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1.3 Meine Haut gehört mir oder: Wer liebt, lässt los
ОглавлениеNach den äußeren Grenzen, die uns Ohren, Augen und Nase signalisieren, nach «Gartenzaun» und «Flügelspannweite», «Raumkapsel » oder «Haus» kommt nun die innerste Grenze, die Haut – gewissermaßen das «Wohnzimmer» –, die es manchmal zu schützen gilt. Die Haut ist nun wirklich jener Bereich, den kein Mensch, dem wir nicht vertrauen, berühren darf. Nur Menschen, die wir lieben und denen wir Vertrauen schenken, lassen wir so nahe an uns heran, dass sie uns berühren können.
Das gilt aber auch für jene Lebensbereiche und Situationen, in denen wir gezwungenermaßen mit anderen Leuten zusammen sind. Bei allem Gedrängel in öffentlichen Verkehrsmitteln versuchen die meisten, direkte Berührungen zu vermeiden. Passiert es doch, weil der Busfahrer vielleicht etwas arg abrupt auf die Bremse tritt, so entschuldigt man sich bei seinem Nebenmann für die Rempelei.
Vielen Schülerinnen und Schülern ist die gut gemeinte, joviale Berührung durch Lehrkräfte unbehaglich. Es ist das Machtgefälle, das diese Berührung unangenehm macht. Bei aller Freundlichkeit bleibt sie doch eine Geste «von oben» «nach unten». Lehrlinge sind nicht allzu begeistert, wenn der Meister die Hand auf ihre Schulter legt, selbst wenn die Geste Anerkennung ausdrücken soll. Junge Frauen sind sich selten sicher, ob das Getätschel auf den Rücken durch einen Vorgesetzten wirklich nur gut gemeint ist.
Es gilt hier also grundsätzlich, dass nur die Frau, das Mädchen selber bestimmt, wer sie anfassen darf. Braucht sie zum Beispiel Trost, wird sie sich der Person schon zuwenden, der sie in einer schwierigen Situation vertraut. Es gibt Menschen in ihrem Leben, denen sie ohne Probleme bei Kummer um den Hals fällt, um sich auszuweinen, aber es gibt eben auch Menschen, denen würde sie sich niemals so nähern, selbst wenn gerade eben ihre Welt zusammengebrochen ist und niemand sonst in der Nähe weilt.
Gerade die Berufswelt, Schule und Ausbildung sind, als generell professionalisierte Orte, keine, an denen man sich «an die Haut» geht. Die Berührung der Haut hat immer etwas Privates an sich. Sie gehört, zumindest in unserer Kultur, in die privaten Lebenszusammenhänge und findet innerhalb des Intimbereichs statt. Dieser Intimbereich selber hat verschiedene Bereiche einer mehr oder weniger starken «Privatisierung». So ist es Sitte, dass Menschen sich zur Begrüßung und zur Verabschiedung die Hände reichen. Dies wird als Akt der Höflichkeit gesehen, und Kinder werden dazu angehalten, «das Händchen» zu geben – möglichst auch noch das «richtige»!
Der Händedruck eines Menschen kann viel über sein Wesen aussagen. Schlaff-feuchte Hände verursachen ein Unbehagen; Leute mit kalten Händen tun einem leid, besonders wenn man ihnen nahe steht; ein warmer, kräftiger Händedruck ist sympathisch, aber ein zu fester Händedruck wieder nicht, signalisiert dieser doch Kraft und Machtgelüste. Will man sich die andere Person lieber auf körperlicher Distanz halten, streckt man den Arm so weit und so steif wie möglich von sich weg: Wer fühlen kann, der fühle: Auch wenn es mir die Höflichkeit gebietet, Ihnen die Hand zu drücken, bleiben Sie mir vom Halse!
Manche Menschen, die tendenziell gerne die Distanzschwellen anderer, meist vermeintlich Schwächerer überschreiten, ziehen diese während des Händedrucks kräftig näher an sich heran. Sie missbrauchen also die Höflichkeitsregel, um Macht zu demonstrieren, Grenzen zu überschreiten und das Distanzverhältnis zu bestimmen.
In Ländern, wo ein bis drei leichte Wangenküsse zur üblichen Begrüßungsregel gehören (Schweiz, Frankreich), kann der Händedruck der rettende Ausweg sein, wenn einem diese Art Begrüßung nicht behagt. Wesentlich näher, im Idealfall herzlich gemeint ist die Begrüßung mit Handschlag und gleichzeitig Griff nach dem Unterarm. Sie überschreitet ganz eindeutig die Höflichkeitsform und ist in der Regel Freunden, nahen Kollegen, Vereinsmitgliedern vorbehalten.
Herzlich oder tröstend kann das Legen des Armes um die Schultern sein, um die andere Person näher an sich heranzuziehen. Vermutlich gestattet man das nur den nächsten Verwandten oder Familienangehörigen, denen man traut, der Busenfreundin, den Liebespartnern.
Umarmen ist eine Begrüßung unter nahen Freunden, eine Umarmung mit Kuss auf den Mund jene von Liebenden oder Familienmitgliedern, die sich mögen. Früher forderte man diese Begrüßung generell sehr gerne Kindern ab: «Gib der Tante ein Küsschen!» Aber seit man in der Gewaltprävention für Mädchen wichtige Erkenntnisse gewonnen hat, weiß jeder Erwachsene, dass «Küsschen auf Kommando» oft die Türe für ganz andere Grenzüberschreitungen öffnen, da das Kind nicht lernt, nach seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu handeln.
Auch jemandem die Hand auf die Schultern legen oder auf den Rücken klopfen ist eine freundschaftliche Geste. Sie kann auch lobend sein, doch der solchermaßen lobende Erwachsene sollte sich sehr sicher sein, ehe er diese Art von Körperkontakt einem kleineren, schwächeren oder untergebenen Menschen zukommen lässt, dass dieser sie auch annehmen mag und sich dabei wohlfühlt. Den Nacken kraulen, den Rücken kratzen lässt man sich nur von vertrauensvollen Familienmitgliedern, von der Liebsten, von «Mama und Papa», wie es die Kinder in meinen Selbstbehauptungskursen ausdrücken.
Erotische Berührungen wie das Streicheln der Lippen und Ohrläppchen, eine ganz bestimmte Art, die Finger ineinander zu verschränken oder über Rücken und Schultern zu streicheln, tauschen Liebende miteinander aus. Nur Liebende, Liebespaare! Und die Partner sind vor allen Dingen gleich stark. Kein Erwachsener darf ein Kind erotisierend berühren, kein Mensch darf einen anderen gegen seinen Willen so berühren.
Die ersten erotischen Berührungen gehören noch eher in das Umfeld des Flirtens, des Umwerbens. Ab einer bestimmten Intensität überspringen sie eine unsichtbare Linie zwischen «Schmusen» und Sexualität. Die Liebenden drücken sich heftiger aneinander, die Küsse werden stärker, die beiden gehen zu Zungenküssen über und berühren sich an den Brüsten, zwischen den Beinen. Auch hier gilt die ganz einfache Regel, dass kein Erwachsener ein Kind in dieser Weise berühren darf, kein Mensch einen anderen gegen dessen Willen.
Schlussendlich werden die Kleidungsstücke, welche ja eine Grenze vor der Haut darstellen, abgelegt, und die Liebenden streicheln, küssen, drücken und berühren sich ohne solche Grenzen und überall am Körper. Der Höhepunkt sexueller Kontakte ist das Überschreiten der äußeren Hautgrenze, das Erkunden der verschiedenen Körperhöhlen der anderen Person mit Hilfe verschiedener Körperteile, wovon ja schon der Zungenkuss die erste Form darstellte.
Und eben, man kann es nicht oft genug sagen und schreiben: Kein Erwachsener darf an einem Kind sexuelle Handlungen vollziehen und kein Mensch an einem anderen gegen dessen Willen. Spätestens hier spricht man von Vergewaltigung.
Vergewaltigt ein erwachsener Mensch einen anderen – meistens ein Mann eine Frau –, so kann er das auf Grund einer körperlichen Überlegenheit, manchmal aber auch auf Grund seelischer Abhängigkeit und vor allen Dingen natürlich in Abhängigkeitsverhältnissen.
Kindern die sexuellen Handlungen von Erwachsenen aufzuzwingen ist sehr einfach, denn sie sind kleiner, schwächer, seelisch zu beeindrucken und leicht einzuschüchtern. Machtgefälle und Überlegenheitsgefühl sind Voraussetzungen für solche Taten. Zwischen Erwachsenen und Kindern herrscht immer ein Machtgefälle, und sexuelle Handlungen an Kindern und Jugendlichen sind ein Verbrechen.
Die Gemeinde der sogenannten Pädophilen raunt die seltsamsten Beschönigungen durch ihre verschiedenen Web-Seiten, sie spielt ihre Taten herunter oder entschuldigt sie. Doch da gibt es nichts zu entschuldigen und nichts zu beschönigen.
Um sexuelle Gewalt erkennen und benennen zu können, bedarf es klarer Grenzen. In diesem Fall, so dünkt es mich, ist die Grenze doch gar nicht so schwer zu ziehen. Jeder würde vor Lachen auf den Rücken fallen, wenn sich ein Vergewaltiger als «Frauenliebhaber » bezeichnen würde. Das gleiche gilt für diese seltsame Selbstbezeichnung der «Kinderschänder»: Pädophiler – Kinderliebhaber! Das sind sie sicher nicht, sondern es sind Menschen, die – warum auch immer, das interessiert mich gar nicht – nötigend und vergewaltigend auf Schwächere, Jüngere losgehen.
Sexualisierte Gewalt ist eine Form der Gewaltanwendung, des «An-die-Haut-Gehens».
Schlagen, Treten, Kneifen, Haareziehen, Stoßen, Zerren usw. sind weitere Formen der Gewalt. Schläge prasseln auf den Körper nieder, Knochen werden durch Tritte gebrochen, die Haut zerstört durch Kneifen und Kratzen, verletzt durch das Ausreißen 35 von Haaren, Gelenke überdehnt durch das Zerren an Armen und Beinen, blaue Flecken entstehen durch Püffe, Menschen stürzen, wenn sie gestoßen werden, und tragen mehr oder minder starke Verletzungen davon.
Körperliche Gewalt ist in allen Kulturen tabuisiert, sie wird strengen Regeln unterworfen und bestraft. Bis heute jedoch glauben viele Erwachsene, dass sie Kinder trotzdem schlagen dürfen, besonders die eigenen. Das Schlagen ist den Lehrern seit den fünfziger Jahren nach und nach in allen deutschen Bundesländern verboten worden. Als ich Schülerin war, durften die Lehrer bei uns in Nordrhein-Westfalen ihre Schülerinnen und Schüler nicht mehr schlagen, während es in Baden-Württemberg, wo meine Tante Lehrerin war, noch erlaubt war. Mit leichtem Schauder hörte ich zu, wenn ich dort zu Besuch war und mir die Kinder auf der Straße erzählten: «Hey, deine Tante, die hat uns neulich mit dem Lineal auf die Hände gepfitzt!»
Auch das kann man also nicht oft genug wiederholen: Kein Erwachsener darf ein Kind schlagen – unter gar keinen Umständen! Ein Kinderpo ist allemal mehr wert als eine zerbrochene Fensterscheibe. Ein erwachsener Mensch, eine Pädagogin, ein Lehrer vor allen Dingen, sollte genügend Souveränität besitzen, mit Kindern auch anders fertig zu werden, sonst hat er den Beruf verfehlt und sollte lieber Maschinenschlosser oder Geschäftsführerin werden. Ich sage das so apodiktisch, damit solidarische Erwachsene eine klare Handhabe haben, falls ihnen ein Kind dergleichen erzählt oder sie – beispielsweise als Ärztin – den Verdacht haben, dass ein Kind, welches sie untersuchen, Spuren von Gewalt aufweist: Es gibt keinen, gar keinen Grund, ein Kind zu schlagen, zu treten oder sonst körperlich zu züchtigen.
Das höchste Ausmaß von Gewalt sind die Zerstörung der Haut und die Vernichtung des Lebens einer Person mit Hilfe von Waffen oder waffenähnlichen Gegenständen.
Ohne hier auf diesen äußersten Schrecken für eine angegriffene Person näher eingehen zu wollen, weil uns das noch genügend beschäftigen wird, möchte ich nur die Redewendung «Das geht unter die Haut» besprechen. Hiermit werden manchmal eindrückliche Erlebnisse gemeint, wunderschöne Kunstwerke, ergreifende Filme, Musik, die berührt.
Doch auch Beschimpfungen gehen unter die Haut, Beleidigungen können wie echte Verletzungen wirken, wie ein Schlag vor den Kopf oder in den Magen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der «spitzen Zunge» eines Menschen, der gerne andere herabsetzt und beleidigt. Manchmal ist es auch nicht der eigentliche Schlag oder Stoß, der schmerzt, sondern die damit einhergehende Demoralisierung. Die seelische Verletzung durch eine körperliche Attacke kann eventuell mehr «unter die Haut gehen» als der Angriff selber.
So können auch Worte und Bilder Waffen sein, ebenso wie die prügelnden Hände und Füße selber. Aber ob Wort, Waffe oder Faust: Gewalt hat die Herabsetzung und Zerstörung der anderen Person zum Ziel. Auch die sexuelle Gewalt hat dieses Ziel. Indem der Täter die Person seelisch herabsetzt, ihren Körper attackiert, baut er sich selber auf und bläht sich mit Hilfe der Lust an der sexuellen oder anderen Gewalt auf.
Mich interessiert nicht, warum der Täter Gewalt ausübt, sondern wozu. Denn wenn man das weiß, kann man ihn von seinen Zielen abhalten. Das «Warum» ist längst vorbei und spielt während der Tat gar keine Rolle mehr, schon gar nicht für die angegriffene Person. Das «Wozu» aber liegt noch in der Zukunft, sowohl des Täters als auch der angegriffenen Person. Indem sie sich wehrt, kann sie die Zukunft für sich bestimmen und so dem Täter aus der Hand nehmen.
Insbesondere Frauen haben in unserer Kultur gelernt, sich um den anderen zu kümmern, um die Gründe seines Verhaltens, um seine Zukunft. Es kann für eine Frau lebensrettend sein, wenn sie in einer Gewaltsituation ausschließlich an sich, ihr Leben und ihre Zukunft denkt!
Schlagworte
Das Ziel heißt Zerstörung.
Regeln
Keiner darf einer anderen Person Körperkontakt aufzwingen. Kein Erwachsener darf ein Kind schlagen.