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„Unter dem Pflaster liegt der Strand!” Die Revolten der 1960er Jahre und die bundesrepublikanische Linke
Оглавление„Im Aufwind der weltweiten Befreiungsversuche“, so heißt es nostalgisch im Auflösungspapier der RAF, „war die Zeit reif für einen entschiedenen Kampf, der die pseudonatürliche Legitimation des Systems nicht mehr akzeptiert und dessen Überwindung ernsthaft wollte.“ 24 So sehr die RAF sich auf eine revolutionäre Phantasiewelt berufen hatte – die weltweiten Revolten der 1960er Jahre waren Realität, und sie waren ein Aufschrei: Gegen eine Vergangenheit der Massenvernichtung, eine Gegenwart der Verleugnung und eine Zukunft der totalen Zerstörung.
Im Zeichen des Kalten Krieges war der ‚Overkill‘ möglich geworden, die mehrfache Vernichtung der Menschheit durch Nuklearwaffen. Die Gefahr bestand real: Nicht nur während der Kuba-Krise 1962 standen USA und Sowjetunion am Rand eines Atomkrieges. Je mehr die Weltpolitik in einem fatalen Machtpoker gefangen schien, desto mehr träumte die Jugend von Frieden und Freiheit. In den USA entstanden eine schwarze Bürgerrechtsbewegung und eine Frauenbewegung, die ihre sozialen Rechte einforderten, der Protest gegen den Vietnamkrieg fand immer mehr Anhänger. Auch in Europa regte sich Widerstand. Elementare Gesellschaftsstrukturen wurden in Frage gestellt: Rassismus, Sexismus, Militarismus und jede Art von selbst ernannter Autorität. Überkommene Moralvorstellungen sollten überwunden, autoritäres Denken aufgebrochen, vor allem aber das System des Kapitalismus zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft überwunden werden. „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, lautete ein viel zitierter Slogan.
Selbst im sowjetischen Einflussbereich regte sich mit dem ‚Prager Frühling‘ kurzzeitig die Hoffnung auf einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘. Und in der ‚Dritten Welt‘ kämpften ‚Befreiungsbewegungen‘ gegen jahrhundertelange Ausbeutung und Unterdrückung im Zeichen des Kolonialismus. Im Zuge der damit einsetzenden Dekolonisierung projizierte man auf diese Kämpfe der ‚Opfer der Geschichte‘ allerart Sehnsüchte. Dort, jenseits der Machtblöcke, sollte das revolutionäre Kollektivsubjekt zu finden sein, das die bestehenden Verhältnisse radikal umwälzen würde. Zwar schien die politische und gesellschaftliche Gegenwart düster, die Zukunft dagegen vollkommen offen: Geschichte wird gemacht!
Weltweit wurden vor allem Universitäten zu Zentren der kritischen Reflexion, bald auch des lautstarken Protests. In der Bundesrepublik kam Bewegung in die erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter dem Motto „Keine Experimente“ 25 hatte die Adenauer-Ära wirtschaftlichen Aufschwung und gesellschaftliche Restauration gebracht. Die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit war dabei weitgehend tabu, die NS-Verbrechen wurden beschwiegen, verleugnet, auf einzelne Schuldige zurückgeführt oder durch Vergleiche relativiert. 26 So verwies man auf ‚eigene‘ Opfer durch Krieg und Vertreibung oder wehrte sich empört gegen eine niemals erhobene ‚Kollektivschuldthese‘. 27 Eine breitere gesellschaftliche Beschäftigung mit der Tatsache der Judenvernichtung fand erst seit Beginn der 1960er Jahre, vor allem im Zusammenhang mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozess und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen statt. 28
Bereits in den 1950er Jahren hatte es in der Bundesrepublik eine erste Protestbewegung gegen die Wiederbewaffnung und später gegen die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr (‚Kampf dem Atomtod‘) gegeben, die wesentlich von Studenten und Intellektuellen, aber auch von Kirchen und Gewerkschaften initiiert und getragen worden war. In den 1960er Jahren formierte sich nun eine außerparlamentarische Opposition, die maßgeblich von der Politik und den Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 29 geprägt wurde. Neben Dauerprotesten gegen den sich verschärfenden Krieg in Vietnam und dem anhaltenden Kampf gegen die drohende Notstandsgesetzgebung waren es vor allem die mangelnde öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie zahlreiche personelle Kontinuitäten, welche die SDS-Aktivisten umtrieben.
So hieß es in einem studentischen Flugblatt von 1967: „Machen wir Schluss damit, dass nazistische Rassenhetzer, dass die Juden-Mörder, die Slawen-Killer, die Sozialisten-Schlächter, dass die ganze Nazi-Scheiße von gestern weiterhin ihren Gestank über unsere Generation bringt.“ Gefordert wurde nicht weniger als eine nachholende Entnazifizierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft: „Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde: Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt hinaus.“ Denn der Nazismus sei noch immer omnipräsent: „Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, Nazi-Gesetzgeber […], Nazi-Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer, Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen, Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, Nazi-Bundeskanzler, und nicht zuletzt […] Nazi-Kriegsgewinnler, Nazi-Fabrikanten, Nazi-Finanziers.“ All jenen müsse man sich radikal verweigern, um so „den gesamten Apparat dieser miesen Gesellschaft“ zu sabotieren, „denn er besteht – bezeichnenderweise! – zu einem lebenswichtigen Teil aus den alten Nazis.“ 30
Konkret skandalisierte man etwa die Ernennung des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke zum Ehrensenator der Unviersität Bonn. 31 Dieser hatte zu NS-Zeiten in seiner Funktion als Bauleiter der Heeresversuchsanstalt und der Luftwaffenerprobungsstelle in Peenemünde unter anderem KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt. „Das Rektorat hat sich mit seinem Vorgehen offen mit KZ-Baumeistern als Ehrensenatoren solidarisiert. Dass es diese Solidarität gegen Anträge auf Diskussion mit dem Einsatz von Schlägertrupps verteidigen lässt, bedeutet ein offenes Bekenntnis des Rektorats zum Faschismus.“ 32 Ohnehin vermutete man ‚Unter den Talaren den Muff von 1000 Jahren‘, wie eine zeitgenössische Parole lautete. Kurz: Man wähnte sich inmitten einer „schleichende[n] Faschisierung“ 33 der Universitäten.
Die Gefahr einer ‚Faschisierung‘ schien überhaupt omnipräsent in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, auch unmittelbar im eigenen Leben. Von Wilhelm Reich lernte man, dass zwischen autoritärer Triebunterdrückung und ‚faschistischem Charakter‘ ein ursächlicher Zusammenhang bestehe: 34 Die patriarchal geprägte bürgerliche Kleinfamilie züchtete quasi Faschisten, war als Modell der Vergesellschaftung also dringend zu überwinden. 1967 gründete sich in West-Berlin die skandalumwitterte Kommune 1, die sich ganz in diesem Sinne auf die Suche nach alternativen Lebensformen begab. Angestrebt wurde ein Leben im Kollektiv, in dem sich der Einzelne von Konkurrenzund Konsumdenken emanzipieren sollte und in dem ‚freie Liebe‘ und in jeder Hinsicht herrschaftsfreie Beziehungen praktiziert werden sollten. 35 Unter dem Motto „Das Private ist politisch!“ sollte die Revolution im eigenen Alltag beginnen. In ganz Westdeutschland gab es bald zahlreiche ähnliche Wohngemeinschaften, in denen neue Konzepte des Zusammenlebens entwickelt, erprobt und gelebt wurden.
Außerdem wurde viel demonstriert, wann immer sich ein Anlass bot: In erster Linie gegen die Notstandsgesetze und gegen den Vietnamkrieg, aber auch für eine Demokratisierung der Hochschulen und gegen Kapitalismus und Imperialismus im Allgemeinen. Gesellschaftliche Machtverhältnisse wurden öffentlich zur Debatte gestellt, man hielt kritische Vorträge und Diskussionen ab, bildete Komitees, veröffentlichte Flugblätter und Manifeste und besetzte Hörsäle. Im Rahmen von ‚Teach-ins‘ verständigte man sich über politische Fragen, in ‚Sit-ins‘ propagierte man Gewaltlosigkeit als Mittel im Kampf um eine bessere Welt.
Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung 1967/68 mangelte es zudem nicht an politischen Ereignissen, die das systemkritische Weltbild der Studenten ebenso bestätigten wie ihre Sehnsucht nach radikaler Veränderung beförderten: In Griechenland putschte sich ein faschistisches Regime an die Macht, nahezu zeitgleich forderte Che Guevara: „Schafft zwei, drei, viele Vietnam!“. In Nigeria brach nach der Unabhängigkeitserklärung der Region Biafra ein blutiger Bürgerkrieg aus. Im Juni wurde der Demonstrant Benno Ohnesorg in West-Berlin von einem Polizisten erschossen, Tage später begann der israelisch-arabische Sechstagekrieg. Unterdessen massakrierte die bolivianische Militärjunta gewerkschaftlich organisierte Minenarbeiter. Im August verübten Gudrun Ensslin und Andreas Bader in West-Berlin einen Rauchbombenanschlag, einen Monat später hielten Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl das so genannte ‚Organisationsreferat‘, in dem erstmals von einer ‚Stadtguerilla‘ die Rede war. Im Oktober erschoss das bolivianische Militär Che Guevara; kurz darauf legten Andreas Baader und Astrid Proll 36 anlässlich einer großen Demonstration gegen den Vietnamkrieg einen Brandsatz ins West-Berliner ‚Amerikahaus‘.
1968 überschlugen sich die Ereignisse: In Kambodscha begannen die Roten Khmer mit dem Guerillakampf. In Vietnam starteten nordvietnamesische Truppen und Vietcong ihre ‚Tet-Offensive‘ gegen die südvietnamesische Regierung und die US-Armee. Mitte Februar fand an der Technischen Universität Berlin ein vom SDS mitorganisierter ‚Internationaler Vietnam-Kongress‘ statt. Unter dem Motto „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen“ versammelten sich mehrere Tausend Teilnehmer aus 14 Ländern. Im Abschlussbericht des SDS hieß es: „Solidarität mit dem vietnamesischen Volk bedeutet für uns, Ho Chi Minhs Aufforderung […] ‚Errichtet die Revolution in eurem eigenen Land‘ zu übernehmen [.,.].“ 37 Kurz darauf legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin Brände in Frankfurter Kaufhäusern.
Zwei Tage später wurde in den USA der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet, eine Woche darauf schoss ein junger Neonazi Rudi Dutschke in den Kopf. Demonstrationen und gewalttätige Aktionen gegen den Springer-Verlag waren die Folge, dessen Hetze gegen die Studenten man für das Attentat mitverantwortlich machte. Im Mai 1968 kämpften in Paris Studierende und Arbeiter auf Barrikaden, es kam zu mehrwöchigen Streiks, an denen bis zu zehn Millionen Menschen teilnahmen – die ‚Revolution‘ schien zum Greifen nahe. In Bonn demonstrierten unterdessen 70 000 Menschen gegen die Notstandsgesetzgebung – zwei Wochen später wurde sie dennoch verabschiedet. Im August walzten sowjetische Panzer den ‚Prager Frühling‘ nieder, im Oktober verübte die mexikanische Regierung im Vorfeld der Olympiade ein Massaker an demonstrierenden Studenten.
Auch wenn die Bewertung der hier nur skizzierten Dynamik, die gemeinhin unter dem Schlagwort ‚1968‘ zusammengefasst wird, je nach politischem Standpunkt unterschiedlich ausfallen muss – dass sich hier gesellschaftlich vielerorts Elementares bewegte oder zumindest bewegen wollte, ist offensichtlich. Ebenso liegt auf der Hand, dass diese Ereignisse im dichotomen System des Kalten Krieges als Kampf des ‚Guten‘ gegen das ‚Böse‘ interpretiert werden konnten. Ob aus ‚linker‘ oder ‚rechter‘ Perspektive: Alles schien mit allem zusammenzuhängen – und vieles hing tatsächlich zusammen. Vorherrschend war jedenfalls das Gefühl, dass es ‚ums Ganze‘ ging, das genau jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt würden, dass Geschichte zu machen sei – notfalls mit Gewalt. Schließlich wandte der Gegner auch Gewalt an.