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Wie funktionierte der Ritus?
ОглавлениеWie wurde der zeremonielle Akt durchgeführt? Wozu benutzte man die Gefäße, die von Mamarce und Leθe oder von einem Mitglied der Familien Manile oder Spuriana in das Heiligtum gebracht wurden? Wie wurde der Gegenstand verwendet, nachdem die Formel eingeritzt und deklamiert worden war? Welche Rituale wiederholte man im Heiligtum regelmäßig? Wie wurde die Kommunikation mit den ganz speziellen übermenschlichen Akteuren, die die Götter waren, auf praktischer Ebene aktiviert?19
Natürlich ist es schwierig, einen Ritus zu greifen, ohne ihn je miterlebt zu haben. Problematisch erscheint insbesondere die Rekonstruktion jener bedeutsamen Abläufe, die das Sensorische des Rituals – Sehen, Fühlen und Riechen – betrafen. Sie sind für uns kaum mehr nachvollziehbar. Der archäologische Befund kann jedoch helfen, zumindest bestimmte Ausschnitte der rituellen Handlung zu rekonstruieren, vor allem wenn wir mithilfe neuer Technologien die antiken Artefakte erneut befragen: Naturwissenschaftliche Analysen machen es möglich, eine Geschichte der Gesten und auch einzelne „Objekt-Biografien“ neu zu schreiben.
Die Form des Gefäßes, eines Trinkgefäßes, die häufigen Krüge zum Ausgießen von Flüssigkeiten, die Verortung des Gefäßes im stratigrafischen Kontext oder die Position der Inschriften, die oft nur zu entziffern sind, wenn das Gefäß auf dem Kopf stand: All diese Informationen zusammen geben eine Vorstellung davon, welche Handlungen unsere Akteure innerhalb des Heiligtums (Abb. 35 und 36) vollzogen, nachdem sie es aufgesucht hatten, um ihre Wünsche und Bitten an die Gottheit zu richten. Teil des Rituals war es aller Wahrscheinlichkeit nach, eine Flüssigkeit aus den Kantharoi auf den Erdboden oder ein Feuer, das im Rahmen der Opferzeremonien entfacht worden war, zu gießen. Ein solches Opfer war einer Unterweltsgottheit geweiht, von der man annahm, dass sie im Untergrund ihr Zuhause hatte. Der Kontakt wurde über verschiedene Handlungen hergestellt: rituelle Gesten, Bewegungen, Worte. Die Libation, also das Trankopfer, war dabei von grundlegender Bedeutung. Nach der Flüssigkeit wurde auch das Gefäß – mit der Inschrift, die eingeritzt worden war, um die mit der Gottheit eingegangene Verbindung auf Dauer zu garantieren – als Opfer dargebracht und auf dem Boden abgestellt. Manchmal wurde auch der Krug selbst, aus dem der Wein in die Trinkschalen geschöpft worden war, ehe er daraus auf den Boden oder den Altar gegossen wurde, niedergelegt.20 Die Gesten dürften nach einem ganz bestimmten Kodex ausgeführt und wiederholt worden sein. Die normierten Abläufe ermöglichten das Eintreten in eine Dimension des möglichen und wirkungsvollen Kontaktes mit dem Gott oder der Göttin. Nur so hatten die Bitten eine gute Chance, tatsächlich erfüllt zu werden.21
Was für eine Flüssigkeit genau dargebracht wurde, ist nicht mehr mit Sicherheit zu sagen. Die in den Gefäßen vorhandenen Rückstände wurden von Chemikern mittels Chromatografie analysiert.22 Die Untersuchungen konnten die Verwendung von Traubenderivaten in verschiedenen Gefäßen nachweisen; hauptsächlich handelte es sich um Rotwein, aber auch Rückstände von Weißwein wurden festgestellt. Das Trankopfer bestand demnach in der Regel aus Wein. Allerdings können wir in einigen Fällen nicht ausschließen, dass nicht auch unvergorener Traubensaft mit aromatischen Kräutern versetzt worden ist und dass diese speziellen Gemische bestimmten Momenten des Rituals vorbehalten waren. Die naturwissenschaftlichen Analysen liefern noch weitere interessante Informationen: Üblicherweise hat man die Gefäße vor ihrem Gebrauch wasserdicht gemacht – mittels Tierfett (sowohl von Wiederkäuern als auch von Schweinen), wie zahlreiche Spuren auf den Innenseiten der Gefäße belegen. Reste eines pflanzlichen Öls in einem Trinkbecher aus Bucchero, der in das frühe 6. Jahrhundert v. Chr. datiert wird und Rückstände von rotem Traubensaft enthielt, könnten hingegen ein Hinweis darauf sein, dass man damit den natürlichen Glanz der Gefäßoberfläche noch verstärken wollte.
Abb. 35 Blick von Norden auf die äußere Umfassungsmauer des heiligen Bezirks im Fondo Iozzino. In diesem Areal konnte durch Ausgrabungen zwischen 2014 und 2017 eine beträchtliche Menge von Votivgegenständen aus archaischer Zeit geborgen werden. (Archiv PAP)
Abb. 36 An einigen der gefundenen Gefäße führte man chromatografische Analysen durch, um Informationen über die Opfergaben und Rituale, die im Heiligtum stattgefunden haben, zu gewinnen: Die Gefäße hatten einen wasserundurchlässigen Überzug, was sie für die Aufnahme von Wein geeignet machte, wie er der Gottheit als Trankopfer dargebracht wurde. Dieser war gewöhnlich aromatisiert und mit verschiedenen Essenzen angereichert.
Der Rotwein wurde mit Harzen (beispielsweise von Nadelbäumen) oder anderen pflanzlichen Essenzen aromatisiert, wie es auch in der griechischen Welt üblich war. Eine Weinkanne (olpe) und ein größerer Kochtopf (olla) weisen zudem Rückstände von etwas auf, das wir als eine Art medizinische Rezeptur bestimmen konnten: Reste eines Krautes aus der Familie der Asteraceae, wahrscheinlich die in den antiken Quellen erwähnte Euphorbia.23 Diese Pflanze wird wegen ihrer antibakteriellen, antiviralen, entzündungshemmenden und antitumoralen Wirkung verwendet. Sie kann aber auch als Halluzinogen eingesetzt werden, weshalb man ihr traditionell magische Eigenschaften zuschrieb und sie mit den Praktiken der Zauberin Circe in Verbindung brachte. Der pompejanische Kochtopf (olla) muss somit einen besonderen Aufguss enthalten haben, der dann mit den Weinkannen (olpai) in die Trinkschalen verteilt wurde und beim Trankopfer zum Einsatz kam: Die Zutaten dieser Mischung verliehen der Zwiesprache mit den Göttern eine besondere Wertigkeit und dürften die Kommunikation regelrecht beflügelt, ja die Wahrnehmung, wie anzunehmen ist, mehr als berauscht haben.
Was schließlich den rituellen Akt selbst betrifft, erlaubt es die hohe Konzentration an Rückständen in einigen Gefäßen, weitere Aspekte der Kommunikation mit dem Göttlichen zu rekonstruieren: Die Weinkrüge scheinen noch zum Teil gefüllt niedergelegt worden zu sein; und in einigen Weinschalen belegen die Ablagerungen, dass sie mehrmals wiederverwendet worden sind. Es handelt sich demnach um Tischgefäße der Opfernden, die tatsächlich länger in Gebrauch gewesen waren, bevor sie schließlich dem Gott dargebracht und in seinem Heiligtum niedergelegt wurden. Wenn diese Hypothese zutrifft, dann wäre die erwähnte eingeritzte Inschrift „Ich gehöre Mamarce Tetana“ eine noch explizitere Besitzangabe.
Es verwundert nicht, dass eine enorme Anzahl von Funden in der Menge an sakralen Objekten (Abb. 37) den Konsum von Wein innerhalb des Heiligtums belegt.24 Wein war ein Luxusgut, egal ob er lokal produziert oder importiert wurde. Er wurde „verschwendet“, indem man ihn dem Genuss durch den Menschen entzog und seinem göttlichen Gegenpart zuführte. Wein wurde zum Element des Kontakts zwischen Mensch und Gottheit und damit zum grundlegenden Bestandteil der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Sphären. Als Getränk war Wein bei häuslichen Banketten weitverbreitet, im Ritus aber erlangte er eine besondere Bedeutung durch Handlungen und Gesten, die die Distanz zum Alltag unterstrichen: Auf die Erde oder in das für das Zeremoniell entfachte Feuer gegossen (die Feuerstellen lassen sich anhand der überall im Heiligtum aufgefundenen Kohlereste rekonstruieren), ermöglichte der Wein die Kommunikation mit den Göttern. Das Trankopfer hat man sich als von Weihrauchschwaden begleitet vorzustellen. Erst beides zusammen machte eine Handlung in der italischen Religiosität zu einem sakralen Geschehen.25 Gleichzeitig vergegenwärtigte das Trankopfer denjenigen, die dem Ritual beiwohnten, dass sie zu der privilegierten Gruppe der an der rituellen Handlung Beteiligten gehörten, die in der Lage waren, edlen Wein in raffinierten Bucchero-Gefäßen „darzubringen“. Die Gefäße wurden der Gottheit ebenso „geopfert“ wie ihr Inhalt, und einige von ihnen konnten dank der eingravierten Zeichen in etruskischer Sprache sogar „sprechen“.26
Abb. 37 Schon bei der ersten Grabungskampagne im Bereich der äußeren Umfassungsmauer des Heiligtums zeigte sich, dass die Befunde außergewöhnlich waren. Obwohl das Areal schon lange bekannt war, tauchten unter nur wenigen Zentimetern Erde Hunderte von ausgezeichnet erhaltenen Gefäßfragmenten auf: allesamt Zeugen der großen Bedeutung und langen Nutzung des Heiligtums.
Auch wenn es sich bei den rituell verwendeten Gefäßen vor allem um etruskischen Bucchero handelt, so haben auch andere (Import-)Gefäße Eingang in unser Heiligtum gefunden. Auch Keramikgefäße aus Griechenland, Athen oder Korinth (Abb. 38) hat man offenbar als geeignet erachtet, um dem Gott schöne Gaben, wie etwa parfümierte Salben und Öle, darzubringen: Wohlgerüche passen zur Gottheit.27 Die neuen Ausgrabungen haben aber nicht nur Gefäße, sondern auch viele andere Objekte zutage gefördert, darunter ein Bronzeschild, Schwerter und zahlreiche Speerspitzen (Abb. 39). Wer das Heiligtum besuchte, war offenbar stolz darauf, seinen Status als Krieger innerhalb der sich neu formierenden Stadtgemeinschaft, aber auch seine Zugehörigkeit zu einer Elite zu zeigen.28
Als weitere Opfergaben sind persönliche Gegenstände wie Körper- und Gewandschmuck, silberne und bronzene Ringe oder orientalische Amulette dokumentiert: allesamt Artefakte, die man besessen und in Schlüsselmomenten des gesellschaftlichen Lebens getragen hatte. Diese Gegenstände haben eine je eigene Biografie, vor und nach der Opferung, die abschnitthaft – bis zur Niederlegung des Objekts – parallel zur Lebensgeschichte ihrer Besitzer verlief.29
In der Kontaktaufnahme mit der Gottheit war die Gabe eines mehr oder weniger kostbaren Geschenks (je nach Anlass Waffen, exotische Keramik oder persönlicher Schmuck), ähnlich wie in zwischenmenschlichen Beziehungen, mit Bedeutung aufgeladen. Dies liegt auch in der Materialität der Objekte begründet, die ein Überdauern des kommunikativen Akts gewährleistet, während andere Bestandteile des Ritus (wie etwa die Darbringung von Weihrauch oder Speisen) nicht dauerhaft sein konnten und sollten.
Abb. 38 Aus Griechenland importierte Salbgefäße: links eine Lekythos aus attischen Werkstätten, rechts ein korinthischer Aryballos. (Archiv PAP)
Die überaus große Anzahl an gefundenen Objekten lässt nicht nur auf die große Bedeutung dieses sakralen Orts außerhalb der Stadtmauern Pompejis schließen, sondern auch auf eine große Anteilnahme der Gläubigen. Der Stifter hinterließ mit dem Akt der Darbringung gewissermaßen einen Teil von sich selbst, wie mit der schönen, figurengeschmückten attischen Vase (Farbtafel 7) oder dem wertvollen etruskischen Silberring mit einer Gemme, in der der griechische Mythos vom heldenhaften Selbstmord des Ajax dargestellt ist (Farbtafel 8). Dieses Prinzip gilt umso mehr, wenn in das dargebrachte Objekt der Stiftername eingraviert ist oder es sich um einen Gegenstand handelt, der zuvor tatsächlich vom Stifter getragen worden war. Die Opfergabe verkörperte den Opfernden nicht nur im Moment der eigentlichen rituellen Handlung, sondern auch danach, solange das gestiftete Objekt für andere Besucher des Heiligtums sichtbar blieb.
Abb. 39 Unter den Opfergaben im Heiligtum stechen zahlreiche Waffen, darunter eiserne Speerspitzen, hervor. Die Opfergaben zeugen von einer Frequentierung des Heiligtums durch eine Elite von Kriegern, die, auch durch diese Votivgaben, ihre Rolle beim Aufbau des sozialen Gefüges der Stadt unterstreichen wollten. (Archiv PAP)
Die Darbringung alkoholischer Getränke, von kostbarem Trinkgeschirr oder von Gefäßen für kosmetische Substanzen zeugen also von kollektiven Zeremonien, die von stark wettbewerbsgeprägten Gesellschaften vollzogen wurden, um den erforderlichen Legitimationsansprüchen und der Machtkonsolidierung nachzukommen.30 Aus Töpfen, Krügen, Kantharoi, Bechern und Schalen können wir nicht nur auf individuelle, sondern auch auf kollektive Handlungen schließen, bei denen Wein zum Einsatz kam. Für gewöhnlich folgten diese auf den Moment der Weihung und des Opfers. An der Durchführung dieser Rituale waren hochrangige Personen und Bürger der pompejanischen Gesellschaft beteiligt, deren Identität die speziellen, ja unverwechselbaren Keramikgefäße unterstreichen. Wenn solche Artefakte bei systematischen Ausgrabungen in situ gefunden werden – innerhalb eines unter anderem hinsichtlich des Materials homogenen Kontexts –, dann erlaubt dies mehr als nur Hypothesen über ihren tatsächlichen Gebrauch (und ihren gesellschaftlichen Stellenwert). Die Zeremonien zeugen von den Bedürfnissen einer Gemeinschaft, die sich an einem „speziellen“ Ort der Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Gott öffnete, um die Gottheit, gleichzeitig aber auch die eigene Familie, zu verherrlichen.
Ab dem späten 7. Jahrhundert v. Chr. bildete sich in Pompeji demnach eine differenzierte Gesellschaft heraus. Innerhalb dieser gab es ranghohe Persönlichkeiten, die ihren Status in den Heiligtümern durch Rituale zum Ausdruck brachten, zu denen unter anderem der Einsatz alkoholischer Getränke gehörte. Diese Gruppen spielten während der gesamten archaischen Zeit bei der Organisation des Gemeinschaftslebens eine wichtige Rolle. Die Inszenierung der Rituale sollte den Überlegenheitsanspruch derer, die sie durchführten, sichern: Der Besuch der Heiligtümer, inklusive der kostspieligen Opferhandlungen, und das Bankett mit dem gemeinsamen Trinken von Wein aus raffinierten Bucchero-Gefäßen eröffneten die Möglichkeit, soziale Rollen öffentlich zu demonstrieren und zugleich zu festigen – gerade auch durch ein striktes Zeremoniell (das nicht allen zugänglich war). Der Konsum des Getränks wurde auf diese Weise zum Hauptmoment, um innerhalb einer stark kompetitiven Gesellschaft in rituellem Rahmen Freundschaften zu bekunden und Solidarität zu schaffen oder zu konsolidieren. Das gemeinsame Trinken bedeutete aber auch eine Abgrenzug zwischen denen, die dazugehörten, und denen, die nicht zugelassen waren, zwischen denen, die bis zu einem bestimmten Moment teilnehmen durften, und denen, die von bestimmten Phasen der Zeremonie ausgeschlossen werden konnten: Rang und zwischenmenschliche Beziehungen wurden auf diese Weise konsolidiert. Wir haben es also mit elitären rituellen Praktiken zu tun, die darauf abzielten, die Gruppe zu stärken. Der gemeinsame Nenner waren bestimmte Schlüsselwerte der Gesellschaft, unter denen das Heldentum wohl der herausstechendste war: Man denke an die Weihung von Waffen als Symbol einer solchen Ideologie, an denen der hohe Status des Weihenden klar abzulesen ist.31
Wenn es möglich ist, in den Besuchern des Heiligtums Personen etruskischer Sprache und Kultur auszumachen, welche Gottheit wurde dann angerufen, welche war Adressat der Gebete und Weihgaben in diesem heiligen Bezirk Pompejis? Nach einer weiteren Gruppe von Gefäßen mit Inschriften scheint auch die verehrte Gottheit der etruskischen Welt zu entstammen. In einige Becher ist das Wort apa, etruskisch „Vater“, eingeritzt (Abb. 40). Es handelt sich offensichtlich um die „generische“ Evokation der in unserem Heiligtum verehrten Gottheit, deren Name vielleicht, wie häufig an sakralen Orten, tabuisiert war und nicht ausdrücklich ausgesprochen werden durfte. Ein Gott namens „Vater“ also?
In Etrurien ist dieser Beiname in Götteranrufungen häufiger zu finden, sei es in Heiligtümern, in denen, wie in unserem Fall, der wahre Name der Gottheit nicht genannt ist (von Volterra bis Cerveteri), sei es im Zusammenhang mit Göttern, die durchaus auch mit ihrem eigenen Namen angesprochen wurden, wie im Fall von Śuri, einer dem griechischen Apollon entsprechenden Gottheit, die im Heiligtum von Pyrgi, der Hafensiedlung von Cerveteri, verehrt wurde. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind die Befunde aus Orvieto: In einer heiligen Stätte, die wie das Heiligtum des Fondo Iozzino bei Pompeji im unmittelbaren Suburbium der Stadt gelegen war, wurde in archaischer Zeit Śuri kultisch verehrt (der in den Widmungen auf Gefäßen als apa erscheint), später aber Tinia (lateinisch Jupiter oder griechisch Zeus), der durch den Beiname Calusna, genau wie der Gott in Pompeji, als Unterweltsgottheit charakterisiert war.32
Abb. 40 Apa, „Vater“: Auf mehreren Exemplaren einer Gruppe von im Heiligtum entdeckten Trinkbechern ist immer wieder dieses Wort zu finden. Die Gottheit wurde also nicht mit ihrem wirklichen Namen genannt, sondern mit einem Attribut, das sich auf Zeus, den Göttervater, beziehen könnte. (Foto: C. Pellegrino)
In vielen Heiligtümern wurde die Gottheit „Vater“ zusammen mit einer weiblichen Gottheit angerufen: im Heiligtum von Pyrgi beispielsweise mit einer Göttin namens Cavatha, die als „Tochter“ (seχ) bezeichnet wird; und in einem anderen Heiligtum, in Cerveteri (im Örtchen Vigna Parrocchiale), in Verbindung mit der Göttin Vei.33 Möglicherweise gilt dies auch für unser Heiligtum. Denn die jüngeren Befunde aus hellenistischer Zeit (2. Jahrhundert v. Chr.), zu denen eine Reihe schöner Terrakottastatuen und eine Inschrift gehören, die eine deiva, also eine Göttin erwähnt, suggerieren die Präsenz weiblicher Gottheiten im Heiligtum.34 Für die Identifikation der verehrten Gottheiten sind die Befunde der späteren Nutzungsphasen des Heiligtums, aus samnitischer Zeit (4. bis 2. Jahrhundert v. Chr.), als das Heiligtum nach einer Unterbrechung im 5. Jahrhundert v. Chr. wieder intensiv besucht wurde, von großer Bedeutung.
Die Debatte über die Bestimmung der in diesem Heiligtum verehrten männlichen Gottheit ist noch nicht abgeschlossen. Ich persönlich neige sehr dazu, sie als Jupiter Meilichios zu identifizieren, also als den Gott, der in einer langen oskischen Inschrift des 2. vorchristlichen Jahrhunderts erwähnt wird, die man in der Nähe der sogenannten Porta di Stabia (des großen Tors in der südlichen Stadtmauer Pompejis zum Hafen und nach Stabiae hin) gefunden hat.35 In der Inschrift wird ein dem Gott geweihter Kultplatz als Orientierungspunkt erwähnt, um Entfernungen entlang der „Via Pompeiana“ zu berechnen, womit wohl die Straße, die von diesem Tor aus der Stadt herausführte, gemeint war. Wie gesagt: Im Heiligtum des Fondo Iozzino, das in hellenistischer Zeit (Ende 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) eine neue Blütezeit erlebte, wurde wohl ein chthonischer Gott verehrt, Jupiter Meilichios, sowie eine Göttin, vielleicht Ceres. Nach der großen Menge an Trinkgefäßen zu urteilen, behielt der Wein in dieser Nutzungsphase des Heiligtums seine zentrale Rolle in der Opferpraxis.
Die neuen Ausgrabungen sind also durchaus imstande, uns in Erstaunen zu versetzen. Manche Funde sind spektakulär, manche erhärten Hypothesen aus zwei Jahrhunderten pompejanischer Forschung. Die jüngeren Entdeckungen im Fondo Iozzino erweisen sich unter mehreren Gesichtspunkten als wichtig: für die Rekonstruktion der Kultpraktiken und, vor allem, der frühen Stadtgeschichte. Die neu entdeckten Inschriften, von denen hier nur einige Beispiele herausgegriffen und besprochen werden konnten, vermögen einzelne Komponenten der Stadtwerdung Pompejis und deren kulturellen Kontext zu erhellen, der stark von Mobilität und Migration geprägt war.36
Das „Mysterium“ der Ursprünge Pompejis verklingt im Nachhall eines reichen epigrafischen „Archivs“: Die eingeritzten Worte zeichnen das Bild einer in Sprache und Kultur etruskischen Stadt.