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Giftmischer

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Das Urteil der Leichenschau lautete: »Lätitia Woodriff ist an Morphiumvergiftung gestorben. Es liegt uns kein genügender Beweis vor, wie sie das Gift genommen oder wer es ihr beigebracht hat. Wir können daher nur den durch den Verlust seiner Tochter so schwer betroffenen Vater, Herrn Woodriff, unsrer aufrichtigen Teilnahme versichern.«

Die Leichenschau war außer stande gewesen, das geheimnisvolle Rätsel zu ergründen. Nachdem die Leute ihren Wahrspruch abgegeben hatten, verließen sie mit geräuschlosem Tritt und ernster Miene das Trauerhaus. John Woodriff aber schlich leise, als fürchte er, sein totes Kind zu wecken, in das Zimmer zurück, wo die schöne Leiche lag. Mit ängstlicher Scheu berührte er das kalte, weiße Händchen auf dem Deckbett und sah in das ruhige Antlitz, dessen bleiche Lippen noch im Tode lächelten. Die holde Tochter, der Liebling und die Freude seines Herzens, schien ihm auf einmal in so unermeßliche Ferne entrückt, daß selbst seine Gedanken ihr nicht folgen konnten. Es war nicht mehr sein Kind, mit dem ihn die innigste Liebe verbunden hatte, das kalt und leblos vor ihm lag. Ein reiner, heiliger Engel schwebte durchs Zimmer. Seine warmherzige, muntere und zärtliche Letty hatte er auf immer verloren.

Voll leidenschaftlichen Schmerzes beugte er sich über sie und drückte ihr einen Kuß auf die starren Lippen. Bei der eiskalten Berührung ging es ihm wie ein Stich durchs Herz und er fühlte die ganze Qual des Verlustes von neuem, obgleich seine Tochter schon vor zwei Tagen gestorben war. Sein Gesicht in den Kissen vergrabend, auf denen die Tote ruhte, brach er in ein erschütterndes Schluchzen aus.

Da ging leise die Tür auf und der Kopf eines jungen Mädchens mit abgehärmten, bleichen Zügen und roten Rändern um die Augen, zeigte sich in der Öffnung. »Vater,« rief eine sanfte Stimme voll Zärtlichkeit. Milly Woodriff trat an das Bett, neben dem ihr Vater von Gram überwältigt kniete, schlang ihre Arme um seinen Hals und versuchte ihm Trostesworte ins Ohr zu flüstern, wiewohl ihr selbst das Herz fast vor Kummer brach.

»Vater, lieber Vater, weine doch nicht so,« sagte sie. »Letty könnte ja im Himmel nicht selig sein, sähe sie deinen Schmerz; sie war ja immer so fröhlich, so gut und liebevoll. Es ist hart und schwer zu ertragen, das weiß Gott. Aber wir beide sind uns doch noch geblieben; wir können füreinander leben und uns liebhaben, bis wir einst unser verlorenes Herzblatt wiedersehen.«

Der tiefgebeugte Mann gab wie ein müdes Kind ihrem zärtlichen Drängen nach und ließ sich von ihr aus dem Zimmer führen. »Gott sei Dank, Milly, daß ich dich noch habe!« flüsterte er, während sie Hand in Hand nebeneinander in dem stillen Wohnzimmer saßen, wo selbst das Sonnenlicht jetzt nur Trauer zu verbreiten schien. Da krallte ihm eine plötzliche Furcht die Brust zusammen und er drückte ihre Hand so fest, daß es ihr weh tat. »Großer Gott,« rief er, wie wahnsinnig vor Angst, »muß ich sie auch noch hergeben?«

Lange saß er schweigend da, ohne einen Blick von ihr zu wenden, und streichelte ihr braunes, seidenweiches Haar, Endlich raffte er sich mit Anstrengung auf wie jemand, der einen besondern Zweck im Auge hat. »Ist niemand mit der Bahn angekommen, Milly?« fragte er.

»Der Zug kann kaum hier sein, Vater,« erwiderte sie, mit dem Blick die Standuhr auf dem Kaminsims streifend, »und von der Stadt ist's noch eine gute halbe Stunde bis zu uns. Erwartest du einen Gast?«

»Ich habe vorgestern nach London telegraphiert an einen Geheimpolizisten namens Paul Beck. Wir waren zusammen auf der Schule und damals sehr befreundet; doch haben wir uns seitdem nicht wiedergesehen. Er gilt für den scharfsinnigsten Mann in seinem Beruf und ich hoffte, er werde noch rechtzeitig zur Leichenschau eintreffen. Wenn irgend jemand entdecken kann, wie unsre arme Letty ums Leben gekommen ist, so wird er es herausbringen.«

»Was kann es aber nützen, Vater, wenn wir uns jetzt noch damit ängstigen und quälen? Die Wunde wird nur immer von neuem bluten und unser Herzblatt bringt es uns doch nicht zurück.«

»Ich gäbe gleich meine rechte Hand darum, Milly,« erwiderte er mit einer Leidenschaft, die sie erschreckte, »wenn ich wüßte, wie die arme Letty den Tod gefunden hat.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte Woodriff plötzlich: »Wo ist Anna?«

»Auf ihrem Zimmer, Vater; sie ist ganz fassungslos und hat seither weder gegessen, noch geschlafen. Anna ist in mancher Beziehung noch wie ein kleines Kind, und sie hat Letty so liebgehabt.«

»Geh zu ihr, mein Herz, ihr könnt einander am besten trösten. Es läßt mir keine Ruhe, bis ich weiß, ob Beck angekommen ist; da will ich ihm lieber eine Strecke weit entgegengehen.«

Woodriffs Haus war ein hohes Backsteingebäude, das, an einem bewaldeten Abhang gelegen, nach dem Meere hinausschaute. Etwa drei Meilen landeinwärts lag die große, blühende Stadt Deringham, wo Woodriff sich als Maschinenbauer sein Vermögen erworben hatte, das ihn in den Stand setzte, sich Haus und Park zu kaufen und hier am Seegestade, für das er schon seit seiner Knabenzeit schwärmte, ein behagliches Leben zu führen. Auf der Landstraße einherschreitend, hatte er schon den halben Weg nach der Stadt zurückgelegt, als eine Droschke rasch an ihm vorüberfuhr. Ein schläfrig aussehender Mann, der Woodriff wie ein Handlungsreisender vorkam, saß darin bequem zurückgelehnt. Etwa zwanzig Schritt weiter hielt die Droschke plötzlich still; ihr träger Insasse sprang wie ein Schulknabe heraus und kam spornstreichs zurückgelaufen.

»Kennst du mich nicht mehr, John?« rief er, Woodriff herzlich die Hand entgegen streckend, »Ich habe dich auf den ersten Blick erkannt.«

Der Angeredete starrte ihn einen Augenblick ganz verwirrt an; bald ging ihm aber ein Licht auf. »Was, du bist doch nicht etwa der kleine Paul Beck?« rief er.

»Ich bin so gewiß Paul Beck, als du John Woodriff bist. Vor mancher Tracht Prügel hast du mich in der Schule bewahrt, wo ich unter den kleinen Buben war, während du zu den großen gehörtest. Es tut mir herzlich leid, John, daß wir uns aus so traurigem Anlaß zum ersten Male wiedersehen.«

»Du hast also meine Depesche erhalten?«

»Und deinen Brief; beides zu gleicher Zeit. Ich war gerade verreist, als das Telegramm einlief, sonst würde ich zur Leichenschau gekommen sein. Was ist denn das Ergebnis?«

»Fahrlässige Morphiumvergiftung.«

Beck sah ihm forschend ins Gesicht. »Ist das auch deine Meinung?«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll.«

»Du bist ja furchtbar angegriffen und schüttelst dich wie im Fieber. Nicht der Kummer allein beherrscht dich, sondern eine quälende Angst. Ich will die Droschke fortschicken; im Gehen redet sich's am besten. Zwischen vier Wänden ist man nie so sicher, unbelauscht zu sein.«

Eine Weile gingen die beiden Männer schweigend nebeneinander her, bis links ein Pfad abbog, der geradeswegs nach dem Strand hinunterführte. Ohne ein Wort zu sagen, verließen sie die Landstraße. Woodriff hielt den Blick zu Boden gesenkt, der Ausdruck seines Gesichts war besorgt und kummervoll; von Zeit zu Zeit schaute ihn Beck an und mühte sich, seine Gedanken zu erraten. Jetzt standen sie an einer Stelle, wo sich der platte Strand in breiter Fläche vor ihnen ausdehnte. Bis an den Horizont lag das Meer zu ihren Füßen; die klaren Wellen brachen sich kräuselnd und schäumend auf dem Sand und hinter ihnen stiegen die schwarzen Klippen steil in die Höhe.

»Was peinigt dich so?« fragte Beck plötzlich, während sie dicht am Uferrand hinschritten.

»Die Furcht.«

»Furcht – wovor?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich schwebe in Todesangst, daß meine Tochter Milly, jetzt mein einziges Kind, mir auch noch entrissen werden könnte. Letty war nicht die erste, die an Gift gestorben ist. Mir graut bei dem Gedanken, sie könnte vielleicht nicht die letzte sein.« Er bebte an allen Gliedern.

Beck ergriff seinen Arm. »John,« sagte er mit fester Stimme, »wenn ich dir helfen kann, so würde ich es schon um der alten Zeiten willen tun. Du siehst die Dinge wohl schwärzer, als sie wirklich sind. Bitte, sage mir offen heraus, was du fürchtest und was du weißt.«

»Es ist eine lange Geschichte, Paul.«

Den alten Schulgefährten kam es ganz natürlich vor, sich beim Taufnamen zu nennen und denselben Ton gegeneinander anzuschlagen, wie vor fünfundzwanzig Jahren. »Ich habe keine Eile. Erzähle mir's nur auf deine Weise, aber behalte nichts für dich.«

»Vor einem Jahr starb meine älteste Tochter Barbara plötzlich in Süddeutschland, wo sie in Pension war. Das Telegramm ging verloren und man hatte sie schon begraben, als ich ankam. Der Arzt meinte, sie sei einem Herzleiden erlegen. Damals glaubte ich ihm; es lag kein Grund vor, daran zu zweifeln. Aber jetzt bin ich überzeugt, daß sie auch mit Morphium vergiftet worden ist, wie meine arme Letty. Der Verlauf war der ganz gleiche. Noch am Morgen fühlte sich Barbara völlig gesund und frühstückte mit den andern Mädchen. Dann ging sie in ihr Zimmer, um Briefe aus England zu lesen, die sie erhalten hatte. Eine Stunde später fand man sie mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl zurückgesunken. Man glaubte zuerst sie schlafe, aber sie war tot.«

»Und deine Tochter Letty starb auf ähnliche Weise?«

»Genau so. Ihre Zwillingsschwester Milly war mit Anna Coolin, ihrer Cousine, die bei uns auf Besuch ist, zu einer Gesellschaft von jungen Leuten am andern Ende der Stadt geladen, wo sie über Nacht bleiben wollten. Letty aber hatte die Einladung ausgeschlagen, um mich nicht allein zu lassen. Wir frühstückten miteinander und sie war wie immer lustig und guter Dinge, dann gingen wir zusammen aus. Wo der Pfad zum Seestrand abzweigt, trennten wir uns. Letty erwartete einen Brief von einer früheren Schulgefährtin und schlug den Weg nach der Stadt ein, um dem Briefträger zu begegnen. Ich ging zum Meer hinunter mit der Absicht, ein paar Makrelen zu fangen. An der Biegung der Straße warf mir Letty noch eine Kußhand zu. Ich sollte sie nicht mehr lebendig wiedersehen.

»Als ich nach einigen Stunden heimkehrte, fand ich das ganze Haus in Schmerz und Unruhe. Die beiden Mädchen waren eben nach Hause gekommen und hatten Letty quer über das Bett hingestreckt gefunden, als sei sie plötzlich umgefallen – sie war tot. Die Leichenschau erkannte auf Morphiumvergiftung. Sie müsse beinahe zehn Gran reines Morphium zu sich genommen haben, erklärte der Doktor; das sei genug, um binnen dreißig Minuten den Tod herbeizuführen.«

»Hatten deine Töchter vielleicht ein Liebesverhältnis?«

»Ich habe nie von etwas Derartigem gehört. Sie sind noch sehr jung, kaum der Schule entwachsen. Letty hatte ihr achtzehntes Jahr noch nicht vollendet. Daß sie und Milly Zwillingsschwestern sind, sagte ich dir ja schon. Barbara war genau ebenso alt, als sie vor einem Jahr in Deutschland vergiftet wurde.«

»Es waren muntere, lebenslustige Mädchen, sagst du?«

»So vergnügt wie die Vögel in den Zweigen. Den Gedanken an Selbstmord laß nur ganz beiseite.«

»Wenn Selbstmord und Zufall ausgeschlossen sind, so käme ein Mord in Frage. Was für Leute waren im Hause, als deine Tochter Letty vergiftet wurde?«

»Nur langjährige treue Diener der Familie. Ebensogut könnte man mich selbst verdächtigen. Es läge ja auch gar kein denkbarer Beweggrund vor und alle hatten sie lieb.«

Die Art, wie er das Wort »Beweggrund« aussprach, machte Beck stutzig; er blieb plötzlich auf dem einsamen Strand stehen, wandte sich um und sah Woodriff voll ins Gesicht. »Du verbirgst etwas vor mir, John. Ist dir ein Beweggrund für das Verbrechen bekannt?«

»Ich weiß von keinem!«

»Aber du hast eine Vermutung Sei offen gegen mich, wenn ich dir helfen soll,«

»Der Gedanke ist so ungeheuerlich, daß ich ihn kaum zu fassen mag. Überdies ist es ja unmöglich.«

»Das zu beurteilen, mußt du mir überlassen. Erst wenn man die Unmöglichkeit aus dem Weg geräumt hat, kommt man zu dem, was möglich ist,«

»Um dir alles zu erklären, muß ich etwas weit ausholen: Wir Woodriffs waren fünf Geschwister, vier Brüder und eine Schwester. Robert, der älteste, wurde Arzt und ließ sich in Liverpool nieder. Sein einziger Sohn, Coleman Woodriff, erwählte denselben Beruf und erbte bei seines Vaters Tod die nicht sehr einträgliche Praxis. Mein zweiter Bruder Peter lebt seit dreißig Jahren in Chicago, wo es ihm gut geht. Er ist unverheiratet und verspricht jedes Jahr, uns zu besuchen. Mit dem, was ich dir erzählen will, hat er nichts zu schaffen. Der dritte Bruder bin ich und Dick war der jüngste. »Dick haßte Robert von Grund seiner Seele, aber er und ich waren die besten Freunde, bis es das Unglück wollte, daß wir beide dasselbe Mädchen liebten. Wir kämpften redlich zusammen, wie Brüder, um ihre Liebe und ich gewann den Preis. Meine arme Alice! Sie war die beste Frau, die je einen Mann beglückt hat, aber sie starb nach der Geburt der Zwillinge. Um ihretwillen waren mir die beiden Kleinen doppelt ans Herz gewachsen. Dick konnte seine Enttäuschung nicht überwinden. Es kam zu keinem Zerwürfnis zwischen uns, dazu war er ein viel zu rechtschaffenes Gemüt; aber er gab sein gutes Maklergeschäft in Liverpool auf und ging nach Australien, wo er vor drei Jahren gestorben ist. Er hatte sich auf die gewagtesten Spekulationen mit Grundstücken und Bauplätzen eingelassen, aber alles gelang ihm. Du kennst ja das Sprichwort: ›Unglück in der Liebe, Glück im Spiel.‹ So wurde er ein reicher Mann.

»Wir blieben in regem Verkehr bis zuletzt. Alle vier Wochen gab er mir Nachricht, Die Mädchen liebte er sehr; mehr im Andenken an Alice, glaube ich, als um meinetwillen. Alljährlich schickte er ihnen schöne Geschenke und bei seinem Tod hinterließ er ihnen sein gesamtes Vermögen, das sich fast auf eine Viertelmillion Pfund Sterling beläuft.«

»Allen drei zu gleichen Teilen?«

»Ja, oder falls eine sterben sollte, den Überlebenden, nachdem sie ihr achtzehntes Jahr erreicht hätten.«

Beck pfiff leise vor sich hin. »Wie aber, wenn keine achtzehn Jahre alt würde?« fragte er nach einer Pause.

»Darüber enthält das Testament keine Bestimmungen. Meinem Bruder Dick ist wohl eine solche Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen. Aber ich habe einen Rechtsgelehrten darüber befragt und den Bescheid erhalten, daß, falls meine drei Töchter sterben, bevor sie das achtzehnte Jahr erreicht haben, das Testament meines Bruders keinen Wert mehr hat und das ganze Vermögen, das in Häusern und Ländereien besteht, dem Doktor Coleman Woodriff zufällt, der der gesetzliche Erbe des Verstorbenen ist.«

»Da haben mir ja einen klaren Beweggrund, der auch stark genug sein dürfte,« sagte Beck.

»Aber der Gedanke ist unsinnig,« versicherte Woodriff mit Bestimmtheit. »Selbst wenn man annehmen wollte, daß der Sohn meines Bruders ein solcher Teufel wäre, was ich für unmöglich halte, so kann er doch nichts damit zu tun haben. Er war in Liverpool, als Barbara vergiftet wurde. Er ist auch jetzt dort, während Letty hier an Gift gestorben ist.«

»Was für ein Mensch ist denn dieser Coleman Woodriff überhaupt?«

»Ein ganz braver und kluger Mann, wie ich höre, obgleich er nie auf einen grünen Zweig gekommen ist. Das wenige, was ich von ihm gesehen habe, hat mir nicht mißfallen. Meine verwitwete Schwester – seine Tante – Frau Coolin, die in Liverpool wohnt und ihn kennt, liebt ihn sehr. Ihre einzige Tochter Anna ist bei uns zu Besuch.«

»Was hält denn Anna von Doktor Coleman?«

»Sie mag ihn nicht leiden, das steht fest. Aber junge Mädchen sind oft unvernünftig. Anna ist ein schüchternes, stilles kleines Ding, zwei Jahre älter als Milly, doch würde man sie für viel jünger halten; sie ist unerfahren wie ein Kind und kennt die Welt noch wenig. Trotz ihrer Abneigung gegen Doktor Coleman, weiß sie doch nur Gutes von ihm zu berichten, Glaube mir, Paul, du tust am besten, ihn ganz aus dem Spiel zu lassen, wenn du der Sache wirklich auf den Grund kommen willst.«

Wieder schwiegen sie eine geraume Weile. »Hat denn deine Tochter Letty den Brief erhalten, welchen sie erwartete?« fragte Beck endlich.

»Ich weiß es nicht. Das Feuer in ihrem Zimmer war ausgegangen, aber in der Asche fand sich etwas verbranntes Papier.«

»Und nirgends wurde eine Spur von Gift entdeckt?«

»Nicht die geringste. Nach Aussage der Dienerschaft hat sie bei ihrer Rückkehr nichts gegessen. Ich habe ihre Tür gleich abgeschlossen in der Hoffnung, daß du kommen würdest.«

Es kostete den unglücklichen Vater offenbar die größte Anstrengung, auf Becks Fragen klaren, ruhigen Bescheid zu geben, während Schmerz und Furcht ihn zu überwältigen drohten. Schweigend und mit völlig ausdruckslosem Gesicht schritt Beck weiter, ohne den flehenden, hilfesuchenden Blick seines Gefährten zu beachten. Endlich ertrug es Woodriff nicht länger. »Um Gottes willen, Mensch, so sprich doch ein Wort!« rief er.

»Ich weiß nichts, was zu sagen der Mühe lohnte,« gab Beck kurz zur Antwort.

»Glaubst du, daß ein Bubenstück verübt worden ist und daß Milly Gefahr droht?«

»Ich fürchte es.«

Mit der Selbstbeherrschung des armen Vaters war es aus. »Hilf mir, Paul,« flehte er verzweifelt, »rette mir die geliebte Tochter, mein einziges Kind! Gott erbarme sich meiner! Nicht wahr, du wirst mir beistehen um unsrer alten Freundschaft willen?« Inniges Mitgefühl leuchtete aus Becks Zügen auf, die wie verwandelt erschienen. »Nimm dich zusammen, John,« sagte er, dem Schulkameraden herzlich die Hand drückend. »Du wirst deine ganze Kraft brauchen, bevor die Sache zum Austrag kommt. Wie alt ist deine Tochter Milly jetzt?«

»In einem Monat wird sie achtzehn Jahre.«

»Das kürzt unser Geschäft ab. Könnte nicht dein älterer Bruder aus Chicago – Peter heißt er ja wohl? – dir auf der Stelle seinen Besuch machen?«

Woodriff starrte ihn an, als hätte er plötzlich den Verstand verloren.

»Ich meine, kann ich deinen ältesten Bruder vorstellen und etwa einen Monat lang bei dir im Hause wohnen, ohne Verdacht zu erregen?«

»Ganz gewiß. Niemand kennt ihn hier und alle sind davon unterrichtet, daß ich ihn längst erwarte.«

»Also, das ist abgemacht. Übermorgen wird dein Bruder Peter ganz überraschend aus Chicago eintreffen. Aber merke wohl, außer uns beiden soll niemand um das Geheimnis wissen. Keine Seele darf ein Wort davon erfahren.«

»Auch Milly und Anna nicht?«

»Unter keiner Bedingung. Sie müssen mich alle für Peter Woodriff halten. Heute möchte ich aber noch einen Blick in das Zimmer werfen, wo deine Tochter gestorben ist, ehe ich nach der Stadt zurückkehre.«

»Wenn du als Peter kommen willst, solltest du dich lieber vorher gar nicht hier zeigen,« warf Woodriff klüglich ein.

»Weiß irgend jemand, daß du den Geheimpolizisten Beck hierher berufen hast?« »Nur meine Tochter Milly.«

»So wird es doch gut sein, wenn ich erscheine; es schadet auch gar nichts, daß ich sowohl mit Paul Becks, als mit Peter Woodriffs Augen Umschau halte. Ich glaube schwerlich, daß eine der jungen Damen oder sonst jemand mich bei meinem nächsten Besuch erkennen wird. Wie sieht denn übrigens dein Bruder Peter aus?«

»Man sagt, daß er mir gleiche; nur ist er größer.«

Im Hause zeigte sich Milly Woodriff sehr schüchtern und ängstlich in Gegenwart des Detektivs aus London. Die sonst so stille Anna Coolin sorgte dagegen freundlich für ihn, leistete ihm bei der Mahlzeit Gesellschaft und führte ihn nach dem Zimmer, wo noch die Leiche ihrer Cousine lag.

»Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein, Herr Beck?« fragte sie und schaute ihn mit ihren unschuldsvollen blauen Augen wehmütig an. »Ich habe die arme Letty sehr liebgehabt.«

»Davon bin ich überzeugt, mein Kind,« versetzte er in sanftem Ton. »Aber ich tue meine Arbeit am liebsten allein.«

Beck verschloß die Tür von innen und machte sich sogleich ans Werk. Nichts entging seinen raschen Blicken, seinen flinken Händen. Zuletzt fegte er noch den Staub vom Fußboden in einen Winkel und untersuchte ihn genau; dann ließ er die Asche im Kamin durch seine Finger laufen. Er fand darin ein blaues Glaskügelchen, das an einem Ende zu einer langen Nadel geschmolzen war, und ein halbverbranntes Stückchen von einer weißen Pappschachtel. Im Kehricht entdeckte er einen kleinen gewundenen Goldring von geringem Wert, ein schmales Endchen weißes ausgezacktes Band, ein Gewirr von hellfarbigen Seidenfäden nebst vielen Stecknadeln und Haarnadeln, Diese Schätze zeigte er John Woodriff in der hohlen Hand, bevor er Abschied nahm.

»Es sollte mich wundern, wenn ich nicht hier ein paar Buchstaben des Rätselworts hätte; nur muß es mir gelingen, sie aus dem Plunder herauszulesen,« sagte er.

Zwei Tage später ließ sich ein großer, starkknochiger Mann, der, nach Anzug, Gestalt und Sprache zu urteilen, nur ein Jankee sein konnte, bei Herrn John Woodriff melden. Im ersten Augenblick war Woodriff ganz verblüfft. Als der Fremde ihn jedoch in seiner näselnden Sprache also anredete: »Wahrhaftig, John, du kennst deinen eigenen Bruder Peter nicht mehr. Und ich bin doch um die halbe Erde 'rum gefahren, weil ich dich mal wieder zu Gesicht bekommen wollte,« da faßte er ihn bei der Hand und hieß Beck mit großer Herzlichkeit willkommen.

Dieser hatte sich für seine Rolle wunderbar herausstaffiert. Peter Woodriff aus Chicago war ein hochgewachsener Mann, fast drei Zoll größer als Herr Beck, dem er nicht im geringsten glich. Um die Augen und den Mund hatte er eine starke Familienähnlichkeit mit John Woodriff, die jedermann sogleich auffiel; man erkannte beim ersten Blick, daß sie Brüder waren. Als die beiden Mädchen gerufen wurden, um den Onkel Peter zu begrüßen, kamen sie schnell mit ihm auf vertrauten Fuß. Er war so klug und dabei so lieb und gut. Als er von ihrem Kummer hörte, zeigte er sich tief betrübt und bahnte sich damit den Weg zu aller Herzen.

Von Tag zu Tag wuchs ihre Liebe zu dem Onkel, der gegen beide Nichten die Güte selber war, doch schien Anna Coolin sein Liebling zu sein. Aus der früher so lustigen, lebensfrohen Milly Woodriff lastete der Verlust ihrer Zwillingsschwester noch zentnerschwer. Wenn sie auch von Zeit zu Zeit auf Augenblicke ihren Gram vergaß und ihre feurigen dunkeln Augen wieder wie früher aufleuchteten, wenn sie einen der komischen Späße des Onkels mit heiterem Scherzwort erwiderte oder ein lustiges Liedchen zu trällern begann, so verstummte doch der fröhliche Laut gleich wieder, und der Glanz verschwand aus ihren Augen, weil die Erinnerung an ihren nie endenden Kummer von neuem erwachte. Anna war eine viel ruhigere Natur. Selbst der Schmerz konnte sie nicht aus ihrem stillen Gleichmut bringen. Sie bildeten einen merkwürdigen Gegensatz, der große, derbe, weltkluge Mann und das harmlose, kleine, unschuldige Mädchen, aber jedenfalls fühlten sie sich sehr zu einander hingezogen.

Peter Woodriff sah sich von Anfang an in den engsten Familienkreis aufgenommen. Er spielte seine Rolle so ganz natürlich, daß John Woodriff, dem jede Verstellung fremd war, sich häufig darauf ertappte, daß er unwillkürlich mit ihm sprach und sogar an ihn dachte, als ob er wirklich sein Bruder wäre. Während Peter Woodriff seine Nichte Anna mit Freundlichkeit überhäufte, bewies sie ihm ihre Zärtlichkeit durch allerlei kleine vertrauliche Mitteilungen über ihr Leben daheim in Liverpool, die ihn höchlich zu interessieren schienen. Daß sie ihren Vetter Coleman nicht leiden könne, gestand sie ganz offen; nach einer Weile stellte sich auch heraus, daß der Doktor der schüchternen Kleinen den Hof gemacht und sie durch seine Bewerbungen erschreckt hatte. Ein andermal machte sie sich Vorwürfe, ob sie auch ihrem armen Vetter in der Gunst des reichen Onkels nicht geschadet habe, klagte, daß sie so vorurteilsvoll sei, lobte die Herzensgüte und Tüchtigkeit des jungen Doktors und erzählte zum Beweis allerlei Geschichten von seiner Behandlung armer Patienten.

So vergingen der trauernden Familie mehrere Wochen auf möglichst angenehme Weise. Die heilende Zeit hatte die erste heiße Qual ihres Kummers gestillt und selbst die Furcht, die in John Woodriffs Herzen lauerte, halb eingeschläfert. Onkel Peter schien übrigens mehr Gefallen an der Gesellschaft seiner Nichten, als an der seines Bruders John zu finden, der ihn ruhig gewähren ließ. Häufig gingen die Mädchen dem Briefträger entgegen, wenn er die Postsachen aus der Stadt brachte, und der Onkel versäumte es nie, sie auf diesen Gängen zu begleiten. Nach dem zweiten Drittel des Wegs gelangte man zu einer Säule mit einem roten Briefkasten. An diese gelehnt, pflegte der Onkel seine Zigarre zu rauchen, während die Mädchen sich vom Postboten ihre Briefe einhändigen ließen.

An einem Oktobermorgen – es war ein denkwürdiger Tag für alle Beteiligten – fiel die Ernte an Briefen besonders reichlich aus; auf Millys Teil kam überdies noch als schönster Preis eine keilförmige Schachtel mit Hochzeitskuchen, die zierlich in weißes Papier gewickelt und mit einem hellblauen Siegel verschlossen war. Beglückt eilten die Mädchen mit ihren Schätzen nach Hause zurück, setzten sich im Wohnzimmer ums offene Feuer, erzählten einander, was in den Briefen stand, und lasen sich einzelne Stellen vor, während Onkel Peter, in die Zeitung vertieft, mit der Zigarre im Schaukelstuhl saß.

Den Hochzeitskuchen hatte Milly als Bestes bis zuletzt aufbewahrt. Die Pappschachtel war nach hergebrachter Weise mit einem schmalen, weißen, ausgezackten Bändchen zugebunden. In der Schachtel lag eine Visitenkarte, auf der die Namen in Silberdruck standen; den Namen der Braut durchbohrte ein silberner Pfeil.

»Luise Thompson!« rief Milly überrascht und enttäuscht. »Sieh nur Anna, was soll das heißen? Ich kenne doch keine Luise Thompson.«

»Vielleicht hat sie Freunde, die dich kennen und dir den Kuchen geschickt haben. Jedenfalls ist die Adresse ganz richtig und der Kuchen sieht sehr verlockend aus.«

»Du sollst die Hälfte haben,« sagte Milly großmütig; »hier nimm ihn und teile selbst.«

Anna nahm die Schachtel und teilte den Kuchen sehr bedächtig mit einem Falzbein in zwei Teile, legte ihn auf einen Briefbogen und warf die Schachtel nebst ihren Hüllen ins Feuer. Dann schob sie Milly das Papier so hin, daß diese den größeren Teil bekam. Die dunklen, keilförmigen Kuchenstücke mit dem dicken Rand von Zuckerguß sahen auf dem weißen Papier höchst appetitlich aus. Milly wollte eben ihr Stück ergreifen, als Onkel Peters große Hand so plötzlich dazwischenfuhr, daß die Mädchen erschraken.

Er faßte das Papier an einer Ecke und drehte es ruhig um, so daß Annas Stück vor Milly und Millys Stück vor Anna lag. »Tu hast wohl nichts dagegen, mit Milly zu tauschen, Ännchen? Tu' es mir zu Gefallen.«

Mehr sprach er nicht, aber er sah sie dabei an. Ihre rosigen Wangen verfärbten sich, und sie wurde geisterbleich bei diesem Blick. Plötzlich, als wäre ihm die Maske abgefallen, erkannte sie Herrn Becks Gesicht und sah Becks Augen unverwandt auf sich gerichtet.

Sie stieß einen Schrei aus, ergriff das Papier mit dem Kuchen und wollte es ins Feuer werfen. Aber eine feste Hand umklammerte ihr Gelenk, während mit der andern Onkel Peter sich des Kuchens bemächtigte, indem er gelassen sagte: »Nur nicht so hastig, Anna, nicht so hastig! Wenn du jetzt das Stück Kuchen noch nicht essen magst, will ich es verwahren, bis es gebraucht wird.«

Er ließ ihre Hand los und sie glitt wie ein Schatten aus dem Zimmer.

Der ganze Auftritt hatte sich so rasch abgespielt, daß Milly nichts davon verstand. »Was hast du denn Anna getan, Onkel?« rief sie erstaunt. »Und wo ist mein schönes Stück Kuchen hin?«

»Wir haben nur einen kleinen Scherz miteinander gehabt, Anna und ich,« erwiderte er ruhig. »Der Kuchen würde dir, glaube ich, nicht gut bekommen sein, Milly.« Damit schlenderte er langsam zur Tür hinaus.

*

»Es ist schauderhaft, kaum menschenmöglich! Ein so teuflischer Plan!« sagte John Woodriff, als ihm zehn Minuten später der Vorfall in seinem Studierzimmer mitgeteilt wurde, »Bist du auch deiner Sache gewiß, Paul?«

»Nichts in der Welt ist mir gewisser,« sagte Beck mit tiefem Ernst.

»Ich kann es nicht glauben. Das schüchterne, bescheidene, unschuldige kleine Ding! Die arme Letty. Und auch Milly, die ihr immer so lieb war!«

»Ja, so lieb, wie die lustigen kleinen Vögel der Katze mit den Samtpfötchen. Ich habe es gleich von Anfang an gemerkt, daß sie ihre Klauen nur versteckte.«

»Aber wenn du so sicher bist, warum hast du sie nichts gleich festgenommen?«

»Weil ich mein Netz erst herausziehen will, wenn es ganz voll ist.« »Aber sie wird uns entkommen, und dann –«

Beck legte ihm die Hand auf die Schulter. »Tritt vom Fenster weg,« flüsterte er. »Jetzt sieh dorthin.«

Eine Mädchengestalt glitt rasch und sachte wie ein Gespenst um die Hausecke und verschwand. »Sie ist entflohen,« rief Woodriff aufgeregt.

»Nur kaltes Blut,« sagte Beck. »Sie läuft fort, um ihren Brief in den Kasten an der roten Säule zu stecken. Keine Stunde wird vergehen, und sie ist wieder hier.«

Die Wartezeit schien endlos lang. Es war ihnen, als hätte es drei Stunden gedauert, statt einer, bis sie die schlanke Gestalt um die Ecke schlüpfen und ins Haus zurückkehren sahen. Mehrere Türen wurden leise geöffnet und geschlossen, und gleich darauf verkündete ein leichter Schritt im oberen Stockwerk, daß Anna Coolin wieder in ihrem Zimmer war.

»Jetzt ist die Reihe an mir,« sagte Beck. »Warte hier auf mich,«

Und ohne ein Wort der Erklärung schritt er in größter Eile über den Rasenplatz davon. John Woodruffs zweite Wartezeit war kürzer, allein er verging fast vor Ungeduld. Ehe noch eine Stunde um war, trat Beck keuchend vom raschen Lauf wieder ins Zimmer.

»Ich habe mein Netz herausgezogen und den Fisch gefangen,« sagte er und nahm aus der Tasche ein Netz von dünnen Seidenfäden, die so fein waren wie ein Spinngewebe. In den fast unsichtbaren Maschen hing ein Brief. »Ein schlauer, aber höchst einfacher Kunstgriff, den ich dem geschicktesten aller Postdiebe abgelernt habe. Man steckt das Netz in die Spalte des Briefkastens, und wer nichts davon weiß, sieht die Fäden nicht. Hier die Springfeder aus feinem Draht hält das Netz offen und alle Briefe fallen hinein. Gleich heute morgen, nachdem der Hochzeitskuchen abgegeben wurde, habe ich meine Vorrichtung angebracht – es war nicht das erste Mal. Noch fünf andre Fische hatten sich außer diesem gefangen; die habe ich alle wieder zurückgeworfen. An wen glaubst du wohl, daß der Brief gerichtet war, John?«

»An Dr. Coleman Woodriff in Liverpool.«

»Richtig geraten. Und Fräulein Anna hat die Adresse geschrieben, zwar mit etwas zitteriger Hand, aber es ist doch unverkennbar ihre Schrift. Jetzt werde ich mir die Freiheit nehmen, nachzusehen, was Anna Coolin ihrem Vetter, der ihr so widerwärtig ist, mitzuteilen hat.« Er öffnete den Brief ohne weiteres und las:

»Einzig Geliebter!

Im letzten Augenblick ist noch alles entdeckt worden. Der Mann, von dem ich Dir schrieb, Onkel Peter, hat sich als ein verkleideter Detektiv entpuppt. Eben wollte Milly den Kuchen in den Mund stecken, da griff er ein. Im selben Moment erkannte ich ihn und las in seinen Augen, daß er alles weiß. Durch welche Teufelskunst es ihm gelungen ist, das wohlbewahrte Geheimnis zu erraten, ahne ich nicht. Glaube mir, Geliebter, ich bin nicht schuld daran. Rette, rette Dich, solang es noch Zeit ist. Von mir werden sie nichts erfahren, darauf kannst Du Dich verlassen. Du warst mein einziges Glück auf der Erde; Dich zu verlieren ist mein einziger Kummer, nun ich sie verlasse. Wenn diese Zeilen Dich erreichen, bin ich nicht mehr am Leben. Den schlauen Detektiv habe ich, trotz seiner Klugheit, überlistet. Ich fand den vergifteten Kuchen, den er versteckt hatte, und – –«

Beck las nicht weiter; eine Verwünschung auf den Lippen stürzte er aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. John Woodriff folgte ihm auf den Fersen. Er klopfte an Anna Coolins Tür. Dann drückte er auf die Klinke. Das Zimmer war verschlossen. Ohne Zögern rannte er mit der Schulter gegen die Tür, daß sie krachend zerborst. Drinnen war es ganz still. Hinter den hellen Kattunvorhängen lag Anna Coolin auf der weißen Decke, hold und schön, wie eine reine Lilie – sie war tot. Die reiche Fülle ihres hellblonden Haares lag wie ein Heiligenschein lose auf ihrem Kissen ausgebreitet, ein zärtliches Lächeln spielte um ihre bleichen Lippen. Sie sah aus wie ein von Meisterhand gemeißeltes Bild der schlafenden Unschuld.

Die beiden Männer, die auf sie niederschauten, überkam fast ein Gefühl des Mitleids – so groß ist die Zaubergewalt, die die Schönheit auszuüben vermag.

»Wir kommen zu spät,« sagte Beck endlich mit leiser Stimme. »Es ist wunderbar, daß eine Teufelin so sehr einem Engel gleichen kann.«

»Gott sei Dank, daß es nicht meine arme Milly ist, die dort liegt,« erwiderte Woodriff tief erschüttert. »Dies verruchte Mädchen hat selbst für sich die Todesart gewählt, die sie ihr zugedacht hatte. Sie hat sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen, aber der Mann, von dem sie zu dem Verbrechen verführt wurde – –«

»Der soll nicht leer ausgehen. Ich bringe ihn an den Galgen,« fiel ihm Beck mit großer Zuversicht ins Wort.

Und so geschah es auch.

Giftmischer und andere Detektivgeschichten

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