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Sarata 1919 1

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Die Zeiger der Wanduhr standen auf 18.45 Uhr. Zu früh, um ins Gasthaus zu gehen. Nie betrat er vor sieben Uhr abends die Wirtsstube.

Das hatte er mit sich selbst vereinbart. Warum, wusste er nicht.

Die Wärme in seiner Stube machte ihn ein wenig schläfrig. Langsam erhob er sich aus seinem breiten Stuhl und trat zum Fenster. Er schaute in die Dunkelheit und erkannte die Umrisse des Maulbeerbaumes im Hof. Dachte er an diesen Seidenraupenbaum, tauchten Kindheitserinnerungen vor seinen Augen auf.

Wie oft hatte er als kleiner Junge die Blätter mit den vielen Seidenspinnerraupen abgepflückt? Beobachtet, wie die Tierchen fraßen, wuchsen, sich häuteten, immer wieder, bis daraus fingerlange Raupen wurden. Oft hatte er es kaum erwarten können, bis sie sich einhüllten und irgendwann als weiße Seidenspinnenfalter ausschlüpften. Das war lange her.

Ein Jahrzehnt später erlernte er das Handwerk des Pfeifenmachers. Damals rauchten die meisten Männer den Tabak in den Pfeifen. Es musste so bis in die 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts gewesen sein. Danach drehte man Zigaretten aus dem Blättertabak, dem russischen Papuscha. Oder man schnupfte den türkischen Mesaksude mit seinem besonderen Aroma. Wer brauchte da noch seine Pfeifen? Es lohnte nicht mehr und er entschied sich, den Beruf des Seilers auszuüben.

Immerhin arbeiteten Seiler bereits, bevor es Zieh- und Schöpfbrunnen gab. Ein sicheres Handwerk. Er stellte Stricke und Seile her, die zum Wasserschöpfen gebraucht wurden und zum Festbinden und Halten der Tiere. Arbeit hatte er genug. Schließlich kam jeder im Ort auf die Dienste eines Seilers zurück.

Sein Freund war ebenfalls Seiler gewesen. Sie hatten nicht nur gut miteinander gearbeitet, sie waren auch oft zusammen auf die Jagd gegangen.

Er musste lächeln, als er sich an die letzte Wolfsjagd um die Jahrhundertwende erinnerte. Noch heute sprachen manche davon, dass es zwei Seiler gewesen waren, die den Wolf erledigt hatten. Damit es alle im Dorf erfuhren, hängte man das tote Tier an einem Baum auf, oder man legte den Wolf auf die Hofmauer vor der Dorfkanzlei, so konnten auch noch die Schulkinder die Beute betrachten.

Ihren Erfolg feierten sie ausgiebig im Wirtshaus. Auf dem Heimweg mussten sie sich gegenseitig stützen. Nach so einer erfolgreichen Jagd war am nächsten Tag nicht an Arbeit zu denken.

Es war eine schöne Zeit und die beiden begannen, täglich ein paar Gläschen Wein oder Schnaps nach der Arbeit zu trinken. Später wählten sie nicht mehr aus zwischen Wein oder Schnaps, sondern tranken beides. Stets fühlte er sich wohl in der Nähe seines Freundes. Wie oft waren sie gesellig zusammen in der Wirtsstube gesessen, ohne viel zu reden.

Bei dem Gedanken daran kamen ihm fast die Tränen. War das nicht die wunderbarste Zeit seines Lebens gewesen?

Dann passierte das schreckliche Unglück. Er trank weiter, brauchte den Alkohol, um zu vergessen. Versuchte damit seine Schmerzen, die er seither im Bein hatte, erträglicher zu machen. Wenigstens ersparte ihm das kaputte Bein den Kriegsdienst.

Manchmal glaubte er, nicht der Alkohol würde ihn töten, sondern die Einsamkeit. Im Wirtshaus war er wenigstens in Gesellschaft und konnte ein paar von seinen Geschichten mitteilen. Immer die gleichen Erzählungen, wie die mit der Wolfsjagd oder den Tauben, die nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschlachtet werden mussten. Es sollte der Spionage durch Brieftauben vorgebeugt werden. In Sarata, wo sich wie überall die Tauben schnell vermehrten, lag damals oft Taubenbraten und Taubensuppe auf den Tellern.

Er verspürte einen Schmerz in seinem rechten Bein, als würden unsichtbare Hände daran reißen. Bis in den Rücken breitete sich ein unangenehmes Ziehen aus. Womöglich hatte er durch das Stehen sein Bein zu lange belastet. Es kam ihm vor, als bohre sich eine spitze Klinge in seine Hüfte. Er stöhnte auf, drehte sich vom Fenster weg und schleppte sich zu seinem Stuhl zurück. Kaum saß er wieder, ließ der Schmerz nach. Erleichtert drückte er seinen Hinterkopf gegen die Stuhllehne und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. In einer Minute würde der Zeiger auf die zwölf springen und er könnte siebenmal dem Glockenschlag lauschen. Er hörte bis zum letzten Schlag zu, dann stand er vom Stuhl auf, löschte das Licht in der Wohnstube und schlurfte in den Flur. Dort griff er im Dunkeln nach seiner Jacke, die am Haken hing, öffnete die Türe und trat ins Freie. Fest zog er die Haustüre hinter sich zu und humpelte zum Wirtshaus, wenige Straßen weiter.

Wie immer stellte der Wirt ein gefülltes Glas vor ihm auf den Tisch und ließ ihn reden. Er war wie so oft der einzige Gast, störte sich aber nicht daran, dass ihm niemand zuhörte.

Manchmal brachte ihm der Wirt einen Teller mit Oliven und Schafskäse. So auch an diesem Abend. Ob es aus Mitgefühl oder Mitleid gegenüber seinem Stammgast war, spielte keine Rolle.

Der Himmel war voller Sterne und klar, als er das Wirtshaus verließ und sich auf den Heimweg machte. Mühsam zog er sein rechtes Bein nach. Er stöhnte leise und schaute auf seinen Atem, der aus seinem Mund austrat und in der kalten Luft deutlich zu erkennen war.

Ein komisches Gefühl überfiel ihn, je näher er an sein Haus kam. Die angelehnte Türe bemerkte er sofort.

Verwundert fragte er sich, ob er vergessen hatte, die Türe zu verschließen.

Er konnte sich nicht erinnern.

Beim Eintreten spürte er, etwas war anders. Aus der Wohnstube drang Licht in den Flur. Er zögerte, blieb stehen. Sein Atem wurde schneller, er begann zu schwitzen. Mit einem Ruck stieß er die nur halbgeöffnete Türe weit auf.

Er hörte etwas auf seinem Kopf zerbrechen und sank zu Boden. Neben seinem Kopf bildete sich eine Pfütze aus Blut. Eine Stunde später war Alfons Mayer tot.

Budschakenblut

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