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Einleitung

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Eine kosmische Momentaufnahme:

Stellen wir uns vor, es gäbe Aliens und einige hätten unseren Planeten über die 45 Millionen Jahrhunderte seines Bestehens hinweg beobachtet. Was hätten sie gesehen? Den größten Teil dieser riesigen Zeitspanne veränderte sich das Erscheinungsbild der Erde nur sehr allmählich. Kontinente verschoben sich, die Eisdecke wuchs und schwand wieder, nach und nach erschienen Spezies, entwickelten sich weiter und starben wieder aus.

Doch dann, in einem winzigen Abschnitt der Erdgeschichte – in den letzten 100 Jahrhunderten – veränderten sich die Vegetationsmuster viel schneller als zuvor. Ursache war die Geburt der Landwirtschaft – und danach der Urbanisierung. Mit wachsenden Bevölkerungszahlen nahmen auch die Veränderungen Fahrt auf.

Dann beschleunigte sich der Wandel noch mehr. Innerhalb von nur 50 Jahren begann der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre ungewöhnlich rasant anzusteigen. Und noch etwas Unvorhergesehenes geschah: Von der Erdoberfläche abgeschossene Raketen überwanden die Grenzen der Biosphäre. Einige wurden in Erdumlaufbahnen geschickt; andere reisten zum Mond und anderen Planeten.

Unsere hypothetischen Aliens hätten gewusst: Die Erde heizt sich nach und nach auf und ist in etwa 6 Milliarden Jahren dem Untergang geweiht, wenn die Sonne auflodern und ersterben wird. Aber hätten sie vorhersagen können, dass dieser plötzliche „Fieberschub“ – dieser menschengemachte Wandel – bereits nach der Hälfte der irdischen Lebenszeit mit anscheinend halsbrecherischer Geschwindigkeit auftreten würde?

Was werden sie im kommenden Jahrhundert sehen, falls sie uns weiter beobachten? Wird auf das letzte Zucken Stille folgen? Oder wird sich die Ökologie stabilisieren? Und wird eine von der Erde abgefeuerte Raketenarmada anderswo neue Oasen des Lebens erschließen?

Dieses Buch birgt einige Hoffnungen, Befürchtungen und Vermutungen über das, was vor uns liegt. Ob wir dieses Jahrhundert überleben und die langfristige Zukunft unserer mehr denn je verwundbaren Welt sichern können, hängt davon ab, ob manche Technologien schneller auf den Weg gebracht und andere dagegen verantwortungsvoll eingedämmt werden. Die Herausforderungen, denen sich die Regierungen stellen müssen, sind gewaltig und beängstigend. Meine Sichtweise hier ist eine persönliche – ich schreibe als Wissenschaftler (der Astronomie), aber zugleich auch als besorgter Angehöriger der Spezies Mensch.

Für die Europäer des Mittelalters umfasste die gesamte Kosmologie – von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht – nur einige Tausend Jahre. Heute betrachten wir Zeiträume, die Millionen mal länger sind. Doch selbst aus dieser ungeheuer erweiterten Perspektive nimmt das jetzige Jahrhundert eine Sonderstellung ein. Zum ersten Mal ist eine Spezies – die unsere – so mächtig und dominant, dass sie die Zukunft der Erde in der Hand hat. Wir sind in eine Epoche eingetreten, die einige Geologen als das Anthropozän bezeichnen.

Die Menschen früherer Zeiten waren Überflutungen und Seuchen verstört und hilflos ausgeliefert – und zudem empfänglich für irrationale Ängste. Große Teile der Erde waren Terra incognita. Der Kosmos der Alten bestand lediglich aus Sonne und Planeten, umkränzt von den Fixsternen, die das „Himmelsgewölbe“ sprenkelten. Heute wissen wir: Unsere Sonne ist einer von 100 Milliarden Sternen in unserer Galaxie, die ihrerseits eine von mindestens 100 Milliarden weiteren Galaxien ist.

Doch ungeachtet dieses unermesslich weiteren Horizonts unserer Vorstellungswelt – und ungeachtet unserer größeren Kenntnis der natürlichen Welt und der Kontrolle über sie – ist der Zeitrahmen, der fundierte Planungen oder zuverlässige Vorhersagen erlaubt, nicht weiter, sondern enger geworden. Das europäische Mittelalter war turbulent und von Unsicherheit geprägt. Dennoch spielten sich diese Zeiten vor einer „Kulisse“ ab, die sich im Laufe der Generationen nur wenig änderte; mittelalterliche Maurer fügten aufopferungsvoll Stein auf Stein zu Kathedralen, die erst nach einem Jahrhundert vollendet waren. Doch im Gegensatz zu ihnen wird sich für uns das kommende Jahrhundert drastisch von der Gegenwart unterscheiden. Zwischen den immer rascher aufeinanderfolgenden Schritten des sozialen und technischen Wandels und den Milliarden Jahre messenden Zeiträumen der Biologie, Geologie und Kosmologie hat sich eine explosionsartige Kluft gebildet.

Die Menschen sind mittlerweile so zahlreich und hinterlassen einen solch tiefen kollektiven „Fußabdruck“, dass sie in der Lage sind, die gesamte Biosphäre tiefgreifend zu verändern oder gar zu zerstören. Die wachsende und immer anspruchsvollere Weltbevölkerung setzt die natürliche Umwelt unter Stress; menschliches Handeln könnte einen gefährlichen Klimawandel und Massenaussterben auslösen, falls Kipp-Punkte überschritten werden – was bedeuten würde, dass wir künftigen Generationen eine ausgelaugte und verarmte Welt hinterlassen. Um diese Risiken einzudämmen, müssen wir die Technik jedoch nicht ausbremsen; vielmehr sollten wir unser Verständnis der Natur erweitern und geeignete Technologien nachdrücklicher nutzen. Damit beschäftigt sich Kapitel 1 dieses Buches.

Die meisten Menschen auf der Erde führen ein besseres Leben als noch ihre Eltern – und der von bitterer Armut gezeichnete Anteil schrumpft bereits seit einer Weile. Diese günstigen Entwicklungen wären angesichts schnell wachsender Bevölkerungszahlen ohne Fortschritte in Wissenschaft und Technik undenkbar gewesen; hier sind weltweit wirkende positive Kräfte am Werk. In Kapitel 2 lege ich dar, dass unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Umwelt von weiteren Fortschritten der Bio-, Cyber- und Robotertechnologie sowie der künstlichen Intelligenz noch stärker profitieren können. In diesem Sinne bin ich ein Technik-optimist.

Doch da gibt es auch eine mögliche Kehrseite. Diese Fortschritte machen unsere immer stärker vernetzte Welt noch verwundbarer. Schon in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren wird die Technik Arbeitsabläufe, Volkswirtschaften und internationale Beziehungen in Unruhe versetzen. In einer Zeit, in der wir uns alle miteinander vernetzen, die Benachteiligten sich ihrer misslichen Lage bewusstwerden und Migration einfach ist, fällt es schwer, optimistisch an eine friedliche Welt zu glauben, wenn in verschiedenen Gebieten unterschiedliche Wohlstandsniveaus und Lebenschancen auseinanderklaffen – eine Kluft so tief wie in der heutigen Geopolitik. Besonders beunruhigend ist es, wenn Fortschritte in Genetik und Medizin, die menschliches Leben verbessern könnten, nur einigen wenigen Privilegierten offenstehen und somit noch grundlegendere Formen der Ungleichheit schaffen.

Manche malen ein rosiges Bild der Zukunft, sie schwärmen von unserem gereiften moralischen Empfinden wie auch von Aufwärtstrends in materiellen Dingen. Diese Sichtweise teile ich nicht. Dank der Technik hat es im Leben und in den Zukunftsaussichten der meisten Menschen zweifellos willkommene Verbesserungen gegeben – etwa, was Bildung, Gesundheit und Lebenserwartung betrifft. Dennoch ist die Kluft zwischen dem tatsächlichen und dem möglichen Zustand der Welt weiter als je zuvor. Das Leben im Mittelalter mag elend gewesen sein, aber es gab nur wenige Gelegenheiten, daran etwas zu ändern. Dagegen könnte man die Misere der „untersten Milliarde“ in der Welt von heute zum Guten wenden, wenn man das Vermögen der 1000 reichsten Menschen auf der Erde umverteilen würde. Dass versäumt wird, dieses Gebot der Menschlichkeit zu befolgen, obwohl die Nationen die Macht dazu hätten, lässt jegliche Behauptungen über einen institutionellen moralischen Fortschritt zweifelhaft erscheinen.

Das Potenzial der Biotech- und Cyberwelt ist atemberaubend – doch zugleich auch furchteinflößend. Wir besitzen, als Individuen und kollektiv, aufgrund immer rascher erfolgender Innovationen bereits eine solche Macht, dass wir – geplant oder als ungewollte Konsequenz – globale Veränderungen hervorrufen können, die noch Jahrhunderte nachwirken. Smartphone, Internet und ihre Ableger sind für unser vernetztes Leben bereits unverzichtbar. Doch noch vor nicht mehr als 20 Jahren wären uns diese Technologien wie Zauberei erschienen. Wenn wir also unseren Blick auf die kommenden Jahrzehnte richten, sollten wir die Augen für umwälzende Entwicklungen, die uns heute noch wie Science-Fiction anmuten, offenhalten oder zumindest nicht ganz vor ihnen verschließen.

Lebensweisen, Einstellungen, Gesellschaftsstrukturen oder Bevölkerungszahlen lassen sich nicht einmal für einige Jahrzehnte zuverlässig vorhersagen – und noch viel weniger der geopolitische Hintergrund, vor dem sie sich entwickeln. Überdies sollten wir eine noch nie dagewesene Art des Wandels bedenken, die in den kommenden Jahrzehnten erfolgen könnte. Der Mensch selber – sein Geist und sein Körper – wird möglicherweise formbar durch Genmodifikation und Cyborgtechnologie. Damit werden die Karten völlig neu gemischt. Wenn wir aus der Antike erhaltene Literatur und Kunst bewundern, fühlen wir uns über die Jahrtausende hinweg mit jenen Künstlern des Altertums und ihren Zivilisationen verbunden. Aber wir können uns nicht im Geringsten sicher sein, dass die in einigen Jahrhunderten dominierenden Intelligenzformen noch irgendeine emotionale Bindung zu uns verspüren werden – selbst wenn sie möglicherweise über ein algorithmisches Verständnis für unser heutiges Verhalten verfügen.

Aus einem weiteren Grund ist das 21. Jahrhundert ein besonderes: Es ist das erste, in dem sich Menschen vielleicht Lebensräume jenseits der Erde erschließen. Die ersten „Siedler“ in einer außerirdischen Welt werden sich als Pioniere an eine feindliche Umgebung anpassen müssen – und sich außerhalb der Reichweite irdischer Regulierungsbehörden befinden. Diese Abenteurer könnten die Speerspitze des Übergangs von organischer zu elektronischer Intelligenz bilden. Eine derartige neue Inkarnation des „Lebens“, die keinerlei planetarische Oberfläche oder Atmosphäre benötigt, könnte sich weit über unser Sonnensystem hinaus ausbreiten. Für nahezu unsterbliche elektronische Entitäten sind interstellare Reisen kein bedrohliches Szenario. Falls es Leben bislang wirklich nur auf der Erde gibt, wird diese Migrationsbewegung ein Ereignis von kosmischer Bedeutung sein. Doch falls das Weltall bereits von Intelligenz bevölkert ist, werden sich unsere Nachfahren mit ihr vereinen. Dies würde sich innerhalb astronomischer Zeiträume abspielen – nicht „bloß“ innerhalb von Jahrhunderten. Kapitel 3 öffnet den Blickwinkel auf diese längerfristigen Szenarien: Werden Roboter die „organische“ Intelligenz verdrängen, und existiert eine solche Intelligenz bereits irgendwo im Kosmos?

Welches Schicksal unsere Nachkommen hier auf der Erde und möglicherweise weit entfernt von ihr erwartet, wird von Technologien abhängen, die wir uns heute kaum vorzustellen vermögen. In den kommenden Jahrhunderten (aus kosmischer Perspektive nach wie vor nur ein Wimpernschlag) könnte unsere kreative Intelligenz den Übergang von einer erdbasierten zu einer weltallbereisenden Spezies sowie von biologischer zu elektronischer Intelligenz auf Touren bringen – ein Übergang, der möglicherweise Milliarden Jahre posthumaner Evolution einläuten würde. Andererseits könnte der Mensch, wie in Kapitel 1 und 2 erörtert, Bio-, Cyber- oder Umweltkatastrophen auslösen, die all jene Möglichkeiten im Keim ersticken.

Kapitel 4 bietet einige (vielleicht ausschweifende) Exkursionen in wissenschaftliche Themen – fundamentaler und philosophischer Art –, die Fragen über die Dimensionen der physikalischen Realität aufwerfen und darüber, ob unserem Verständnis der Komplexität der realen Welt natürliche Grenzen gesetzt sind. Wir müssen einschätzen können, was glaubwürdig und was als Science-Fiction abzutun ist, um vorherzusagen, welche Bedeutung die Wissenschaft für die langfristigen Zukunftsaussichten der Menschheit haben wird.

Im letzten Kapitel wende ich mich Fragen zu, die eher mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. Eine optimal angewandte Wissenschaft könnte den 9 oder 10 Milliarden Menschen, die die Erde im Jahr 2050 bevölkern werden, eine strahlende Zukunft eröffnen. Doch wie schöpfen wir die Chancen auf diese gute Zukunft bestmöglich aus, ohne zugleich ihre dystopischen Schattenseiten heraufzubeschwören? Unsere Zivilisation ist geprägt von Innovationen durch wissenschaftliche Fortschritte und das konsequent vertiefte Verständnis der Natur. Die Forschung wird sich mit der breiteren Öffentlichkeit auseinandersetzen und ihr Expertenwissen zu deren Wohl einsetzen müssen, insbesondere, wenn so unermesslich viel auf dem Spiel steht. Zum Schluss spreche ich die globalen Herausforderungen der heutigen Zeit an – mit besonderem Augenmerk darauf, dass sie möglicherweise neue internationale Institutionen erfordern, die sich auf Wissen und Können einer wohlmeinenden Wissenschaft stützen, aber auch ein offenes Ohr für die öffentliche Meinung zu politischen und ethischen Fragen haben.

Unser Planet, dieser „blassblaue Punkt“ im All, ist ein besonderer Ort. Vielleicht ein einzigartiger. Und wir sind in einer ganz entscheidenden Epoche für ihn verantwortlich. Das ist eine wichtige Botschaft für uns alle – und das Thema dieses Buches.

Unsere Zukunft

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