Читать книгу Lebe Deinen Traum - Sonja Becker, Martin Sage - Страница 5
ICH ÜBER MICH
ОглавлениеGlückliche Anfänge
Meine frühe Kindheit verbrachte ich auf der Farm meiner Großeltern im Staat New York. Meine Großfamilie lebte in der näheren Umgebung. Wir melkten unsere Kühe von Hand. Mein Großvater gab sich bärbeißig und schroff, war aber im Kern liebevoll und freundlich. Seine Ahnen stammten aus Wales. Er brachte mir bei, wie man einen gezielten Strahl aus dem Euter einer Kuh auf die Katzen richten konnte, die sich sofort aufrecht hinsetzten und die warme Milch direkt aus der Luft tranken. Im Garten hatten wir ein Plumpsklo.
Ich wurde 1951 geboren – nur wenige Jahre nachdem mein Großvater sein Maultier und seinen alten eisernen Pflug gegen einen kleinen Ford-Traktor ausgetauscht hatte. Er war froh, das Tier los zu sein. Denn es war niemals gesund. Damit es urinieren konnte, musste mein Großvater Wasser von einem großen Holztrog in einen anderen gießen – so lange, bis der Klang des fließenden Wassers die Anspannung des Maultieres so weit löste, dass es seine Blase entleeren konnte. Als mein Großvater aufwuchs, waren Pferde nur etwas für die Reichen. Doch er lebte lange genug, um in einem Großraumjet zu fliegen und die Mondlandung des Menschen im Fernsehen zu sehen.
Unser einfaches Leben erfüllte mich mit Seligkeit. Stundenlang wanderte ich allein über die Felder, stellte mir eine magische Welt mit mystischen Begleitern und voller wunderbarer Abenteuer vor. Jeder Baum verströmte die Aura eines einzigartigen Seins. Die Natur erschien mir erfüllt zu sein mit Bewusstsein, und es war mir, als ob ich ein Summen vernähme, so als wolle sie mir etwas mitteilen, als ob sie mit mir direkt verbunden wäre. Sobald ich die Sprache der Menschen verstehen konnte, wurde ich zutiefst neugierig auf die geheimnisvollen Verbindungen zwischen ihnen. Die Männer arbeiteten draußen in der Scheune oder auf dem Feld. Die Frauen im Haupthaus und Garten. Sie pflanzten Obst und Gemüse, ernteten es und weckten es ein. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen der Welt der Männer und jener der Frauen. Während die Männer über ihre Arbeit redeten, sprachen die Frauen ausführlich über andere Leute, über deren Familien, die Charaktere jedes Einzelnen. Beide Welten faszinierten mich. Noch bevor ich irgendetwas über mich selbst wusste oder was einmal aus mir werden sollte, erkannte ich, dass ich es über alles liebte, die faszinierende Welt der Menschen zu beobachten. Diese frühe Neugier, die menschliche Natur zu erforschen, sollte mein Leben bestimmen und die Grundlage für meine spätere Karriere werden.
Eine Saat, die meine geliebte Großmutter in mir aufkeimen ließ. Eine weise Frau von tiefer Lebensklugheit und großer Toleranz, die mich sehr geprägt hat. Sie war dänisch-deutscher Abstammung und redete gern in Sprichwörtern. „Je mehr du dich beeilst, desto langsamer wirst du“, pflegte sie etwa zu sagen, wenn ihr die Aufgaben des Haushaltes über den Kopf zu wachsen drohten. Allein die Wäsche zu besorgen nahm zwei Tage in Anspruch. Außerdem liebte sie es, zu lesen. Das Haus war voller faszinierender Bücher. Friedvolle Stille breitete sich aus, während sie sich in ihre Lektüre vertiefte. Meine Mutter stammte also zwar aus einer Familie armer Farmer, wuchs aber mit viel Liebe und in Sicherheit auf. Ihr saß der Schalk im Nacken, und sie war vernarrt in Abenteuer. Mit 18 verliebte sie sich in einen Seemann. Seine fesche weiße Uniform und seine strahlenden Augen beflügelten ihre Phantasie. Doch nach der Hochzeit musste sie feststellen, dass er ein ernsthaftes Alkoholproblem hatte. Bis heute kann ich mich nicht an sein Gesicht erinnern. Nur an seine vage Anwesenheit, wenn er vor seiner Flasche saß. Sein natürlicher Charme verlor sich dabei mehr und mehr in dumpfem Brüten. Er vertrank sein gesamtes Einkommen und blieb die meiste Zeit von zu Hause weg.
Eines Tages fand ich meine Mutter in entsetzlicher Wut vor. Sie kniete vor unserem alten Ben-Franklin-Holzofen, den wir zum Kochen benutzten, und verbrannte Vaters Kleider darin. Auch das wunderschöne Modellsegelboot, das er gebaut hatte, fiel dem Fraß der Flammen zum Opfer. Mein Vater hatte uns verlassen. Meine Familie war zerbrochen. Und was noch viel schlimmer war: Wir verließen meine geliebte Farm, das Zauberreich meiner Kindheit. Meine Mutter zog mit mir, meinem jüngeren Bruder und meiner neugeborenen Schwester in die Stadt.
Die andere Seite des Lebens
Das Leben in der Stadt war vollkommen anders. Obwohl Elmira im Staat New York nur eine Kleinstadt war, kam sie mir riesig, steril und feindlich vor. Die Menschen blieben in ihren Häusern. Man grüßte sich nicht. Doch der Verlust unserer Verbindung mit der Natur und die eisige Anonymität waren bei Weitem noch nicht das Schlimmste: Meine Mutter hatte Existenz bedrohende materielle Kämpfe auszustehen. Sie arbeitete in einer Fabrik. Ihr Job war schwierig und langweilig. Außerdem war ihr Chef hinter ihr her. Nach einem langen Arbeitstag kam sie nach Hause und weinte. Ich war ihr einziger Vertrauter. Ein Freund erzählte ihr von der Sozialhilfe. Ihre Berechnungen ergaben, dass sie damit nur wenige Dollar pro Monat verlor. Sie gab nach. Doch Sozialhilfe anzunehmen brach ihr das Rückgrat. Ihr Feuer erlosch. Und sie hörte auf zu kämpfen.
Nach ein paar Monaten heiratete sie wieder. Mein Stiefvater trank zu viel. Das machte ihn gewalttätig. Er schlug meine Mutter und auch uns Kinder. Eine Serie trostloser Umzüge in immer schäbigere Viertel folgte. Obendrein bedrohten uns ständig gefährliche Straßengangs. Zuerst zog ich mich immer mehr in mich selbst zurück und fand meinen einzigen Trost in Büchern. Doch dann schloss ich Freundschaft mit den bösen Jungs aus der Nachbarschaft. Sie waren schließlich die einzigen, die mir zeigen konnten, wie man überlebte. Wir benahmen uns wie starke, unbezwingbare Helden, die nichts umwerfen konnte. Im Inneren aber waren wir nur verängstigte Kinder. Viele meiner damaligen Freunde waren aus Heimen entlaufen, viele kamen um oder endeten im Gefängnis.
Wer die Armut verherrlicht, hat sie nicht selbst erlebt. Auf der Farm meiner Großeltern waren wir zwar auch arm gewesen. Aber an Essen hat es uns nie gefehlt. Jetzt lebten wir von der Stütze. Und das Geld war nach wenigen Tagen verbraucht. Ich lernte, was es heißt, Hunger zu leiden. Meine Mutter wurde depressiv. Oft blieb sie morgens einfach im Bett liegen, unfähig, es mit ihrem gegenwärtigen Leben aufzunehmen. Meine Eltern fochten immer erbittertere Kämpfe. Und ich gewann zunehmend das Gefühl, dass irgendetwas furchtbar falsch gelaufen war. Angst wurde mein ständiger Begleiter. Ich litt unter Magenschmerzen und saß nachts allein auf meiner Bettkante mit dem Gefühl eines tobenden Messers im Bauch. Mein Leben war außer Kontrolle geraten. Ich fürchtete, verrückt zu werden. Als ich in meine private Hölle hinabstieg, erschien es mir gleichzeitig wichtig, mich normal zu verhalten, um meinen wahren inneren Terror zu verbergen. Dabei ist meine Geschichte in keiner Weise einzigartig. Gut, es mag Millionen von Kindern geben, die dies nicht erleben mussten. Andererseits gibt es noch mehr Millionen von Kindern, die an Hunger sterben oder in Kriegsgebieten leben. Trotz unserer harten Lage fühlte ich mich damals wie jemand, der irgendwie noch glücklich davon gekommen war. Ich hatte meine Bücher. Sie gaben mir immerhin eine Perspektive. Unzähligen Menschen ging es noch weitaus schlechter als mir. Diese Zeit war hart. Aber tief in mir trug ich das Gefühl, dass das Schicksal mich für etwas Gutes ausersehen hatte. Ein Teil von mir glaubte fest daran, dass all diese Erfahrungen mir geschickt wurden, um ein stärkerer, kraftvollerer Mensch zu werden.
Meine tiefste Demütigung jener Tage war meine Freundschaft mit einem Klassenkameraden aus einem besseren Stadtviertel. Ich wollte so sehr zu seiner Welt gehören, die mir als Ausdruck von Ordnung und Normalität erschien. Seine Freunde hassten mich, aber er gehörte zu jenen wunderbaren Menschen, die andere nicht nach ihren Lebensumständen beurteilen.
Doch eines Tages fand ich in der Bibliothek eine Zeitung, auf deren Titelseite ein Leitartikel prangte, der die schrecklichen Slumbedingungen unseres Viertel beschrieb; die völlig unzureichenden sanitären Bedingungen und Fälle von Hepatitis, die bald die ganze Stadt bedrohen würden. Der Verfasser behauptete, wir lebten in Dreck und Verwahrlosung. Das Titelfoto zeigte ein völlig heruntergekommenes Haus mit einem liegengebliebenen, uralten Autowrack davor. Es war unser Haus. Es war unser Auto. Wir waren bereits damals Ausgestoßene. Doch jetzt sollte alles noch schlimmer kommen. Ich zog mich von meinem Freund zurück und mied ihn aus Scham. Ich fühlte mich so schrecklich, dass ich verschwinden, mich in Luft auflösen wollte. Dabei hatte ich gerade erst mein 14. Lebensjahr erreicht. Und mich zu einem harten kleinen, halb kriminellen Kerl entwickelt, der einen undurchdringlichen Panzer trug.
Im Schutzraum der Kirche
Dann geschah etwas Außerordentliches. Meine Mutter, der ständigen Schläge und Bedrohungen meines Stiefvaters müde, besuchte mit uns Kindern meinen Onkel. Er war der einzige Mensch, der sich nicht vor meinem Stiefvater fürchtete. Und auch auf meine mühsam aufgebaute Fassade des starken Jungen fiel er nicht herein. „Es wird immer irgendjemanden geben, der stärker ist als du. Lern auf dich selbst aufzupassen, aber begib dich nicht unnötig in Schwierigkeiten“, sagte er unbeeindruckt. Um mir dann einen sonntäglichen Kirchgang in seiner Baptistengemeinde vorzuschlagen. Eine Idee, die mir völlig blödsinnig vorkam. Aber ein Nein war nicht erlaubt. Während des Gottesdiensts spürte ich, wie plötzlich tief in mir etwas erwachte, das sich gut und sicher anfühlte. Das Gefühl wurde zur Gewissheit: Dies war der Ort, an den ich gehörte. Nach der Messe ging ich deshalb zum Pfarrer: „Ich möchte werden, was Sie sind. Ich habe keine andere Wahl.“
Er nahm mich ernst und übergab mir eine Klasse seiner Sonntagsschule, in der ich kleinen Jungen die Heilige Schrift lehren sollte. Bis dahin hatte ich noch kein einziges Wort der Bibel gelesen. Doch mein neu erwachter Glaube entflammte meine Vorstellungskraft und vermittelte mir das Gefühl, dass das Leben eine Bedeutung haben könnte.
Die folgende Zeit war wunderbar: Ich folgte dem Strom der Liebe dieser kleinen Gemeinde und widmete mein Leben meiner Liebe und dem Dienst an Gott. Erst viel später begriff ich, dass Gott Liebe ist und dass ich als Halbwüchsiger damit begonnen hatte, das Göttliche in jedem einzelnen Menschen zu erkennen. Wenn ich die Menschen durch die Augen von Christus betrachtete, verwandelte sich die Welt von einem Furcht erregenden Ort in einen Hort, den ich lieben und dem ich dienen konnte. Die Diakone wurden meine Ersatzväter, und die Religion besänftigte meine Seele. Sie brachte Ordnung in mein Leben und gab mir meine längst vergessene Freude zurück. Ich hatte eine neue Familie, in der ich nichts falsch machen konnte. Die Liebe Gottes verzieh alles. Und als Antwort darauf verströmte ich meine Liebe. Mit 18, im Herbst 1969, verließ ich meine kleine dörfliche Kirchenfamilie, um ins Priesterseminar zu gehen. Doch dort sollte ich eine herbe Enttäuschung erleben: Ich begegnete zum ersten Mal Christen, die politisch eingefärbt waren. Die Botschaft der Liebe wurde ersetzt durch eine Botschaft der Furcht, der Sünde und der Schuld. Mit diesem Druck versprachen sich die Priester einen größeren Einfluss auf ihre Gemeinden und eine höhere Opferbereitschaft ihrer Mitglieder. Ich fühlte mich getäuscht. Einsamkeit wurde zu meinem bestimmenden Lebensgefühl. Das Zölibat allein war schon schlimm genug. Der Verzicht schürte nur die Flammen des Begehrens. Insgeheim fürchtete ich, dass ich nicht lange genug leben würde um in den Armen einer Frau liegen zu können. Mit 21 begann ich schließlich um eine Frau zu werben. Ihr Name war Elizabeth. Wir heirateten und zogen in ein winziges Apartment.
Im Fegefeuer zwischen Wissenschaft und Religion
Ich begann zusätzlich Psychologie zu studieren. Doch schon bald sollten Wissenschaft und Theologie in meinem Geist einen erbitterten Krieg ausfechten. Schließlich hatte ich es satt, die Theorie der Evolution zu ignorieren, nur weil sie theologischen Glaubenssätzen widersprach. Religion und Wissenschaft schienen sich gegenseitig auszuschließen. Ich suchte nach der Freiheit neuer Perspektiven. Also stellte ich meine theologischen Seminare zurück, um das Leben aus einer stärker humanistischen Sichtweise zu betrachten. Diese Entscheidung war nicht leicht. Es bedurfte einer langen Zeit der Seelenerforschung, bevor ich wagte, meine eigene Sichtweise herauszufinden. Aber diese bewusste Wahl wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Es war nicht länger mein Traum, Priester zu werden. Nun begann ich darüber nachzudenken, was aus dem Rest meines Lebens werden sollte.
Die Würfel fürs Erste gefallen
Ich blieb bei der Psychologie. In ihr sah ich eine Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen und gleichzeitig meine eigene schwierige Vergangenheit aufzuarbeiten. Zudem lernte ich nach und nach, die Polarität zwischen Wissenschaft und Religion in mein Denken zu integrieren und von dem Paradox zweier sich widersprechender Glaubenssysteme zu profitieren.
1973 machte ich meinen B.A. im Fach Psychologie und schrieb mich für ein Magisterstudium an der Middle Tennessee State University ein. Ich liebte Freud, C.G. Jung und Adler. Doch die Arbeit von Abraham Maslow faszinierte mich am meisten. Als ich seine Darstellung über das selbst verwirklichte Individuum las, wusste ich, dass ich die Mission meines Lebens gefunden hatte. Der Begriff Selbstverwirklichung bezeichnet den Wunsch des Menschen, zu einem Wesen heranzureifen, das all seine Potenziale verwirklicht. Genau das wollte ich. Ich schwor mir, zu wachsen. All das zu werden, was ich sein könnte. Und nahm ein Doktorat an der University of Southern Mississippi auf.
Zu jenem Zeitpunkt entwickelten sich Elizabeth und ich bereits in verschiedene Richtungen. Dennoch zogen wir gemeinsam nach Hattisburg. Um mein Studium zu finanzieren, verrichtete ich die verschiedensten Jobs. Auf diese Weise lernte ich die Welt der Arbeiter kennen. Wir wurden meistens wie Dreck behandelt. Dennoch klammerten wir uns alle an unsere meist stupiden Verrichtungen und fürchteten nichts mehr, als unsere Jobs zu verlieren. Zu meinem Schrecken wurde mir bewusst, dass meine Kollegen so den Rest ihres Lebens verbringen würden.
In der Höhle
Ich war so beschäftigt mit meiner Doppelbelastung aus Studium und Geldverdienen, dass ich nicht bemerkte, wie es um mich stand. Stress war zu meinem ständigen Begleiter geworden, ich fühlte mich dauernd erschöpft. Während ich meinen Geist mit immer mehr Wissen befrachtete, hatte ich meine Neugier verloren. Auch von der Natur, die in meiner Kindheit eine so wichtige Rolle gespielt hatte, fühlte ich mich gänzlich abgeschnitten. Der Druck wuchs ständig, und meine Dauererschöpfung wandelte sich in Verdruss. Ich verlor den Glauben an mich selbst und an das Gute im Leben. Dabei hielt ich mich immer noch für einen Menschen, der von Liebe und Freude erfüllt war. Doch das akademische Denken und Erklären hatte meinem Leben jede Bedeutung und Wärme geraubt. Mein Selbstwertgefühl schwand und mit ihm all die Werte, an die ich bis dahin geglaubt hatte. Es war an der Zeit, eigenständig zu denken und meine eigene Ethik zu entwickeln. Doch darin sollte ich kläglich scheitern.
Elizabeth und ich hatten uns inzwischen so weit auseinander gelebt, dass sie mich um ihre Freiheit bat. Wir gingen als gute Freunde auseinander. Trotzdem beschleunigte unsere Trennung meinen psychischen Abstieg in eine dunkle Höhle. Tiefe Traurigkeit überkam mich. Melancholie und Depression folgten. Angst durchtränkte alle meine Poren. Doch je mehr ich gegen sie anzukämpfen versuchte, desto dumpfer fühlte ich mich. Meine Sinne stumpften immer mehr ab. Gleichzeitig beobachtete ich meinen Abstieg wie ein Insektenforscher. In meinen dunkelsten Momenten machte ich Aufzeichnungen, suchte meinen Pfad hinab auf den Grund der Höhle, die immer mehr zu meiner Hölle werden sollte, nachzuzeichnen, beschrieb meinen Weg durch die immer düsterer werdenden Reiche von Angst zu Furcht, von Müdigkeit zu Verdruss, von Traurigkeit zu Anspannung, von Melancholie bis zuletzt in die Depression. Ich versuchte eine Landkarte anzufertigen, die es mir und später auch anderen Menschen ermöglichen sollte, den Aufstieg aus den Reichen der Dunkelheit hin zum Licht zu finden. Ich wollte meine Lebendigkeit wiederfinden. Was sollte nur aus dem Rest meines Lebens werden?
Die wirkliche Welt
In dieser Verfassung begann ich 1975 als Psychotherapeut an einer psychiatrischen Klinik in Beaumont, Texas, zu arbeiten. Beaumont war zwar nicht gerade das Ende der Welt, doch man konnte es von dort aus sehen. Die Stadt lag in einer topfebenen Landschaft, die mit zahllosen Ölraffinerien und rauchenden Fabrikschloten gesprenkelt und von einer ewigen Dunstglocke überwölbt war. Das Grundwasser schmeckte nach Petroleum. Der größte Teil meiner Arbeit drehte sich um zerbrochene Familien. Der Schmerz meiner Klienten schien meinen eigenen Schmerz widerzuspiegeln. In Windeseile stieg ich in die Mittelklasse auf, zu der ich während meiner ganzen Kindheit so sehnlich gehören wollte. Nur um durch einen Nebel von Langeweile und Verzweiflung zu erkennen, dass es erfolgreichen Menschen genauso miserabel ging wie den Armen. Die Neugier, die ich als Kind so intensiv gefühlt hatte, schien in der Welt der Erwachsenen nicht zu existieren. Leben hieß Leiden, war ein monochromes Gemälde in öden Grauschattierungen, nur hie und da durchsetzt von flüchtigen Farbspritzern aus bescheidenen Freuden. Und die Stabilität, die ich mir so dringend gewünscht hatte, erstickte meine Lebendigkeit. Schon bald erkannte ich die Grenzen eines festen Einkommens. Und in meinem Haus am Stadtrand fühlte ich mich wie in einem Gefängnis. Wieder einmal fragte ich mich, was aus dem Rest meines Lebens werden würde.
Der Riss in meinem Weltbild
In dem transpersonalen Psychiater Dr. Harry Hermon fand ich einen Mentor, der mir den Weg aus der Höhle weisen sollte. Dr. Hermon war russischer Jude. Das ganze Klinikkollegium hielt ihn für verrückt und unterstellte ihm, mit Gehirnwäsche zu arbeiten. Ärgerlich war nur, dass seine Patienten überraschend schnell geheilt wurden, während wir anderen kaum nennbare Erfolge erzielten. Über ihn kursierten die unmöglichsten Gerüchte. Dass er sexuelle Orgien feierte und eine seiner Geliebten mit dem berühmten Gestalttherapeuten Fritz Perls teilte. Physisch erinnerte er mich an Pan, den phallischen Gott der griechischen Mythologie. Selbstverständlich verabscheute ich ihn auch.
Doch er schien sein besonderes Vergnügen gerade darin zu finden, ausgerechnet mich unentwegt zu demütigen. Über meine klinischen Diagnosen lachte er einfach lauthals. Er brachte mich immer mehr in Rage, bis ich ihn vor dem versammelten Kollegium, das ganz auf meiner Seite stand, fertig zu machen versuchte. Doch je mehr ich mich in meine Wut und meinen Hass steigerte, desto heiterer wurde er. Was mich zur Weißglut brachte.
Dann geschah etwas Seltsames: Vor meinem Augen begann sich das Gesicht Dr. Hermons zu verwandeln. In seinen Zügen, die mir bis dahin Zynismus, Sarkasmus und Verantwortungslosigkeit zu spiegeln schienen, sah ich nun Unschuld, kindliche Neugier, Freude, Leidenschaft und Weisheit. Ich war völlig verwirrt und fühlte mich schrecklich, diesem Mann so sehr Unrecht getan zu haben. Doch er zeigte sich großzügig: „Bevor Sie ihr Spiegelbild in einem See erkennen können, müssen Sie erst einmal die Wogen glätten.“ Seine Worte trafen mich ins Mark: Ich hatte meinen Schatten, meine eigenen schlechten Eigenschaften, auf ihn übertragen.
Ich konnte mir nicht länger etwas vormachen. Die Geschichte, die ich mir bisher über mich selbst erzählt hatte, war faul: Ich war in keiner Weise der nette Typ, für den ich mich immer gehalten hatte. Schlagartig erkannte ich, dass ich mein bisheriges Leben lang nur versucht hatte, anderen Menschen zu gefallen und es ihnen recht zu machen. Die Rollen, die ich auf der Bühne des Lebens spielte, hatten nichts mit meinem innersten Wesen zu tun. Selbstverständlich war ich auch kein Psychotherapeut. Wie ich in diesen Beruf gelangt war, wurde mir völlig unbegreiflich. Dr. Hermon hatte mir meine soziale Maske heruntergerissen. Und mir gleichzeitig einen Spalt geöffnet, durch den ich auf mein innerstes Wesen, auf meine Essenz, blicken konnte. Dr. Hermon regte mich dazu an, ich selbst zu sein – gleichgültig, was dabei herauskommen würde. Und ich musste akzeptieren, dass ich mich von nun an in eine unerwartete Richtung entwickeln würde. In eine Realität, die nicht durch meine biografische Vergangenheit bestimmt sein würde.
Ich gab meine Promotion auf. Sie war mir plötzlich nicht mehr wichtig. Stattdessen begann ich, mich mehr und mehr für das Feld der unbegrenzten Möglichkeiten menschlicher Entwicklungsfähigkeit zu interessieren. Ich wurde Dr. Hermons Schüler. In ihm war ich dem ersten Menschen begegnet, der die Theorie der humanistischen Psychologie Abraham Maslows im Vollsinn verkörperte. Dr. Hermon war genau jener selbstverwirklichte Mensch, den Maslow in seinem Werk beschrieb: Er war lebendiger und verfügte über eine höhere Wahrnehmung als ein Durchschnittsmensch. Dennoch war auch er nicht frei von Fehlern, die wir alle machen.
Doch selbst verwirklichte Menschen schaffen es oft, zu Meilensteinen in der Geschichte der Menschheit zu werden. Wie Picasso oder Einstein. Davon hatte ich immer geträumt. Sollte aus dem Rest meines Lebens doch noch etwas werden?
Zu Gast in alternativen Wirklichkeiten
Durch Dr. Hermon lernte ich meinen zweiten Mentor kennen. „Mein Name ist Martin Brofman. Ich bin Heiler“, stellte er sich vor. Da er mir auf Anhieb sehr sympathisch war, versuchte ich, meine Skepsis zu verbergen. Heiler passten nicht in mein Weltbild. Ich konnte in ihnen nichts anderes sehen als Scharlatane aus dem finstersten Mittelalter. Dann rief mich eine langjährige Freundin an. Ihr Sohn war eines Mittags aus der Schule gekommen, hatte ihr mit einem Revolver in den Rücken geschossen und dabei die Wirbelsäule getroffen. Jetzt lag sie in einem Krankenhaus in Texas und war querschnittsgelähmt. Die Ärzte sagten, dass sie nie wieder werde laufen können. Martin sagte schlicht: „Lass uns sie heilen gehen.“ Es war mitten in der Nacht, und er feierte gerade eine seiner ziemlich hedonistischen Partys. Also nahmen wir einige der Girls einfach mit.
Als wir nach Mitternacht im Krankenhaus ankamen, nahm niemand auch nur die geringste Notiz von uns. Und meine Freundin war wach. Sie saß zusammengekrümmt in ihrem Rollstuhl. „Was stört Sie an Ihrem gegenwärtigen Zustand am meisten?“, fragte Martin. Ihre Antwort verblüffte mich: „Ich habe wirklich große Schmerzen. Aber ich bin eine Frau. Und die jungen Ärzte hier sind ziemlich attraktiv. Es macht mich völlig fertig, dass ich mir nicht einmal das Haar aus meinem Gesicht streichen kann.“ Martin fragte zurück: „Und wenn Sie Ihr Haar berühren könnten – könnten Sie dann anfangen, Ihrem Sohn zu vergeben?“ Meine Freundin began herzzerreißend zu weinen. Dann nickte sie. Martin berührte verschiedene Punkte ihrer Wirbelsäule. Dabei schien er in tiefste Meditation zu versinken. Schließlich fragte er sie, ob sie eine Veränderung spüre. Sie lehnte sich zurück, hob ihre Arme, berührte ihr Haar und begann hemmungslos zu schluchzen. Ein paar Wochen später verließ sie das Krankenhaus. Mit einem Gehwägelchen. Sie machte eine Ausbildung als Krankenschwester. Heute läuft sie wieder völlig normal und dient anderen schwer verletzten Menschen.
Martin hatte auch sich selbst vom Krebs geheilt. Er sollte auch meinen Stiefvater vom Lungenkrebs und mich von einem Augenleiden heilen, das mich mit fortschreitender Blindheit bedrohte. Er lehrte mich, dass Materie Energie sei und Krankheit eine Blockade im Energiefluss. Und er öffnete meinen Blick auf andere Realitäten: Ich lernte zu begreifen, dass meine Version der Realität nur eine von vielen möglichen Realitäten war. In meiner kleinen Realität mochte ich mit meinen Ansichten durchaus nicht ganz falsch liegen. In einer anderen aber würde mein Verstand mit dem ganzen Unrat seiner Vorurteile wirkliche Ereignisse schaffen. Wie ein Träumer, der seinen Traum träumt. Martin Brofman hatte meine verlorene Neugier geweckt. Jetzt wollte ich durch diese geöffnete Tür schreiten. Koste es, was es wolle. Ich war bereit, die Zone der Angst und Wut zu passieren, um zum Abenteuer meines selbstbestimmten Lebens zu finden. Um den Rest meines Lebens ganz bewusst selbst zu gestalten.
Das Ende der Gewissheit
Ich kündigte meine Therapeutenstelle an der Klinik. Und kreierte meine erste eigenständige Arbeit: ein Seminar über Selbstverwirklichung auf der Basis des Werks von Abraham Maslow. „Leben Sie das Leben Ihrer Träume. Nehmen Sie alle Risiken in Kauf, die Ihr Leben zu einer einzigartigen Herausforderung machen“ war das erklärte Programm. Ich hatte damit sofort Erfolg. Die Klienten berichteten mir, wie sehr sich ihr Leben zum Positiven hin wandelte.
Doch es ist eine Sache, einen Workshop aufzubauen. Eine ganz andere ist es, davon zu leben. Da ich keine Ahnung von Organisation und Marketing hatte, ging mir ziemlich schnell das Geld aus. Ich musste mein Haus aufgeben. Meine komfortable Welt der Mittelklasse war zerbrochen. Aber jetzt wollte ich mir ein Leben aufbauen, das zu meiner Natur passte. Ich wollte nicht das Ende meines Lebens erreichen und mich dann fragen müssen, ob ich überhaupt je gelebt hatte.
Am Lake Charles in Louisiana fand ich ein leer stehendes Theater. Es war zwar eine Ruine, doch ich zog ein. Und lebte vom Existenzminimum. Die nächsten Jahre tourte ich mit Workshops, Trainings und als Business Coach durchs Land. Und verwirklichte meinen Traum, nämlich Menschen dabei zu helfen, zu einem erfüllteren Leben zu finden.
Leben im Paradies
Schließlich zog ich auf die Hawaii-Insel Maui. Dort wurde meine Arbeit berühmt. Menschen aus ganz Amerika und Europa kamen, um meine Kurse zu besuchen. Heute lebe ich auf Maui, in New York, Texas, Amsterdam und Thailand. Meine Arbeit hat sich zu einem globalen Netzwerk entwickelt. Ich habe meine Passion zu meinem Beruf gemacht. Und arbeite 365 Tage im Jahr mit Leidenschaft an meinem Traum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Mit Menschen, die zu einer globalen Gemeinde zusammenfinden. Die sich gegenseitig unterstützen und sich gegenseitig dienen. Mit dem Besten, was sie zu geben haben: mit ihrer einzigartigen und unverwechselbaren Begabung. Die ihren inneren Ruf hören und ihrer Berufung folgen. Die sich höchsten Herausforderungen aktiv stellen – und gemeinsam gewinnen.