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Kapitel 3
ОглавлениеDonnerstag, 15. November 1944
„Wach auf, Heinrich, du musst in die Schule!“
Sanft, aber nachdrücklich rüttelte Kurt Bremer seinen Sohn an den Schultern. Es war bereits fünf Uhr morgens, und der Weg von Kampen zur Volksschule in Deutsch Lauden war lang. Der Junge brauchte morgens etwa anderthalb Stunden, bis er zu Fuß das Schulhaus erreichte. Nun stand der Winter vor der Tür, was den Weg noch beschwerlicher machen würde. Zum Glück war Heinrich hart im Nehmen, dass wusste Bremer. So hatte er ihn erzogen. Er dachte an den verweichlichten Sohn des Gutsbesitzers, der schon wieder erkältet war und von seiner Mutter aufopfernd gepflegt wurde. Kurt Bremer gefiel es auf dem Hecknerschen Gutshof. Der Gutsherr war ein freundlicher Mensch, der seine Arbeiter mit Respekt behandelte. Er hatte sich sofort wohl gefühlt. Noch nie zuvor hatte er in so etwas wie einem eigenen Haus gelebt. Die ärmlichen Unterkünfte, die er bislang gekannt hatte, strahlten nicht einmal ein Mindestmaß an Behaglichkeit aus. Aber das kleine Insthaus, das er nun mit seinem Sohn bewohnte, war anders. Es hatte einen kleinen Eingangsbereich und eine gemütlich eingerichtete Stube mit einem Kohle-ofen. Auch die Schlafräume waren mit kleinen Öfen ausgestattet. Die niederschlesischen Winter konnten kalt werden. Bremers Sohn besaß ein eigenes Zimmer und das Haus hatte fließend kaltes Wasser, ein Luxus, den die Herrin für die Arbeiter gefordert und bekommen hatte. Ida und Fritz Heckner waren der Auffassung, dass Arbeiter, die gut behandelt wurden, mehr leisteten. Damit hatten sie recht, denn auch wenn es im Spätherbst auf den Feldern nicht mehr sehr viel zu tun gab, legte Kurt Bremer sich dennoch ins Zeug, um die Herrschaft zufrieden zu stellen. Er reparierte und wartete die teuren Landmaschinen und versorgte täglich das Vieh, inklusive seines Kaltblüters, den ihm sein letzter Herr für seine treuen Dienste geschenkt hatte. Der Gutsherr war meistens gut gelaunt, und niemals ging er an seinem neuen Landarbeiter vorbei, ohne nach dessen Befinden zu fragen. Dennoch gab es einen kleinen Wermutstropfen. Der Sohn des Herrn, Rüdiger, schien nichts von der Freundlichkeit seiner Eltern mitbekommen zu haben. Manchmal ertappte Kurt Bremer ihn dabei, wie er Heinrich in die Rippen boxte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Er konnte sehen, dass sein Junge die Lippen zusammenkniff, um nicht zu weinen. Obwohl er sein Vater war, griff er jedoch niemals ein. Zu groß war die Angst, in diesem Kriegsjahr seine Arbeit zu verlieren und seinen Sohn nicht mehr ernähren zu können. Heinrich würde sich durchbeißen müssen. Meistens war Rüdiger ohnehin den ganzen Tag nicht da. Er ging aufs Gymnasium in Strehlen, wohin er jetzt vor dem Winter morgens von Gustl mit der Kutsche gebracht und von wo er nachmittags wieder abgeholt wurde. Wenn Heinrich aus der Schule kam, hatte er noch gute zwei Stunden Ruhe vor Rüdiger. Gedankenversunken kochte Kurt Bremer Getreidekaffee für sich und den Jungen und bereitete ihm das Schulbrot zu. So hatte es seine Frau immer getan, und er führte das fort. Ihm war es wichtig, dass sein Sohn nicht mit leerem Magen dem Unterricht folgen musste. Obwohl der Junge die Schule in Deutsch Lauden erst seit zwei Wochen besuchte, fiel ihm das Lernen leicht. Die Umstände waren nicht einfach, denn Heinrich saß mit über vierzig weiteren Kindern dreier unterschiedlicher Klassenstufen in einem Raum. Bremer versuchte ein winziges Lächeln, als sein Sohn die Küche betrat. Er setzte sich an den Tisch und biss hungrig in das Butterbrot, das sein Vater ihm zubereitet hatte. Seit sie das kleine Insthaus bewohnten, hatte der Junge rosige Wangen bekommen und etwas zugenommen. Doch in seinen Augen sah Bremer einen Ausdruck, der zuvor nicht da gewesen war, eine Mischung aus Angst und Schmerz. Er wusste, dass Heinrich nicht von sich aus erzählen würde, was ihm fehlte. Sicher fühlt er sich noch ein bisschen fremd, dachte er, und Rüdiger wird ihm auch ein wenig zusetzen. Bremer beschloss, es auf sich beruhen zu lassen, denn das gute Leben, das sie hier führten, machte solche unbedeutenden Probleme wieder wett.
Nachdem der Junge sich auf den Weg gemacht hatte, räumte Bremer die Küche auf und setzte dann einen Kessel mit Wasser auf. Bevor er seine Arbeit auf dem Hof begann, wollte er noch das Geschirr abwaschen. Er hatte diese Arbeit immer gehasst, aber seit Hedwigs Tod blieb ihm nichts anderes übrig als selbst die Hausarbeit zu erledigen. Ein lautes Dröhnen riss ihn aus seinen Gedanken. Es kam vom Gutshof. Bremer lief zum Stubenfenster, von dem aus er den Hof überblicken konnte. Entsetzt sah er einen Trupp von mindestens zwanzig Wehrmachtssoldaten, die dabei waren, die Landmaschinen auf Lastwagen zu laden. Er ließ das schmutzige Geschirr stehen, rannte aus dem Haus und lief hinüber zum Gutshof. Vor dem Herrenhaus standen Ida und Fritz Heckner. Als Bremer den verzweifelten Gesichtsausdruck seines Herrn sah, erschrak er. So hatte er den immer fröhlichen Mann noch nicht erlebt. Heckner bemerkte Bremer.
„Sie requirieren unsere gesamten Landmaschinen“, sagte er, wobei er versuchte, den ohrenbetäubenden Lärm der Laster zu übertönen, „jetzt müssen wir im nächsten Frühjahr unsere Felder wieder mit Egge und Pflug bestellen.“ Und etwas leiser, so, dass es die Soldaten nicht hören konnten, fügte er hinzu: „Als ob das noch etwas bringen würde! Der Krieg ist doch ohnehin verloren. Wir haben noch Glück gehabt. In anderen Dörfern sind die Maschinen schon vor Jahren abgeholt worden. Ich dachte, die hätten uns vergessen.“
Voll Mitgefühl sah Bremer ihn an.
„Ich kann gut mit Egge und Pflug umgehen“, erwiderte er, „und mein Kaltblüter ist ein erfahrenes Ackerpferd. Wir werden es auch ohne die Maschinen schaffen.“
Dankbar blickte Heckner ihn an.
„Ich bin froh, dass Sie hier sind, Herr Bremer“, sagte er und legte ihm die Hand auf die Schulter. Bremer atmete tief durch. Herr Bremer. So hatten seine früheren Herrschaften ihn nie genannt. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Wehrmachtssoldaten wieder in ihre Laster stiegen. Und die Landmaschinen, die Heckner gekauft hatte, weil seine moderne Ehefrau darauf gedrungen hatte, verschwanden in der beginnenden Morgendämmerung.
Sonnabend, 12. Mai 2018
Konzentriert beugten sich Dr. Christoph Zutschke und sein Assistent Dr. Bramann über den kalkweißen Leichnam Wolfgang Bredels. Bramann hatte den toten Körper geöffnet und Gewebeproben entnommen, um nach ungewöhnlichen Substanzen zu suchen, die dort nicht hineingehörten. Interessiert beobachtete Hauptkommissar Norbert Wenger die Rechtsmediziner bei ihrer Arbeit.
„Wie willst du jetzt herausfinden, seit wann er tot ist?“
Dr. Zutschke unterbrach seine Arbeit und sah den Ermittler an.
„Es gibt wie gesagt ein relativ neues Verfahren, um den Todeszeitpunkt von Opfern zu ermitteln, die länger als sechsunddreißig Stunden und weniger als zehn Tage tot sind. Entdeckt wurde dieses Verfahren von einem Zellbiologen und einem Rechtsmediziner von der Universität Salzburg. Diese Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich bestimmte große Proteine im Muskelgewebe von Säugetieren, zu denen ja auch der Mensch gehört, innerhalb eines konstanten Zeitraumes abbauen. Und so ist es heute möglich, den Sterbezeitpunkt eines Opfers auch nach Ablauf von sechsunddreißig Stunden ziemlich genau zu bestimmen. Allerdings ist es wichtig, dass der Tote untersucht wird, ohne ihn vorher zu kühlen, denn das würde den Abbauprozess verzögern und damit das Ergebnis verfälschen. Das Feststellen des genauen Todeszeitpunktes ist sehr wichtig, um Alibis von möglichen Tätern zu bestätigen oder zu widerlegen, aber das weißt du ja selbst am besten. Wir Rechtsmediziner nennen diese Methode das Salzburger Verfahren. Ich habe also jetzt von dem Toten sieben Gewebeproben aus der Skelettmuskulatur entnommen und werde sie nach verschiedenen Proteinen untersuchen. Dann kann ich ziemlich sicher sagen, wann der Tod eingetreten ist.“
„Wann hast du das Ergebnis?“
„Frühestens heute Abend, spätestens morgen früh.“
„Ich danke dir, Christoph. Gib Laut, wenn du fertig bist.“
„Wuff!“, kläffte Zutschke und grinste.
Norbert verließ die Rechtsmedizin und fuhr zurück zur Polizeidirektion. Unterwegs erhielt er ein WhatsApp-Nachricht seiner Lebensgefährten Manuela. War es wirklich erst ein Jahr her, seit sie sich kennen gelernt hatten? Kurz vor der Hochzeit von Gaby und Ekki war sie zu ihm gezogen. Er hatte jeden Tag mit ihr genossen und fragte sich, wie er jahrelang seiner Ex hatte nachweinen können.
Es juckte ihn, Manuelas Nachricht zu öffnen, aber er ließ es bleiben. Er wollte zumindest bis zur nächsten roten Ampel warten. Du bist ein vorbildlicher Polizist, dachte er ironisch. Als er endlich halten konnte, nahm er sein Smartphone in die Hand und öffnete die Nachricht. Seine Erstarrung löste sich erst wieder, als ihm das Hupkonzert hinter ihm klarmachte, dass die Ampel wieder grün war. Mechanisch lenkte er seinen schwarzen Golf zur Polizeidirektion in der Friedrich-Voigtländer-Straße. Auf dem Weg zu seinem Büro begegnete er Klorenz, der Norbert sofort anzusehen schien, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Norbert holte sein Smartphone aus der Jackentasche und öffnete Manuelas Nachricht. Ein Ultraschallbild erschien. Klorenz strahlte.
„Oh, mein Gott, das ist ja wundervoll!“
Norbert schluckte. Jahrelang hatten er und Suse vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Mit Manuela hatte es nun endlich geklappt. Sie war schon vierzig, er selbst war neunundvierzig. Er hatte nicht damit gerechnet, in diesem Leben Vater zu werden, aber mit ihr würde sein Wunsch nun in Erfüllung gehen.
„Norbert, du hast ja Pipi in den Augen!“
Norbert fing den gerührten Blick seines Kollegen auf. Er holte ein Tempotuch hervor und wischte sich die Tränen ab.
„Ich muss Manuela anrufen“, sagte er heiser. Dann ging er in sein Büro und schloss die Tür.
Als Norbert sein Telefonat beendet hatte, war die Nachricht von seinen kommenden Vaterfreuden bereits wie Lauffeuer durch das Kommissariat gerast. Dafür hatte Klorenz gesorgt.
„Wer von uns beiden ist nun schwanger?“, fragte Gaby grinsend, als Norbert den Besprechungsraum betrat, in dem die ersten Erkenntnisse zum Tod von Wolfgang Bredel zusammengetragen werden sollten.
Er grinste zurück. „Ich muss jedenfalls nicht beim Anblick einer ausgebluteten Leiche kotzen gehen“, konterte er.
„Hoffentlich hat Manuela das Problem nicht!“ Geegee lachte.
„Keine Sorge, sie hat mir gerade gesagt, sie würde während der Schwangerschaft zu Einbruch und Betrug wechseln. Dort macht sie Schreibtischdienst.“
Gaby nickte verständnisvoll. „Das ist sicher besser. Aber ich glaube, ich würde mich langweilen.“
„Das befürchtet Manu auch. Aber Klein Wenger geht vor. Ich will nicht, dass ein durchgeknallter Killer meinen Sohn umbringt.“
„Ist Wolfenbüttel denn so ein gefährliches Pflaster?“
Norbert rieb sich das Kinn.
„Gefährlich vielleicht nicht gerade, abgesehen von den Junkies, die sich Bahnhof rumtreiben. Aber du weißt ja, wie es ist. Wenn man nicht damit rechnet, passiert es.“ Er nahm seine Unterlagen, und verließ mit Gaby das Büro.
Mittlerweile hatte sich das Team vollständig versammelt und Platz genommen. Norbert wollte gerade beginnen, als die Tür sich öffnete und eine elegant gekleidete, recht große, schlanke Frau von etwa Mitte Vierzig den Raum betrat. Sie hatte sehr kurze dunkelbraune Haare, war dezent geschminkt und trug zu ihren großen goldenen Ohrringen eine passende Kette. Ihr graues, knielanges Etuikleid war gerade so tief ausgeschnitten, dass die Kette nicht im Dekolleté verschwand. Sie trug schwarze Feinstrümpfe und schwarze Pumps. Gaby stupste Norbert an. „Sieh mal, ihre Schuhe!“
„Was ist damit?“
„Na, die roten Sohlen! Von diesem berühmten, unaussprechlichen französischen Schuh-Designer, Christian Wasweißich!“ Verzückt schlug sie die Augen gen Himmel.
„Sagt mir nichts.“
Gaby schnaufte verständnislos.
„Ihr Männer seid solche Ignoranten!“
Sie wandte sich von ihm ab, um die Frau zu betrachten. Die Unbekannte räusperte sich, um das allgemeine Raunen im Raum zu unterbrechen.
„Guten Tag, meine lieben Kolleginnen und Kollegen!“
Sie sprach freundlich, aber mit wenig Wärme in der Stimme.
„Mein Name ist Marita von Löbke. Ich bin die Nachfolgerin Ihres Abteilungsleiters Dieter Frankenstein und somit ab heute Ihre Vorgesetzte. Ich weiß bereits, dass Sie aktuell an einem Mordfall arbeiten. Ich wünsche, über jeden Ihrer Ermittlungsschritte und natürlich auch über Ihre Ergebnisse informiert zu werden. Ich gehe davon aus, dass ich dieser Bitte nicht regelmäßig Nachdruck verleihen muss. Wer von Ihnen ist Norbert Wenger?“
Norbert atmete tief durch, bevor er den Arm hob. Eine Frau als Vorgesetzte! Und noch dazu eine so aufgeblasene und obendrein adelige Pute. Norbert hatte nichts gegen Frauen in Führungspositionen, beobachtete aber immer wieder, dass sie ihre weibliche Seite zu einem großen Teil einbüßten, sobald sie das Sagen hatten. Oder sie mutierten zur Domina. Er sah Marita von Löbke kurz an und stellte sie sich im schwarzen Lederkostüm vor, mit Ketten an der Weste und Peitsche in der Hand. Im Geiste hörte er ihre Stimme, die ihn fragte, ob er unartig gewesen sei.
„Ich habe gehört, dass Sie im vergangenen Jahr sehr erfolgreich die Ermittlungen bei den Prinzenparkmorden geleitet haben.“
Marita von Löbke sah Norbert interessiert an.
„Wir waren als Team erfolgreich.“
Wer ihn gut kannte, konnte den leicht genervten Unterton in seiner Stimme nicht überhören.
„Wie auch immer, ich wünsche, dass Sie im Fall Bredel ebenfalls die Leitung der Ermittlungen übernehmen.“
Norbert verzog das Gesicht. Diese Frau hatte wirklich eine Menge Wünsche. Er sah mit einem Gefühl aufkeimender Wut, dass Hauptwachtmeister Erkan Yildiz auf einen unmissverständlichen Blick von ihr seinen Platz räumte und sich auf den freien Stuhl neben Klorenz setzte.
„Bilden Sie bitte eine Ermittlungsgruppe“, sagte von Löbke, nachdem sie sich auf Yildiz’ Platz gesetzt hatte, „immerhin handelt es sich bei dem Mordopfer um ein bekanntes Mitglied der Braunschweiger Gesellschaft. Ich wünsche, dass dieser Fall bei Ihren derzeitigen Ermittlungen vorrangig behandelt wird.“
Und ich wünsche, dass du zur Hölle fährst, dachte Norbert wütend. Er fragte sich insgeheim, wie man ihm nach dem unerträglichen Dieter Frankenstein diese eingebildete Megäre vor die Nase setzen konnte. Eigentlich war der Braunschweiger Polizeipräsident ein fähiger Mann, aber bei der Auswahl der neuen Leiterin des FK1, des Morddezernats, hatte er mal wieder ins Klo gegriffen. Wir beide werden keine Freunde, dachte er, bevor er das Wort ergriff.
„Vielleicht sollten wir unserer neuen MoKo erstmal einen Namen geben“, begann er, „hat jemand einen Vorschlag?“
„Wie wäre es mit MoKo Meißen?“, fragte der schlaue Rolf, „in Anbetracht der aufgefundenen Meißner Tasse erscheint mir dieser Name angemessen.“
Die übrigen Mitglieder des Ermittlungsteams nickten zustimmend. Norbert bemerkte auf beinahe jedem der anwesenden Gesichter ein unterdrücktes Grinsen. Der Name war eher ein Akt des versteckten Ungehorsams gegenüber der neuen Vorgesetzten als eine ernst gemeinte Bezeichnung einer polizeilichen Ermittlungsgruppe.
„Also gut, wenn niemand etwas dagegen hat, dann ist das ab sofort unser Name. Danke, Allershausen!“
Der Kriminaltechniker nickte huldvoll und hob die rechte Hand zu einem großmütigen Winken, zum Zeichen, dass er den Dank annahm.
„Ich wiederhole meine Bitte nur ungern“, begann Marita von Löbke, doch Norbert fiel ihr ins Wort, bevor sie weiterreden konnte. „Heute Morgen wurde der siebenundachtzigjährige Wolfgang Bredel von seiner Reinigungskraft tot in seiner Eigentumswohnung am Petritorwall 13 in Braunschweig aufgefunden. Der Name der Frau ist Aleksandra Pawlak, sie ist fünfunddreißig Jahre alt und polnische Staatsbürgerin. Sie stammt aus Breslau, lebt aber seit ihrer Heirat vor zehn Jahren mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Braunschweig. Sie hat ihn heute morgen um neun Uhr gefunden, ist daraufhin schreiend aus der Wohnung gestürmt und dann bis zur Sonnenstraße gelaufen. Passanten konnten sie daran hindern, auf die Straße zu rennen. Sie haben den Notarzt gerufen, der ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht hat. Erst dann konnte sie erzählen, was sie so erschreckt hat. Der Notarzt hat anschließend uns angerufen, nachdem er sich vor Ort davon überzeugt hatte, dass die Frau die Wahrheit gesagt hat. Der genaue Todeszeitpunkt Bredels wird derzeit von Zutschke und Bramann untersucht. Das Ergebnis bekommen wir möglicherweise erst morgen früh. Jedenfalls war der alte Mann länger als sechsunddreißig Stunden tot, als Frau Pawlak ihn fand.“
Er stellte sich vor den Flipchart, an dem er die Bilder vom Tatort befestigt hatte. Mit Genugtuung stellte er fest, wie Marita von Löbke beim Anblick der grausamen Fotos angewidert das Gesicht verzog. Er beschloss, so weit wie möglich ins Detail zu gehen.
„Dem Opfer wurde als erstes mit einem scharfkantigen Gegenstand in den unteren Rücken gestochen.“
Er deutete auf das Foto, das den Stich in Bredels Nierengegend zeigte.
„Vermutlich wollte der Täter das Opfer zunächst nur außer Gefecht setzen, denn dieser Stich war nicht todesursächlich. Bredel muss zusammengebrochen und nach vorn gekippt sein. Der Täter hat dann das Messer an seinen Hals gesetzt. Damit er einen effektiven Schnitt durchführen konnte, muss er den Kopf des Opfers gepackt haben. Bredel hatte sehr dichtes Haar, deshalb gehen wir davon aus, dass der Täter ihn am Schopf nach hinten gezogen hat. Er hat dem alten Mann von links nach rechts die Kehle aufgeschlitzt. Deshalb können wir sehr sicher sagen, dass er Rechtshänder ist. Der Schnitt war tief und hat nicht nur den Kehlkopf, sondern auch beide Halsschlagadern durchtrennt. Das Opfer ist praktisch vollständig ausgeblutet, wie sie auf diesem Foto“, er deutete auf das Bild mit dem blutgetränkten Parkettfußboden, „erkennen können. Allershausen, willst du weitermachen?“
Der Chef der KTU erhob sich und kam nach vorn, um die Ergebnisse der Spurensicherung zu präsentieren. Er zog sich Wegwerfhandschuhe über, um sich nicht an der zerbrochenen Meißner Tasse zu verletzen, und holte die Scherbe aus ihrem Plastikbeutel.
„Das Opfer muss es sich gerade gemütlich gemacht haben, als der Täter zuschlug.“
Auch Allershausen bemühte sich um eine möglichst anschauliche Ausdrucksweise.
„Auf dem Parkettfußboden haben wir nicht nur den vollständigen Inhalt von Bredels Blutgefäßen gefunden, sondern eben auch diese Meißner Porzellantasse. Sie weist das Muster Große Feldblume mit zwei Nebenblumen auf. Meißner Porzellan ist äußerst kostspielig, und das ist das Verwunderliche an dieser Sache. Die zerbrochene Tasse ist das einzige Stück, das wir gefunden haben. Wer dieses Porzellan sein eigen nennt, hat im allgemeinen ein vollständiges Service für mindestens sechs Personen. Ein solches Service existiert aber in Bredels Wohnung nicht.“
„Haben Sie die Putzfrau dazu befragt?“
„Sie meinen, ob sie es vor potentiellen Plünderern in Sicherheit gebracht hat?“ Norbert grinste vielsagend.
„Ich meine, ob sie weiß, ob Bredel ein solches Service besessen hat?“
Von Löbkes Frage klang nun nicht mehr ganz so arrogant wie ihre vorherigen Ansagen, sondern ehrlich interessiert.
„Aleksandra Pawlak liegt mit einem schweren Schock im Krankenhaus Salzdahlumer Straße und steht unter starken Beruhigungsmitteln. Sie ist bisher nicht vernehmungsfähig und wird von den Ärzten der Traumaambulanz abgeschottet. Da müssen wir noch warten.“
„Gut, machen Sie weiter“, forderte von Löbke Allershausen auf. Dieser räusperte sich und fuhr dann fort. „Neben dem Blut der Leiche haben wir unter dem Beistelltisch“, er deutete auf ein weiteres Foto, „den restlichen Inhalt der Tasse gefunden. Außerdem lag auf dem Boden eine zerbrochene Konfektschale, kein Meißen, sowie einige Pralinen, die es hier in Deutschland nicht zu kaufen gibt. Sie stammen aus Italien, von einer Schokoladenmanufaktur namens Il Modiciano, ebenfalls sehr teuer. Wir haben im Mülleimer die Verpackung, einen kleinen Postkarton und eine Grußkarte von einem gewissen Johannes gefunden, die Pralinen waren offenbar ein Geschenk zum Vatertag. Wie wir inzwischen ermitteln konnten, handelt es sich bei diesem Johannes um Dr. Johannes Bredel, den ältesten Sohn des Mordopfers.“
Marita von Löbke blickte ziellos in die Luft und nickte, als wollte sie die soeben gehörten Informationen zunächst verarbeiten.
„Ist der Sohn schon befragt worden?“, fragte sie dann.
Nun ergriff wieder Norbert das Wort.
„Johannes Bredel leitet eine medizintechnische Firma in Magdeburg. Er ist selbst von Haus aus Chirurg, hatte aber irgendwann die Nase voll von dem stressigen Beruf und hat sich selbständig gemacht. Ich habe Golus gebeten, mal das elektronische Archiv nach ihm zu durchforsten, und er ist tatsächlich sehr schnell fündig geworden. Unser neuer Archivar ist ein echter Gewinn für uns, was auch immer er suchen soll, er findet es. Bredel junior ist mal vor einigen Jahren von Men’s Health interviewt worden. Darin hat er gesagt, dass er jetzt sehr erfolgreich die medizinischen Apparaturen herstellt, die er als praktizierender Chirurg gern gehabt hätte. Ein richtiger Tüftler, hat schon mehrere Erfinderpreise bekommen. In der Nähe von Bozen in Südtirol, also Norditalien, gibt es seit einigen Jahren eine Zweigstelle seiner Firma. Die Pralinen, die der alte Bredel kurz vor seiner Ermordung vertilgt hat, stammen von dort. Persönlich konnte er allerdings noch nicht befragt werden, da er sich bis nächste Woche Mittwoch in seiner Zweigstelle in Sankt Pauls aufhält. So lange müssen wir warten. Wir haben ihn telefonisch über das Ableben seines Vaters in Kenntnis gesetzt, aber er erklärte uns, es sei ihm unmöglich, seine Geschäftsreise zu unterbrechen. Er will aber auf dem Weg nach Magdeburg bei uns reinschauen.“
„Haben Sie bei Ihren Untersuchungen Fingerabdrücke in der Wohnung des Opfers gefunden?“
Der schlaue Rolf räusperte sich geräuschvoll, bevor er antwortete.
„Die Wohnung war übersät mit Fingerspuren, die meisten stammen vom Opfer. Außerdem haben wir noch die der Reinigungskraft gefunden. Der Stationsarzt war so freundlich, sie ihr für uns abzunehmen. Ich weiß, das ist keine gängige Praxis, aber in diesem Fall war das eilig. Wir konnten des weiteren insgesamt fünf verschiedene Abdrücke unbekannter Herkunft sicherstellen. Höchstwahrscheinlich sind die des Sohnes darunter, vielleicht auch die seiner übrigen beiden Kinder, Bredel hatte noch eine Tochter und einen weiteren Sohn. Wir werden alle drei Kinder befragen müssen, nachdem wir ihre Fingerabdrücke genommen haben. Auf der Meißner Tasse waren übrigens nur die Spuren des Opfers.“
„Und was für ein Typ ist dieser Golus?“
Marita von Löbke blickte fragend in die Runde. Norbert sah Gaby auffordernd an.
Sie begann zu erzählen.
„Dragan Golus war im vergangenen Jahr eines der potentiellen Opfer des Prinzenparkmörders. Er war aktiver Alkoholiker, als wir ihn kennen lernten, mittlerweile ist er trocken. Der Prinzenparkmörder hat ihm in seinem Wahn ...“
Marita von Löbke hob die Hand. „Danke, ich kenne den Fall. Und wieso ist er jetzt bei uns im Archiv?“
„Norbert, Hauptkommissar Wenger, hat ihm mithilfe des Polizeipräsidenten den Job verschafft, nachdem Golus sich erholt hatte. Er hatte sehr viel durchgemacht. Wir wollten ihm helfen. Und er hat sich bewährt.“
„Nun, ich wusste nicht, dass die Polizeidirektion Braunschweig eine Auffang-
station für gestrandete Trinker ist. Aber wenn der Polizeipräsident sein Placet gegeben hat? Sei’s drum. Ist Golus deutscher Staatsbürger? Das wäre schon wichtig für die vertrauliche Arbeit im Polizeiarchiv.“
Norbert Körper geriet angesichts der arroganten Art seiner neuen Chefin wieder in Aufruhr. Es fiel ihm schwer, seine Antwort sachlich vorzutragen.
„Dragan Golus ist gebürtiger Jugoslawe, als es den Staat Jugoslawien noch gab. Er wurde in Zagreb geboren, ist aber seit seinem achten Lebensjahr in Braunschweig, weil sein Vater seinerzeit einen Job als Fernmeldetechniker bekommen hat. Und natürlich ist er deutscher Staatsbürger.“
„Sein Nachname klingt nicht gerade jugoslawisch. Eher... keine Ahnung, jedenfalls nicht wie einer vom Balkan. Aber gut. Ich gehe davon aus, dass er Ihr Vertrauen genießt. Dann soll es mir gleich sein, woher Golus stammt.“
Die neue Kommissariatsleiterin stand sie auf und strich sich ihr Kleid zurecht. „Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen sehr für die umfangreichen Auskünfte. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass ich es hier mit erfahrenen Ermittlern zu tun habe und bin sehr gespannt auf ihre weiteren Ergebnisse. Einen schönen Nachmittag noch.“
Damit verließ Marita von Löbke den Besprechungsraum.
„Sie hat noch keine Pressekonferenz verlangt“, sagte Norbert verwundert, „Frankenstein hätte schon längst den Pressesaal auf Hochglanz polieren lassen.“
„Vielleicht ist sie doch nicht so übel, wie sie sich am Anfang der Besprechung gegeben hat.“
Gaby sah Norbert mit einem leichten Lächeln an. Doch der legte nur die Stirn in Falten. Sein Handy klingelte. Er nahm das Gespräch entgegen. Es war das Krankenhaus, in dem Bredels Putzfrau lag. Norbert brummte eine kurze Zustimmung und legte dann auf.
„Aleksandra Pawlak ist jetzt vernehmungsfähig. Lass uns in die Salzdahlumer Straße fahren.“