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EINFÜHRUNG
ОглавлениеEs ist höchste Zeit, an Pater Bernhard Häring zu erinnern. Er droht nämlich in Vergessenheit zu geraten, und das wäre schade. Dabei war der aus der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen stammende, 1998 verstorbene Geistliche einer der maßgeblichen Erneuerer der Theologie im 20. Jahrhundert, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern international. Für das Fach Moraltheologie bedeutete er zu seiner Zeit ähnlich viel wie zum Beispiel der Jesuitenpater Karl Rahner für die Fundamentaltheologie. Wie dieser gehörte auch Häring zu den bedeutendsten theologischen Beratern des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). Vor allem auf die Pastoralkonstitution des Konzils, das berühmte Dokument „Gaudium et spes“, hatte er großen Einfluss.
Theologische Erneuerung hieß für Häring, Rahner und viele andere nicht ein Neuerfinden von Gott und Kirche – wie denn auch? –, aber ein Neudenken und ein neues Erfahrbarmachen vor dem Hintergrund einer veränderten und stets weiter sich verändernden Welt. Mit dem Begriff „Aggiornamento“ (Verheutigung) hatte der Konzilspapst Johannes XXIII. die Überschrift zu diesen Bemühungen gegeben. Andererseits war die Erneuerung aber auch eine Reform im Sinne einer Rückführung der christlichen Theorie und Praxis aus manchen Deformierungen hin auf die ursprünglichen Inhalte und auf die wesenhafte Gestalt. Oder anders formuliert: Man versuchte die Quelle des theologischen Denkens und des kirchlichen Lebens wieder besser freizulegen, um aus ihr das kostbare Wasser für den Glauben und für das Leben schöpfen zu können. Häring ging es in diesem Sinne stets um eine Erneuerung aus dem Geiste Jesu Christi und dessen frohmachender Botschaft.
Die Zeit, an den vielfach vergessenen Moraltheologen zu erinnern, ist gegenwärtig günstig. Man kann geradezu von einem „Kairos“ sprechen, also einem rechten Zeitpunkt, der nicht ungenützt verstreichen darf. Warum? Zum einen, weil mit Papst Franziskus die kirchliche Großwetterlage doch deutlich anders geworden ist. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Häring, würde er heute noch leben, ein Theologe ganz im Sinne dieses Papstes wäre. Und umgekehrt: Franziskus ist ein Papst im Sinne von Bernhard Häring. Schon die Wahl eines Südamerikaners zum Petrusnachfolger und damit das endgültige Aufbrechen des kirchlichen Eurozentrismus hätten dem Moraltheologen Freude bereitet, mehr aber noch die Reformimpulse, die von diesem Papst ausgehen. Auch der neue Stil in der Ausübung des obersten kirchlichen Hirtenamtes hätte ihm zugesagt, unter anderem die von Herzen kommende Sprache des Papstes, seine unmittelbare, zugewandte Art der Begegnung und die persönliche Bescheidenheit ohne amtliche Allüren.
Häring forderte gerade in seinen späten Jahren umfassende kirchliche Reformen ein. Er beklagte, dass die Erneuerung des Konzils eine bloß halbherzige Umsetzung gefunden habe, und wünschte sich mehr Mut und Offenherzigkeit gerade auf der kirchlichen Leitungsebene, nicht zuletzt ganz an deren Spitze und von ihr aus. Die Hoffnung, welche er mit umfassenden Reformen verband, bestand darin, dass sich dadurch eine neue Dynamik für die Ausbreitung des Evangeliums entfaltet und dass die Kirche wieder besser ihrem Auftrag gerecht wird, bei den Menschen zu sein und ihnen Gottes Heil zu vermitteln – ganz so, wie dies auch Papst Franziskus immer wieder betont und vorlebt. Dass zwischen den beiden eine gemeinsame Wellenlänge besteht, zeigt nicht zuletzt der Begriff „Barmherzigkeit“, der zu einem besonderen Schlüsselwort des gegenwärtigen Pontifikates geworden ist, zugleich aber auch zu den wesentlichen Inhalten der Theologie Bernhard Härings gehört. Papst Franziskus hat es unter anderem zu seinem Anliegen gemacht, das Jahr 2016 als „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ zu feiern. Dies ist ein zweiter Grund dafür, warum gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Publikation über Häring erreicht ist.
Und drittens: In der kirchlichen Gegenwart stehen Ehe und Familie wieder einmal im Brennpunkt der theologischen und seelsorglichen Aufmerksamkeit, wofür ebenfalls Papst Franziskus durch die Einberufung einer außerordentlichen (2014) und einer ordentlichen Bischofssynode (2015) den Ausschlag gab. Häring beschäftigte sich als Moraltheologe gerade mit diesem Thema in intensiver Weise, unter anderem auch mit der Frage des kirchlichen Verhaltens gegenüber Geschieden-Wiederverheirateten. So ist es von Interesse, seine Lösungsansätze für dieses und manch anderes Problem im Bereich Ehe und Familie kennenzulernen.
Viele, die den berühmten Moraltheologen zu seinen Lebzeiten gekannt haben, erzählen bis heute von seinem gütigen, einfühlsamen Charakter und von seiner prophetischen Kraft. Er wird auch als ein sehr disziplinierter Mensch beschrieben. Häring war ein fleißiger Professor in Lehre und Wissenschaft. Sein Wirkungsradius umfasste durch ausgedehnte Vortragstätigkeit und in viele Sprachen übersetzte Publikationen die ganze Welt. Bei all seiner Berühmtheit blieb er aber persönlich anspruchslos und offen für den Kontakt mit einfachen Menschen. Als Angehöriger der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen war er tief verankert in der Spiritualität der Erlösung des heiligen Alfons von Liguori. Und er war zeit seines Lebens ein echter Seelsorger. Beeindruckt hat Bernhard Häring viele Menschen auch durch seinen tapferen Umgang mit seiner schweren Krebserkrankung. Dass er sich durch diese Krankheit wie auch durch ein gegen ihn geführtes Lehrverfahren bei der vatikanischen Glaubenskongregation nicht entmutigen ließ, gehört zu den großen Prägemerkmalen seiner letzten Lebensjahrzehnte. Das Titelbild des vorliegenden Buches zeigt den Moraltheologen etwa zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils, welches er selbst gerne als den Höhepunkt seines Lebens bezeichnete.
Leider hatte ich, der Autor dieses Buches, nicht mehr das Glück, Bernhard Häring persönlich zu kennen. Doch seit den Tagen meines Theologiestudiums in den 1990er-Jahren begegnete mir sein theologisches Werk immer wieder. Richtig zu interessieren begann ich mich für ihn, nachdem ich selbst in die Ordensgemeinschaft der Redemptoristen eingetreten war. Viele meiner Mitbrüder haben mir ausführlich über den berühmten Mann aus unseren Reihen erzählt. Nicht wenig davon ist in den Text eingeflossen, auch wenn ich selbstverständlich versucht habe, mir mein eigenes Bild zu machen.
Geschrieben ist dieses Buch nicht in erster Linie für Fachtheologen, wiewohl ich hoffe, dass es auch diese mit Gewinn lesen. Es widmet sich vielmehr einem breiten Kreis von Interessierten im Rahmen der Kirche und möglicherweise auch außerhalb. Es geht mir darum, verschiedene Impulse und Anregungen aus der Theologie Härings so zu beleuchten, dass sie für das kirchliche und christliche Leben der Gegenwart hilfreich werden. Dass dabei auch einzelne Themen vernachlässigt werden müssen, selbst wenn sie bei Häring breiten Raum eingenommen haben, liegt auf der Hand. Ich möchte keinen Gesamtüberblick über sein Denken und keine detaillierte Werkanalyse vorlegen, sondern Einblicke eröffnen. Es geht letztlich darum, den Menschen, Ordensmann, Priester und Theologen etwas näher kennenzulernen.
Herzlich möchte ich mich an dieser Stelle bei drei Personen bedanken. An erster Stelle bei Franz Wenhardt, dem Bibliothekar des „Häring-Klosters“ Gars am Inn, für die vielfach erfahrene Hilfsbereitschaft und dafür, dass er das wissenschaftliche Erbe Härings so umsichtig pflegt. In seiner Bibliothek umfasst die dem Moraltheologen gewidmete Abteilung mit verschiedenen Ausgaben, Auflagen und Übersetzungen über acht Laufmeter. Außerdem gilt es, Mag. Brunhilde Steger als Lektorin des Verlags Tyrolia zu danken. Sie ist eine kompetente, ermutigende, geduldige, aber auch kritische Gesprächspartnerin – für dieses Buch genauso wie für die ganze Schriftenreihe „Spiritualität und Seelsorge“, die ich zusammen mit P. Hans Schalk herausgebe. Auch diesem möchte ich für zahlreiche Anregungen danken. Als Häring-Schüler wusste er einiges zu erzählen.
Dieses Buch möchte ein kleiner Beitrag zum von Papst Franziskus ausgerufenen „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“, aber auch zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils sein.
P. Martin Leitgöb CSsR
Prag, am 4. Oktober 2015
(Fest des heiligen Franz von Assisi)