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Auftakt Die Geschichte des „Letzte-Hilfe-Kurses“ – und meine eigene VOM SANITÄTER ZUM BESTATTER
ОглавлениеWas machen wir Lebenden mit dem Leichnam? Aber vor allem, was macht der Leichnam mit uns? Diese Fragen führten mich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema. Daraus entstanden der Letzte-Hilfe-Kurs und meine berufliche Selbstentfaltung als Thanatologe. Zutiefst dankbar stehe ich vor beiden Resultaten. Ich stelle mich an dieser Stelle so ausführlich bei Ihnen vor, damit Sie Einblick bekommen, woher die zahlreichen Beispiele, Erkenntnisse und Vermutungen stammen, die ich Ihnen anbieten werde. Alle Erfahrungen, die ich in den Letzte-Hilfe-Kurs eingearbeitet habe, entspringen der langjährigen Begleitung betroffener Angehöriger als Bestatter und als Mitarbeiter in der Krisenintervention, aus den zahlreichen Fortbildungsseminaren mit Pflege- und Einsatzkräften sowie der Supervision mit diesen, aus der intensiven Forschung auf dem Feld der Leichenberufe, aus der Arbeit mit trauernden Angehörigen in der Nachsorge beziehungsweise meinem immer noch aktuellen Angebot der Entlastungsgespräche.
Meine ersten Berührungspunkte mit dem Tod hatte ich schon in jungen Jahren: Ich absolvierte meinen Zivildienst bei einer Rettungsorganisation und blieb danach dort auch ehrenamtlich tätig. Mein Brot verdiente ich in diesen Jahren als Lkw- und Busfahrer. Mein ursprünglich erlernter Beruf war allerdings Kaminkehrer gewesen. In der Rettungsorganisation war ich ab Ende der 1990er-Jahre zusätzlich als Mitarbeiter der Krisenintervention im Einsatz. Die Krisenintervention ist ein Hilfsangebot für akut Betroffene nach dem Tod eines geliebten Angehörigen in den ersten Stunden. Schlagartig wurde ich mit voller Wucht mit dem Tod konfrontiert. Dabei stand ich vor folgender Herausforderung: Hier der Verstorbene, da die hilflosen Angehörigen. In einer solchen Situation diesen sichtbar werdenden, ohnmächtigen Schmerz mitansehen und halten beziehungsweise aushalten zu müssen, dabei zu spüren, dass man für die Betroffenen nichts tun, mit keinem Wort diesen unsäglichen Schmerz erträglicher machen kann, bedeutet auch für den nicht unmittelbar Betroffenen eine Erschütterung bis in seine eigenen existenziellen Untiefen. Der Tod als die bedingungsloseste, unwiederbringliche Form, verlassen zu werden, bringt uns das Ausgeliefertsein auch im eigenen Leben mit brachialer Gewalt zur Kenntnis.
Bei der Krisenintervention kommt man unweigerlich in Kontakt mit den Bestattern, die den Verstorbenen vom Ort des Geschehens abholen. Sie faszinierten mich und ich dachte mir: „Das ist auch ein Beruf, Leichen abholen? Was sind das für Menschen, die tagtäglich mit dieser Unmittelbarkeit des Todes konfrontiert werden? Was geschieht nun mit den Angehörigen in den nächsten Tagen? Was passiert vor allem mit dem Leichnam?“ Meine Neugierde war geweckt. Die führte dazu, dass ich kurzerhand einem Bestattungsinstitut einen Besuch abstattete und fragte: Wie wird man eigentlich Bestatter? „Na ja“, bekam ich zur Antwort, „man fängt einfach an.“ Es gäbe keine spezielle Ausbildung. Also fragte ich, ob ich anfangen könnte. Zu meinem Glück wurden gerade Bestatter gesucht.
Während dieser ersten Erfahrungen im Bestattungsgewerbe wurde mir klar, dass ich eine weitere berufliche Ausbildung machen wollte. Ich absolvierte berufsbegleitend die Studienberechtigungsprüfung und ging dann in eine andere Stadt, um dort Psychologie zu studieren. Nach den ersten Wochen war ich auf der Suche nach einem Nebenjob. Wie es der Zufall wollte, führte mein täglicher Weg zur Universität an der städtischen Bestattung vorbei. Und wie schon früher zog es mich direkt hinein und ich fragte nach dem Chef. Der sah aus, wie man sich klischeehaft einen Bestatter vorstellt: schmale Statur, Hakennase, buschige Augenbrauen, eine Brille wie eine Eule, schwarzer Anzug. Ich bot mich als Aushilfskraft an und erhielt eine Abfuhr: „Wir haben unsere Leute, Aushilfskräfte haben wir noch nie gebraucht“, teilte mir der Uhu mit. Aber er notierte sich dann doch meine Daten. 14 Tage später klingelte mein Telefon und ich war engagiert. Daraus wurde ein richtiger Job, ich arbeitete hauptberuflich als Bestatter und studierte nebenbei. Zehn Jahre lang. Verstorbene abholen, wo immer sie auch versterben: auf der Straße, im Altersheim, zu Hause, im Krankenhaus. Dann die Tätigkeit mit den Hinterbliebenen – „den Trauerfall aufnehmen“, wie man in der Branche sagt. Mit den Angehörigen alles rund um den Trauerfall organisieren, wann und welche Bestattungsform, welcher Sarg und so weiter. Und die Bestattung selbst.
Es ergab sich, dass ich in ein modernes Bestattungsunternehmen wechselte, dessen Chef sehr engagiert war. Es war ihm ein Anliegen, dass wir die Hinterbliebenen über die üblichen Angebote hinaus bestens betreuen. Er ließ mir alle Freiheiten und meinte: „Mit deinen Erfahrungen im Rettungsdienst, in der Krisenintervention und in der Psychologie kannst du alles tun, was du für richtig hältst.“ Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Das Erste, wo ich mir sofort dachte, da müsste man etwas ändern, waren die sogenannten Haussterbefälle – also, wenn jemand daheim verstirbt. Meist verständigt dann ein Angehöriger den Bestatter. Dieser nimmt zwar den Anruf entgegen, fährt aber nicht sofort hin, sondern verständigt zuerst den Totenbeschauer. Denn ohne Totenbeschau dürfen die Bestatter den Verstorbenen nicht abholen. 1
In der Praxis lief es so ab, dass der Totenbeschauarzt uns die Uhrzeit nannte, wann er vor Ort sein werde, und wir dann ebenfalls um diese Zeit am Einsatzort waren. Sehr oft kam es aber vor, dass wir vor dem Totenbeschauarzt eintrafen, und dabei bot sich uns immer wieder folgendes Bild: Der Verstorbene lag im Schlafzimmer und seine Witwe saß alleine in der Küche und wartete, bis endlich Totenbeschauarzt oder Bestatter eintrafen. Dieser Zeitraum konnte zwei oder sogar mehr Stunden betragen. Da sagte ich mir: „Dass Menschen in den ersten Stunden nach Todeseintritt eines Angehörigen völlig alleine zu Hause sitzen, geht nicht, das muss uns Bestatter etwas angehen.“ In der Folge rief ich immer, wenn wir über einen Haussterbefall informiert wurden, gleich zurück und sagte: „Wir haben den Totenbeschauer verständigt, der kommt erst in frühestens zwei Stunden und wir auch, aber wenn Sie wollen, kann ich sofort vorbeikommen.“ Das wurde gerade von den Angehörigen, die in dieser Akutsituation alleine zu Hause waren, sehr gerne in Anspruch genommen.
Ein weiteres Angebot, das ich ins Leben rief, war ein persönlicher Brief etwa einen Monat nach der Bestattung. Darin stand, wie es den Betroffenen einen Monat nach dem Todesfall eines geliebten Menschen möglicherweise gehen kann und in dem ich die Möglichkeit eines Entlastungsgesprächs anbot. Viele Angehörige möchten sich „ausweinen“ können, ohne dass jemand aus dem Umfeld (aus Hilflosigkeit der Trauer gegenüber) ihren Schmerz negiert oder relativiert. Mein Angebot sollte den Betroffenen die Möglichkeit geben, über ihren Schmerz des Verlustes zu sprechen oder wortlos darüber zu weinen. Dies eben ohne Worte des „Trostes“, die meistens darauf abzielen, den Schmerzausdruck anzuhalten. Merkte ich bei diesen Entlastungsgesprächen, dass es um „mehr“ geht, für die Hinterbliebenen eine längere Begleitung durch Trauerexperten sinnvoll wäre, konnte ich auf ein gutes Netzwerk von Priestern, Psychotherapeuten und Hospizbegleiterinnen zurückgreifen. In solchen Fällen legte ich den Betroffenen nahe, sich mit einem dieser Experten in Verbindung zu setzen, oder ich stellte für sie den Kontakt her.