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Die Fremde

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Der Tag war jung. Noch zogen Jäger, Hirte und Stier ihre Bahnen über den nächtlichen Himmel, nur ein schmaler heller Streif am Horizont zeigte an, dass sich Sol bereit machte, erneut ihre Herrschaft über das Firmament anzutreten.

Wie jeden Tag in der Warmzeit, wenn die Kühe oben auf den Hochweiden grasten, stand Matthis vor Tagesanbruch auf, schlüpfte in seine Lederhose und band sich den Gürtel um. Dann griff er sich den Stock, schulterte die Kiepe und machte sich auf den Weg hoch zur Matthisalm. Schlaftrunken stieg er den schmalen Waldweg hinauf. Er stieg ohne Eile. Im ruhigen Rhythmus der Bergbewohner setzte er Schritt vor Schritt und wartete, dass die Frische des Morgens die Müdigkeit vertrieb. Heute musste er lange warten. Schnuppernd hob er den Kopf. Es hatte keinen Raureif gegeben in der Nacht und die Luft war ungewöhnlich mild. Ob das eine weitere Masura Sonnenschein oder einen baldigen Wettersturz bedeutete, konnte er noch nicht sagen, das musste der Tag weisen. Aber eines war sicher, lange konnten die Tiere nicht mehr auf der Alm bleiben, die Zeit für den Abtrieb rückte näher.

Nach einem letzten steilen Wegstück ließ Matthis die Krüppelkiefern hinter sich und trat in die Weite der Almen hinaus. Wie ein heller Ring umsäumten sie die Bannwälder Stillerthals, überragt nur von den mächtigen Bergmassiven, die das Tal von allen Seiten bedrängten wie eine Armee eisgeharnischter Krieger. Ein einziger schmaler Spalt dort, wo sich der Wilderbach seit Tausenden von Jahren einen Durchlass in den Fels gegraben hatte, wies die Stelle, die das Hochtal mit der Welt der Tieflande verband.

Während die Wälder und Felder am Talboden noch in nächtlicher Dunkelheit verharrten, schimmerten die Berge und Almen im frühen Dämmerlicht. Die kleine Kuhherde auf der Matthisalm war bereits erwacht. Gemächlich trotteten die zottigen Kühe über die Alm und kosteten hin und wieder einen Büschel Gras. Als Matthis nahe der Almhütten war, schnalzte er mehrmals mit der Zunge und rief leise und lockend: «Kooomm, Kooomm, komm, Maya. Kooomm, kooomm, komm!» Sofort hob die Leitkuh den Kopf und muhte eine Antwort. Die kleine Herde setzte sich in Bewegung, dunkle Kuhleiber strebten dem Melkstand zu. Matthis begrüßte seine Kühe mit etwas Salz, dann führte er eine nach der anderen auf die Holzplattform, massierte die prallen Euter mit Eutersalbe und molk sie ab. Am Ende war der Eimer voll und die Kühe verteilten sich zufrieden auf der Weide.

Matthis wusch sich die Hände am Wassertrog und setzte sich auf einen strohgepolsterten Platz vor der Hütte. Er holte ein in ein Tuch eingewickeltes Stück Brot aus der Kiepe, schöpfte sich eine Schale frisch gemolkener Milch und ließ sich sein Frühstück schmecken. Als er geendet hatte, legte er die Holzschale weg, stand auf und streckte sich. Schweigend sah er zu, wie die Sonne hinter den Bergen aufging und die Alm mit ihrem strahlenden Licht flutete. Mit geschlossenen Augen empfing er die wärmenden Strahlen Sols, der Königin des Himmels.

Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf die beiden Bäume, die eng ineinander verschlungen etwas oberhalb der Matthisalm standen. Seit Menschengedenken standen sie dort, weit oberhalb der Baumgrenze, und trotzten den Stürmen und Muren. Von seiner Mutter kannte er die beiden Legenden, die sich um diesen Ort rankten. Eine besagte, die Bäume hätten magische Kraft. Sie seien von den ersten Siedlern gepflanzt worden, um über die Menschen Stillerthals zu wachen. Eine andere Version erzählte, die Bäume seien zur Erinnerung an die Fehriner gepflanzt worden, die über die Berge in ein grünes und fruchtbares Land jenseits des Kharr-Gebirges gezogen seien. Matthis’ Mutter hatte den Ort in Ehren gehalten und ihn regelmäßig besucht, selbst als die Geschichten wie auch der Ort selbst bei den Stillerthalern in Vergessenheit geraten waren. In der ersten Zeit nach ihrem Tod hatte Matthis versucht, diese Tradition seiner Mutter aufrechtzuerhalten, aber die Mühsal des Alltags hatte seine Besuche bald einschlafen lassen. Sein letzter Gang hinauf zu den Wächterbäumen lag schon Jahre zurück. Zu viele Jahre, dachte Matthis, brach eine besonders schöne Lichtnelke und stapfte den kurzen Weg zu den beiden Bäumen hinauf.

Matthis war fast angekommen, als er wie angewurzelt stehen blieb.

«Sol, Sal und Seller!», entfuhr es ihm.

Am Fuße der Bäume lag eine menschliche Gestalt. Es war eine junge Frau. Das lange Haar war verfilzt und staubig, das helle Wollkleid und der einst hochwertige Umhang hingen in Fetzen. Die nur notdürftig mit Lappen umwickelten Füße waren übersät von blutigem Schorf. Trotz des Schmutzes leuchtete ihr Haar in der Farbe eines reifen Einkornfeldes und ihre Haut war unnatürlich hell. In der schattigen Kuhle unter den Bäumen wirkte sie fremd und unwirklich. Matthis kniete nieder und berührte sie leicht.

«Hayda, fremde Frau, hörst du mich?»

Sie bewegte sich nicht. Matthis tastete nach ihrem Puls. Er war schwach, aber vorhanden. Als er die Frau vorsichtig umdrehte, löste sich der Umhang und gab ihren linken Arm frei. Eine tiefe, blutig-eitrige Wunde klaffte über die gesamte Länge des Armes und verstümmelte dessen makelloses Ebenmaß. Matthis zog scharf die Luft ein. Er kannte solche Wunden von Kühen, die nach einem Absturz tagelang durchs Gelände geirrt waren, ehe sie gefunden wurden. Und er wusste, es war höchste Zeit zu handeln, wenn es nicht schon zu spät war. Entschlossen riss er den Umhang in Streifen und band damit den verletzten Arm am Körper der jungen Frau fest. Dann warf er sie sich über die Schulter und stieg zur Alm hinunter.


Vince kam fröstelnd aus dem kühlen Naturkeller, in dem Matthis’ Käse reifte. Er kippte den kleinen Rest Sole, die er zum Abreiben der Käselaibe genommen hatte, in den Bottich, der neben der Käserei stand. Dann hockte er sich zufrieden auf die kleine Holzbank vor der Stube und wärmte sich in der Morgensonne.

Vince war gern Kuhbub auf dem Matthishof. Der Hof lag fernab vom Dorf auf einem kleinen wiesengesäumten Plateau mitten im Bannwald. Das war ihm gerade recht. Hier hatte man seine Ruhe. Keine keifenden Nachbarn, und der Vater, der ihn immer schlug, wenn er etwas falsch machte, weit weg. Matthis schlug nie. Weder ihn noch die Kühe. Zu den Kühen war er besonders freundlich. Vince verstand nicht, warum manche die Stirn runzelten, wenn sie von Matthis redeten. Nur seine Eutersalbe nahmen alle gern. Vince war überzeugt, dass niemand so viel von Kühen verstand wie Matthis. Matthis hatte sogar eine von Lundis’ besten Milchkühen, die sich ein Bein gebrochen hatte, so gut geschient, dass man nach ein paar Monden nichts mehr merkte.

Dösig saß Vince auf der Bank, als ihn das tiefe Muhen von Matthis’ Leitkuh aus dem Halbschlaf riss. Kurze Zeit später sah er Maya und die anderen Kühe in dichtem Gedränge den schmalen Fußweg, der den Hof mit der Alm verband, hinunterstapfen, Matthis folgte dicht dahinter. Aber Matthis kam nicht allein. Über den Schultern hatte er den leblosen Körper einer Frau hängen. Vince sprang auf und lief ihm entgegen. Mit offenem Mund starrte er das fremde Stück Mensch an. Matthis blieb kurz stehen und reichte Vince seinen Stock.

«Hier, bring die Kühe auf die Hausweide und dann komm ins Haus, ich brauch dich.»

Vince nickte und trieb die Kühe auf die kleine umzäunte Wiese, die direkt neben dem Hof lag. Die Kühe kannten Vince und sie kannten die Weide und so folgten sie ihm brav. Sobald das letzte Kalb auf der Wiese stand, schloss Vince das Holzgatter und rannte ins Haus. Als er in die Stube kam, blieb er abrupt stehen.

«Igitt!», japste er. «Das stinkt!»

Matthis sah ihn streng an.

«Ein verkoteter, kranker Körper riecht nie gut. Komm jetzt, ich will, dass du was lernst.»

Matthis hatte die Fremde auf den langen Küchentisch gelegt, der den Küchenbereich vom übrigen Raum abtrennte. Über der gemauerten Feuerstelle hing ein Topf mit brodelndem Wasser. Eilig trug Matthis Schüsseln, Schöpfkelle und allerlei Kräuterutensilien aus Regalen und Schränken zusammen. Als er alles beisammen hatte, holte er ein Messer und zerschnitt in zügigen Schnitten die zerfetzten Kleider, zog sie vorsichtig ab und warf sie ins Feuer. Dort, in den prasselnden, lodernden Zungen fanden sie ein schnelles Ende.

«Reinheit und Sauberkeit, das ist das Wichtigste, wenn du Krankheit besiegen willst», erklärte Matthis. «Vergiss das nie!»

Vince nickte. Andächtig sah er zu, wie Matthis die Waschschüssel mit heißem und kaltem Wasser sowie einigen Kräutern und Seifenraspeln füllte. Dann wusch er mit einem Lappen den nackten Körper so oft ab, bis das Wasser dunkel war. Vince beobachtete atemlos, wie sich aus dem dreckverkrusteten Fleisch ein weißer Körper schälte.

«Sie sieht ekelig aus. Wie eine Made!», meinte er.

Matthis blickte ihn nachdenklich an.

«Fass sie an», befahl er.

Zögernd streckte Vince die Hand aus und berührte den hellen Körper.

«Was spürst du?», fragte Matthis.

«Es ist glatt und da sind kleine Härchen.»

«Nun berühre deinen eigenen Arm.»

Vince tat, wie ihm geheißen.

«Was spürst du nun?»

«Er ist auch glatt und hat kleine Härchen», gestand Vince.

Matthis nickte.

«Es ist nicht die Hautfarbe, die einen Mensch zum Menschen macht. Präge dir das gut ein!»

Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Er wickelte der Fremden mit flinken Bewegungen eine Windel um den Schritt und deckte sie mit einem sauberen Tuch zu. Schließlich näherte er sich dem linken Arm und zeigte auf das feuchte Tuch, mit dem er den Arm abgedeckt hatte.

«Warum habe ich das gemacht?», fragte er. Vince schüttelte den Kopf.

«Weiß nicht.»

«Sie hat eine böse Wunde. Stoff hat sich darin verklebt. Der Stoff muss sauber entfernt werden.»

Matthis hob das Tuch ab. Vince zog scharf die Luft ein. Eine tiefe, eitrige Wunde zog sich über die gesamte Länge des Armes. Vince hatte noch nie eine so schlimme Wunde gesehen. Beklommen beobachtete er Matthis, der unschlüssig dastand und den Arm betrachtete.

«Was machst du, wenn du so eine Wunde vor dir hast?», fragte er, mehr zu sich selbst als zu Vince.

Vince schluckte und versuchte, nicht zu genau hinzusehen.

«Weiß nicht.»

«Eigentlich müsste man den Arm amputieren», murmelte Matthis, und Vince merkte, wie sehr ihm die Vorstellung zuwider war.

Wieder stand Matthis minutenlang da, ohne sich zu bewegen. Nachdenklich fuhr er fort: «Aber sie ist noch so jung … Wenn ich Mutters Vorrat aufbrauche, wir könnten es schaffen …»

«Was?»

«Den Arm wieder gesund zu machen!»

Er überlegte kurz, dann nickte er.

«Wir könnten es schaffen!»

Matthis holte eine flache Schüssel und füllte sie mit einer Flüssigkeit aus einer Flasche. Dann legte er ein schlankes Messer und andere Gerätschaften hinein, holte sie wieder heraus und hielt sie kurz über das Feuer. Blaue Flammen schossen in die Höhe, es sah aus, als wollten sie die Dinge verzehren, aber kurz darauf erloschen die Flammen von allein.

«Feuer reinigt», sagte Matthis. «Alles, was mit so einer schlimmen Wunde in Kontakt kommt, muss vom Feuer gereinigt werden! Alles!»

Matthis badete kurz seine Hände in der Flüssigkeit und hielt sie ebenfalls über das Feuer. Vince schrie auf, als blaue Flammen um die Hände emporzüngelten. Aber dann zog Matthis seine Hände schon wieder aus dem Feuer und die Flammen erstarben.

Atemlos verfolgte Vince, wie sich Matthis an die Arbeit machte. Zuerst band er den Arm ab und entfernte die verklebten Stofffetzen. Dann öffnete er die alte Wunde, entfernte Eiter, Narbengewebe, schnitt faules Fleisch weg. Immer wieder tunkte er saubere Tücher in eine Flüssigkeit und reinigte damit die Wunde. Am Ende vernähte er das klaffende Fleisch, umwickelte den Arm mit dünnen Rindenstücken und löste den Druckverband.

Matthis zeigte auf den Rindenverband und sah Vince scharf an.

«Das da hast du nie gesehen, ist das klar?»

Vince nickte ängstlich.

«Was ist das?», fragte er.

«Binha-ban. Rinde vom Fehnbaum. Die Leute denken, es ist Frevel, Hexenwerk. Aber das ist es nicht. Es ist vom Bruchholz, ein Schatz, freiwillig gegeben!»

Schließlich nahm er die Bastschale, in die er das faule Gewebe und die Lappen geworfen hatte, und hielt sie Vince vor die Nase.

«Was passiert damit?»

Vince musste den Kopf abwenden, so übel wurde ihm bei dem Geruch.

«Ein tiefes Loch graben und reintun?», presste er mühsam hervor.

«Das ist nicht schlecht, aber damit ist das Kranke nicht tot. Es ist immer noch da, wenn auch vergraben. Was habe ich über Wunden gesagt?»

«Dass alles, was mit einer Wunde in Berührung kommt, vom Feuer gereinigt werden muss.»

«Richtig. Und das tun wir nun.»

Matthis trug die Schale zum Feuer und warf sie mitsamt dem Inhalt in die lodernden Flammen. Dichter, beißender Rauch qualmte auf. Vince riss die Hände vor den Mund und rannte nach draußen, wo er sich übergab.

Vince fegte den Staub des Sommers aus dem Kuhstall. Er machte den Hühnerstall sauber. Brachte reifen Dung im Gemüsegarten auf. Riss die Brennnesseln, die in Massen rund ums Haus wuchsen, aus. Nur um nicht an die Frau in der Stube denken zu müssen. Um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Dabei merkte er nicht, dass die Luft dumpfer wurde und der Himmel zuzog. Erst als es in der Ferne donnerte, blickte er auf. Eine gelbgraue Wolkenfront jagte aus Richtung der untergehenden Sonne heran und hatte in kurzer Zeit den Himmel erobert. Gerade noch rechtzeitig scheuchte Vince die Hühner in ihren Verschlag, dann brach das Unwetter los. Unter heftigen Hagelschauern trieb er die Kühe in den Stall, dann floh er in die warme Stube.

«Puh!» Er schüttelte sich und zog das durchnässte Hemd aus. «Gut, dass die Kühe unten sind. Dieses Wetter hätte ihnen gar nicht gefallen.»

Matthis sah nur kurz auf den prasselnden Eisregen vor dem Fenster.

«Gut, dass sie unten ist», sagte er und nickte in Richtung der Kranken. «Sie hätte die Nacht dort oben nicht überlebt.»

Vince sah scheu auf die Fremde, die jetzt in Matthis’ Alkoven nahe der Herdstelle lag. Ihr Atem ging schnell und stoßweise, dicke Schweißtropfen standen auf der kalkweißen Stirn. Manchmal warf sie unter krampfartigen Zuckungen den Kopf hin und her oder bäumte sich auf. Matthis saß mit verbissenem Gesicht neben ihr, wischte ihr immer wieder mit einem feuchten Tuch Stirn und Hände ab und träufelte ihr mit einem Löffel etwas Flüssigkeit in den leicht geöffneten Mund.

Jetzt stand er auf, tauchte zwei Tücher in den Wassereimer, der auf Küchentisch stand, und wrang sie aus.

«Komm her, damit du was lernst.»

Er gab Vince die Tücher in die Hand.

«Hier, das kannst du machen. Wickel die Tücher fest um die Unterschenkel. Achte darauf, dass das Wasser nicht zu kalt ist, gib im Zweifel etwas warmes Wasser vom Topf dazu. Das Tuch wird schnell warm, dann hilft es nicht mehr. Deswegen musst du es regelmäßig erneuern. Und achte darauf, dass das Bettzeug nicht nass wird. Leg immer ein Stück Fell unter. Und wechsle auch das Fell regelmäßig. Dort drüben auf dem Stuhl liegen zwei Kuhfelle bereit, die kannst du nehmen.»

Vince hob die Bettdecke und machte sich daran, die Tücher um die Beine der Kranken zu wickeln. Beim ersten Kontakt zuckte er zusammen.

«Sie ist so heiß!»

Matthis nickte und flößte der Fremden weiter kleine Löffelchen Sud in den Mund.

«Aber du machst sie wieder gesund, nicht?»

Matthis sagte nichts.

«Du bist der beste Heiler, den ich kenne», versuchte Vince sich und seinem Lehrvater Mut zu machen. «Besser als Marvis! ‹Einläufe mit leicht gesalzenem Honigwasser bei Durchfall, Molke mit einem Sud aus Tammil gegen Entzündungen und Wurmbefall, Birkenknospentee zur Fiebersenkung, Wundbehandlung mit Birkenrinde›», zitierte er stolz. «Ich habe mir alles gemerkt!»

Matthis legte Becher und Löffel beiseite und wandte sich Vince zu. Eindringlich blickte er ihm in die Augen.

«Vince, du musst mir etwas versprechen, das sehr wichtig ist. Lebenswichtig.»

Vince nickte eingeschüchtert.

«Ich bin kein Heiler, Vince. Ich DARF kein Heiler sein! Ich bin Matthis, der Kuhbader, mehr nicht. Das Wissen um das, was wir hier tun, darf nie den Matthishof verlassen. Nie! Du wirst darüber kein Wort zu niemandem sagen, auch nicht zu deinem Vater. Versprichst du mir das?»

Vince starrte ihn an.

«Ich verspreche es!», flüsterte er.

Matthis legte seine kräftige rechte Bauernhand auf seine Brust.

«Auf dein schlagendes Herz?»

Vince tat es ihm nach. Seine Bubenhand mit dem zerrissenen Hemdsärmel legte sich auf die magere Brust.

«Auf mein schlagendes Herz!», schwor er andächtig.

Matthis nickte.

«Gut. Dann wäre das geklärt.»

Er wandte sich wieder der Kranken zu.

Vince beobachtete, wie er Löffel um Löffel in den kleinen Spalt zwischen den ausgetrockneten Lippen flößte.

«Aber du machst sie wieder gesund?»

Matthis antwortete nicht gleich.

«Wir können heil machen, was zum Leben bestimmt ist. Wir sind machtlos, wenn dem Tod die Herrschaft gebührt», sagte er dann, mehr zu sich selbst als zu Vince.

Nachdenklich wischte Matthis der Fremden mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der glühenden Stirn.

«Und ich weiß noch nicht, was Aoum für sie vorgesehen hat.»

Danach wurde nicht mehr gesprochen. In Stille verstrichen die Stunden, die nur von dem regelmäßigen Wechsel der Wadenwickel, der Zubereitung von frischem Tee und dem Beträufeln der Lippen unterbrochen wurden. Einzig der wütend an die Fensterscheiben klopfende Eisregen erinnerte daran, dass es eine Welt jenseits der Stille gab. Als das letzte fahle Abendlicht verloschen war und der Schwärze der Nacht Platz gemacht hatte, stand Matthis auf und legte Vince die Hand auf den Arm.

«Das reicht, Vince, das reicht. Hol dir was zu Essen aus der Kammer, du weißt, wo alles ist. Schau auch noch einmal nach den Kühen. Gib den Trächtigen ein wenig Korn, sie brauchen jetzt eine Zusatzration. Und dann leg dich ins Bett. Ich komme hier allein zurecht.»

«Aber …»

«Kein Aber, geh jetzt.»

Vince tat, wie ihm geheißen. Nachdem er die Kühe versorgt und sich ein dickes Stück Käse und eine große Scheibe Brot gegönnt hatte, huschte er zu seinem Bett und ließ sich müde auf die Heumatratze fallen. Der über den Alkoven gebeugte Matthis war das Letzte, was er sah, dann glitt er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die nächsten Tage brachten keine Veränderung. Die Zeit war eine träge Schnecke geworden. Vince war froh, wenn er der dumpfen Wärme der Stube entfliehen konnte, um sich um die Kühe und die Hühner zu kümmern. Derweil pflegte Matthis die Fiebernde. Machte beharrlich Einläufe und Wadenwickel, wechselte Windeln, träufelte Tee zwischen die aufgesprungenen Lippen.


Fahles Licht, das sich zu einem Raum verdichtete. Objekte, die ihr bekannt vorkamen. Widerstrebend öffnete sich die Tür zu dem Ort, in dem die Sprache wohnte, und ließ die dazu passenden Wörter frei. Tisch. Bank. Stuhl. Feuerstelle. Fenster.

Durch das Fenster sickerte helles Mittagslicht, Staub tanzte in der Luft. Frieden. Aber etwas störte. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte was. Zwei Männerstimmen unterhielten sich in der für ihre Augen unsichtbaren Welt jenseits der behütenden Mauern. Die eine Stimme war laut und bestimmend, die andere ruhig und bedächtig.

«Brauchst du was?», fragte die bedächtige Stimme.

«Nein.» Kurzes Zögern, dann kam fast beleidigt die Feststellung: «Du warst nicht beim Lauschan.»

«Nein», sagte die bedächtige Stimme.

«Wir haben uns gefragt, ob dir klar ist, was es bedeutet, dass du in den Kreis der Lauschan-Mahadan aufgenommen wurdest.»

«Ja.»

«Ob du weißt, dass das Amt normalerweise vom Vater auf den Sohn übergeht. Dass normalerweise gilt: wo kein Vater, da kein Amt!»

«Ich weiß es, Lundis. Und ich bin dem Rat dankbar, dass ich aufgenommen wurde. Aber ich habe eine kranke trächtige Kuh im Stall. Ich konnte nicht weg.»

«Oh.» Hörbare Irritation. «Na dann hoffe ich mal, dass sie bald gesund wird. Du stehst jetzt in der Pflicht!»

«Ich komme, sobald es geht.»

«Gut. Ach ja, und bring mir das nächste Mal etwas von deiner Eutersalbe mit. Eine meiner Kühe mault mal wieder, wenn sie gemolken wird. Also, haday, Matthis, wir zählen auf dich beim nächsten Lauschan!»

«Haday Lundis.»

Eilige Fußschritte entfernten sich, müde Fußschritte tappten ins Haus zurück. Ein Mann trat in ihr Blickfeld. Ihr Herz setzte einen Moment aus, als sie die dunkle Haut sah. Etwas in ihr sagte Gefahr. Der Mann hob den Kopf, ihre Blicke begegneten sich. Er blieb stehen und lächelte.

«Hayda!»

Bedächtig trat er an ihr Bett, beugte sich vor und sprach in langsamen, beruhigenden Worten.

«Hab keine Angst, ich tue dir nichts. Ich habe dich gefunden und in mein Haus getragen. Hier droht dir keine Gefahr.»

Der Mann hatte schwarzes Haar, einen kurzen Bart und einen ruhigen, vertrauenerweckenden Blick. Sie entspannte sich. Mühsam bewegte sie die Lippen, suchte nach dem richtigen Wort für die eine Frage, die irgendwie wichtig erschien.

«Wo?»

«Du bist in Fehrin. In Stillerthal. Mein Name ist Matthis und das hier ist der Matthishof.»

Sie schlug kurz die Augen nieder, um anzudeuten, dass sie verstanden hatte. Dann glitt sie in den alten Dämmerzustand zurück.

So blieb es. Wann immer sie aus schwerem Schlaf erwachte, sah sie das Zimmer, die Dinge, das Licht, das durchs Fenster fiel. Doch jedes Erwachen brachte neue Bilder. Sie sah den mit grauen Steinplatten ausgelegten Boden, das raue Holz der Wände, die mit Moos ausgestopften Fugen. Sie sah den Ausguss neben der sauber gemauerten Kochstelle und den rußgeschwärzten Kamin. Und immer wieder den Mann, der kam, beruhigend sprach und Suppe oder Tee brachte. Sie bemerkte die schwarznarbigen Punkte in seinem Gesicht, die feinen Falten rund um die Augen, die schwieligen Hände, denen man ansah, dass sie schon viel gearbeitet hatten. Manchmal kam ein Knabe. Schüchtern träufelte er ihr Tee oder Suppe in den halb geöffneten Mund.

Doch die Bilder hatten nichts mit ihr zu tun. Sie kamen und gingen, so als würden sie mit jedem Erwachen von Neuem zum Leben erweckt, um danach wieder in die Finsternis zu entschwinden, der sie entstammten.

Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie, außer dieser einen kurzen Frage nach dem Wo, kein Wort gesprochen. Meist lag sie im Bett, die Augen starr an die Decke gerichtet, nur manchmal, wenn Matthis oder Vince im Raum waren, beobachtete sie, was sie taten. Das Gestern war ein schwarzes Loch, das Morgen existierte nicht. Sie lebte in einer Zwischenwelt ohne Vergangenheit und Zukunft, nur von der kurzen Zeitspanne der Gegenwart umfangen.

Sie wäre gern immer in dieser Welt geblieben. Aber eines Tages kam ein verstörendes Gefühl hinzu, das alles änderte. Sie fühlte ein vages Ich. Ein Ich, das litt, weil es spürte, dass es schwach und krank war. Ein Ich, das litt, weil es nicht wusste, wer es war. Ein Ich, das plötzlich Scham empfand, das die Augen schloss und den Kopf zur Wand drehte, wenn der Mann sie wusch oder die Windeln wechselte.

Der Mann schien die Veränderung zu merken. Er hängte einen Vorhang auf, mit dem er ihren Alkoven vom Rest der Stube abtrennte, wenn er sie wusch. Manchmal erzählte er. Vom Leben auf dem Hof, von den Kühen, vom Wetter. Jeden Tag erzählte er, mit leiser, unaufdringlicher Stimme. Ruhig, so als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als ihr namenloses Ich, das stumm und ausgezehrt in seinem Alkoven lag.

Seine Pflege zahlte sich aus. Das Fieber wich, die Schmerzen vergingen. Ihr Körper gesundete. Nicht jedoch ihr Geist. Sie hatte ihren Körper zurückbekommen, aber sie konnte ihn nicht füllen. Noch immer lag ein schwarzer Vorhang zwischen ihr und der Person, die sie früher war. Bis der Tag kam, der alles änderte.

Wie jeder Tag begann auch dieser mit fahlem Dämmerlicht, das durch die Fenster ins Zimmer fiel. Aber das Licht war anders. Weißer, heller, kälter. Schneeflocken fielen dicht an dicht und bedeckten das Land jenseits der Stube. Mit dem Schnee fiel der Vorhang. Die Tür zu ihrer Vergangenheit, die so lange verschlossen war, öffnete sich und gab die Bilder frei. Wer sie war, woher sie war. Was sie hierher geführt hatte.

Ein dumpfer Schrei entrang sich ihrer Brust. Sie richtete sich in ihrem Alkoven auf, schob die Decke beiseite und setzte erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Boden. Es dauerte kläglich lange, bis sie aus dem Bett geklettert war, aber es gelang. Als sie kniend vor dem Alkoven hockte, streckte sie den gesunden rechten Arm aus, griff nach dem Bettkasten und zog sich hoch. Sie atmete schwer, hielt sich am Vorhang fest. Dann der erste Schritt, der zweite. Taumelnd tastete sie sich an der Wand entlang in Richtung Fenster. Endlich war sie da. Sie presste die Stirn an die kalte Fensterscheibe und sah hinaus. Aber sie sah nicht den Schnee, der vor dem Fenster tanzte. Sie sah, was dahinter war. Was verloren war. Für immer. Als sie es nicht mehr ertrug, schloss sie die Augen und spürte der Kühle des Fensters auf ihrer warmen Haut nach. Dann drehte sie sich um und tastete sich zum Küchentisch vor. Auf dem Küchentisch stand ein Messerblock. Sie zog ein Messer nach dem anderen heraus und prüfte ihre Schärfe. Endlich fand sie eines, mit dem sie zufrieden war. Mit dem Messer in der Hand ging sie zum Kamin und ließ sich vorsichtig nieder. Die Klinge blitzte im Licht der lodernden Flammen. Sie beugte den Kopf, hob das Messer und begann, sich das Haar abzurasieren. Locke für Locke ihres goldfarbenen Haares fiel auf den Boden, bis es aussah, als säße sie in einem Bett aus Stroh. Als sie ihr Werk vollendet hatte, legte sie das Messer behutsam neben sich auf den Boden. Ihr kahler, geröteter Schädel schimmerte im Feuerschein. Dann warf sie Büschel für Büschel des Haares ins Feuer. Lodernd und dampfend ging ihre Vergangenheit in Flammen auf.


Matthis beobachtete die Fremde, die am Tisch saß und die Hühnerbrühe löffelte, die er zubereitet hatte. Langsam und konzentriert führte sie jeden einzelnen Löffel zum Mund, sorgsam darauf bedacht, das Zittern der noch schwachen Hand unter Kontrolle zu halten. Man sah ihr die schwere Erkrankung an. Der Körper war dürr und ausgemergelt, die Wangen eingefallen, die Haut blass wie eine gekalkte Wand. Aber schon jetzt sah man ihre einstige Schönheit durch das Leiden hindurchschimmern. Die großen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen. Das Tuch seiner Mutter, das er ihr gegeben hatte, trug sie wie eine Krone um den Kopf geschlungen.

Auf seine Frage, wie sie heiße, hatte sie «Lele» geantwortet. Matthis hielt sich daran.

«Gibt es einen Ort zu dem ich dich bringen kann, Lele?», fragte er. «Freunde? Ein Zuhause?»

Der Löffel der Fremden verharrte auf halbem Wege. Sie sah kurz auf.

«Ich komme nirgendwoher und ich kann nirgendwohin», sagte sie. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Löffel und führte ihn schweigend zum Mund.

Matthis verstand, was das bedeutete. Es war die Bitte um Asyl. Er nickte langsam.

«Also gut. Du kannst hier bleiben. Ich werde mir etwas überlegen.»

Als die Fremde mit Essen fertig war, räumte er den Teller ab, wischte den Tisch sauber, legte ein sauberes Tuch auf und holte sein Wundmesser. Lele sah ihn fragend an.

«Es ist Zeit, den Verband abzumachen», erklärte Matthis. «Der Arm muss bewegt werden, sonst versteift er.»

Sie rollte den Ärmel des alten Männerhemdes, das ihr Matthis gegeben hatte, hoch und legte den Arm auf den Tisch. Vorsichtig schnitt Matthis mit dem Messer die Schnüre des Rindenverbands auf. Der Arm darunter war dünn wie Reisig. Über die gesamte Länge zog sich eine wulstige rote Narbe. Dort, wo Matthis viel Fleisch hatte wegschneiden müssen, wölbte sich die Narbe nach innen, und in der Ellenbogenbeuge war die Haut so auf Zug gewachsen, dass es aussah, als würde sie beim geringsten Versuch, den Arm durchzustrecken, reißen.

Matthis blickte unglücklich auf den verunstalteten Arm.

«Es tut mir leid», sagte er. «Ich …»

Lele unterbrach ihn fast grob.

«Schweig, Matthis. Ich lebe und ich habe noch beide Arme. Mehr wäre …» Sie stockte, strich vorsichtig mit ihrer rechten Hand über das vernarbte Gewebe. «Mehr wäre unangemessen. Dieser Arm wird mich immer daran erinnern, wer ich war.»

Matthis sagte nichts. Die Frage «Wer warst du?» blieb ungestellt. Er wusste, sie hätte ihm nicht geantwortet. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens räusperte er sich.

«Außer Vince weiß keiner, dass du hier bist. Ich denke, es ist am besten, wenn es so bleibt. Vinces Zeit als Kuhbub endet mit dem elften Mond, dann muss er nach Hause zurück, aber er wird nichts erzählen. Im Winter ist der Matthishof eingeschneit, da kommt keiner aus dem Dorf hier rauf. Doch um den dritten Mond beginnt die Schneeschmelze, dann wird sich deine Anwesenheit nicht länger geheim halten lassen. Daher habe ich mir etwas überlegt. Sobald die Straße befahrbar ist, könnte ich mir Lundis’ Ochsenkarren ausborgen und ins Tal reisen. Ich tue das hin und wieder, um Käse zu verkaufen. Ich könnte dich aus dem Tal hinausschmuggeln. Auf dem Heimweg könnte ich dich offen mitnehmen und als meine neue Magd vorstellen. Was hältst du davon?»

Lele sagte nicht sofort etwas. Nachdenklich schaute sie ihn an.

«Das wird nicht gehen, Matthis. Es würde Gerede geben.»

«Natürlich wird es Gerede geben. Du siehst anders aus als wir hier. Aber irgendwann hat dich jeder gesehen und der Tratsch wird aufhören.

«Ich meine nicht diese Art von Gerede, Matthis. Ich spreche von einer anderen Art Gerede. Ich erwarte ein Kind.»

Matthis zuckte leicht zusammen.

«Verstehe. Nein, dann geht das nicht.»

Er schaute auf seine Hände hinunter.

«Ich … ich könnte dich als meine Frau ausgeben. Nur nach außen natürlich. Ich … würde nichts verlangen, keine Ansprüche erheben. Aber unter den Umständen … wäre es vielleicht das … Unauffälligste?»

Lele nickte.

«Ja, machen wir es so!»


Nie vergaß sie diesen ersten Winter. Sie war ein verletztes Tier, der Matthishof war ihr Bau. In der Stille und Abgeschiedenheit des Bergbauernhofes fand sie die Zuflucht, die sie brauchte, um zu genesen.

Es war ein langer und schwerer Weg zurück in ihren geschändeten Körper. Anfangs saß sie nur da und schaute hinaus auf den fallenden Schnee. Ihr schien, als ob ihr Körper selbst sich die Fessel der Reglosigkeit auferlegt hatte, als hoffte er, in der Ruhe der Glieder die Ruhe der Gedanken zu erzwingen. Doch irgendwann löste sich die Erstarrung und sie begann, sich kleine Aufgaben zu setzen. Erste Gänge vom Alkoven zum Stuhl, vom Stuhl zum Vorhang, von dort zum Alkoven zurück. Aber immer blieb sie in der Stube.

Matthis ließ sie gewähren. Er verlangte nichts, gab keine Ratschläge. Er war einfach da und ging seiner Arbeit nach. Stand früh auf und molk die Kühe, dann folgte die Arbeit in der Käserei, dann die Hühner. Manchmal war über Nacht so viel Schnee gefallen, dass er zuerst die Wege freischaufeln musste. Mittags stampfte er Butter, buk Brote, kochte, stellte seine Eutersalbe her. Abends saß er in der Stube und reparierte Werkzeug oder stopfte seine Hemden. Manchmal fragte sie ihn nach seiner Arbeit, dann erklärte er geduldig.

Schließlich kam der Tag, an dem sie beschloss, dass es Zeit sei, sich nützlich zu machen. Sie ließ sich von Matthis Arbeiten im Haus zuweisen. Sie schnitt Zwiebeln, schälte Erdäpfel, legte Brennholz nach. Anfangs waren selbst diese einfachen Tätigkeiten anstrengend, manchmal schlief sie vor Erschöpfung mitten in der Arbeit ein. Meist erwachte sie nicht einmal, wenn Matthis ihr die Schüssel mit den Erdäpfeln aus der Hand zog, um sie selbst zu Ende zu schälen. Auch verweigerte ihr versehrter Arm immer wieder den Dienst. Er blieb schlaff, wenn er fest zugreifen sollte oder zog sich plötzlich krampfartig zusammen. Einiges fiel zu Boden, manches ging zu Bruch. Sie war dankbar, dass Matthis kein Wort über die zerborstenen Schalen verlor. Mit zusammengebissenen Zähnen kehrte sie die Scherben auf und machte weiter.

Als sie sich stärker fühlte, bat sie Matthis eines Nachmittags, ihr den Hof zu zeigen. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm hinaus auf die tief verschneite Lichtung, die den Matthishof umgab. Es war eine beruhigend überschaubare und begrenzte Welt. Der Himmel hing tief, aus grauen Wolken fiel feiner Schnee. Ringsumher war schützender Waldsaum, die Äste der Lärchen und Kiefern beugten sich unter ihrer weißen Last. Und inmitten der verschneiten Wiesen mehrere geduckte kleine Holzgebäude. Das war der Matthishof.

Je kräftiger Lele wurde, desto mehr traute sie sich zu. Sie fragte Matthis, ob sie ihm im Stall oder beim Verkäsen der Milch helfen könnte. Matthis zuckte zuerst mit den Schultern und schüttelte den Kopf, aber am nächsten Tag nahm er sie morgens mit in den Stall. Interessiert sah sie zu, wie Matthis die Kühe mit etwas Salz begrüßte, fütterte, molk und den Stall ausmistete. Wie er Lab in die Milch gab, um das Kasein zu trennen, das dann in großen Netzen aus der Molke gehievt, in Formen gefüllt und gepresst wurde. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass all diese Arbeiten zu schwer für ihren entkräfteten Körper waren. Anfangs hatte sie gehofft, Matthis zumindest beim Melken helfen zu können. Aber ihr versehrter linker Arm erlaubte kein gefühlvolles Arbeiten. Die Kühe lernten schnell ihren harten Griff fürchten und muhten, sobald sie den Stall betrat. So ließ sie es wieder sein und übernahm stattdessen das Füttern der Hühner.

Es bedrückte sie, wie wenig sie helfen konnte. Als die Schneeschmelze einsetzte und die Schneeberge in sich zusammensanken und begehbar wurden, beschloss sie, Matthis auf ihre Art etwas zurückzugeben. Nachdem sie die Hühner gefüttert hatte, ging sie im frühen Dämmerlicht in den nahen Wald. Bald fand sie, was sie suchte. Auf einer kleinen Lichtung stand eine alte Birke, deren Rinde sich an zahlreichen Stellen löste. Sie zog einige Rindenstücke ab und nahm sie mit nach Hause. Nach dem Wässern glättete sie die Rindenstücke zu dünnen, weißen Rindenblättern. Auf dem Herd kochte sie aus Ruß, Harz und Wasser Tinte, im Heuschober fand sie einen geeigneten Strohhalm, den sie sich als Feder zurechtschnitt. Mit diesen Utensilien setzte sie sich in die Stube und machte Notizen.

Matthis kam herein und blieb wie angewurzelt stehen, als er ihr Tun sah.

«Was tust du?», rief er. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte ihr die Dinge aus der Hand gerissen.

Sie sah erstaunt auf.

«Ich schreibe das Rezept deiner Eutersalbe auf.»

«Aber das ist … Schrift!»

«Natürlich ist das Schrift, was sonst?»

«Aber Schrift ist … von Übel!»

Lele blickte Matthis verständnislos an.

«Warum soll Schrift von Übel sein?»

«Schrift kann lügen. Lügen, die mit der Schrift festgehalten werden, vergehen nicht wie das gesprochene Wort. Sie bleiben bestehen und wirken fort.»

Lele überlegte einen Moment, dann antwortete sie ihm mit großer Ernsthaftigkeit.

«Was du sagst, stimmt. Schrift kann lügen und es ist schrecklich, wenn sie es tut. Aber kann das gesprochene Wort nicht auch lügen? Gibt es nicht Lügen, die in Form von mündlichen Traditionen und Vorurteilen von Generation zu Generation weitergegeben werden und unser Leben vergiften? Nicht die Schrift ist das Übel, sondern die Lüge. Schrift selbst ist etwas Wunderbares. Du hast selbst gesagt, wie schade es ist, dass mit dem Tod deiner Mutter so viel von ihrem Wissen verloren ging. Hätte sie es aufgeschrieben, wäre es jetzt noch verfügbar.»

Matthis’ Augen wanderten verunsichert zwischen ihr und den Schreibutensilien auf dem Tisch hin und her. Schließlich nickte er.

«Fahre fort!» Er schaute an ihr vorbei, als er das sagte und ging schnell aus dem Raum.

Traurig sah sie ihm nach. Ohne es zu wollen, hatte er sie wieder an das erinnert, was sie war. Eine Fremde in einem fremden Land.

Gegen Ende des dritten Mondes waren die Wege soweit befahrbar, dass Matthis’ Plan in die Tat umgesetzt werden konnte. Unter alten Erdapfelsäcken versteckt, hatte Matthis Lele aus dem Tal geschmuggelt. Einen Tag hatten sie in einer verlassenen Hütte am Rande der Tieflande verbracht, dann waren sie zurück nach Stillerthal aufgebrochen. Für ihren offiziellen Einzug hatte Lele sich ein altes Wollkleid von Matthis’ Mutter passend genäht, um den Kopf trug sie ein gelbes, mit Zwiebelschalen und Alaun gefärbtes Tuch geschlungen. So saß sie aufrecht oben auf dem Bock neben Matthis und schaute sich aufmerksam um. Die Schlucht, die hinauf nach Stillerthal führte, war so eng, dass sie unwillkürlich das Gefühl hatte, den Kopf einziehen zu müssen. Ein holpriger, steiniger Fahrweg wand sich neben dem schäumenden Wilderbach den Talboden entlang. Die kürzliche Schneeschmelze hatte tiefe Furchen hinterlassen, was das Durchkommen noch schwerer machte. Die Wälder, die die Steilhänge rechts und links des Weges erobert hatten, waren düster und zerzaust, etliche Stellen waren durch Schneebruch zu undurchdringlichem Gehölz geworden. Umso mehr staunte sie, als sich plötzlich nach einem letzten steilen Aufstieg die Weite Stillerthals vor ihr auftat. Dunkles Gehölz wich weiten braunen Feldern und Weiden, die von einem hochstämmigen lichten Bergwald umgeben waren. Die Bauernhöfe waren klein, aber gepflegt, die angrenzenden Gärten, in denen die Stillerthaler Bäuerinnen ihr Gemüse anbauten, wurden von niedrigen Mauern gegen die kalten Gebirgswinde geschützt.

Als sie im Dorf angekommen waren, stoppte Matthis den Ochsenkarren vor der Schmiede. Es war ein großes, aus runden Flusskieseln gebautes Gebäude, das zur Dorfstraße hin offen war. Neben der im Hauptgebäude untergebrachten Werkstatt schloss sich ein kleiner, einfacher Nebenbau an, in dem der Schmied Vingas und seine Frau Marilin den Dorfkrug, die einzige Gaststätte im Dorf, betrieben.

«Warte einen Moment, ich will Lundis Bescheid geben, dass er den Karren erst morgen früh bekommt.»

Kurz nachdem er den Dorfkrug betreten hatte, kam Matthis in Begleitung von vier schlicht gekleideten Männern heraus. Sie waren dunkelhäutig wie Matthis und starrten Lele unverhohlen an. Lele überwand ihre Scheu, nickte ihnen freundlich zu und sagte laut «Guten Tag». Zu ihrem Erstaunen erfolgte keine Gegenreaktion. Nicht ein kurzes Nicken mit dem Kopf, nicht ein gemurmelter Gruß.

Matthis verabschiedete sich hastig, dann setzte er sich auf den Karren und trieb den Ochsen an.

«Hab ich etwas falsch gemacht?», fragte Lele, als sie außer Sichtweite waren.

Matthis starrte geradeaus auf den Weg. Er nagte an seiner Lippe, dann nickte er zögernd.

«Die Frauen blicken hier den Männern nicht direkt ins Gesicht. Und sie sprechen fremde Männer nicht an. Es ziemt sich nicht. Aber ich habe erklärt, dass du aus der Stadt bist. Den Städtern werden lockere Sitten nachgesagt, sie werden es also verstehen, wenn du dich … anders verhältst.»

Lele nickte. Andere Länder, andere Sitten. Sie war töricht gewesen. Aber das Unwohlsein blieb. Es wich erst, als sie in der Vertrautheit des Matthishofes ankamen.


Müde von der frühmorgendlichen Arbeit im Stall und der Käserei ließ sich Matthis auf einen Stuhl fallen und zog sich den Teller Morgensuppe her, den Lele ihm gerichtet hatte. Nachdenklich betrachtete er sie. Sie hatte sich mit einer Flickarbeit vors Fenster gesetzt, um das hereinfallende Tageslicht auszunutzen. Konzentriert führte sie die Nadel durch eines der vielen Löcher seines Ersatzhemdes und verwob den Faden so gekonnt mit dem übrigen Stoff, dass man die Flickstelle kaum mehr als solche erkennen konnte.

Lele gab sich Mühe. Übernahm Arbeiten, die sie trotz ihrer Behinderung erledigen konnte, machte sich nützlich, wo immer es ging. Und dennoch war sie die Fremde, ihr Einzug in Stillerthal hatte es ihm nur allzu deutlich vor Augen geführt. Er kannte seine Landsleute und konnte sich gut vorstellen, worüber im Dorf gerade getratscht wurde. Wie hatte es diese unmanierliche Fremde geschafft, sich den Junggesellen Matthis zu angeln? Was fand Matthis an dieser vorlauten weißhäutigen Städterin, wo es im Tal so viele hübsche braune und gefügige Mädchen gab? Da war der Weg zu geflüsterten Mutmaßungen über Liebestrank und Hexenwerk nicht weit, und gerade das machte ihm Sorgen. Obwohl seine Mutter aus dem Tal stammte, war sie immer anders gewesen. Sie hatte das Tal verlassen, um in den Tieflanden die Heilkunst zu erlernen. War mit einem Kind, aber ohne Mann zurückgekehrt. Das Attribut Hexe war ihr ein Leben lang angehangen, selbst ihr plötzlicher Unfalltod war geheimnisumwoben und suspekt. Es hatte Matthis viele Jahre zäher Arbeit gekostet, ihren Schatten zu überwinden. Nun hatte dieser plötzlich neue Nahrung bekommen. Matthis hoffte darauf, dass die Gerüchte abebben würden, sobald Leles Schwangerschaft sichtbar würde. Die Stillerthaler waren abergläubisch, aber sie konnten rechnen. Vielleicht würden sie lachen und denken, dass Matthis auch nur ein Mann war und ihn das gleiche Schicksal ereilt hatte, das schon unzählige Geschlechtsgenossen vor ihm in den Ehestand gezwungen hatte. Aber noch war es nicht soweit, noch war die kleine Rundung von Leles Bauch zu unauffällig, um im Dorf bemerkt zu werden.

Gedankenverloren löffelte Matthis den Teller leer. Dann stand er auf, trug den Teller zum Spülstein, wusch sich die Hände und ging zur Tür, wo seine Ausgehjacke und die Lauschankutte hingen.

«Ich gehe zum Lauschan!», sagte er. «Bis später.»

Lele legte ihre Näharbeit beiseite und stand auf.

«Ich komme heute mit.»

Matthis erstarrte und sah sie verstört an.

«Frauen gehen nicht zum Lauschan.»

Nun war es Lele, die ihn entgeistert anschaute.

«Warum das?»

«Frauen gehen nie zum Lauschan. Sie können das nicht.»

«Was können sie nicht?»

«In der Stille des Lauschan sein.»

Lele runzelte ärgerlich die Stirn.

«Natürlich können Frauen in der Stille des Lauschan sein. Es gibt Gegenden, in denen es eine Selbstverständlichkeit ist, dass Männer wie Frauen zum Lauschan gehen.»

Matthis fühlte sich unwohl. Er war nie weiter als bis Wilderbrugg gekommen, wo er hin und wieder auf dem Markt seinen Käse verkaufte. Nun rang er um eine Erklärung.

«Aber Frauen sind … anders.»

«Sind wir das? Die Gesellschaft, in der wir leben, weist uns je nach Geschlecht Rollen zu, ja, aber sind wir deswegen anders? Fühlen wir nicht Schmerz, wenn wir uns schneiden, sind wir nicht froh, wenn uns eine Arbeit gelingt, oder ärgern uns, wenn uns etwas zerbricht? Wieso sollten wir anders sein?»

Matthis schwieg und sah stur an ihr vorbei.

«Du magst recht haben. Aber hier in Stillerthal gehen die Frauen nicht zum Lauschan. Es ist … undenkbar!»

Dann drehte er sich um und eilte aus dem Haus.

Doch das Gespräch verfolgte ihn. Wie ein schmerzender Zahn bohrte es sich immer wieder aus der Tiefe, wohin er es verdrängt hatte, zur Oberfläche hindurch und störte seine Gedanken. Die Ruhe, die er sonst beim Lauschan fand, blieb ihm dieses Mal versagt. Daher war er froh, als der alte Bovis das Ende des Lauschan einläutete, und noch erleichterter war er, als er feststellte, dass heute keiner der Jungbauern seinen Rat als Lauschan-Mahadan zu suchen schien. Matthis zog die Kutte, die ihn als Lauschan-Mahadan auszeichnete, aus, rollte sie zusammen und band sie sich um die Taille. Dann winkte er den anderen Mahadani einen kurzen Gruß zu und machte sich auf den Heimweg.

Es dauerte nicht lange, bis er Lele entdeckte. Sie hatte sich auf dem großen Findling am Rande der Dorfwiesen niedergelassen, ihr weißes Kleid und das gelbe Kopftuch leuchteten hell vor dem Graubraun des Vorfrühlingswaldes. Aufrecht saß sie da, ein Mahnmal für ihn und für alle, die es sehen konnten.

Mit mulmigem Gefühl schritt er ihr entgegen. Als er den Fels fast erreicht hatte, deutete er ein Nicken des Kopfes an.

«Hayda Lele», grüßte er.

«Hayda Matthis», lächelte sie und zeigte auf die freie Stelle neben ihr. «Komm, setze dich zu mir, der Stein ist warm und trocken.»

Matthis erklomm den Fels und ließ sich neben ihr nieder. Er scheute sich, sie anzusehen. Stattdessen wandte er den Kopf und ließ den Blick über das Tal schweifen. Sie hatte den Ort gut gewählt, die Aussicht war beeindruckend. Vor ihm breitete sich der von Wiesen und Feldern umsäumte Talgrund mit Teich und Dorf aus, etwas abseits sah man das baumumgrenzte Rund des Lauschan-pans. Wie ein lebender Baldachin wölbten sich die Äste über dem Platz und malten ihre Muster aus Licht und Schatten. Die Stille, die von dem Ort ausging, war bis hier oben zu spüren.

«Du hast uns zugesehen», begann er vorsichtig.

«Ist das auch verboten?»

Matthis schüttelte den Kopf. Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu. Die Person, die da neben ihm in der Sonne saß, aufrecht und gefasst, hatte nichts mehr gemein mit dem Bündel Mensch, das er oben bei den Wächterbäumen gefunden hatte. Stattdessen war ihm, als säße Sol selbst an seiner Seite, die vom Himmel herabgestiegen war, um über die Menschen zu richten.

«Ich weiß, dass es dich schmerzt», sagte er. «Aber ich kann die Traditionen nicht ändern.»

Lele wiegte nur den Kopf. Nachdenklich blickte sie ins Tal hinab, dorthin wo sich der nun verlassene Lauschan-pan befand.

«Was weißt du über Lauschan?», fragte sie unvermittelt.

Matthis hob erstaunt den Kopf. Eine Frage statt der erwarteten Vorwürfe. Er überlegte, was ihm Thamis über die Entstehung des Lauschan erzählt hatte.

«‹Verweile in Stille, lausche den Stimmen der Welt, und du wirst Aoum hören.› Das ist Lauschan. Eine Disziplinierung des Geistes. Den Männern vorbehalten, als Wegweiser für die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und als Reinigung der Sinne. Manche glauben, das Lauschan sei uns von den Feh gebracht worden. Aber das sind Märchen. Die Feh lebten vor der Zeit der Menschen. Sie sind schon lange tot.»

Lele schwieg. Plötzlich lachte sie trocken auf.

«Es ist eine Strafe. Grausam, aber gerechtfertigt!» Unwillkürlich strich sie sich mit ihrer gesunden rechten Hand über ihren versehrten linken Arm. «Darf ich dir berichten, woher das Lauschan kommt?»

Matthis nickte.

«Nicht die Feh haben das Lauschan gebracht, sondern das Volk der Aydin. Die Aydin waren ein friedliebendes Volk, das viel Wert auf die Zubereitung wohlschmeckender Nahrung und die Herstellung von Kunsthandwerk legte. Und sie praktizierten Lauschan. Leider waren ihre Nachbarn nicht so friedliebend. Immer wieder wurden die Aydin überfallen, ihre Kunstwerke zerstört, die Königin enthauptet, die Männer niedergemetzelt und die jungen Frauen geraubt. Daher beschloss Maoma, die letzte Königin der alten Welt, ihr Volk in ein neues Land zu führen, an einen Ort, an dem sie sicher vor Krieg und Zerstörung leben konnten. In einfachen Flößen machten sie sich auf den Weg über das große Wasser. So kamen sie nach Fehrin. Da an den Ufern des großen Wassers schon Menschen lebten, zogen sie weiter in die Berge bis nach Stillerthal. Das Land war öde und leer und galt als unbewohnbar, dennoch wagte die Königin den Schritt. Der Anfang war schwer und viele Aydin bezahlten den Entschluss der Königin, die karge Gebirgsregion zu besiedeln, mit dem Leben. Der erste Winter war lang und hart, die Vorräte gingen rasch zur Neige und der Hunger war ein steter Gast. Es wäre das Ende der Aydin gewesen, wenn nicht die Feh, die hier im Verborgenen lebten, sich vom Los der Aydin hätten berühren lassen und ihnen gezeigt hätten, wie sie die Technik des Lauschan vervollkommnen und die Erde fruchtbar machen konnten. Denn die Feh, Matthis …», Lele hob den Kopf und blickte Matthis direkt in die Augen, «… die Feh sind nicht tot. Sie leben immer noch. Und Lauschan ist weit mehr als nur eine Disziplinierung des Geistes. Richtig ausgeführt lenkt es die Energien Aoums und schenkt den Schwachen einen Abglanz seiner Macht.»

Lele verstummte. Ihr Blick glitt über das bunte Muster aus dunklen Gehöften, zaghaft grünenden Wiesen und frisch gestochenen Feldern. Sie seufzte.

«Leider konnten manche Khor-Kami nicht mit dieser Macht leben. Sie trachteten nach mehr Einfluss und Wohlstand. Also heuerten sie Arbeiter aus dem Tiefland an und ließen sie für sich arbeiten. Das war der erste Bruch mit der Tradition der Aydin, denn bis dahin galt, dass jeder in Freiheit für sich arbeitete und nur selbst hergestellte Waren zum Tausch anbot. Das zweite Vergehen war, dass die Khor-Kami ihre Fremdarbeiter in die Technik des Lauschan einweihten und diese an ihrer statt zum Lauschan schickten. Es gab Streit und ein böser Geist hielt Einzug in das Tal. Ein zweites Mal griffen die Feh ein und erzählten der Alda vom Land hinter den Bergen. So beschloss die Alda mit denen weiterzuziehen, die an den alten Gebräuchen festhalten wollten. In Stillerthal aber», mit einer weiten Armbewegung zeigte Lele auf das sich vor ihren Augen erstreckende Tal und lachte ein kurzes hartes Lachen, «in Stillerthal mischten sich die zurückgebliebenen Aydin mit den Fremdarbeitern und Lauschan wurde eine Angelegenheit der Männer.»

Matthis sah sie an.

«Du bist eine Aydin?»

Lele nickte.

«Ja. Ich bin eine Tochter derer, die weitergezogen sind.»

Ehrfurchtsvoll blickte Matthis hinauf auf den so unüberwindbar wirkenden Kranz der schneebedeckten Berge.

«Dann gibt es tatsächlich das Land hinter den Bergen!»

«Ja. Es gibt das Land und es war ein Paradies», antwortete Lele, aber ihre Stimme klang dumpf, als sie das sagte. Kaum hörbar fügte sie hinzu: «Es wurde zur Hölle …».

Dann sagte sie nichts mehr. Matthis hörte ihrem schweren Atem an, welche Anstrengung es kostete, die Erinnerung niederzuringen. Taktvoll schwieg er. Schließlich stand er auf und streckte die müden Glieder. Er reichte ihr seine Hand.

«Komm, lass uns nach Hause gehen.»

Matthis half Lele, vom Felsen hinunterzusteigen, und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.


Lele trat aus dem Haus und sah sich suchend nach Matthis um. Sie entdeckte ihn oben am Waldrand auf dem neuen Feld, das er urbar gemacht hatte. Mit gleichmäßigen wuchtigen Schlägen hieb Matthis mit der Hacke den störrischen Bergboden auf. Sein Gesicht war verschlossen und konzentriert, wie immer, wenn er arbeitete. Es war ein paar Masuren her, dass Matthis beschlossen hatte, ein kleines ebenes Waldstück, das an die Winterweide des Matthishofs grenzte, zu roden und dort ein weiteres Feld anzulegen. Er hatte die Bäume gefällt und zu Brennholz gehackt, hatte sich Lundis’ Ochsen ausgeliehen, um die Wurzelballen aus der Erde zu ziehen, hatte das Reisig verteilt und abgebrannt, als Dünger für die Erde. Nun bereitete er das Gelände für die Saat vor. Lele wusste, dass er es für sie tat. Ihr Magen war die fettreiche Kost nicht gewohnt und hatte des Öfteren rebelliert. Nun wollte Matthis für etwas mehr Korn auf dem Speiseplan sorgen.

Sie hatte in den letzten Monden viel gelernt über das Leben der Bergbauern in Stillerthal. Jedes noch so kleine Feld musste dem Berg abgerungen und von Steinen befreit werden. Stallmist war ein wertvolles Gut, immer und immer wieder wurde er umgesetzt und gewendet, damit er reifte und auf die Felder und den Gemüsegarten aufgebracht werden konnte. Zweimal am Tag wurden die Kühe gemolken, um die Euter zu schonen. Und auch die Käseherstellung war mühsam und zeitaufwendig. Sie hatte größten Respekt vor diesen Menschen, vor der Selbstverständlichkeit, mit der sie die täglich anfallenden schweren Arbeiten verrichteten, und dem klaglosen Hinnehmen der mageren Ausbeute.

Lele packte einen Krug Wasser, ein Tuch und den gut gefüllten Teller in die Kiepe und ging zu Matthis.

«Hayda Matthis!»

Matthis setzte die Hacke ab, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.

«Die Sonne steht hoch, es ist Zeit für eine Pause.»

Matthis nickte und setzte sich in den Schatten unter den nächsten Baum. Er wusch sich mit etwas Wasser aus dem Krug die Hände, dann nahm er Teller und Löffel entgegen und begann hastig, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Plötzlich hielt er inne und schaute erstaunt auf seinen Teller. Er kaute weiter, nun langsamer und bewusster. Schließlich schluckte er.

«Es», er zeigte auf seinen Teller, «es schmeckt … sehr gut!», sagte er anerkennend. «Aromatisch.»

«Danke!», sagte Lele.

Insgeheim lächelte sie. Es war nicht schwer, Matthis’ fade, gewürzarme Kochkunst zu übertrumpfen. Dennoch freute sie sich. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, Matthis ein klein wenig von dem zurückzugeben, das er ihr geschenkt hatte: ein neues Leben, eine neue Heimstatt. Beim Durchstreifen der Wiesen und der nahen Wälder hatte sie zahlreiche essbare Kräuter entdeckt, die sie aus Aldan-Aymurin kannte. Gerne nutzte sie diese, um der kargen Frühjahrskost etwas mehr Geschmack zu geben.

«Die Kartoffeln habe ich in der Schale gekocht und danach mit Dornkraut angeröstet. Das Grün sind frische Federblatttriebe. Federblattsalat ist eine beliebte Delikatesse im Frühjahr, wenn noch nicht viel wächst. Und den Schmelzkäse hab ich mit frischem Schneewurz und Wintergrün bestreut, dann ist er besser verträglich.»

Lele setzte sich entspannt neben Matthis ins Gras und sah zu, wie er seinen Teller leerte. Welch ein Unterschied zu den ersten Wochen ihres notgedrungenen Zusammenlebens. Das Gespräch auf dem Felsen, ihre Offenbarung, hatte den Wandel gebracht. Die Scheu, die bis dahin das Verhältnis zwischen ihr und Matthis bestimmt hatte, war einer vorsichtigen Vertrautheit gewichen. Das Schweigen, wenn es nichts zu sagen gab, war nicht mehr beängstigend, die kurzen Alltagsgespräche zwanglos und freundlich. Deshalb wagte sie, die eine Frage zu stellen, die in ihr gärte, seit sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht war.

«Matthis, damals, als du mich gefunden hast, hatte ich da noch etwas anderes außer meinen Kleidern an mir? Eine Kette mit einer Art Amulett?»

Matthis sah auf und dachte nach. Schließlich schüttelte er den Kopf.

«Nein.»

«Bist du sicher? Vielleicht hast du es nur vergessen. Vielleicht fandest du es schön und hast es genommen, ohne weiter darüber nachzudenken …»

Matthis legte den Löffel beiseite und nahm ihre Hand.

«Lele, da war nichts. Ich würde dich nie bestehlen.»

Lele fühlte, wie sich Eiseskälte in ihr ausbreitete. Sie hatte die Antwort erhalten, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte.

«Dann ist es verloren», flüsterte sie. «Die Zukunft und die Vergangenheit …»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Nichts ist verloren. Du HAST etwas verloren. Was verloren wurde, kann wiedergefunden werden.»

Lele starrte vor sich, in die braungrauen Schollen der frisch gestochenen Erde.

«Ich hoffe, du hast recht … Denkst du, wir können schon suchen gehen?»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Oben auf den Almen liegt noch Schnee. Du musst dich noch etwas gedulden.»

Seit diesem Gespräch waren viele Tage vergangen. Die heller und länger werdenden Tage zeigten, dass die Warmzeit nicht aufzuhalten war. Immer wieder schaute Lele nach oben auf die Almwiesen und beobachtete, wie die Schneedecke dünner und löchriger wurde. Als sie die ersten freien braunen Stellen sah, holte sie Matthis und zeigte nach oben.

«Schau, es ist Zeit. Ich denke, wir können suchen gehen.»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Dort oben ist noch Winter. Wir müssen warten.»

Als nur noch wenige weiße Flecken an den Winter erinnerten, zeigte sie erneut hinauf.

«Schau, es ist Zeit. Ich denke, jetzt können wir suchen gehen.»

Wieder schüttelte Matthis den Kopf.

«In den Kuhlen liegt noch Schnee. Wir müssen warten.»

Doch irgendwann kam der Tag, an dem Matthis nach oben zeigte, wo die von einem grünen Schleier überzogenen Almen in der Morgensonne leuchteten.

«Heute ist ein guter Tag zum Suchen. Bist du bereit?»

Jetzt, wo es soweit war, hatte sie plötzlich Angst. Angst, den Ort zu sehen, wo Matthis sie gefunden hatte. Angst, dass es nicht da sein könnte. Dennoch nickte sie und packte etwas zu Essen in die Kiepe. Dann brachen sie auf.

Es funkelte ihnen aus dem trockenen alten Gras entgegen. Schimmernd und rein, so als wäre kein Winter und keine Schneeschmelze darüber hinweggegangen. Behutsam nahm sie es auf und hielt es gegen die Sonne. Je nachdem wie sie es drehte, leuchtete das Amulett in dunklem Schiefergrau, klarem Silber oder warmem Gold. Die filigran in sich verschlungenen Arabesken, die sich erst bei genauerem Hinsehen als Teil eines meisterhaft geschmiedeten Baumes erkennen ließen, waren unbeschädigt. Wie kleine Samenkörner hoben sich die fein granulierten Äpfel von dem durchbrochenen Laubwerk ab. Selbst die fein geflochtene Kette sah aus wie neu.

Staunend betrachtete Matthis die kunstvolle Schmiedearbeit.

«Was ist das für ein Metall?»

«Trisellerium. Eine Legierung der drei Edelerden.»

Lele nahm es auf, hängte es sich um den Hals und ließ es schnell in ihren Ausschnitt gleiten, wo es versteckt zwischen ihren durch die Schwangerschaft angeschwollenen Brüsten lag. Matthis musterte sie nachdenklich.

«Es würde auffallen hier im Tal», verteidigte sie ihr Tun.

Matthis nickte nur. Er griff sich seinen Stock und streckte Lele seine Hand entgegen.

«Komm, Zeit für die Rückkehr.»

Dankbar griff Lele nach Matthis’ Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Die Last ihres Körpers machte sich mittlerweile bemerkbar. Ein Teil der Last auf ihrer Seele dagegen war ihr genommen. Erleichtert und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr folgte sie Matthis den schmalen Pfad zum Matthishof hinunter.


Zwei Masuren lang hatte Matthis die Unbeständigkeit des Wetters mit wachsender Ungeduld verfolgt. Dann endlich zeigte sich der Himmel in dem Blau, auf das er so lange gewartet hatte. Er war licht und klar, des Abends mit weißen Quellwolken über den Bergen. Der Almauftrieb konnte beginnen.

Obwohl die Zeit, in der die Kühe auf der Hochalm standen, noch mehr Arbeit als sonst brachte, war sie kostbar. Die Winterweiden rund um den Hof konnten sich erholen, ohne deren Heu seine Kühe im Winter verhungern würden. Außerdem liebten die Kühe den Auslauf und das würzige Almengras und gaben kräftig Milch. Matthis’ Almkäse war begehrt und galt als Delikatesse.

Matthis war daher gut gelaunt, als er am Nachmittag des Auftriebs mit einem gut gefüllten Eimer Milch von der Matthisalm zurückkam. Er trat aus dem Wald hinaus auf die sonnenbeschienenen Wiesen, die den Matthishof umgaben. Er blieb einen Moment stehen und ließ den Blick schweifen. Die Winterweiden waren abgegrast, aber auf den Feldern sprossen Grünkorn, Einkorn und Erdapfel. Die schindelgedeckten Dächer der Matthishofgebäude – Wohnhaus, Kuhstall, Käserei, Hühnerschlag und der in den Hang gebaute Naturkeller – glänzten goldbraun in der warmen Nachmittagssonne. Der Matthishof hatte seinen Namen verdient, dachte er nicht ohne Stolz. Nichts erinnerte mehr an die armselige Kate des Großvaters, in den seine Mutter mit ihm auf dem Rücken aus den Tieflanden zurückgekehrt war.

Und bald, dachte er, würde er eine Familie beherbergen. Er winkte Lele zu, die unten auf der Bank vor dem Wohnhaus saß, aber sie reagierte nicht. Sie starrte abwesend und in Gedanken verloren vor sich hin. Er kannte dasselbe Verhalten von seinen Kühen, wenn sie kurz vor dem Kalben waren. Sie legten sich oft hin, wurden unruhig und suchten den Abstand. Bei Lele, deren Bauchumfang in den letzten Masuren kräftig zugenommen hatte, würde es nicht mehr lange dauern, er rechnete jeden Tag mit ihrer Niederkunft.

Matthis legte die kurze Strecke bis zum Hof zurück und grüßte sie.

«Hayda Lele!», sagte er, zog aufatmend die Kiepe vom Rücken und streckte sich.

Lele schaute versonnen auf.

«Hayda Matthis», antwortete sie und lächelte. «Brot und Käse stehen in der Stube, du brauchst dich nur bedienen. Ich habe auch Hornblattsalat gemacht, der wächst jetzt frisch.»

Matthis nickte und wollte gerade gehen, als sein Blick auf den Gegenstand fiel, der neben ihr auf der Bank lag. Es war ein aus Stoffstreifen kunstvoll gedrehtes Stück Tau, dessen beide Enden in zwei Schlaufen ausliefen, gerade groß genug, um eine Hand hindurchzuführen.

«Was ist das?», fragt er.

«Das ist ein Pandrum. Die Frauen in meinem Land verwenden es für die Geburt. Schon lange vor der eigentlichen Geburt wählen wir uns unseren Geburtsbaum. Wenn es soweit ist, suchen wir ihn auf, um das Kind zu gebären. Dafür werfen wir das Pandrum über einen Ast und hängen uns daran. So bleiben wir auch im größten Schmerz aufrecht.»

Matthis schwieg kurz, dann sagte er:

«Hier im Tal bekommen die Frauen die Kinder im Liegen.»

Lele nickte.

«Das habe ich gehört.»

«Ich kann die Heilerin bitten zu kommen.»

«Die Frau, die Annin empfohlen hat, ihren Bauch mit Urin einzureiben, damit es ein Junge wird? Nein danke!»

Matthis schwieg wieder.

«Du willst das Kind alleine zur Welt bringen?», fragte er zögernd.

Lele nickte und lächelte ihn zuversichtlich an.

«So will es die Tradition. Es ist die Hürde, die jede Frau nehmen muss, um den Schritt von der Ruwen zur Maruwen zu machen. Generationen von Frauen vor mir sind diesen Schritt gegangen. Ich werde ihn auch gehen.»

Matthis betrachtete sie einen Moment, dann nickte er.

«Dann gehe ich mir mal was zu essen holen.»

Kurz bevor er durch die Tür trat, drehte er sich noch einmal um.

«Hast du dir deinen Geburtsbaum schon gewählt?»

Lele zögerte kurz, schließlich sagte sie:

«Du kennst ihn. Es ist die Birke auf der kleinen Lichtung im Wald.»

Matthis nickte.

«Eine gute Wahl!», brummte er und verschwand im Haus.

Sein Gespür hatte ihn nicht getrogen. Als er am nächsten Tag in den frühen Morgenstunden aufstand, um auf die Alm zu gehen, hörte er Lele im Schlaf stöhnen. Ihre Zeit war gekommen. Matthis zögerte kurz, dann machte er sich auf den Weg hinauf zur Alm. Die Kühe duldeten keinen Aufschub. Aber er machte sich Sorgen. Lele hatte sich zuversichtlich gegeben, aber wahrscheinlich wusste sie wie er, dass es eine schwere Geburt werden würde. Ihr Körper hatte viel durchgemacht in diesem letzten Jahr – zu viel, um gut mit der Anstrengung der Geburt fertig zu werden. Und das aufrechte Gebären mit Hilfe des Pandrums würde für ihren linken Arm eine Tortur sein.

Als er von seinem Melkgang zurückkam, fand er das Haus wie erwartet verlassen vor. Auf dem Herd stand ein Topf Suppe und auf dem Tisch standen Teller und Löffel bereit. Er goss sich den Teller voll und setzte sich, um zu essen. Er hatte den Teller zur Hälfte leer, als er den ersten Schrei hörte. Danach war wieder Stille. Ruhig aß Matthis seinen Teller leer, stellte das Geschirr in den Ausguss und richtete eine Schüssel Salzwasser, um die Käselaibe abzuwischen. Dann ging er zum Felsenkeller der Käserei, in dem er seinen Käse lagerte. Der zweite Schrei begleitete ihn, als er den Keller betrat, der dritte begrüßte ihn, als er aus der kühlen Dunkelheit wieder ans Licht trat. Bald kamen die Schreie häufiger, sie begleiteten ihn über den Tag. Auf die Wiesen, wo er Disteln rupfte, auf die Felder, wo er Kompost aufbrachte, in den Gemüsegarten, wo er Unkraut jätete. Sie begleiteten ihn hinauf auf die Alm, als er am Nachmittag das zweite Mal zum Melken ging.

Erst als er zurückkam und keine Schreie mehr vernahm, suchte er Lele. Er fand sie am Fuße der Birke. Das hochgebundene Kleid und die Beine waren verkotet und blutverschmiert, die rotglibberige Nachgeburt schimmerte im Gras. Das Neugeborene lag neben ihr und wimmerte leise. Vorsichtig nahm Matthis das Kind auf und betrachtete es. Es war ein Mädchen. Es sah noch etwas bläulich und zerdrückt aus, ansonsten wirkte es gesund. Er wickelte das Kind in eines der Tücher, die Lele vorsorglich mitgebracht hatte. Dann inspizierte er die Nachgeburt. Er nickte, als er sah, dass sie vollständig war. Mit einem Stück Bruchholz grub er ein Loch am Fuße Birke, legte die Nachgeburt hinein und bedeckte sie mit Erde. Jetzt erst wandte er sich Lele zu.

«Maruwen!», sagte er anerkennend.

Er half ihr, die Hände aus den Schlaufen zu lösen, und stützte sie, als sie taumelte. Schließlich band er sich das Neugeborene auf den Rücken und führte Lele langsam zum Hof zurück.


Matthis hatte Lele geholfen sich zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen. Jetzt lag sie in ihrem Alkoven, noch immer überwältigt von dem Sturzbach der Gefühle, die der Tag gebracht hatte. Niemand hatte sie vorbereitet auf die Dimension des Geburtsschmerzes. Zu Hause hätten erfahrene Marimi sie Techniken gelehrt, den Schmerz wegzuatmen. Hier musste sie alleine mit den Wehen, die wie Messerstiche ihren Unterleib zerschnitten, fertig werden. Mit der Angst, das Kind könnte steckenbleiben und sie beide könnten einen qualvollen Tod erleiden. Die Wut, mit der sie ihre letzten Kräfte in die Presswehen fließen ließ, und der Stolz, als sie das Kind zur Welt gebracht hatte. Maruwen! Der respektvolle Ton, in dem Matthis dies gesagt hatte, klang noch in ihr nach.

Nachdenklich sah sie Matthis zu, der das Neugeborene auf den Küchentisch gelegt hatte und untersuchte. Beruhigend und leise redete er auf das kleine Wesen ein, während er es mit geübten Händen drehte und wendete. Lächelnd wandte er sich an Lele.

«Glückwunsch, Lele! Du hast eine kerngesunde Tochter zur Welt gebracht.»

«Du machst das gut», sagte sie. «Wo hast du das gelernt? Bei deiner Mutter?»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Fast alles, was ich weiß, habe ich von den Kühen gelernt. Seit ich sieben oder acht war, war ich alleine für sie verantwortlich. Manchmal kam es vor, dass eine Jungkuh ihr Kalb nicht annahm oder nicht genug Milch hatte oder starb. Ich habe dann die Kälber großgezogen. Hab sie gefüttert und umsorgt. Dabei habe ich gelernt, wie sie denken. Sie sind so hilflos, wenn sie klein sind. Alles ist bedrohlich. Wenn der Magen wehtut, weil sie Hunger haben, wenn der Bauch wehtut, weil sie Koliken haben, wenn sie ängstlich sind, weil sie alleine sind. Dann muss man da sein, mit ihnen sprechen, ihnen das Gefühl geben, alles wird gut.»

Er nahm einen Lappen und massierte mit sanften, aber zügigen Bewegungen die Käseschmiere ein. Das Neugeborene protestierte lauthals gegen die Behandlung. Matthis ließ sich nicht beirren. Schließlich gab er etwas Salbe auf den frischen Nabel, dann windelte er das Kind und wickelte es in ein weiches Wolltuch ein. Er reichte es Lele.

«Du musste es jetzt anlegen, das regt den Milchfluss an.»

Lele band ihr Hemd auf und legte das Neugeborene an. Sofort verstummte das Geschrei und die Kleine begann zu saugen.

Matthis nickte zufrieden. Er wusch Leles verschmutztes Kleid und die dreckigen Tücher aus und hängte sie zum Trocknen an das Holzgestänge über dem Herd. Dann wandte er sich wieder Lele zu. Er deutete auf das Kind.

«Es braucht einen Namen.»

Lele nickte. Sie schaute auf das kleine Mädchen an ihrer Brust. Die fast weiße Haut, der helle Flaum auf dem Kopf, die kleinen, zu Fäusten geballten Hände. Noch etwas, auf das sie niemand vorbereitet hatte: dass das größte Glück mit dem größten Schmerz zusammenfallen konnte. Nun war es entlassen, dieses Geschöpf, das sie mehr liebte als sich selbst. Entlassen in sein eigenes Leben. In welches Schicksal, das wusste nur Aoum. Zart strich sie über die weichen Wangen.

«Aeolin», flüsterte sie mit rauer Stimme. «Stern, der im Dunkel leuchtet.» Sie lauschte dem Klang des Namens, nickte. «Aeolin», sagte sie laut, wie um sich des Versprechens, das der Name ihres Kindes enthielt, zu versichern. Sie wandte den Kopf, damit Matthis die Tränen nicht sah.

Ein Waldbauernhof war kein Ort, an dem man lange im Bett liegen konnte. Lele wusste das. So stand sie trotz den dumpfen Schmerzen im Unterleib und dem fast tauben linken Arm, der brannte, als würde er in Flammen stehen, am nächsten Morgen kurz nach Matthis auf, kochte die Frühsuppe, ließ die Hühner aus dem Stall und fütterte sie, jätete Unkraut im Gemüsegarten und brachte reifen Dung auf. Am Nachmittag suchte sie die frisch gelegten Eier, erntete Gemüse für das Abendmahl und kochte. Wenn die Kleine schrie, nahm sie sie hoch, band ihr Kleid auf und legte sie an.

Eigentlich war alles gut. Sie hatte Schmerzen und war noch schwach, zeigte aber keine Anzeichen einer Infektion. Aeolin war gesund und hatte einen kräftigen Zug. Dennoch fühlte sich Lele unruhig und getrieben. Als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. In der Nacht lag sie wach und konnte nicht schlafen. Ruhelos lauschte sie dem leisen Schnorcheln der ruhig schlafenden Aeolin und Matthis’ entspannten, flachen Atemzügen aus dem Nachbaralkoven.

In der Zeit zwischen Mitternacht und Morgen hatte sie ein seltsames Erlebnis. Eine Art Wachtraum. Sie ging einen finsteren, engen Gang entlang. Der Gang lag totenstill und verlassen, dennoch hatte sie Todesangst. Immer wieder sah sie sich um und lauschte, aber außer ihren eigenen schweren Atemzügen war nichts zu hören. Und dann war der Gang zu Ende, verschlossen durch eine schwere Holztür. Nur eine kleine Holzklappe, die als Durchreiche gedacht war, stand offen. Zwei schwarze, mandelförmige Augen blickten hindurch, so als suchten sie etwas. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurden. Der dunkle, forschende Blick fiel auf sie selbst, Lele. Ein schwarzes Augenpaar senkte sich in ihr dunkelblaues Paar Augen. «Komm», sagten sie.

Lele schälte sich vorsichtig unter ihrer Decke hervor. Sie schritt durch die Stube und trat ans Fenster. Der fast volle Mond beschien das Land und verwandelte es in ein Gemälde aus Schwarz und Weiß. Suchend ließ sie ihren Blick über die Wirtschaftsgebäude, den Gemüsegarten und die fahl im Mondlicht schimmernden Weiden und Getreidefelder schweifen. Sie entdeckte sie an der Mündung des Wegs, der zur Alm hoch führte. Die in dunkle Schleier gekleidete Gestalt hob sich schwarz von der hellgrauen Wiese ab. In gespannter Erwartung blickte sie zu ihr hinüber. Nun schien sie zu bemerken, dass sie gesehen wurde. Sie hob kurz winkend den Arm, dann verschwand sie im Dunkel der Bäume.

Lele wankte. Sie krallte sich am Fensterbrett fest, um nicht zu fallen. Die Erkenntnis, dass sie die Gestalt kannte, kam über sie wie ein Donnerschlag. Der dunkle Schleier, der sich über ihre Flucht gelegt und den sie so bereitwillig akzeptiert hatte, riss und gab die Erinnerung frei.

Wie durch ein Wunder war sie dem unfassbaren Morden entkommen. Schwer verletzt, aber am Leben. Sie hatte die verborgene Tür zu den Fluchtgängen geöffnet und die unterirdische Welt betreten. Sie sah sich durch die fast vergessenen Flure hetzen bis dorthin, wo die Holztüre mit der Klappe den Gang verschloss. Anders als in ihrem Wachtraum öffnete sich die Tür und eine in dunkle Schleier gekleidete Gestalt winkte sie zu sich. Sie folgte ihr durch lichtlose, in den Fels gehauene Gänge, bis sie weit oben in den Bergen wieder ins Tageslicht traten. Sie sah sich selbst, wie sie dem Sterben nah auf dem schmalen Pfad im Gebirge lag. Sie krümmte sich vor Schmerzen, hatte viel Blut verloren und war am Verdursten. Wie durch Nebel sah sie die Gestalt auf sich zukommen. Sie strich mit der Hand über den verletzten Arm, flößte ihr ein süßes und warmes Getränk ein. Ein anderes Mal waren es die Augen, die sich in der Dunkelheit über sie beugten, sie weckten und zum Weitergehen ermunterten und sie so vor dem Erfrieren retteten. An vielen Stellen war der Alte Pass kaum mehr zu erkennen. Doch immer wenn sie nicht mehr weiter wusste, wenn sie sich verirrt hatte, zeigte sich in der Ferne die verschleierte Gestalt und führte sie auf den Weg zurück.

Lele zog ihre Schuhe an, schlang sich ihr Tuch um die Schultern und ging nach draußen. Ohne zu zögern trat sie in die mondschattige Dunkelheit der Bäume und folgte dem Pfad, der in Serpentinen den Bergwald hinauf zur Matthisalm führte. Schwer atmend und erschöpft trat sie schließlich aus dem niederen Gehölz am Rande der Baumgrenze hinaus auf die Alm.

Hier oben beleuchtete der Mond ungehindert die weiten Hochweiden. Das kleine Almgebäude und die dunklen Leiber der schlafenden Kühe zeichneten sich deutlich gegen die hellen Wiesen ab. Suchend blickte sie sich um. Endlich sah sie die Gestalt; sie stand oben bei den beiden Wächterbäumen. Dort, wo Matthis sie entdeckt hatte, dort, wo sie ihr verlorenes Amulett wiedergefunden hatte. Leles Herz klopfte. Von der Anstrengung des Aufstiegs und vor Aufregung. Würde sie ihren Retter, ihre Retterin kennenlernen? Eilig stieg sie das letzte Stück bergan.

Ihre Hoffnung auf ein Kennenlernen wurde enttäuscht. Kurz bevor sie die beiden Bäume erreichte, hob ihr verschleierter Führer den Arm, deutete ein kurzes Winken an, dann war er im schwarzen Schatten zwischen den beiden Bäume verschwunden. Eine Antwort auf die Frage, warum sie hier hoch geführt worden war, fand sie dennoch. Als sie sich atemlos am Fuße der beiden Bäume auf die Knie niederließ und durch den schmalen Spalt zwischen den beiden Bäumen blickte, durch den ihr Führer verschwunden war, enthüllte sich ihr das «Wahre Tor». Im letzten Licht des untergehenden Mondes sah sie den unscheinbaren Riss, der die undurchdringlich wirkende Felswand teilte. Plötzlich fiel er ihr wieder ein, der alte Vers aus dem Buch des Zweiten Zuges. «Den Stolzen zeigt sich der Himmel, den Demütigen zeigt sich der Weg.» Nur wer kniend hier durchsah, fand die verborgene Passage zum Alten Pass. Die Bäume waren in der Tat Wächter, aber sie bewachten nicht das Tal, sondern den Alten Pass. Sie waren das Tor, durch das man gehen musste, um den Weg über die Berge zu finden.

Und noch etwas anderes fand sie. Einen neugeborenen Knaben. Das Kind lag nackt und schlafend zwischen den Wurzeln der beiden Bäume, in einem Nest aus Farnkraut. Mit seiner dunklen Haut und dem schwarzen Haarflaum sah es fast selbst wie ein Teil des Baumes aus. Selige Ruhe lag auf seinem Gesicht, als gäbe es nichts zu fürchten auf der Welt. Um den Hals des Kindes hing eine silberfarbene Kette mit einem muschelförmigen Amulett. Lele stockte der Atem, als sie den Anhänger sah. Unwillkürlich fasste sie an den eigenen Anhänger, den sie schon verloren geglaubt und dann wiedergefunden hatte. Vorsichtig nahm sie ihn vom Hals und hielt ihn neben den Anhänger des Kindes. Die fein ziselierten Arabesken beider Anhänger griffen ineinander, als hätten sie schon immer zueinander gehört. Aus zwei Muscheln war ein Zweidrittelkreis entstanden, der den oberen Teil eines Baumes darstellte. Die gewundenen und verzweigten Äste waren verziert mit schlankem Blattwerk, aber nur eine Seite des Baumes trug volles Laub und Frucht. Stumm starrte sie auf das Geschmeide in ihrer Hand, dann küsste sie es und führte es an Stirn und Herz.

Schließlich beugte sie sich hinab und nahm das Kind vorsichtig auf. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, ein kurzes Seufzen, dann fiel es wieder in tiefen Schlaf. So gut es ging, band sich Lele das Kind mit ihrem Tuch auf den Rücken und machte sich auf den Heimweg.

Matthis stand mit der weinenden Aeolin auf dem Arm im frühen Dämmerlicht vor dem Haus und schaute ihr entgegen. Seine Haltung zeigte eine Mischung aus Ärger und Besorgnis. Lele eilte zu ihm.

«Was …», begann er mit zorniger Stimme, führte seine Frage aber nicht zu Ende. Verwirrt starrte er auf das Kind, das ihm Lele in den Arm drückte. Lele band sich das Kleid auf, nahm die schreiende Aeolin und legte sie an. Sofort kehrte Stille ein.

Matthis schaute ratlos zwischen ihr und dem Kind auf seinem Arm hin und her.

«Was ist passiert?», fragte er schließlich.

«Ich habe ihn gefunden», sagte sie, noch atemlos von dem Marsch. «Oben bei den Wächterbäumen. Ich hatte … eine Vision», fuhr sie vorsichtig fort, um nicht zu viel preiszugeben. «Das drängende Gefühl, etwas verloren zu haben, das ich dort oben finden würde. Ich musste hoch!»

Nachdenklich schaute er sie an, nickte schließlich. Er betrachtete das Kind in seinen Armen.

«Bei den Bäumen hast du ihn gefunden. Ein kleiner Tannenschössling also.»

«Er kann doch hier bleiben?», fragte Lele. Matthis war der Herr über den Hof, die Entscheidung lag bei ihm. Matthis zögerte einen Moment, dann nickte er.

«Der Matthishof wird ihn schon ernähren können.»

Vorsichtig legte er das Kind auf die Bank neben Lele und holte sich Stock und Kiepe.

«Ich muss zu den Kühen, bin schon spät dran», brummte er und eilte davon.

Sie nannten den Knaben Tann, nach dem Ort, an dem Lele ihn gefunden hatte. Von ihrem unbekannten Führer erzählte Lele nichts. Matthis fragte auch nicht nach. Er schien akzeptiert zu haben, dass seine Gefährtin ein Geheimnis umgab. Das Amulett ließ Lele ebenfalls unerwähnt. Noch am selben Morgen, als Matthis oben bei den Kühen war, trennte sie eine Naht ihres Kopfkissens auf, wickelte die beiden Amulettteile in ein Stück Stoff, versteckte sie zwischen den Federn und schloss die Naht. Erst danach atmete sie auf. Das Vorgefallene hatte eine Ahnung in ihr wachgerufen, die jedoch noch zu vage war, um darüber zu sprechen. Besser war es, die Dinge erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Aber sie nahm sich vor, wachsam zu bleiben.


Zwei Vogeleier und drei schöne Kekkerschwanzfedern – Vince war mit seiner Ausbeute zufrieden. Gut gelaunt stapfte er den Weg zum Matthishof hoch. Der Vater hatte ihn geschickt. Klara, ihre beste Milchkuh, sollte kalben, aber es ging nicht vorwärts. Entweder sie muhte oder sie stand apathisch im Koben. Matthis’ Künste waren gefragt.

Vince fand es schade, dass er nicht mehr Kuhbub auf dem Matthishof sein konnte.

«Tut mir leid, Vince, aber wenn das Kind da ist, sind wir zu dritt, da wird die Stube zu klein für einen Kuhbuben», hatte Matthis gesagt.

«Ich kann im Stall schlafen», hatte er vorgeschlagen.

Matthis hatte gelacht und ihm das Haar verstrubbelt.

«Vince, du hast gelernt, was du lernen solltest. Kümmere dich lieber um die Kühe deines Vaters, die können eine liebevolle Hand gebrauchen.»

Damit hatte er recht. Sein Vater war oft ungeduldig und hart mit den Kühen. Vince war stolz, dass Matthis überzeugt war, dass er es besser konnte, und hatte sich gefügt. Trotzdem war er froh, mal wieder auf den Hof hochzukommen – und noch dazu auf Anweisung des Vaters!

Eigentlich hatte er vorgehabt sich anzuschleichen, aber das ging nicht. Die fremde Frau saß vor dem Wohnhaus. Sie hatte ihn schon gesehen und nickte ihm zu. Sie hatte das Kleid aufgebunden und an jeder Brust lag ein Baby. Vince blieb verunsichert stehen.

«Komm ruhig, du störst nicht», sagte die Frau.

Vince näherte sich. Er starrte auf die beiden Säuglinge.

«Zwei?», fragte er verblüfft.

Lele nickte.

«Zwillinge», erklärte sie.

«Aber …», stotterte Vince, «die sind ja ganz verschieden!»

Verwirrt starrte er auf den braunen und den weißen Kopf.

«Ja, das kommt vor. Suchst du Matthis?»

Vince betrachtete noch immer fassungslos die beiden ungleichen Neugeborenen. Fast hätte er vergessen, warum er gekommen war. «Ja!», nickte er. «Vater schickt mich. Klara hat Probleme mit dem Kalben. Sie quält sich schon seit Tagen, aber nichts passiert.»

Die Frau nickte.

«Das ist schlimm. Matthis ist noch oben auf der Alm, aber sobald er runterkommt, schicke ich ihn zu euch. Vielleicht liegt das Kälbchen falsch.»

Vince starrte sie an. Seit wann verstand sie etwas von Kühen? Wie immer fühlte er sich unwohl in ihrer Nähe, hatte das Gefühl, ungenügend zu sein. Daher nickte er nur vage.

«Willst du was trinken oder essen? Geh nur rein in die Stube und bediene dich, du weißt ja, wo alles steht.»

Vince schüttelte den Kopf.

«Ich muss gleich zurück, Vater erwartet mich. Haday!»

Damit machte er kehrt und eilte ins Dorf zurück. Die Leute würden staunen, was er zu erzählen hatte!

Vinces Vater stand vor dem Hackklotz, in der einen Hand das Beil, in der anderen ein aufgeregt flatterndes Huhn.

«Und?», fragte er barsch.

«Matthis kommt, sobald er von der Alm zurück ist», beeilte sich Vince zu sagen. Er fürchtete seinen Vater, wenn dieser schlecht gelaunt war, und das war er gerade.

«Ich hoffe, er trödelt nicht», brummte Vindis. «Noch ein halber Tag und sie krepiert uns!»

Vince verbiss sich die Bemerkung, dass er ja schon früher nach Matthis hätte rufen können. Stattdessen zeigte er auf das flatternde Huhn in seines Vaters Hand. «Es mag nicht, wenn es so mit dem Kopf nach unten hängt. Kannst du es nicht anders halten?»

Vindis warf einen kurzen Blick auf das Huhn.

«Wenn es dir nicht gefällt, dann mach es das nächste Mal selbst», knurrte er, klatschte das Huhn auf den Hackklotz und hieb ihm mit wuchtigem Schlag den Kopf ab. Amüsiert schaute er zu, wie das kopflose Huhn blutspritzend über den Hof flatterte, bevor es tot zu Boden fiel.

Vince versuchte nicht hinzusehen.

«Ich habe Neuigkeiten!», platzte es schließlich aus ihm heraus.

«Du? Was könntest du für Neuigkeiten haben?»

«Matthis ist Vater geworden!»

«Was soll daran neu sein?», baffte Vindis. «Bei dem Bauch war klar, dass Matthis’ Frau demnächst werfen würde.»

«Es sind aber zwei!», verkündete Vince.

«Was?»

«Es sind zwei! Zwillinge. Und sie sehen ganz unterschiedlich aus. Das eine weiß wie eine Made und das andere dunkel wie ein Erdkäfer!»

Vindis starrte ihn an.

«Ist das wahr?»

«Natürlich ist es wahr», entrüstete sich Vince. «Ich hab sie mit meinen eigenen Augen gesehen.»

Vindis schüttelte den Kopf.

«Die Weiber auf dem Matthishof haben noch nie was getaugt. Hexen allesamt. Du gehst mir da nicht mehr hoch!»

Dann warf er das Beil neben den Hackklotz und zeigte auf den toten Hühnerkörper.

«Hier, das machst du», befahl er Vince. «Ausnehmen und rupfen. Ich muss noch was im Dorf erledigen!»

Damit eilte er in Richtung Dorf davon.

Vince sah ihm nach. Natürlich würde sein Vater an jeder Hoftür klopfen und überall von den Neuigkeiten auf dem Matthishof berichten. Seinen Neuigkeiten! Wie gemein, dachte er. Und auf den Matthishof durfte er auch nicht mehr. Wütend kickte er mit dem Fuß gegen den Hackklotz. Dann nahm er den Hühnerkopf auf und trug ihn zu der Grube, wo sie die Schlachtabfälle entsorgten, anschließend machte er sich daran, das Huhn zu rupfen.

Matthis wunderte sich nicht, als in den ersten Masuren nach der Geburt gehäuft Besucher auf den Matthishof kamen. Jeder im Dorf schien plötzlich Bedarf an seiner Eutersalbe zu haben – und natürlich wollte jeder einen Blick auf die beiden ungleichen Zwillinge werfen. So war es immer, so würde es immer sein. Er war nur um Leles willen froh, als Lundis’ neuer Ochse und die Frage, wie sein Hof und die kleine Dorfmühle, die er betrieb, genug abwerfen konnte, dass es für ein Doppelgespann reichte, die Zwillingsgeburt als Hauptgesprächsthema ablöste.

Dennoch waren Matthis’ Tage voller Wunder. Wenn er morgens aufstand, trat er als Erstes an den alten Weidenkorb, den Lele als Bett für Aeolin und Tann gerichtet hatte, und schaute nach den Kindern. Andächtig stand er da und betrachtete die beiden, die eng aneinander geschmiegt in ihrem Bettchen lagen und schliefen. Dabei fühlte er eine wohlige Wärme, die seinen gesamten Körper erfüllte. Seltsam, dachte er. Nichts hatte sich geändert. Die zeitaufwendigen Gänge hoch zur Alm, die viele Arbeit in der Käserei, die Mühsal auf den steinigen Äckern. Und doch war alles anders. Matthis war immer gerne Bauer gewesen, hatte nie mit seinem Schicksal gehadert. Aber etwas hatte immer gefehlt. Nun nicht mehr.

Er strich vorsichtig mit seinem schwieligen Finger über Aeolins zarte Wange. Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens, unmerklich fast. Matthis merkte, wie er zurücklächelte. Dann wandte er sich dem Herd zu, gab Holz auf die fast erkalteten Kohlen und fachte Feuer an. Erst als die Scheite brannten, band er sich den Gürtel um und machte sich auf den Weg zur Alm.


Stillerthal

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