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Personal Identification Number

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Robert Schilling, Tontechniker

Während ich, eilig, wie meistens, auf dem Weg in den Verkaufsraum der Tankstelle meine Brieftasche herausfingere und nach der Geldkarte suche, weiß ich bereits, dass irgendetwas anders ist. Ein unbestimmtes Gefühl hat sich meiner bemächtigt, Scham vielleicht. Oder auch Trotz. Unwillkürlich bleibe ich vor dem Regal mit den Motorölen und anderem Autozubehör stehen, scheinbar interessiert, aber in Wirklichkeit versuche ich mich zu sammeln und zu begreifen, was mich durcheinander gebracht hat.

Eigentlich hätte mich die Entdeckung von eben völlig kalt lassen können, aber so ist es nun mal nicht, im Gegenteil: Es hat mich kalt erwischt.

Zumindest wird mir der Grund meiner Verwirrung langsam klar. Ich kann also endlich bezahlen gehen.

Die Kassiererin kennt mich bereits. Wir haben, so mit Blicken, schon oft geflirtet. Ich tanke hier meistens und auch gern, und sie lächelt mir wie immer äußerst herzlich zu: "Mit Karte?"

"Ja ja, kleinen Moment noch bitte..."

"Darf’s noch was sein?"

Heute fragt sie aber mit einem Unterton, der mir bisher so nicht aufgefallen ist.

Lieber schaue ich ihr nicht wieder in die Augen.

Und dann plötzlich durchfährt es mich, heiß und spitz: Ich weiß meine Geheimnummer nicht mehr. Ich kann gar nicht bezahlen. Bargeld habe ich keins, höchstens einen Fünfer und einige Münzen. Das wird Probleme geben. Ich werde meinen Ausweis dalassen müssen und 24 Stunden Zeit bekommen, um das Geld vorbeizubringen.

Verdammt, ich wusste es! Normaler Weise hätte ich mir die PIN beim Hereinkommen schon viermal innerlich vorgesagt und dazu gesungen. In dieser Art pflege ich, mir viele Nummern, Telefonnummern, PIN-Nummern und was nicht alles zu merken.

Heute aber habe ich vergessen zu singen und mir auch nichts vorgesagt. Ich war noch abgelenkt gewesen von dem blöden Vorfall vorhin am Waldsee. Und auch jetzt fällt mir die kleine Melodie aus vier Tönen nicht wieder ein. Mit 2 beginnt sie. Oder? Mit 3?

Dabei funktioniert mein System sonst immer, und es ist ganz einfach:

Jede Ziffer entspricht einem Ton auf der Durtonleiter, logischer Weise gemäß dem zugehörigen Intervall. Die 1 ist also der Grundton, die 5 die Quinte usw. Für die Null nehme ich einfach den Leitton unter dem Grundton. Jede Ziffernfolge ergibt eine kurze Melodie, und je schräger, desto leichter ist sie zu behalten.

Meine Eltern, meine Geschwister machten das schon so. Das habe ich zuhause so gelernt. Wir sangen damals alle unsere wichtigsten Telefonnummern. Ich fand das auch ganz normal für eine musikalische Familie.

Das mit den vielen Geheimzahlen und PINs kam ja erst später auf, aber unsere Methode ließ sich problemlos auch darauf anwenden. Bis heute jedenfalls.

Päckchen Kaffee, ein Mal Nudeln, Emmentaler Käse, was kann ich noch nehmen, um Zeit zu gewinnen? Sicher wird mir die Tonfolge gleich wieder einfallen. Bloß, bei den Preisen hier in der Tanke komme ich auch nicht richtig zum Denken. Die Zahl auf dem Preisschild der Spaghettipackung drängt sich dazwischen.

Also, Konzentration! 3-4-8-2. So ähnlich geht sie, aber eben nur so ähnlich.

"Erstmal zwei Bockwürste hätt’ ich noch gerne, und ein Brötchen."

Die Verkäuferin macht ein überraschtes Gesicht:

"Zwei Bockwürste? Oh, mal sehen, ob schon wieder welche warm sind."

Hastig öffnet sie beide Fächer.

"Dauert noch ein paar Minuten. Oder möchten Sie lieber was Anderes? Ein Sandwich vielleicht?"

"Nein, ist schon okay. Dann nehm ich halt noch`n Kaffee bis dahin."

Das ist alles kostbare Zeit zum Grübeln. Soll es also ruhig dauern.

"Mit Milch oder Zucker?"

Heute schwingt sie die Hüfte besonders weit. Ist sie gerade frei? Schon wieder lenkt sie mich ab! War es 3-4-8-9? Die 9 könnte auf alle Fälle am Ende stehen. Nur die Melodie dazu kommt mir völlig fremd vor.

"Schwarz wie meine Seele!" Das sollte eigentlich lustig klingen, aber mein Ton gerät eher sarkastisch.

"Schwarz wie Ihre Seele? Das glaub' ich Ihnen nicht!"

Hätte ich doch diese Bemerkung gelassen! Das ist ja wie ein Gesprächsanfang.

Sie reicht mir eine Tasse, der Kaffee kam aus der Thermoskanne.

"Ob ich vielleicht doch ein wenig Zucker... Meine Seele ist schwärzer."

"Echt?! Sie machen mich neugierig."

Auch das noch. Lieber ziehe ich mich zurück zum Stehtisch, hinten links in der Ecke. 3-8-4-9 ist auch möglich, das klingt jedenfalls ziemlich vertraut. Quatsch, jetzt fällt es mir ein: Das ist doch die PIN von meinem Mobiltelefon!

"Senf oder Ketchup?" Ach ja, die Bockwürste. "Mit Senf, bitte."

Sie bringt mir den Teller und blitzt mich an.

"Und was sagt der Senf über Ihre Seele? Lieber scharf als süß?"

Beim Servieren kommt sie ziemlich dicht heran und beugt sich extra weit vor, so dass ich unwillkürlich nach ihrem Bauchnabel Ausschau halte. Sonst sind mir Bauchnabel ja ziemlich gleichgültig, zumal nach meiner Erfahrung weibliche Bauchnabel nicht wesentlich weiblicher aussehen als männliche. Dafür aber glitzert es in ihrem Ausschnitt, vermutlich gepierct oder sowas. Ich frage mich bloß, wo, und sehe länger hinein als nötig.

Seidig braune Haare umspielen ihre Schultern, und neben dem Kaffeeduft nehme ich noch einen Hauch ihres Parfums wahr. Vermutlich heißt es Tropical oder irgendwas mit Maracuja.

Wenn mir doch nur einfiele, mit welchen Fingern ich immer das Lesegerät bedient habe. Verdammt noch mal, das ist mir noch nie passiert. Nur einen Moment Ruhe zum Nachdenken bräuchte ich, dann käme ich bestimmt bald wieder auf die Nummer. Um das Peinliche der Situation abzumildern, aber auch, weil ich den Drang verspüre, darüber zu sprechen, frage ich:

"Was würden Sie eigentlich tun, wenn Sie Ihre Chefin am Waldsee beim Knutschen mit einem Mann erwischt hätten?"

"Ups... " Meine Tankstellenverkäuferin macht ein Gesicht, als wäre ihr eine Plombe heraus gefallen.

"Und wenn dieser Mann eindeutig nicht ihr Ehemann gewesen wäre..."

Auf ihrem Namensschild steht tatsächlich Marita. Das sehe ich heute zum ersten Mal. Meine Chefin heißt dummer Weise genauso.

Marita schnappt sich bei dieser Gesprächswendung das leere Senfpäckchen und geht damit hinter den Tresen zum Mülleimer. Als sie zurück kommt, läuft Musik. So werde ich nie auf meine Geheimzahl kommen. 3-8-4-1 erscheint mir jetzt doch stimmiger.

Sie sieht mich nachdenklich an:

"So, wie Sie fragen, haben Sie es wohl erst kürzlich erlebt. Also... Meiner Chefin traue ich das nicht zu."

"Umso schlimmer, wenn's dann doch passiert!", brumme ich. Die Musik kommt mir höchst bekannt vor. Ich hätte allerdings nicht sagen können, woher, geschweige denn, wer da singt.

"Vielleicht würd' ich sie erpressen", flüstert Marita. "Eine Lohnstufe höher sollte schon drin sein.

Was hat sie denn für eine Position?"

Sie wartet meine Antwort nicht ab:

"Das ist übrigens Jack Blint, den Song kennen Sie doch?!"

Dieser Jack Blint, oder wie er heißt, singt gerade: "I've forgotten all I need". Das behauptet jedenfalls meine Erinnerung ans Schulenglisch. Passt ja auch irgendwie.

"Jack Blint? Noch nie gehört."

Das ist zwar nicht ganz richtig, denn die Melodie kommt mir schon bekannt vor, vielleicht aus dem Radio. Aber Namen anderer Sänger konnte ich mir nie merken.

Egal. Ich muss noch weiter darüber reden:

"Möchte wissen, wessen Seele hier schwärzer ist. Daran habe ich nämlich nicht gleich gedacht: Ich werde sie erpressen. Übrigens heißt sie auch Marita. Und sie ist, wo wir gerade dabei sind... Sängerin. Ich mach bei ihr die Tontechnik."

"Eine Sängerin? Ich platze gleich vor Neugier."

"Kann ich mir vorstellen, aber – den Namen sag ich jetzt lieber nicht."

"Und wie sieht sie aus?"

Ach herrje. Wieso fragte sie mich denn danach?

"Auf jeden Fall nicht so attraktiv wie Sie."

"Oh, danke schön." Marita wirft die Haare zurück. Dann kommt sie wieder näher, noch näher als vorhin. Soll ich etwa noch tiefer blicken? Steht dort womöglich meine Geheimzahl? Kommt eine 6 drin vor?

"Und der Kerl, kennen Sie den auch?"

Ich lausche kurz.

"Stay by me now". Das ist wohl der Refrain, so vertraut - ich muss ihn doch schon oft gehört haben. Ich hätte fast mitsingen können.

"Kennen ist zu viel gesagt. Ich habe ihn schon mal gesehen. Er muss irgendeine Funktion haben, vielleicht im Kreistag.

Da stehen die Beiden also und saugen aneinander rum. Eine Hand hat sie unter seinem Hemd, und mit der anderen Hand macht sie zwischendurch 'psst' zu mir und guckt so verschwörerisch, wie sollte ich da an was Anderes denken als: Erpressung?!

Nächsten Mittwoch gehen wir wieder auf Tour. Ich weiß gar nicht, wie ich ihr begegnen soll."

Marita prustet hinter vorgehaltener Hand.

"Ausgerechnet ein Politiker! Wo doch jeder weiß, dass die als Liebhaber nicht viel taugen, weil sie eh nie Zeit haben. Könnte man

den

nicht erpressen?"

Sie schwebt wieder hinter den Tresen und stellt den Cd-Player zurück. "Ich hab den Song eben gar nicht richtig gehört, ich spiel ihn noch mal."

Sie seufzt: "Dieses Lied ist einfach toll."

Auf dem Rückweg singt sie leise mit. "I've forgotten all I need. Extort me, annoy me..." Ihre Stimme klingt wie reife Ananas.

Dann sieht sie mich an:

"Ich hab in letzter Zeit auch alles vergessen, was ich brauche. Immer nur die Arbeit, Haushalt, Kinder... Ich fühl mich so ausgehungert. Und wie ist es mit dir?"

"Ich hab gerade meine Geheimzahl vergessen", rutscht mir jetzt raus. Zum Nachdenken komme ich hier sowieso nicht mehr, warum also nicht langsam mit der Wahrheit anfangen und eine Lösung suchen...

Marita lächelt zwar, aber sie hat bestimmt eine andere Antwort erwartet. Verlegen wischt sie den Nachbartisch ab. Dann singt sie richtig laut mit. Jetzt klingt sie so, wie sie duftet: Maracuja.

Können eigentlich alle Maritas singen?

“Stay by me now, stay by me now!” Ihre Augen glitzern.

"Ich dachte echt, du kennst den Song. Du hast ihn doch jedes Mal gesummt, wenn du reingekommen bist."

Ich stutze. "Was habe ich?" 'Stay by me now', ach ja, jetzt verstehe ich. Das ist meine Melodie für die Ziffernfolge: - 6-8-3-2-. Genau, so geht die Tonfolge, meine Geheimzahl! Klar, habe ich das gesummt.

"Du bist ein Schatz!", rufe ich. Gebe ihr spontan einen Kuss. Sie versteht bestimmt nichts, aber sie lächelt, wenn auch leicht verunsichert.

"Ich möcht zahlen", sage ich schnell, "Säule 3 und den Rest. Mit Karte."

Dann bleibe ich doch noch eine Weile. Und schließlich verabreden wir uns.

Noch heute lachen wir oft über diesen "Tag Eins" unserer Beziehung. Meine PIN habe ich seitdem nicht wieder vergessen, obwohl meine Chefin..., na ja, lassen wir das.

Generalprobe -Leben aus Musik-

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