konstitution offenbart, erscheint die ästhetische Subjektivität des schreibenden Ichs als immer neu zu problematisierender Gegenstand. Dem gegenüber geraten die Dinge der objektiven, außerliterarischen Wirklichkeit immer mehr zu Anlässen, werden sie gleichsam zu Kristallisationspunkten des Schreibens selbst.
Robert Musil hat diese Tendenz der walserschen Prosa 1914 in einer in der »Neuen Rundschau« erschienenen Rezension des Sammelbandes »Geschichten« als fortwährende Versündigung »gegen den unveräußerlichen Anspruch der Welt- und Innendinge: von uns als real genommen zu werden«10 bezeichnet. Damit ist keineswegs ein literarisch-ethisches Defizit der walserschen Texte in Hinblick auf den Realitätswert der Dinge behauptet. Im Gegenteil: Musil erkennt damit die spezifische Ironie Walsers an, der es um eine Bestimmung des problematisch gewordenen Verhältnisses der Realität des Textes zur Realität des durch ihn Dargestellten geht: »Eine Wiese ist bei ihm bald ein wirklicher Gegenstand, bald jedoch nur etwas auf dem Papier. Wenn er schwärmt oder sich entrüstet, läßt er nie aus dem Bewußtsein, daß er es schreibend tut und daß seine Gefühle auf Draht stecken. Er läßt plötzlich seine Figuren schweigen und die Geschichte reden als wäre sie eine Figur.«11
Es wäre eine weitere Form des Mißverstehens, würde man die in der Struktur der walserschen Prosa angelegte Reflexivität als Ausdruck einer Lust am sprachlichen Experiment ohne weitere Intention einschätzen. Walsers Texte sind weder als die eines naturseligen, den kleinen Dingen zugewandten, liebenswerten Spaziergängers zu begreifen, noch als die eines die Immanenz feiernden Sprachartisten. Das Interesse am Experiment, das in ihnen am Werk ist, hat vielmehr den Entwurf möglicher Identität zum Ziel. Es bleibt zudem keineswegs auf den Bereich des Ästhetischen beschränkt. Mehrfach hat Robert Walser das Prinzip des Experimentierens aus der Sphäre seiner literarischen Arbeit in die seiner Lebenspraxis zu übertragen versucht. Diese Feststellung scheint als einzige die Möglichkeit zu eröffnen, Details wie folgende aus der Lebensgeschichte Walsers anders zu interpretieren als unter dem Aspekt einer mehr oder minder deutlich diagnostizierbaren psychischen Abweichung. Während eines Aufenthalts in München im Jahr 1901 bewirbt sich Robert Walser bei Alfred Walter Heymel um den Posten eines Dieners. 1905 besucht er kurz nach seiner Übersiedlung nach Berlin einen einmonatigen Kurs in einer Schule für Diener und Pagen – die Erfahrungen, die er hier macht, sind in seinen Roman »Jakob von Gunten« eingegangen – und arbeitet danach als Diener auf Schloß Dambrau in Oberschlesien.
Es sind dies Versuche, durch die bewußte Übernahme der Rolle des Subalternen, durch die gewollte Flucht gleichsam ins Zentrum der Heteronomie hinein, das Prinzip der in der gesellschaftlichen Normalität erfahrenen Fremdbestimmung zur eigenen Moral zu machen, zu einer Moral des Dienstes und des Kleinseins. Die Intentionen, denen diese Moral zugrunde liegt, werden jedoch nie über eine längere Zeit hinweg verfolgt, und, wenn sie sich verwirklichen, legt Robert Walser die ihnen entsprechende Rolle bald wieder ab: Seine Anstellung als Diener auf dem Schloß in Oberschlesien beendet er nach wenigen Monaten und kehrt Ende des Jahres 1905 nach Berlin zurück. Die Leitvorstellung von einer ›provisorischen Existenz‹ bleibt für ihn weiterhin gültig.
An ihr orientieren sich auch die Protagonisten seiner drei Romane, die während seines Berliner Aufenthalts (1905-1913) entstehen und im Verlag Bruno Cassirer veröffentlicht werden. Simon, die Hauptfigur des ersten Romans »Geschwister Tanner« (1907) ist nahezu eine Inkarnation des Prinzips des Transitorischen. »Er tritt Stellungen an und gibt sie wieder auf (bei einem Buchhändler, einem Advokaten, einer Bank, einer Maschinenfabrik, als Diener in einem Haushalt), er verbindet sich mit Menschen (Frauen, seinen Geschwistern, zufälligen Bekanntschaften), die er dann wieder aus den Augen verliert, um ihnen vielleicht irgendwann wiederzubegegnen. Er gibt sich seiner jeweiligen Umgebung völlig hin, kann sich ihr aber auch ebenso vollständig entziehen, um sich einer neuen anzuverwandeln.«12 Die Protagonisten der beiden nachfolgenden Romane, die Walser ebenso deutlich wie Simon Tanner nach dem Muster seiner Erfahrungen agieren läßt, verabschieden sich jeweils am Ende des Textes von den Verhältnissen, auf die sie sich eingelassen haben. Der Abschied Josef Martis vom Hause Tobler am Schluß des Romans »Der Gehülfe« (1908) gilt einer niedergehenden bürgerlichen Welt. Der Unternehmer und Erfinder Tobler steht vor dem geschäftlichen und gesellschaftlichen Ruin, und Marti ist es nur noch darum zu tun, »zu Ende mit all diesen Dingen zu gelangen«. (V, 290) Einen solchen Abschied von der Sphäre des Bürgertums hat Jakob von Gunten, der ›Held‹ des gleichnamigen Tagebuchromans (1909) bereits hinter sich, als er in die Dienerschule Benjamenta eintritt. Aus ›gutem Hause‹ zu stammen gilt ihm nichts mehr. Seinem Vater, einem Großrat, ist er davongelaufen aus Furcht, »von seiner Vortrefflichkeit erstickt zu werden« (IV, 340); sein neues Ideal ist es, von »aller hochmütigen Tradition abzufallen« (IV, 379) und sich allein vom ›Leben‹ erziehen zu lassen. Eine Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Wunsches deutet sich jedoch erst am Schluß des Romans an, wenn Jakob beschließt, das Institut zu verlassen und mit Herrn Benjamenta auf eine Reise in ferne, unbekannte Länder zu gehen. Die letzten Abschiedsworte des Tagebuchs gelten dem Institut als dem Modell dessen, »was man europäische Kultur nennt« (IV, 490). Deren Verfall erscheint in der Auflösung der Dienerschule auf exemplarische Weise vollzogen. Einen verborgenen Wert dieser Kultur gibt es so wenig wie ein Geheimnis der ›inneren Gemächer‹ im Institut Benjamenta. Was sich Jakob von Gunten als eine vage Utopie in einer Traumsequenz in Aussicht stellt, ist ein Leben in der radikalen Distanz zur Sphäre des Kulturellen schlechthin, eine Distanz zum »Gedankenleben«, zu den »Überlegungen« (IV, 492).
Der tastende Entwurf einer solchen Utopie, in dem sich zum ersten Mal im Werk Robert Walsers eine antikulturelle Tendenz abzeichnet, ist sicherlich nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Erfahrungen zu sehen, die Walser in Berlin macht. Anfangs werden Hoffnungen auf ihn gesetzt; an Gelegenheiten, seine Kurzprosa in Zeitungen und Zeitschriften (darunter »Die Neue Rundschau«, »Die Zukunft«, »Die Schaubühne«) zu veröffentlichen, fehlt es ihm nicht. Sein Verleger Bruno Cassirer unterstützt ihn zudem über mehrere Jahre hinweg finanziell. Nachdem es jedoch nach dem Erscheinen des »Jakob von Gunten« endgültig deutlich wird, daß die von ihm verlegten Romane Walsers keinen Erfolg haben, stellt er seine Zuwendungen ein. Walser bleibt noch drei Jahre unter schwierigen Verhältnissen in Berlin und kehrt dann – im Frühjahr 1913 – in die Schweiz zurück.
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Es folgen Jahre der Isolation. Walser begreift seinen Mißerfolg in Berlin als persönliche Niederlage. »Ich bin vor einiger Zeit aus kalten ungünstigen Verhältnissen, ohne jegliche Zuversicht, ohne Glauben, krank im Innern, gänzlich ohne Zutrauen hieher gekommen. Mit der Welt und mit mir selber war ich verfeindet, entfremdet.« (III, 225) Bis 1920 lebt Walser in Biel, in einem Mansardenzimmer des Hotels »Blaues Kreuz«; obwohl in diesen Jahren einige Sammelbände mit Kurzprosa erscheinen, vermeidet er jeden engeren Kontakt mit dem, was er als literarisches Leben kennengelernt hat, verweigert er nahezu jede Berührung mit der Außenwelt: »In die Gesellschaft, d.h. dorthin, wo sich die Welt zusammenfindet, die die Welt bedeutet, ging ich nie. Ich hatte dort deshalb nichts zu suchen, weil ich erfolglos war. Leute, die unter Leuten keinen Erfolg finden, haben bei Leuten nichts zu suchen.« (III, 102) Diese resignativen Sätze sind zu lesen auf dem Hintergrund einer sich während der Bieler Jahre ständig verschärfenden materiellen Notsituation. Immer wieder muß Robert Walser die Verleger und Redakteure, die sich noch zur Veröffentlichung seiner Texte entschließen, um Vorschüsse angehen. Am 8. 5. 1919 schreibt er an den Verlag Rascher, in dem die Prosasammlung »Seeland« erschienen ist: »Wenn ich dieses Jahr noch die Dichterexistenz aufrechterhalten kann, will ich froh sein, niemandem zürnen und hernach vom Schauplatz, abtreten, d.h. in eine Stellung gehen und in der Masse verschwinden. Ich habe in den sechs Jahren meines hiesigen Aufenthaltes das Menschenmögliche an Sparsamkeit getan. Ich wünsche einem jeden, der mir das nachmachen will, viel Erfolg.«13
In dem autobiographischen Text »Das letzte Prosastück« (VII, 70-76) nennt Walser erneut die Konsequenz, die seine Erfolglosigkeit ihm nahelegt: »Ich glaube, das beste wird sein, wenn ich mich in eine Ecke setze und still bin« (VII, 76). Diese Tendenz zum Aufgeben resultiert aus der sich immer wiederholenden Erfahrung des Scheiterns gegenüber den Vermittlungs- und Bewertungsinstanzen von Literatur, gegenüber den – wie es heißt – »Herren Dirigenten« (VII, 73), den »Wölfe[n]« (VII, 74), den »Übermenschen« und »Diktatoren« (VII, 76). Das Verhältnis, das zwischen diesen Instanzen und dem ästhetisch handelnden Subjekt herrscht, ist das einer unaufhebbar erscheinenden Hierarchie: »Einerseits Riesen, anderseits Zwerge. Hier Herren, dort Knechte« (VII, 73). Die einzig mögliche Beziehung zwischen beiden ist die im Zeitalter des Kapitalismus ›normale‹ – die zwischen dem Unternehmer und dem Lohnabhängigen. Aufgabe des Schriftstellers ist es, »herzustellen und wegzugeben, anzufertigen und fortzuschicken« (VII, 72), »anderer Leute Fächer, Löcher, Lagerhäuser« mit »Stoffen und Vorräten« (VII, 72f.) zu füllen und der Aneignung der im Text zur Form gewordenen ästhetischen Subjektivität durch die literarische Agentur und den literarischen Markt ohnmächtig zuzusehen.
Dies Resümee aus den Erfahrungen der Abhängigkeit erweist die Alternative, vor die sich der junge Walser gestellt sah und auf die er sich nicht einlassen wollte – hier die Rolle des Lohnabhängigen, dort die des autonomen Schriftstellers – als fiktiv. Die Autonomie der Schriftstellerexistenz hat sich als Schein erwiesen. Walser ist als Autor der kleine Commis geblieben. Seine Unfähigkeit, sich an den Markt der kulturellen Waren anzupassen, Texte zu liefern, die »den Wünschen entsprechen« und »hübsch in den Rahmen passen« (VII, 72), ist sanktioniert worden wie die Unbotmäßigkeit, die man dem kleinen Angestellten auf Dauer nicht nachsieht. Erfolglosigkeit ist der Name dieser Sanktion, der die Verantwortung für das Scheitern dem Betroffenen zuweist. Dennoch bleibt »Das letzte Prosastück« nicht das letzte. Noch resigniert Walser nicht endgültig.
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1920 zieht er nach Bern und nimmt eine Stelle beim Staatsarchiv an. Schon nach ungefähr sechs Monaten wird er nach Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten entlassen. Bis zu seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt Waldau im Januar 1929 lebt Walser ein Leben an der Peripherie der bürgerlichen Existenz. Seine Neigung zum Alkohol nimmt zu; ständig wechselt er das Logis; mit Schriftstellerkollegen zerstreitet er sich; immer mehr sucht er die Anonymität der Wirtshäuser, der kleinen Varietés, der Straßen und Plätze, der einfachen Restaurants. Biographiewürdig im gängigen Sinne sind diese letzten Jahre in Freiheit nicht.
Walsers literarische Produktivität hält während der Berner Zeit unvermindert an, und es ist vor allem die gesellschaftliche Funktion ästhetischer Subjektivität, die zum Gegenstand seiner Texte wird. Das Fragment des Romans »Theodor« (1921), und das 1925 entstandene Konzept des »Räuber«-Romans bieten hierfür ebenso Belege wie die kurzen Prosastücke aus den Jahren 1920-1929. Zugleich signalisiert die Formbestimmtheit der späten Kurzprosa Walsers endgültigen Bruch mit der Tradition erzählender Literatur und den in und von ihr herausgebildeten ästhetischliterarischen Konventionen und Wertkategorien. Kriterien wie Einheitlichkeit, Geschlossenheit, Stringenz der Handlungsführung, klare Zuordnung von akzidentiellen und essentiellen Erzählelementen sind auf die späten Texte nicht anwendbar. An ihre Stelle tritt das Prinzip einer bewußten Diskontinuität des Erzählens, ja einer gewollten Destruktion des Erzählkontinuums. Jede Form einer sich objektiv gebenden Beschreibung wird aufgegeben zugunsten der Montage von Vermutungen, Reflexionen, vagen Bezeichnungen, Assoziationen, Umschreibungen, in denen sich immer aufs neue das problematisch gewordene Verhältnis des Schreibenden zu der ihn umgebenden Welt verdeutlicht. War die Krise der Darstellbarkeit von Realität in der frühen und mittleren Schaffensperiode Walsers Movens einer weithin spielerischen Ironie, die im Arrangement sprachlicher Versatzstücke ihren Ausdruck fand, so ist sie nun zur Krise des Selbstverständnisses der ästhetischen Subjektivität geworden.
Das Bewußtsein dieser Krise ist auch dem Werk Franz Kafkas immanent, das der Sekundärliteratur nicht zu Unrecht als nahezu einziges dem Robert Walsers vergleichbar erschienen ist. Tatsächlich bieten sich dem Vergleich auf den ersten Blick eine Reihe von stilistischen und motivischen Parallelitäten und Affinitäten. Walser wie Kafka war die Sprache der Bürokratie bestens bekannt; ihre spezifische Weise der Präzision findet sich in vielen Texten beider Autoren wieder. Gemeinsam war ihnen jener ›mikroskopische Blick‹14, der die umgebende Dingwelt im Text fremd werden läßt und sie unter dem Zeichen allgemeiner, in gesellschaftlichen Verhältnissen sich gründender Entfremdung zeigt. Der für viele Texte Kafkas konstitutive Zweifel an der Benennbarkeit von Realität findet sich als Strukturmerkmal vor allem im Spätwerk Robert Walsers wieder. Dem sprechenden Ich der Berner Prosa scheint sich die Wirklichkeit immer mehr zu entziehen, ohne daß eine Hoffnung auf die Realität der Sprache und der Literatur ihren Verlust noch kompensieren könnte: »Verhandlungen vermindern ihren Gegenstand, saugen die Quellen nach und nach auf.« (III, 430) Neben solchen strukturellen Affinitäten, die sich in letzter Instanz vergleichbaren sozialen Erfahrungen verdanken, lassen sich bei einigen Texten Beziehungen aufzeigen, die – und zwar durchweg von seiten Franz Kafkas – als gewollt interpretiert werden können. So scheint Kafka z.B. – wie Karl Pestalozzi in seinem Aufsatz über »Franz Kafkas Beziehung zum Werk Robert Walsers« aufgezeigt hat15 – seinen Text »Auf der Galerie« bewußt als »eine Art Kontrafaktur zu Walsers »Ovation«16 angelegt zu haben. Weitere Beispiele ließen sich nennen. Die in ihnen erkennbaren Gemeinsamkeiten resultieren jedoch nicht – wie bisweilen auf Grund der Wertschätzung, die Franz Kafka den Texten Walsers entgegenbrachte, angenommen wurde – aus einem tiefgreifenden Einfluß des walserschen Werkes auf Kafka. Eine solche These ließe sich – wie Pestalozzi in der genannten Untersuchung deutlich gemacht hat – nur um den Preis weitgehender Spekulation belegen. Mehr noch: Die Differenzen, ja das Trennende zwischen Walser und Kafka lassen sich bei eingehender Analyse gerade »dort am deutlichsten fassen, wo thematische Ähnlichkeiten vorliegen«.17
Die notwendige Vorsicht bei Vergleichen, denen es um Belege für einen mehr oder minder deutlichen Einfluß Walsers auf Kafka zu tun ist, sollte jedoch nicht dazu führen, Versuche zur Analyse der Genesis der beiden Autoren gemeinsamen Erfahrung des Sich-Entziehens der objektiven Welt von vornherein ins Unrecht zu setzen.
Angesichts dieser Erfahrung definiert Walser seine Prosastücke »als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte« (X, 323), einer Geschichte, die nichts anderes darstellt als einen sich immer fortsetzenden Prozeß der Selbstvergewisserung des schreibenden Ichs. Der sich aus fragmenthaften Versuchen zur Rekonstruktion möglicher Identität zusammensetzende »Roman«, wie Walser diesen Prozeß ironisch nennt, »bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können« (X, 323). Die Frage nach dem Kunstcharakter seines ›zerschnittenen Ich-Buchs‹ hat Walser wenig betroffen: »Die Frage ›Ist‘s nicht mehr Kunst, was du treibst?‹ schien mir mitunter sachte die Hand auf die Schulter zu legen. Ich durfte mir jedoch sagen, daß sich einer, der mit Bemühtbleiben weiterfährt, nicht von Forderungen behelligen zu lassen braucht, deren idealistische Last ihn beunlustigte.« (X, 431) Dies »anti-ästhetische kreative Ethos«18 – wie George C. Avery es genannt hat – glaubte ein Teil der Sekundärliteratur Robert Walser nicht verzeihen zu dürfen.
Nicht selten ist die späte, vor allem die in den Berner Jahren entstandene Prosa als bloßes Symptom eines fortschreitenden psychischen Verfalls ihres Autors eingeschätzt worden. Man hat sie mit Beispieltexten aus psychiatrischen Lehrbüchern verglichen; ihr wurden »Weitschweifigkeit, Denkzerfahrenheit, Autismus, Negativismus«19 attestiert. Man vermißte in ihr »den deutlichen Willen zur einheitlichen Gestaltung und zur Mitteilung«20, interpretierte sie als Spiegelbild eines »inhaltlosen, zusammenhanglosen Lebens, dem jede Wirklichkeit und jede Pflichterfüllung fehlt«.21 – Solche sich an der Norm des natürlich-einheitlich Gestalteten orientierenden ›Befunde‹ setzen voraus, was kaum je ernsthaft in Zweifel gezogen wurde, – daß die Einlieferung Robert Walsers in die Nervenheilanstalt als eindeutiger Beleg für den Ausbruch einer Geisteskrankheit gelten kann.
Schon 1966 hat Jochen Greven darauf hingewiesen, daß die ›Krankheit‹ Walsers »kein typischer und eindeutiger Fall« ist.22 Das im Walser-Archiv in Zürich liegende Material zum Verfahren der Einweisung in die Anstalt und zur dort aufgezeichneten Krankheitsgeschichte ist dazu angetan, diesem Hinweis und manchen Zweifeln, die er impliziert, einiges Gewicht zu geben.23 Aus ihm ergibt sich als erstes der Eindruck einer reibungslosen, unauffälligen Schnelligkeit des Verfahrens: Zwei ältere Damen, bei denen Walser in Bern wohnt, melden der Schwester des Schriftstellers, Lisa Walser, den ›Ausbruch der Krankheit‹; als Symptome nennen sie Walsers Schlaflosigkeit und sein allgemein auffälliges Verhalten. Auf diese Nachricht hin bringt Lisa Walser den Bruder zu dem Psychiater Walter Morgenthaler, der noch am selben Tag, am 24. 1. 1929, die Einlieferung in die Nervenheilanstalt Waldau bei Bern verfügt. Morgenthalers zwei Tage danach verfaßter »Ärztlicher Bericht über Herrn Robert Walser, Schriftsteller« besteht aus sieben Sätzen. Die Analyse eines Krankheitsbildes enthält er nicht. Aus ihm geht hervor, daß Walser mit der Entscheidung des Psychiaters nicht einverstanden war und den Wunsch äußerte, zu seiner Schwester zu ziehen. Dazu heißt es in dem Bericht: »Da dies aus äussern Gründen nicht angezeigt war, und da ich zudem nach kurzem zu der Ueberzeugung kam, dass Herr Walser in seinem gegenwärtigen Zustand die geschlossene Anstalt dringend und so rasch als möglich nötig hat, wird er an die Waldau gewiesen.«
Zieht man in Erwägung, daß Morgenthaler zumindest zum Teil mit der Familie Walser bekannt war, so liegt die Vermutung nicht fern, daß es nicht ausschließlich medizinische Kriterien waren, auf Grund derer Robert Walser für den Rest seines Lebens (wie sich zeigen wird) in die Anonymität der Nervenheilanstalt gewiesen wurde. Daß eine gewisse Schonung, Rücksichtnahme, vielleicht auch Gefälligkeit gegenüber der Schwester und der Familie zumindest als die Entscheidung zusätzlich motivierende Faktoren in Betracht kommen, erhellt aus Äußerungen Lisa Walsers, die sich in den in der Waldau geführten Krankenblättern wiedergegeben finden: Walser habe sich ihr gegenüber »unanständig« verhalten; er sei »sexuell überhaupt nicht normal«, sei zudem immer »ein großer Egoist« gewesen, habe »nur seinem Vergnügen gelebt, nichts gearbeitet«.
Aus den Berichten über das Verhalten Walsers in der Anstalt läßt sich ebensowenig ein deutliches Bild seiner psychischen Verfassung gewinnen wie aus dem Kurzgutachten des einweisenden Arztes. Das Fehlen eines jeden Vermerks in der Krankengeschichte darüber, daß Walser seiner schriftstellerischen Arbeit in der Waldau fast in gewohnter Weise nachging, wirft zudem ein bezeichnendes Licht auf die Gegebenheiten in der Waldau.
Zweimal äußert Robert Walser den Wunsch, die Anstalt wieder zu verlassen: das erste Mal einen Monat nach seiner Einlieferung, das zweite Mal, als seine Überführung in die Anstalt Herisau im Kanton Appenzell-Außerrhoden bevorsteht. Auf diesen Wunsch geht man nicht ein. Bei der Überführung (1933), an deren Zustandekommen die Schwester wiederum beteiligt ist, wird Walsers Widerstand von den Wärtern mit Gewalt gebrochen. Von diesem Augenblick an bis zu seinem Tod am 25. 12. 1956 hat Walser – sieht man von einigen Briefen ab – nichts mehr geschrieben.
Angesichts der Zweifel, wie sie sich aus dem bisher zugänglichen, einschlägigen Material ergeben, erscheint die Frage berechtigt, ob die Internierung Robert Walsers in der Nervenheilanstalt nicht als Reaktion auf die Symptome seines sozial abweichenden Verhaltens verstanden werden muß. Seine Deviation von der gesellschaftlichen Norm hat Walser – vor allem in seiner späten Schaffensperiode – in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Rolle des Schriftstellers gesehen. Schriftsteller sein – so heißt es im »Tagebuch« – Fragment von 1926 – bedeutet die »Rolle eines Außenseiters« (VIII, 63) spielen zu müssen. Vor dem Anspruch gesellschaftlicher Funktionalitätsvorstellungen erscheint der Schriftsteller als das »denkbar unnützeste, unbrauchbarste Möbel« (VIII, 104f.); seine Existenz ruft – wie es im Fragment des »Theodor«-Romans heißt – »Beunruhigung« hervor; sie ist der Gesellschaft »etwas Unangenehmes, irgend etwas, was man nicht willkommen heißen kann« (VIII, 102). Die provokatorische Wirkung seines eigenen ›spaßhaften Existierthabens‹ hat Robert Walser in einer Art von ironischem Nekrolog auf sich selbst in dem späten Prosastück »Schnori«24 beschrieben:
Sein spaßhaftes Existierthaben gab ihnen zu mancherlei Betrachtungen nahrhaften Anlaß, und so ungern sie‘s vielleicht taten, mußten sie sich von Zeit zu Zeit sagen: »Ja, er war einer, obgleich er bloß den weiter keinerlei Erheblichkeit verratenden Namen Schnori trug.« Gern hätte man über ihn wegblicken mögen, aber man brachte es nicht fertig. Noch immer stand er mit der wie im lächelnden Schlafzustand hervorgebrachten gesammelten Sammetheit seines Werkes, die etwas Kostbares blieb, da. Umsonst sprach man: »Schnori, geh weg.« Er unterließ dies. War das artig von ihm? (IX, 363)
Anmerkungen
Text
Robert Walser: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Jochen Greven (Bd. 11 von Robert Mächler, Bd.12/1 von Jochen Greven unter Mitarbeit von Martin Jürgens). Bd. 1-12/2. Genf und Hamburg 1966 ff. (Die in den runden Klammern stehenden Zitatnachweise beziehen sich auf diese Ausgabe. Die römischen Ziffern bezeichnen jeweils den Band, die arabischen die Seiten.)
Biographie
Robert Mächler: Das Leben Robert Walsers. Ene dokumentarische Biographie. Genf und Hamburg 1966.
Literatur
George C. Avery: Inquiry and Testament. A Study of the Novels and Short Prose of Robert Walser. Philadelphia 1968. Hans Bänziger: Robert Walser. In: Bänziger: Heimat und Fremde, Ein Kapitel »Tragische Literaturgeschichte« in der Schweiz: Jakob Schaffner, Robert Walser, Albin Zollinger. Bern 1958, S. 63-106.
Lothar Baier: Robert Walsers Landschäftchen. Zur Lyrik Robert Walsers. In: Text und Kritik, H. 12, o. J. [1966], S. 22-27. Walter Benjamin: Robert Walser. In: Benjamin: Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus. Bd. 2. Frankfurt/M. 1955, S. 148-151. Hans Udo Dück: Strukturuntersuchung von Robert Walsers Roman »Der Gehülfe«. München, Phil. Diss. 1968. [Masch. vervielf.]
Karl Joachim Wilhelm Greven: Existenz, Welt und reines Sein im Werk Robert Walsers. Versuch zur Bestimmung von Grundstrukturen. Köln, Phil. Diss. 1960. [Masch. vervielf.] Jochen Greven: Robert Walser-Forschungen. Bericht über die Edition des Gesamtwerks und die Bearbeitung des Nachlasses mit Hinweisen auf Walser-Studien der letzten Jahre. In: Euphorion 64 (1970), S. 97-114.
Jochen Greven: Figuren des Widerspruchs. Zeit- und Kulturkritik im Werk Robert Walsers. In: Der Deutschunterricht 23 (1971), Beiheft l, S. 93-113.
Hans G. Helms: Zur Prosa Robert Walsers. In: Robert Walser, Basta. Prosastücke aus dem Stehkragenproletariat. Hrsg. von Hans G. Helms. Köln 1970, S. 5-33.
Hans Holderegger: Robert Walser. Eine Persönlichkeitsanalyse anhand seiner drei Berliner Romane (Philologische Studien und Quellen, Heft 69). Berlin 1973.
Martin Jürgens: Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa. Kronberg/Ts., 1973.
Christopher Middleton: The Picture of Nobody. Some Remarks on Robert Walser with a Note on Walser and Kafka, In: Revue des langues vivantes 24 (1958), S, 404-428.
Robert Musil (Rez.): Robert Walser, Geschichten. Leipzig 1914. In: Die Neue Rundschau 25 (1914), S. 1167-1169.
Nagi Naguib: Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970.
Karl Pestalozzi: Nachprüfung einer Vorliebe. Franz Kafkas Beziehung zum Werk Robert Walsers. In: Akzente 13 (1966), S. 322-344.
Gerhard Piniel: Robert Walsers »Geschwister Tanner«. Zürich 1968.
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Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. St. Gallen o. J. (1957).
Christoph Siegrist: Robert Walsers kleine Prosadichtungen. In: Germ.-Rom. Mschr. 17 (1967), H. 1, S. 78-97.
Felix Karl Strebel: Das Ironische in Robert Walsers Prosa. Eine typologische Untersuchung stilistischer und struktureller Aspekte und Tendenzen. Zürich, Phil. Diss. 1971. [Masch. Vervielf.] Martin Walser: Alleinstehender Dichter. Über Robert Walser. In: Walser: Erfahrungen und Leseerfahrungen. Frankfurt/M. 1965, S. 148-154.
Nachweise
1 Zur Kritik dieses Begriffs der literarischen Moderne siehe: Helmut Kreuzer: Zur Periodisierung der »modernen« deutschen Literatur. In: Basis, Bd. 2, Frankfurt/M. 1971, S. 7-32.
2 Martin Walser: Alleinstehender Dichter. Über Robert Walser. In: Der Monat, 16. Jg., Nr. 195,1964, S. 37 ff.
3 Vgl. dazu das Prosastück »Das erste Gedicht« (VI, 279-281).
4 Lothar Baier: Robert Walsers Landschäftchen. Zur Lyrik Robert Walsers. In: Text und Kritik, H. 12, o. J. [1966], S. 24.
5 Friedrich Tomberg: Politische Ästhetik. Darmstadt und Neuwied 1973, S. 56.
6 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956, S. 153.
7 Zitiert nach Robert Mächler: Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie. Genf und Hamburg 1966, S. 57.
8 Vgl. Mächler: Das Leben Robert Walsers, S. 56.
9 Mächler: Das Leben Robert Walsers, S. 68.
10 Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1955, S. 686.
11 Ebd., S. 686 f.
12 Karl Joachim Wilhelm Greven: Existenz, Welt und reines Sein im Werk Robert Walsers. Versuch zur Bestimmung von Grundstrukturen. Köln, Phil. Diss. 1960 [Masch. vervielf.], S. 24.
13 Zitiert nach Mächler: Das Leben Robert Walsers, S. 139.
14 vgl. in diesem Band den Aufsatz von Heinz Hillmann über Franz Kafka, S. 285 ff.
15 Karl Pestalozzi: Nachprüfung einer Vorliebe. Franz Kafkas Beziehung zum Werk Robert Walsers. In: Akzente 13 (1966), S, 322-344.
16 Pestalozzi, a. a. O., S. 332.
17 Ebd.
18 George C. Avery: Inquiry and Testament. A Study of the Novels and Short Prose of Robert Walser. Philadelphia 1968, S. VIII (Vorwort).
19 Hans Bänziger: Heimat und Fremde. Ein Kapitel »Tragische Literaturgeschichte« in der Schweiz. Bern 1958, S. 103.
20 Gerhard Piniel: Robert Walsers späte Prosa. In: Schweizer Monatshefte, 46. Jg., H. 8, 1966, S. 763.
21 Nagi Naguib: Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970, S. 194.
22 S. Jochen Grevens Nachwort zu Bd. VII der Gesamtausgabe, S. 394.
23 Eine eingehende Interpretation dieses Materials findet sich in Martin Jürgens: Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa. Kronberg/Ts. 1973, S. 181 ff.
24 »Schnori«: mundartl. Bezeichnung für »Schwätzer«.
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