Читать книгу Wann kommt das tote Tier? - Mathias Heimberg - Страница 7
ОглавлениеLa RésidEnce
Nur noch das Zirpen der Zikaden ist zu hören, als der ohrenbetäubende Lärm der mit Benzin betriebenen Heckenschere von Claude abrupt verstummt. Die stehende Hitze brennt unermüdlich auf ihn nieder und treibt ihm Schweissperlen auf das Gesicht. Im Gegensatz zu den alten Rebstöcken und den noch älteren Olivenbäumen, welche Jahr für Jahr teure Weine und Öle als Lockstoff für reiche, grauhaarige Touristen produzieren, hasst Gärtner Claude die Mittagshitze. Er realisiert, was seine Heckenschere zum sofortigen Stillstand gebracht hat. Sein Blick erstarrt, als wäre Claude vom Blitz getroffen worden. Dabei ist es Frühsommer und keine einzige Wolke trübt den stahlblauen Himmel über Maussane-les-Alpilles, einem kleinen, beschaulichen Bauerndorf mitten in der Provence im Süden Frankreichs.
Der Gärtner wird jedes Jahr zu dieser Zeit bestellt. Er muss die zahlreichen Hecken in der rund hundertsechzig Einheiten grossen Résidence Val d’Alpilles zurückschneiden. Rechtzeitig zum Saisonstart soll die Feriensiedlung einen sauberen und gepflegten Eindruck hinterlassen.
Die furchtbare Entdeckung verschlägt Claude beinahe den Atem und ein beklemmendes Würgen schnürt ihm langsam die Kehle zu. Die Zackenmesser seiner Heckenschere haben sich in den Augenwinkel eines abgetrennten Männerschädels festgehakt.
«Mon dieu, das ist Monsieur Gomez!», schreit Claude. Er versucht, das Schwert der Schere aus dem Schädel zu lösen, indem er einige Male hin und her rüttelt. Doch der eingekeilte Schädel wankt willig im Takt mit. So geht das nicht, denkt Claude und dreht seinen Kopf etwas zur Seite. Mit seinem linken Bein presst er den Schädel etwas zu Boden, und mit einem starken Rechtsdreh, gefolgt von einem Knacken, befreit er die Zacken des Messers aus dem Augenwinkel. Merde alors, ich muss Fougasse anrufen. Der muss sofort herkommen. Dabei sollte ich doch gleich nach Hause zu Antoinette zum Mittagessen. Ich bin eh schon zu spät. Erneut wird sie sich über meine Unzuverlässigkeit beschweren, geht es Claude durch den Kopf, als er die Nummer der Gendarmerie in sein Mobiltelefon eingibt.
Nach den ersten Schreckensminuten beruhigt sich Claude langsam wieder. Es erstaunt und befremdet ihn, wie rasch er sich an den Anblick des blutverschmierten Schädels gewöhnt hat. Der Schädel ist wohl mit einem sehr stumpfen Messer, gleich unterhalb des Kieferknochens, abgetrennt oder vielleicht einfach abgerissen worden. Schrecklich, wie sich die Fliegen und anderen Insekten scheinbar schon seit längerer Zeit an und in ihm zu schaffen machen. Endgültig wird Claude bewusst, dass aus dem Mittagessen heute nichts wird. Antoinette wird es trotz seiner Erklärungsversuche nicht verstehen.
Claude ist erleichtert, als die Gendarmerie eintrifft und ihn am Tatort ablöst. Er stellt sich vor, jemand hätte ihn hier gesehen, während er mit dem Schädel und der Heckenschere herumhantierte! Das wäre ihm irgendwie peinlich gewesen. Den solche Geschichten gehen schneller durchs Dorf, als der Mistral blasen kann.
Herr Gomez war ein allseits geschätzter Herr Mitte sechzig. Er lebte permanent in der Feriensiedlung – wie einige andere auch. Die permanenten Anwohner schätzen die Vorzüge des All-Inclusive-Landschaftsdienstes sowie die ruhige und sehr private Lebensweise. Auch der Pool inmitten der Siedlung erfreut sich grosser Beliebtheit, zumal das öffentliche Schwimmbad ein langer Fussmarsch entfernt ist. Die meisten Häuser und Appartements werden nur wenige Wochen pro Jahr von Touristen bewohnt. So lässt es sich für die permanenten Bewohner den Rest des Jahres ungestört leben.
Jean Fougasse runzelt die Stirn und greift sich an sein Kinn. So eine Schweinerei hat er in seiner ganzen Laufbahn als Hauptwachtmeister noch nie gesehen. Schon gar nicht in seinem Heimatdorf, wo er seit fast dreissig Jahren die Gendarmerie National im Rang eines Commandant als Kriminalinspektor leitet.
Fougasse gehört quasi zum Dorfinventar von Maussane. Er kennt beinahe alle Bewohner beim Vornamen und ist selbst allseits bekannt und beliebt. Der Mittfünfziger lebt seit seiner Geburt in Maussane und würde es nie im Leben auch nur für einen müden Euro verlassen. Die Bewohner schätzen seinen unermüdlichen Einsatz im Dorf und dass sie daher in Ruhe und Frieden miteinander leben können. Dazu trägt Fougasse stets pflichtbewusst sein Bestes bei. Alle wissen, wenn Fougasse aufkreuzt, kann man es gesorgt geben, ausser man hat etwas verbrochen. Der kleine, vom guten Wein und Olivenöl rundlich geformte Mann, hebt seine Baskenmütze und streicht seine wenigen, etwas längeren Haare zurecht. Gerade so, dass diese schön unter der Mütze verschwinden, als er diese wieder aufsetzt. Fougasse gibt es nur zusammen mit der Mütze. Sein Haar ist so schütter, dass er es lieber unter der Kopfbedeckung versteckt. Egal, wie heiss es ist, die Mütze trägt er jeden Tag von morgens bis abends auf dem Kopf. Er hat eine für Werktage und eine zweite fürs Wochenende. Die Dritte trägt er nur an speziellen Anlässen – und dies äusserst konsequent.
Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Der arme Gomez! Wie es wohl dazu kommen konnte, fragt sich Fougasse. Schnell ist klar, hier müssen Profis her, welche den Tatort untersuchen, dokumentieren und hoffentlich den Rest der Leiche finden. Noch schneller als die Profis aus Arles treffen natürlich einige Bewohner der Siedlung am Tatort ein. Besonders ein Schweizer Rentnerpaar reckt mit den Köpfen weit über das rotweisse Absperrband der Gendarmerie.
«Hans, ich habe dir ja schon lange gesagt, im Haus 135 von Herrn Gomez ist etwas nicht in Ordnung. Die vielen Überwachungskameras waren mir schon immer unheimlich», flüstert Ruth ihrem Mann ins Ohr.
Fougasse, mit jahrelanger Erfahrung im Ermittlungsgeschäft, erkennt auf einen Blick, welche Zaungäste etwas zu erzählen haben. So fragt er die ältere Dame mit kurzem, weiss glänzendem Haar: «Inspecteur Fougasse, dürfte ich Ihren Namen erfahren, Mademoiselle?» «Moser, Ruth Moser. Das ist mein Mann Hans Moser. Wir sind hier in den Ferien, wie immer.»
Fougasse nimmt nach einer kurzen Unterhaltung die Kontaktdaten des Rentnerpaares auf und sie vereinbaren einen Termin auf der Gendarmerie.
Die Spurensicherung aus Arles nimmt die Siedlung und insbesondere die Hecke um Haus 89, wo Claude den Schädel gefunden hat, genau unter die Lupe. Auch nach längerer Suche findet sich keine Spur oder gar der Rest der Gomez-Leiche. So steht im vorläufigen Obduktionsbericht als Todesursache „Tot durch Enthauptung“.
Im Haus von Gomez, der Nummer 135, ist scheinbar eingebrochen worden. Es sind zwar keine Gewaltspuren am Gebäude sichtbar, doch in der Wohnung herrscht ein grosses Durcheinander, das auf einen Einbruch deutet. Es lässt sich auch niemand finden, der das Fehlen von Diebesgut bezeugen kann. Gomez hatte keine lebenden Verwandten mehr und wohnte sehr zurückgezogen. Er hatte selten bis nie Besuch zu Hause und traf sich mit seinen Freunden, wie es die meisten tun, im Dorfkern. Entweder auf dem Pétanque Platz oder im Café du Centre. Damit geht der Fall wieder zurück zu Inspecteur Fougasse in Maussane.
Obschon Monsieur Gomez bereits seit Anfang April verschwunden war, hat niemand eine Vermisstenanzeige bei Fougasse aufgegeben. Viele ältere Herren haben sich jedoch Sorgen um Gomez gemacht. War er doch zu Lebzeiten regelmässig im Boulodrom in der Nähe des Marktplatzes anzutreffen, um dort mit seinen Freunden unter den Platanen eine Runde Pétanque zu spielen. Auch Fougasse ist ab und zu dort anzutreffen um sich in der provenzalischen Bocciadisziplin mit anderen, meist älteren Herrn zu messen, welche die leichteren Kugeln und kürzeren Spieldistanzen des Pétanque bevorzugen. Er schätzt das ruhige und konzentrierte Spiel mit den Metallkugeln und nützt jeweils die Gelegenheit, von den Mitspielern auf den neuesten Stand des Dorflebens gebracht zu werden.
Der heutige Mittwoch ist ein schwüler Tag. Auch der Schatten der Pergola im Haus 18 der Siedlung bietet keinen ausreichenden Schutz vor der Hitze. Trotz allem sitzt Hans Moser entspannt an seinem Schattenplatz im Liegestuhl. Die Schweissperlen kullern ihm nur so von der Stirn über die Wange den Hals hinunter.
Ruth ist mit dem Abwasch beschäftigt: «Heute Nachmittag müssen wir zu Herrn Fougasse, Hans. Wolltest du nicht noch duschen? Sonst sind wir wieder knapp dran. Also, mach vorwärts!»
«Ja, ich mache ja schon», murmelt Hans vor sich hin. Dass meine Frau auch immer die Nase in fremde Angelegenheiten stecken muss. Das haben wir nun davon, mitten drin anstatt nur dabei.
Um fünf vor zwei klopfen die beiden an die Scheibe des Empfangsschalters der Gendarmerie Maussane-les-Alpilles. Hans wischt sich nochmals die Stirn, da er die Steigung vom Dorf bis zum ausserhalb gelegenen Revier der Gendarmerie trotz Elektrobike nicht mehr ohne Weiteres schafft.
«Bonjour. Komme gleich!», ruft Fougasse den beiden aus der hinteren linken Ecke des Empfangsbüros zu. Sehen kann man Fougasse vom Schalter aus nicht. Mehrere Aktenberge und chaotisch herumliegende Gegenstände versperren die Sicht. Ist ja klar. Die Franzosen sind Chaoten. So bekommt er den Fall nie gelöst, und ich bin vergebens hier hochgeradelt, denkt Hans.
«Ich bin schon etwas nervös, Hans. Hätten wir einen Anwalt mitnehmen sollen?», fragt Ruth.
«Ach was, das ist doch wie früher. Räuber und Gendarm, weisst du noch? Da haben wir schon ganz andere Sachen erlebt, Ruth.» Hans versucht seine Ruth, welche er bereits seit Kindeszeit kennt, zu beruhigen.
Fougasse bittet die beiden in ein karg eingerichtetes Nebenzimmer. In der Mitte steht ein Tisch mit vier Stühlen. An den Wänden hängen willkürlich aufgehängte Diplome und Fotografien älterer Herren, eingerahmt und staubbedeckt. In der Ecke neben dem Fenster steht ein weiterer kleiner Tisch, darauf eine alte, mechanische Schreibmaschine.
«Eine Patria! Das so was noch existiert und gebraucht wird», ruft Hans Moser erstaunt.
«Genau, Monsieur. Und sie funktioniert noch tadellos», sagt Mademoiselle Plumetatz, Fougasses Sekretärin.
Sie betritt den Raum nach Fougasse und den beiden Mosers. Hans hat sein Leben lang in der Schreibmaschinenfabrik in Fraumünster gearbeitet und kann die Geräte im Dunkeln reparieren. Als er noch besser hörte, konnte er sogar den jeweiligen Schlagbalken am Geräusch erkennen. Mademoiselle Plumetatz setzt sich an den kleinen Tisch, spannt ein formales Papier in die Patria und tippt drauf los. Lange ist es her, seit Moser diese Geräusche täglich zu Ohren bekam.
«Alors, woher kannten Sie Herrn Gomez, Frau Moser?», beginnt Fougasse die Befragung.
«Eigentlich kannten wir ihn gar nicht. Aber wir kennen die Siedlung sehr gut. Wissen Sie, Hans und ich spazieren oft zwischen den Häusern hindurch und schauen, was sich wo verändert. Natürlich auch, um zu kontrollieren, ob alle Reglemente der Siedlungsgemeinschaft eingehalten werden. Die Regeln sind streng, aber wichtig. Da weiss man natürlich auch, wer wo permanent wohnt und welche Häuser an Touristen vermietet werden. Und da sieht man allerlei. Zum Beispiel ist da Haus Nummer 93, dort geht es komisch zu und her. Das Haus sieht verlassen aus, trotzdem steht immer wieder ein dunkler, älterer BWM mit Marseiller Kennzeichen davor. Wissen Sie, die mit den gelben Lichtern? Da wüsste ich gerne, wer davor parkt und was sich im Innern abspielt. Menschen habe ich dort noch nie gesehen. Ganz vorne, in Nummer 1, gleich neben der Abfallsammelstelle, wohnt dieser Alkoholiker, der in jedem einen potentiellen Abfallkriminellen sieht und alle beim Siedlungspräsidenten verpfeifen will. Oder in Haus 65 ist auch nicht alles normal. Dieses gehört der Firma France Mega Trade. Ich wüsste zu gerne, mit was die handeln. Gartenartikel sind es auf jeden Fall nicht. Denn der Garten würde etwas mehr Pflege vertragen. In Haus 117 wohnen diese komischen Italiener. Sie sollten einmal dieses Theater sehen, wenn die Frau in den Pool will. Ihr Mann muss immer vorgängig die Wassertemperatur messen. Dabei wird diese doch täglich am Eingang des Gemeinschaftspools angeschrieben. An seinem Auto kann man übrigens die aktuelle Uhrzeit ablesen. Jede Stunde legt er ein neues Badetuch unter die Windschutzscheibe, auf die Sitze oder sonst irgendwo auf die Innenraumverkleidung, um seinen funkelnden Audi vor der Sonne zu schützen. Jeden Tag dasselbe Ritual. Und dann erst dieser schreckliche Vorgarten von Haus 44. Die haben nichts Besseres zu tun, als täglich ihre Gartenzwerge zu polieren und ihre Buchssträucher in Form zu schneiden. Sie haben gar einen Eiffelturm nachgeschnitten. Ab und zu spielen mein Mann und ich eine Runde Pétanque. Es hat einen Platz in der hintersten Ecke der Siedlung, gleich hinter den beiden Tennisplätzen. Um dorthin zu gelangen, muss man neben Haus 135 vorbeigehen, demjenigen von Herrn Gomez. Dabei ist uns aufgefallen, dass am Haus zahlreiche Überwachungskameras installiert sind. Es scheint, als würden damit die Aktivitäten des Nachbars aufgezeichnet. Diesen kennen wir jedoch nicht persönlich. Dort sind immer junge, braun gebrannte Typen zu sehen», beendet Ruth ihre fast endlose Tirade.
Es scheint keine brauchbaren Hinweise zum Tod von Herrn Gomez zu geben. Auch ein Motiv kann bislang nicht einmal ansatzweise eruiert werden. Selbst nach den gefühlten hundertsechzig Geschichten von Frau Moser sieht Fougasse nichts Brauchbares. So beschliesst er, sich am nächsten Abend unter die Leute des Nachbarfestes, dem Fête des voisins, der Feriensiedlung zu mischen. Dieses findet auf dem Poolvorplatz der Siedlung statt. Jeder bringt etwas Kulinarisches aus seinem Land mit und für vier Euro kann man sich auch an den Getränken beteiligen. So steht es zumindest am halboffiziellen Anschlagbrett der Siedlung. Zuvor will Fougasse jedoch nochmals in das Haus von Gomez. Es muss doch irgendetwas geben, das auf einen Einbruch hindeutet.
Im Haus 135 riecht es komisch und abgestanden. Irgendwie verlassen und doch bewohnt. Was es mit den Überwachungskameras auf sich haben mag? Fougasse ist sich eigentlich schlüssig, dass da bei Frau Moser eine Sicherung durchgebrannt ist. Gomez und Hightech miteinander zu verbinden, scheint so unglaubwürdig, wie Plumetatz an einem meterlangen Strohhalm saugend am Ballermann in Mallorca zu erblicken. Zweites wird einem beim Anblick der zierlichen, etwas kleinen Sekretärin sofort klar. Zurückhaltend, diskret, strebsam und unauffällig werkelt Plumetatz bereits seit vielen Jahren auf der Gendarmerie. Eigentlich weiss es jeder, auf der Gendarmerie hat sie heimlich die Hosen an. Plumetatz ist so etwas wie die alte Nonna einer italienischen Grossfamilie, der Fels in der Brandung. Sie geniesst daher bei allen Mitarbeitenden höchsten Respekt. Denn in irgendeiner Form und Situation hat sie schon jeden mindestens einmal vor der teilweise unberechenbaren Art ihres Vorgesetzten Jean Fougasse behütet. Dieser hat aber längst am meisten Zähler auf dem Plumetatz-Konto und würde sich nie und nimmer gegen sie stellen. Ohne sie wäre Fougasse aufgeschmissen. Zugeben würde er das aber nicht. Genau wie Fougasse würde aber auch sie das Landleben für keinen Preis mit etwas anderem tauschen. Die Stadt ist ihr zu modern, zu hektisch. Während ihrer Ausbildung lebte sie für eine Weile in Aix-en-Provence. Es war die schrecklichste Zeit ihres Lebens. Der stinkende Abfallgeruch, die Abgase, Kriminalität, anonymisierte Rücksichtslosigkeit und vieles mehr würde sie sofort als Argument gegen das Stadtleben ins Feld führen. Nein, im Gegenteil. Zu gerne hilft Plumetatz auf dem Gutshof, Mas du mauvaise crapoud, ihres Bruders, nur unweit von der Gendarmerie entfernt, aus. Speziell Ende Herbst, wenn es so richtig an die Arbeit geht und die Oliven- und Traubenernte bevorsteht, trifft man sie oft im Betrieb an. Meist steht sie in der grossen Küche und hilft bei der Zubereitung der Speisen für die Gastarbeiter. Es ist für die kinderlose und alleinstehende Frau wie ein Ersatz der Familie, die sie sich ein Leben lang gewünscht hat. Doch mit jedem Jahr, welches seit dem bescheidenen Fest zu ihrem vierzigsten Jahrestag vergangen ist, wird dieser Wunsch unrealistischer und droht vollends als Staubwolke am Horizont der Provence vom Mistral weggeblasen zu werden. Sie kann einfach nichts mit diesen kantigen Männern hier auf dem Land anfangen und ist diesbezüglich viel zu schüchtern, um auch nur einen halben Schritt auf einen Kerl zuzugehen. Ihr Leben findet zu Hause, in der Gendarmerie und auf dem Hof ihres Bruders statt. «Mehr brauchst du nicht und mehr verdienst du auch nicht», redet sie sich oft vor dem Einschlafen ein.
Doch Fougasse steht immer noch am selben Ort beim Haus 135 und denkt über die von Frau Moser erwähnten Kameras nach. Gemäss Frau Moser seien diese Kameras vor einiger Zeit abmontiert worden. Fougasse betritt das kleine Schlafzimmer im Obergeschoss und öffnet das Fenster. Tatsächlich, an der Stelle, wo Frau Moser eine der vier Kameras gesehen hat, sind Bohrungen im Mauerwerk sichtbar. Etwa in der Grösse einer Kamerahalterung. Mon dieu, die alte Moser hatte also recht, denkt sich Fougasse und untersucht nun auch das Fenster im WC des Erdgeschosses und den Pfosten bei der Gartentüre. Es überrascht ihn nicht, dass er auch am Schornstein auf dem Dach dieselben Bohrungen vorfindet. Von den Kabeln oder Kameras fehlt jedoch jede Spur. Fougasse beschliesst, Frau Moser auf dem Nachbarsfest nach weiteren Details zu den Kameras zu befragen.
Es ist bereits ein heiteres Fest im Gange, als Fougasse zu den Leuten auf dem Poolvorplatz stösst. Ein Raunen geht durch die Menge, das sich aber gleich wieder legt. Fougasse bringt eine Käseplatte mit eingelegten Oliven mit. Er stellt diese auf das Buffet neben die anderen Köstlichkeiten. Darunter hat es viele französische Gerichte. Daraus schliesst er, dass auch einige Permanents unter den Gästen sind. Ach, da sind ja Herr und Frau Durussel. «Guten Tag, was machen Sie denn hier?», fragt Fougasse Herrn Durussel.
«Wir kommen alle Jahre ans Nachbarsfest, da wir ein Häuschen in der Siedlung besitzen, das wir an Touristen vermieten.»
«Ach so. Und ich vermutete schon ein halboffizielles Dorffest. Sie wohnen doch immer noch neben unserem ehrenwerten Bürgermeister, nicht wahr?»
«Ja, genau. Wissen Sie, in diesen harten Zeiten, in denen immer mehr Geld in die Sozialwerke des Staates fliesst, muss man sich ein zweites Standbein aufbauen. Wir sind übrigens nicht die Einzigen, die das tun. Dort drüben stehen Herr und Frau La Montagne. Sie besitzen auch ein Häuschen hier und ergänzen so die Einkünfte ihrer Pizzeria ausgangs Maussane», erklärt Frau Durussel.
«Oh yes, they make delicious Pizzas. Have you tried one yet?», mischt sich plötzlich eine Engländerin ins Gespräch ein.
«Ja, wir essen deren Pizzen gerne. Sie sind kleine Meisterwerke. Zudem liegt die Pizzeria ja sozusagen vor unserer Haustür», erklärt Herr Durussel.
«Ach ja, die kleine Pizzeria an der Hauptstrasse mit dem charmanten Hinterhof und den paar wenigen Tischchen dazu? Ich schaue jedes Mal gerne zu, wie sie Pizzen backen. Ich gebe immer ein Trinkgeld. Schon nur der grellen Glocke und dem extra Glas Rosé, das es anschliessend gibt, zuliebe», meint Fougasse.
«Seit die Familie La Montagne die Pizzeria betreibt, steht wenigstens dieser blöde Pizzawagen nicht mehr jeden Abend auf dem Platz vor der Kirche. Dieser Antonio ist ein unfähiger Pizzaiolo. Ich mochte seine Pizzen noch nie. Wer weiss, wo er nun sein Unwesen treibt. Ich glaube er ist jetzt nur noch zwei Mal pro Woche in Maussane», beendet Frau Durussel das Gespräch.
In der Provence ist es vielerorts üblich, dass abends eine fahrende Pizzeria, meist in einem alten, ausgebauten Peugeot-Lieferwagen, an einem zentral gelegenen Platz im Ort Pizzen zu günstigen Preisen verkauft.
Nun sind auch Mosers eingetroffen, doch das Gespräch bringt keine neuen Erkenntnisse. Fougasse unterhält sich noch mit einigen weiteren Gästen am Fest. Der Mord an Gomez ist allgegenwärtig. Doch überall, wo er auftaucht und das Gespräch sucht, sind die Leute sehr verschlossen.
Am nächsten Tag erscheint Fougasse etwas später als gewöhnlich im Büro. Sein Kopf schmerzt vom vielen Pastis, den er zu früher Stunde am Nachbarsfest zusammen mit dem Siedlungswart noch getrunken hat. Er lässt sich von Plumetatz ein doppeltes Aspirin mit einem Noisette, so nennt man in Südfrankreich einen Espresso mit einem Schuss Milch oder Kaffeerahm, bringen und hofft, so ein wenig auf Touren zu kommen. Irgendwie zieht es ihn heute nicht aus dem Büro heraus. Daher nutzt er die Zeit alle Unterlagen, die in Gomez Haus beschlagnahmt worden sind, zu studieren: Versicherungspolicen, Bankbelege, Kaufverträge, Ferienunterlagen. Plötzlich stösst er im Quittungsordner auf einen Lieferschein für vier Überwachungskameras und ein Aufnahmemischgerät.
«Na endlich», ruft er durchs stille Büro. Ich bin eben nach wie vor ein richtiger Spürhund, lobt sich Fougasse selber. Er liebt die kleinen Details, welche schlussendlich ein Gesamtbild ergeben und nicht jedem auf Anhieb oder überhaupt auffallen. Solche Mitmenschen trifft er des Öftern. Sie fallen ihm regelrecht auf. Meist ärgert er sich ab ihrer Oberflächlichkeit und der Ignoranz mit welcher sie kleine Details ausblenden um alles in denselben Topf zu werfen.
Fougasse studiert die Lieferdetails und wird stutzig, als er den Namen der Lieferfirma liest. France Mega Trade.
Es ist nicht viel los auf dem Office Judiciaire du Livre Foncier, dem Grundbuchamt in Maussane, als Fougasse wissen will, auf wen Haus 65, jenes von France Mega Trade, eingetragen ist. Monsieur Abbet, der Grundbuchverwalter, sucht das gewünschte Blatt heraus. Die Liegenschaft ist auf einen Herrn Felix Lacroix aus Brüssel eingetragen. Zurück in seinem Büro findet Fougasse im Handelsregister gleichnamiges über France Mega Trade heraus. Felix Lacroix ist der Geschäftsführer der Firma, deren Zweck mit internationalem Handel von Waren und Gütern aller Art angegeben wird und die ihren Firmensitz in Marseilles hat. Fougasse beschliesst, Herrn Lacroix auf der einzigen Nummer anzurufen, die er ausfindig machen kann und wählt die besagte Nummer auf seinem Tischapparat.
Eine Automatenstimme fordert ihn zur Eingabe irgendwelcher Codezahlen auf, um zum Anrufbeantworter zu gelangen. Schon klar, dass da niemand an den Apparat geht, denkt er sich und macht sich auf die Suche nach der Anschrift, welche zur gewählten Nummer gehört. Ein paar Minuten später wird er fündig. Es scheint sich um einen Briefkasten in der Nähe des Hafens von Marseilles zu handeln. Die Liegenschaften dort sind bekannt für die Vermietung von zusätzlichen oder gemeinsam genutzten Briefkästen. Man kann diese für wenig Geld im Jahresvertrag mieten und so einen Firmensitz vortäuschen. In Tat und Wahrheit ist dort niemand am Arbeiten. Die Post wird von der Vermieteragentur geleert und an entsprechende im Vertrag festgehaltene Adressen weitergeleitet.
Immerhin findet Fougasse auf der Webseite des Kameraherstellers die Details zu den von Herrn Gomez gekauften Artikeln heraus. Er beschliesst, nach Avignon in den Darty, ein grosses Geschäft für Unterhaltungselektronik, zu fahren. Eigentlich hasst Fougasse diese grossen Einkaufsviertel, welche in Blechoptik aus dem Boden gestampft werden. Sie sind unpersönlich und nur auf Profit aus. Die Angestellten haben kaum Ahnung von dem, was sie den Leuten verkaufen und sind sowieso froh, wenn niemand etwas fragt. Fougasse zieht den persönlichen Kontakt zu einem lokalen Händler vor. Heute macht er jedoch aufgrund der Dringlichkeit eine Ausnahme. Ein spindeldürrer und kantiger, etwas bleicher Angestellter im Darty-Shirt nimmt sich, entgegen Fougasses Erwartungen, alle Zeit, seine Fragen geduldig zu beantworten. Er gibt ihm sogar die Wandhalterung einer Kamera mit und will dafür weder Pfand noch Unterschrift. Fougasse merkt, dass er sich in seiner Haltung gegenüber der neuzeitigen Blechoptik dieser Einkaufsviertel wohl etwas getäuscht hat.
Im Anschluss fährt er direkt zu Gomez’ Haus, um die Wandhalterung an der Eingangspforte über die Bohrungen zu halten. Zweifelsohne sind die Abmessungen identisch. Gomez hat also bei Lacroix Ware gekauft, um sie in seinem Haus zu installieren. Soviel steht fest. Doch wer hat sie installiert und was wollte Gomez damit filmen? Fühlte er sich bedroht? Die Siedlung ist doch eigentlich mit dem hohen Zaun und dem massiven Eisentor ausreichend vor dem Zugang Fremder geschützt.
Fougasse will zurück ins Büro fahren. Doch das Fahrzeug eines Handwerkes, in französischer Manier geparkt, versperrt Fougasse den Weg dermassen, dass er nicht passieren kann. Zum Glück ist die Siedlung kreisförmig erschlossen. Er lenkt sein Fahrzeug in die entgegengesetzte Richtung, um so zur Ausfahrt der Siedlung zu gelangen.
Die Strasse ist zwar etwas eng, aber so wird er immerhin herauskommen, ohne auf diesen Handwerker warten zu müssen. Im Schritttempo fährt er durch die Siedlung und stellt plötzlich fest, dass auf Parkplatz Nummer 65, dem Haus von France Mega Trade, ein alter, verbeulter Citroën steht.
«Hallo, ist da jemand?», ruft Fougasse über das Gartentor von Haus 65.
«Ich nur putzen», antwortet eine Frau mit Kopftuch verunsichert.
«Putzen Sie schon lange hier?», fragt Fougasse höflich.
«Nein, nur halb Stund.»
«Nein, ich meine nicht heute. Sondern wie oft?», präzisiert er die Frage.
«Ah, ja, schon seit viele Jahr, Herr Lacroix ist sehr nette Mann und ich froh putzen hier.»
«Wissen Sie, wann Herr Lacroix hier anzutreffen ist?»
«Ja, er kommen Samstag, dafür ich nun putze.»
Fougasse arbeitet zwar nicht gerne samstags, aber Lacroix will er sich nicht durch die Lappen gehen lassen.
Es ist windstill und weit über 30 Grad im Schatten, die Zikaden zirpen ununterbrochen. Sonst ist es ruhig, wie immer kurz nach der Mittagszeit in der Provence. Jedoch nicht im Garten von Haus 65. Als Fougasse sich nähert und bemerkbar machen will, sieht er einen Mann mit einem Telefon am Ohr. Er ist in ein intensives, von Handzeichen geprägtes Gespräch verwickelt. Da will Fougasse nicht reinplatzen. Ob dies Lacroix ist?
Nach zehn Minuten ist das Gespräch über eine verspätete Lieferung von France Mega Trade beendet. Fougasse vertritt sich noch ein wenig die Beine, bevor er zum Haus zurückgeht und sich vorstellt.
«Bonjour Monsieur, Inspecteur Fougasse, hätten Sie wohl fünf Minuten für mich? Sie müssen Monsieur Lacroix sein, richtig?»
«Ja genau, das bin ich. Bitte setzen Sie sich. Möchten Sie ein Glas kühlen Cidre? Ich habe soeben eine Flasche geöffnet, aber ich wäre froh, wenn mir jemand dabei helfen würde. Eine ganze Flasche ist zu viel für mich.»
«Ja gerne, es ist ja Samstag, und wenn ich schon arbeite, so darf ich auch mal eine Ausnahme machen.»
Fougasse erzählt Lacroix von seinem Fund und will wissen, ob Lacroix Gomez gekannt hat und ob er etwas über den Einsatz der Kameras weiss. Lacroix erklärt, dass er Gomez zufällig auf dem Dorfplatz kennen gelernt habe, als beide im Café Fontaine sassen und lange auf den unhöflichen, kantigen Machokellner warten mussten, bis dieser endlich an ihren Tisch kam und ihre Bestellung aufnahm. Dies sei im Oktober des vergangenen Jahres gewesen, meint Lacroix. Dabei habe er Gomez von seinem Handelsgeschäft erzählt. Noch am selben Abend sei dieser bei ihm in der Siedlung aufgetaucht und habe sich über die Möglichkeiten einer Überwachungsanlage erkundigt, da er scheinbar Probleme mit seinen Nachbaren hatte. Für gewöhnlich liefere er nicht an Endkunden, sein Unternehmen sei auf den Import und Handel von Grosslieferungen aus dem asiatischen Markt nach Europa spezialisiert. Aber Gomez habe ihm irgendwie leidgetan. So habe er eine Ausnahme gemacht. Die Installation habe er aber nicht übernommen. Gomez habe sich, soweit er sich erinnern kann, an einen Installateur aus Fontvieille gewendet.
Das Schaufenster des Radio- und Fernsehfachgeschäfts in Fontvieille, einem Nachbarsdörfchen von Maussane, ist karg eingerichtet. Ein paar Kartonschachteln von Geräten liegen lieblos angerichtet herum und machen sich den Platz mit dem Sandstaub der Provence streitig. Die meisten davon sind von der starken Sonne bereits weitgehend vergilbt. Auch die Aufklebeschrift am Fenster bedürfte eine Erneuerung. Drinnen riecht es nach frisch geschmolzenem Lötzinn und verbrannter Elektronik.
«Ich habe davon erfahren. Eine schlimme Sache. So etwas sollte bei uns nicht passieren», sagt François Devaux, Besitzer und Alleinunterhalter des Geschäftes.
«Sie haben doch die Kameras und das Schnittpult bei Herrn Gomez installiert, nicht? Können Sie mir mehr dazu sagen?», fragt ihn Fougasse.
«Ja, in der Tat habe ich diese Hightech-Anlage installiert. Ich habe mich gefragt, weshalb der Mann eine solche Ausrüstung braucht und warum er alle Kameras auf den Zugang und das Grundstück seines Nachbarn gerichtet haben wollte. Dies wollte er mir aber nicht verraten, um mich angeblich nicht in die Sache hineinzuziehen. Gomez ist noch ein paar Mal zu mir gekommen, um DVD-Rohlinge zu kaufen, die er wohl benötigte, um die Aufnahmen zu speichern.»
Fougasse schreitet bereits wieder zur Tür, als Devaux ruft: «Ah so, vielleicht wissen Sie das. Kann ich bei der Gendarmerie eine Vermisstenanzeige für einen Hund aufgeben? Unser kleiner Médor ist nämlich seit zwei Tagen verschwunden. Wir haben überall nach ihm gesucht. Meine Frau liegt mir ständig damit in den Ohren.»
«Nein, solche Fälle lösen wir nicht. Gehen Sie ins Tierheim oder fragen Sie bei den Tierärzten nach. Tut mir leid, aber das kommt immer wieder vor. Viel Glück und au revoir», sagt Fougasse und schliesst die Tür hinter sich. Soweit kommt es noch, dass wir auch noch diesen Kötern nachforschen sollen.
Zurück im Büro geht er, in der Hoffnung etwas über DVD-Rohlinge zu finden, nochmals die Inventarliste der Spureninventur durch. Er ist sich aber ziemlich sicher, dass er da nichts übersehen hat und ihm das aufgefallen wäre. Wo sind diese nur geblieben? Dann hat es eben doch einen Einbruch gegeben. Zur Sicherheit gibt er dies zur Nachprüfung Plumetatz in Auftrag.
Gerade mal eine halbe Stunde später meldet sich Devaux auf der Gendarmerie in Maussane. Fougasse führt ihn ins Nebenzimmer. Devaux erzählt, dass soeben eine Frau bei ihm im Geschäft gewesen sei. Sie wollte exakt die Ware verkaufen, welche er bei Gomez installiert habe. Die vier Panasonic Kameras und das Videomischpult mit einem Haufen gebrauchter Kabel. Mit der Begründung, dass sie den Kram nicht mehr benötige. Er kaufe aber keine Gebrauchtware und habe die Frau wieder fortgeschickt. Erst im zweiten Moment habe er begriffen, was dies bedeute. Zum Glück habe er selber eine Überwachungskamera im Geschäft. «Heutzutage wird ja so viel gestohlen», fügt Devaux hinzu.
Er übergibt Fougasse ein Schwarz-Weiss-Foto der Frau. Sie hat etwas von einer Zigeunerin. Sie trägt einen älteren blumigen Rock und lange schwarze Haare. Sie ist um die Dreissig und von mittlerer, schlanker Statur. Sie habe fliessend Französisch gesprochen, sei aber reserviert, sogar etwas unfreundlich gewesen, als Devaux ihre Ware nicht kaufen wollte.
Es muss etwas mit dem Nachbarn zu tun haben. Frau Moser sowie Lacroix und auch Devaux haben ausgesagt, dass es Probleme bzw. Gründe gab, die Kameras auf ihn zu richten. Fougasse klärt dies nun gründlich ab. Er geht erneut zu Monsieur Abbet auf das Grundbuchamt, um herauszufinden, wer in Haus 134 lebt, respektive wer dessen Besitzer ist. Das Haus 135 von Gomez ist das letzte in der Reihe, daneben befinden sich der Pétanque- und der Tennisplatz. Daher kann es nur 134 sein. Monsieur Abbet sucht ihm die Unterlagen zu Haus 134 aus dem Register heraus und händigt Fougasse Kopien davon aus. Dieser kehrt damit zurück auf die Gendarmerie.
Das Haus gehört einem Erkan Martinez, der jedoch nicht dort, sondern an der Hauptstrasse, gleich beim Café du Centre registriert ist. Also wieder so ein Vermittlerheini, der Touristen in die Provence lockt, um seinen Lebensunterhalt aufzubessern, denkt Fougasse. Plötzlich geht ihm ein Licht auf. Es muss der lokal ansässige Coiffeur sein. Plumetatz bestätigt dies augenblicklich: «Das ist dieser Kerl, der mit seinen beiden scheusslichen Hunden morgens und abends eine Runde über den Dorfplatz dreht. Dabei macht er immer einen sehr unnahbaren Eindruck und stolziert posierend zwischen den Bistrotischen hindurch. Die Hunde kann ich sowieso nicht leiden. Die sehen aus wie Schläuche, ja das müssen Schlauchhunde sein. Er selber trägt immer diese völlig aus der Mode geratenen Schwedenclogs.»
Martinez Geschäft befindet sich zwischen den beiden Bäckereien. Die Schlauchhunde sind in Tat und Wahrheit keine solchen, sondern von der Rasse Basset artésien normand, eine ziemlich tiefwüchsige, grosse, langgezogene Dackelart. Fougasse kennt den Coiffeur nicht persönlich. Er lässt seine wenigen Haare immer bei seiner Schwester in Arles schneiden und kommt dabei erst noch in den Genuss eines feinen Abendessen in netter Gesellschaft. Er vermag sich aber an den Typen erinnern und beschliesst, das nächste Mal eine Ausnahme zu machen, um einmal bei Martinez auf den Stuhl zu sitzen. Zuvor will er aber nochmals das Haus 134 von aussen anschauen.
Im Garten befindet sich ein rostiges Fahrrad, ein Besen, eine Lichterkette sowie eine Hängematte zwischen den beiden kleinen Bäumen und ein leerer Vogelkäfig. Mehr ist von aussen am Haus 134 nicht zu sehen. Bis auf ein kleines Fenster sind alle Fensterläden geschlossen. Es macht für Fougasse weder den Anschein, dass das Haus belebt ist, noch, dass dieses an Touristen vermietet wird. Komisch, denkt Fougasse. Irgendetwas muss sich aber hier abspielen oder abgespielt haben. Sonst hätte Gomez diesen Hightech-Kram nicht installiert. Einen Moment lang spielt Fougasse mit dem Gedanken, selber eine Kamera zu platzieren. Doch dazu bräuchte er eine Genehmigung des Kriminaloberkommissars und dies würde sich wohl nur schwer begründen lassen. Also lässt er es sein und beschliesst, sich zum Feierabend im Café du Centre ein Monaco, ein in Frankreich beliebtes Mixgetränk, bestehend aus einem Panasche mit einem Schuss Grenadine, zu gönnen.
Ausser dem Verkehr auf der Hauptstrasse ist im Zentrum Maussanes, auf dem Place Joseph Laugier de Montblan, noch nicht viel los. Es ist ja auch erst halb sechs. Doch die kleinen Bistrotische vor dem Café auf dem Bürgersteig laden zur Observation ein. Von hier aus hat Fougasse eine beinahe perfekte Sicht über den ganzen Platz.
Es hat sich viel verändert hier, denkt er. Noch vor wenigen Jahren war der Platz nichts Besonderes. Nun aber hat man die Vorteile des Tourismus erkannt und den Platz herausgeputzt. Das Café de la Fontaine hat seinen Betrieb ausgebaut und moderne, grosszügige Sonnenschirme aufgestellt. Auch die Nachbarrestaurants haben nachgezogen. Der Platz ist nun nahezu verkehrsfrei, so dass sich die Leute frei bewegen können, ohne Gefahr zu laufen, von einem verbeulten französischen Fahrzeug angefahren zu werden. Auch der schöne Brunnen ist renoviert und die Laternen sind durch neue ersetzt worden. Alles in Allem ist es eine wahre Bereicherung für den Ort.
Es klirrt und quietscht während der Kellner vor dem Café de la Fontaine einen Autolenker anschreit: «Hast du keine Augen im Kopf, conard!»
Er ist fast angefahren worden und darf nun den Scherbenhaufen auf der Hauptstrasse aufräumen. Oft kommt dies nicht vor. Sehr zum Erstaunen vieler, welche tagtäglich beobachten, mit welch grossem Geschick die Kellner die Tabletts über die enge und dennoch stark befahrene Hauptstrasse hin zu den Gästen auf den Platz und wieder zurücktragen.
Plötzlich fährt dennoch ein Fahrzeug auf den Platz. Es ist der zur Pizzeria ausgebaute, ältere Peugeot Lieferwagen von Antonio, welcher gemäss Frau Durussel der unfähigste Pizzaiolo sei. Er parkt direkt neben der Kirche und öffnet die Klappjalousien des Pizzawagens. Den Strom für den Pizzaofen zapft er wohl mit göttlichem Segen von der Kirche ab.
In den Restaurants ist noch nicht viel los. Einige haben montags gar geschlossen. Strassenmusiker, die französische Chansons spielen, locken weitere Besucher auf den Platz. Bei Fougasse wird es Zeit für ein zweites Monaco, als er den alten Albert entdeckt. Albert, verwitwet und unterbeschäftigt, aber immer frohen Mutes, ist einer der alteingesessenen Maussanern und gehört quasi zum Inventar des Dorfes. Wie meistens gegen Abend, ist er auf dem Platz anzutreffen. Er kann dem touristischen Treiben nicht viel abgewinnen. In seinen ausgewaschenen Kleidern schlurft er von einer Ecke in die andere und spricht hier und da Passanten an. Allen erzählt er dieselben Geschichten: «Ich habe die Treppe der Kirche gebaut. Ich war schon da, als es noch fast keine Autos gab. Die Natur ist doch das Beste auf Erden. Wer braucht denn all diese Restaurants?»
Und wenn sich jemand auf ein Gespräch mit ihm einlässt, verabschiedet er sich jeweils mit folgenden Worten: «Wunderbar, heute Abend habe ich einen Freund gewonnen!» Dabei bewegen sich seine künstlichen Zähne quasi als dritte Lippe und alle verkneifen sich dabei das Grinsen.
Antonio hat nicht viel zu tun. In der letzten Stunde hat er gerade einmal eine Pizza verkauft. Doch plötzlich ertönt ein leises Schnauben begleitet von Holzabsätzen auf dem Asphalt. Da taucht Martinez in seinen Schwedenclogs und mit seinen beiden Schlauchhunden auf. Genau wie ihn Plumetatz beschrieben hat. Er überquert die Strasse und geht direkt auf den Pizzawagen zu, wo er von Antonio eine Pizzaschachtel entgegennimmt und gleich wieder mit seinen Hunden weiterspaziert. Hinter der Kirche verschwindet Martinez aus Fougasses Blickfeld.
Nun steht eine Frau bei Antonio und reicht ihm einen Zettel über den Tresen. Antonio nickt freundlich und bückt sich. Als er hochkommt, hat er einen Umschlag in der Hand und übergibt ihn der Frau. Was soll das denn? Ist der auch noch Briefträger, fragt sich Fougasse.
Die Frau verschwindet erst in der Kirche und später in der Rue Charles Piquet. Eine Pizza hat sie nie bekommen, wie Fougasse überrascht feststellt. Sie hat nicht wie eine Touristin ausgesehen, es muss eine Einheimische gewesen sein. Fougasse fragt sich, ob er etwas übersehen hat, und kommt zum Schluss, dass er wohl für heute genug gearbeitet hat.
Die Frau geht Fougasse auch am nächsten Tag nicht aus dem Kopf. Der Austausch von Zettel und Umschlag scheint ihm seltsam. Aber eigentlich hat er schon genug Arbeit mit dem Fall Gomez und so zwingt er sich, die Frau auf eine niedrigere Dringlichkeitsstufe zu setzen. Er beschliesst, kurzerhand bei Martinez im Salon einen Termin zu vereinbaren.
Als er um elf Uhr im Salon eintrifft, ist gerade ein Stuhl frei und er lässt sich von der Dame am Empfang seinen Platz anweisen.
Die beiden Schlauchhunde schauen ihn gelangweilt und etwas grimmig aus einer Ecke an. Die scheinen keine neuen Kunden zu mögen, denkt Fougasse. Er mag Hunde nicht. Für was sollen diese Geschöpfe gut sein? Sie riechen schlecht, kläffen, beissen oder kläffen und beissen und hinterlassen stinkende Haufen in der Öffentlichkeit.
Nach einer Weile kommt Martinez zu ihm.
«Sie wünschen, Monsieur l’Inspecteur?»
Fougasse ist erstaunt, dass Martinez ihn erkannt hat.
«Alles ein wenig kürzer, aber lassen Sie noch was dran. Es hat auch so nur noch wenig davon.»
«Aber gerne. Sie sind das erste Mal bei uns, stimmt’s?»
«Ja, ich gehe sonst zu meiner Schwester. Aber sie hat gerade keine Zeit für mich. So dachte ich mir, ich lasse mir mal in Maussane die Haare schneiden.»
«Das freut uns sehr. Wir werden Sie nicht enttäuschen. Wollen wir noch waschen?»
«Bitte nicht, ich habe heute Morgen geduscht, dass sollte ausreichen», antwortet der Inspektor. So einfach kommst du mir nicht davon. Nimm du schön deinen Wasserspritzer und verrechne mir nur einen Trockenschnitt, du Schleimer, denkt er sich dabei.
Martinez ist ihm unsympathisch. Zu oberflächlich und glitschig wie ein Aal. Dass ihn die Hunde böse anstarren, macht die Sache auch nicht besser.
«Arbeiten Sie schon lange hier im Dorf? Ich habe Sie noch nicht so oft gesehen», fragt Fougasse.
«Schon fast zehn Jahre. Meine Schwester Natalie hat den Salon eröffnet. Ich bin dann später eingestiegen.»
«Wohnen Sie denn auch hier?»
«Ja, zuerst hatte ich ein Häuschen in der Résidence. Nun habe ich eine schöne, neu renovierte Wohnung im Zentrum gekauft. Ich bin gerne mitten in Maussane. Das Leben und die Leute sind sehr angenehm. Die Résidence ist mir zu langweilig geworden. Ich wollte ein wenig näher ins Zentrum», antwortet Martinez. «Ich habe von Gomez Tod erfahren, meinem früheren Nachbarn. Eine brutale Sache. Aber sicherlich wissen Sie da besser Bescheid als ich.»
«In der Tat. Solche Fälle sind bei uns Gott sei Dank nicht an der Tagesordnung. Aber wenn Sie es schon so spontan ansprechen: Wie war denn Ihr Verhältnis zu Gomez? Kannten Sie den Mann?»
«Oh la la, ich sollte mir wohl besser einen Anwalt nehmen», versucht Martinez zu scherzen.
Besser wäre es vielleicht, denkt Fougasse.
«Ich kannte ihn kaum. Tagsüber bin ich im Salon und am Abend gehe ich oft mit meinen Hunden spazieren. Viel gesehen haben wir uns nicht.»
«Möchten Sie denn nun nicht auch noch seinen Hausteil kaufen? Sie könnten diesen zusammen mit Ihrem zu einer schönen Ferienwohnung ausbauen. An Touristen mangelt es hier ja nicht.»
«Eine gute Idee. Aber die Siedlungsbestimmungen sind sehr streng. Daher spiele ich mit dem Gedanken, meinen Teil zu verkaufen. Umso mehr, wenn derart Gefährliches wie bei Herr Gomez passiert.»
Fougasse ist froh, endlich den Haarschnitt überlebt zu haben. Gross gelohnt hatte sich das ja nicht, denkt Fougasse, verabschiedet sich und verlässt den Salon.
Es ist Mittwochmorgen. Wie immer muss Fougasse an diesem Tag die Marktstandlizenzen prüfen. Die Märkte in der Provence haben Tradition. Die Markthändler stellen ihre Stände jeden Tag in einem anderen Dorf auf. Die Märkte sind bei Touristen wie Einheimischen gleichermassen geschätzt und stellen eine Sehenswürdigkeit dar. Man kann fast alles kaufen. Am beliebtesten sind die vielen Frischwaren: Brot, Fleisch, Käse, Fisch oder Gemüse. Es gibt aber auch Blumen und Setzlinge, Tischtücher, Kleider, Geschirr oder Werkzeuge zu kaufen. Fougasse fängt immer oben am Markt, beim Eingang unterhalb der Mehrzweckhalle Agora, mit der Überprüfung der Lizenzen an. Die Lizenzprüfung ist ihm heilig. Er will das immer persönlich erledigen. Er liebt es, den Markt zu besuchen und sich mit den Händlern und den Besuchern zu unterhalten. Das bietet ihm jeweils gute Gelegenheiten, mit den Leuten in Kontakt zu sein. Schon oft füllten Hinweise die eine und andere Ermittlungslücke.
Am unteren Ausgang des Marktes steht der Stand von Frau Millesime. Rose Millesime versucht jeweils, mit kleinen Hunden und Katzen die Herzen der Besucher für den Tierschutz zu gewinnen und sie zum Spenden zu bewegen. Heute hat sie Unterstützung von einer zweiten Dame. Fougasse schaut diese genau an und denkt nach. Das ist doch diejenige, die bei Antonio aufgetaucht ist. Ich erkenne sie an ihren Kleidern wieder. Und ja genau, es ist zudem die Frau auf Devaux’ Bild aus dem Fernsehladen. Sie wollte Devaux Gomez’ Kameras verkaufen. Zut alors, diese falsche Schlange.
«Ich bin Inspecteur Fougasse der Gendarmerie Maussane. Ich prüfe die Marktlizenz dieses Standes. Ich habe Sie noch nie gesehen. Gehören Sie auch dem Tierschutzverein an?», fragt Fougasse.
«Nein, dem Verein gehöre ich nicht an, aber ich unterstütze Rose gerne bei ihrer Volontärarbeit.»
«In dem Fall warte ich, bis Frau Millesime Zeit für mich hat. Wer sind Sie denn?»
«Ich bin Claudine Viret, freut mich Monsieur l’Inspecteur.»
Nach einer Weile ist Frau Millesime für Fougasse da. Sie zeigt ihm die Lizenz. Er stempelt diese wie gewöhnlich ab.
«Kennen Sie Frau Viret schon lange? Ich habe sie noch nie gesehen. Woher kommt sie?», fragt er Frau Millesime, als er gerade sieht, dass Claudine Viret anderweitig beschäftigt ist.
«Erst seit ein paar Wochen. Sie wurde mir von einer Ferienbekanntschaft empfohlen. Ich bin um jede Unterstützung dankbar. Frau Viret begleitet mich ab und zu auf die Märkte. Ich glaube, sie wohnt in Maussane, bin mir aber nicht sicher. Wieso?»
«Einfach so, ich bin auch froh, wenn es Leute gibt, die sich für den Tierschutz einsetzen», sagt Fougasse.
Zurück in seinem Büro sucht er nach Claudine Virets Adresse, wird jedoch nicht fündig. Auch ein Anruf auf der Gemeindeverwaltung kann die Frage nicht klären. So beschliesst er auf der Poststelle nachzufragen.
«Salut Vincent, sicher kannst du mir weiterhelfen. Kennst du eine Claudine Viret, die scheinbar hier in Maussane lebt. Angemeldet ist niemand unter diesem Namen. Aber sie soll hier im Dorf irgendwo wohnen. Ach so, es ist dienstlich», sagt Fougasse zum Posthalter.
«Nein, das sagt mir nichts. Aber ich glaube, einer der Briefträger ist noch im Hause. Warte, ich frage kurz nach.»
Nach einer Weile kommt Vincent zurück.
«Ich glaube, ich kann dir helfen. Soweit sich der Bote erinnert, hatte er letzte Woche eine Zustellung für Claudine Viret. Sie wohnt in der Résidence im Haus 39 bei Paul Descours. Reichen dir diese Angaben?»
«Du hast mir sehr geholfen!», bedankt sich Fougasse und überlegt sich bereits einen guten Vorwand, um Viret zu besuchen.
Doch zuerst will er sich sicher sein und das Haus von Descours beobachten lassen.
«Ich will wissen, welcher Name auf dem Briefkasten des Hauses 39 steht. Und hier haben Sie ein Foto der gesuchten Frau. Sobald Sie sehen, dass Viret das Haus 39 betritt oder verlässt, kommen Sie zurück auf die Gendarmerie und erstatten Meldung», befiehlt Fougasse den beiden Gendarmen Ducasse und Girault. Diese müssen nun in einem privaten Fahrzeug auf dem Parkplatz der Résidence das besagte Haus observieren.
«Oui, Chef, wir machen genau das, was Sie gesagt haben!», bestätigen die beiden im Chor und machen sich auf den Weg in die Résidence.
«Oh la la, das hat unser Chef wieder einmal zackig beauftragt. Was da wohl im Busch ist?», sagt Girault zu Ducasse.
«Es könnte ja etwas mit dem Fall Gomez zu tun haben. Ich bin mir aber nicht sicher, ob uns der Chef eine solche Aufgabe anvertrauen würde», erwidert Ducasse.
«Fahr noch schnell bei mir zu Hause vorbei. Ich will noch eine Thermoskanne Kaffee und etwas zu essen einpacken. Wer weiss, wie lange wir in dieser Résidence ausharren müssen.»
Nach drei Stunden ist der Job erledigt. Ducasse und Girault kehren auf den Posten zurück. Sie bestätigen Fougasse sowohl die Briefkastenbeschriftung als auch die Sichtung der gesuchten Frau. Sie habe die Siedlung mit einem Alfa Romeo von Parkplatz 18 aus verlassen. Zuvor sei sie ständig am Telefonieren gewesen, berichten Ducasse und Girault.
Endlich hat Fougasse seinen Vorwand. Er weiss nämlich, dass die Mosers in Haus 18 wohnen. Er macht sich auf den Weg zu Viret mit einer von Mosers vorgetäuschten Anzeige. Scheinbar haben Descours und Viret je einen Wagen und somit einen Parkplatz zu wenig. Die Parkplätze in der Résidence sind streng limitiert. Einer pro Haus, mehr gibt es nicht. Zudem gibt es fast keine Parkmöglichkeiten ausserhalb der nummerierten Parkfelder. Besucher bleiben wörtlich auf der Strecke.
Er klopft an die Tür von Haus 39. Claudine Viret öffnet die Tür, welche zu einem eingemauerten Vorgarten führt.
«Ah, Monsieur l’Inspecteur. Was verschafft mir die Ehre?», begrüsst Claudine den Inspektor.
«Leider kein angenehmer Grund. Haben Sie kurz Zeit für mich?»
«Kommen Sie herein und nehmen Sie bitte Platz.»
Fougasse setzt sich im kargen und kleinen Vorgarten auf einen Plastikstuhl. Ein paar Hundenäpfe, ein Plastiktisch mit vier Stühlen und ein Gartenschlauch zieren den Vorgarten. Eine Balkontüre führt ins Innere des Hauses.
«Wie kann ich Ihnen denn helfen?», fragt Viret.
«Die Besitzer des Hauses 18 haben mich angerufen und sich beschwert, dass sie des Öfteren nicht auf ihrem Parkplatz parken können, weil dort Ihr Alfa steht. Sie wussten nicht, wem das Auto gehört und haben auch nie jemanden damit fahren sehen. Daher haben sie beschlossen, sich bei uns zu melden, damit wir der Sache nachgehen. Wir haben herausgefunden, dass das Auto zu Ihnen gehören muss.»
«Ja, der Alfa gehört zu mir. Er ist aber auf meinen Onkel Antonio aus Tarrascon eingelöst. Waren Sie denn zuvor bei ihm? Er hat mir nichts davon gesagt.»
Volltreffer, denkt Fougasse. Das ist sicher der unfähige Pizzaiolo.
«Nein, ich habe zwei meiner Männer stationiert, um herauszufinden, wer den Wagen fährt.»
«Das tönt aber recht abenteuerlich und riecht ein wenig nach Kriminalfilm.»
«Parken Sie in Zukunft einfach auf dem öffentlichen Parkplatz an der Rue Charles Piquet. So können Sie sich Unannehmlichkeiten ersparen. Wir haben nämlich Besseres zu tun, als solchen Nachbarschaftskonflikten nachzugehen.»
«Ich werde mich bei den Besitzern entschuldigen. Oder muss ich nun mit einer Anzeige rechnen?», fragt Viret.
«Nein, sie baten mich lediglich um Klärung. Aber sagen Sie, wohnen Sie schon lange hier in Maussane? Ich kann nämlich keine Anmeldung bei der Gemeinde finden?»
«Ich bin erst kürzlich zu meinem Freund hierhergezogen. Es ist eben schon etwas problematisch hier in der Résidence, wenn man mehr als ein Auto hat.»
«Und Ihr Onkel, betreibt er die fahrende Pizzeria?», fragt Fougasse weiter.
«Ja, wieso spielt denn das eine Rolle?»
«Ich habe Sie kürzlich bei ihm gesehen und mich gefragt, wieso es Gäste bei einem Pizzawagen gibt, die nichts konsumieren. Ich war da etwas verwirrt.»
«Sie scheinen mich ja ein wenig zu verfolgen. Wir haben das eine oder andere auszutauschen. Nun habe ich wirklich noch viel zu tun. Ich bitte Sie nun zu gehen.»
«Ja natürlich. Bitte parken Sie in Zukunft woanders. Damit hätte es sich dann erledigt», verabschiedet sich Fougasse.
Die Kameras erwähnt er absichtlich nicht. Er will zuerst Antonio auf den Zahn fühlen und etwas mehr Hintergrundinformationen sammeln um einen besseren Überblick der Verhältnisse zwischen den beiden zu bekommen.
Es ist stürmisch. Der Mistral beherrscht wieder einmal alles, was nicht dingfest gemacht ist. Fougasse eilt vom Wagen zum Gendarmerie Posten. Dieser Wind bereitet ihm jedes Mal schier unerträgliche Kopfschmerzen.
Der Mistral gehört zur Provence wie die Olivenbäume und die Rebstöcke. Alle sind vom Meereswind abhängig und benötigen diesen entweder zur Stärkung oder Bestäubung. In den Sommermonaten entfacht er Jahr für Jahr kleine Waldbrände. Dies verhilft immerhin einigen Feuerwehrmännern zu einem schattigen und meist ruhigen Posten in einem der zahlreichen Wäldern der Alpilles, in welchen sie ihren Bereitschaftsdienst in den Löschfahrzeugen absitzen.
Fougasse setzt sich an den Schreibtisch und denkt über Claudine Virets Situation nach. Er kann keinen Zusammenhang zwischen ihr und Gomez oder zwischen Antonio und Gomez herstellen. Es muss hier noch mehr zu entdecken geben. Plumetatz kommt mit einer Liste an offenen Anfragen, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt haben. Darunter ist auch eine des Tierarztes von Maussane, Monsieur Pierre Chevalier. Er bittet um Rückruf oder, falls möglich, gar um einen kurzen Besuch in der Praxis.
Direkt nach dem ziemlich verspäteten Mittagessen – sofern sich Pastaresten vom Vorabend und Reste des Baguettes vom Frühstück so nennen lassen – macht sich Fougasse auf den Weg zu Chevalier.
«Wissen Sie, wir haben den Eindruck, dass in den letzten Monaten sehr viele Kleinhunde zwischen Maussane und Saint Rémy auf der Strasse sterben. Durchschnittlich finden wir zwei bis drei tote Tiere pro Woche auf der schnell befahrenen Strasse. Sie werden uns mehrheitlich von den Gemeindebetrieben gemeldet. Selbst meiner Frau ist es bereits aufgefallen. Sie arbeitet in Saint Rémy und bringt dreimal pro Woche unsere Zwillinge dort in die Kindertagesstätte. Seit einiger Zeit fragen die beiden Kinder jedes Mal, wann denn nun das tote Tier komme», erzählt Chevalier.
«Davon habe ich noch gar nichts mitbekommen», entgegnet Fougasse. «Entspricht dies denn nicht dem üblichen Schnitt?»
«Nein, das ist überdurchschnittlich viel. Zumal sich unsere Kinder bereits einen Spass daraus machen. Viel komischer ist jedoch die Tatsache, dass die Tiere oft aus ganz unterschiedlichen Orten stammen. Wir haben bereits Hunde aus Avignon und Aix-en-Provence gefunden, wie wir mittels den teilweise eingesetzten Tier-Chip in den toten Hunden nachweisen konnten. Ein normaler Kleinhund würde nie von sich aus solche Strecken zurücklegen. Die meisten Halter der toten Tiere bestätigten mir zudem, dass ihre Tiere zuvor nie von zu Hause weggelaufen sind.»
«Und was tun Sie mit all den toten Tieren?»
«Wir geben sie in die städtische Tiersammelstelle in Arles. Dort werden sie verbrannt und als Zusatzstoffe in diversen Industrieprodukten weiterverarbeitet. Ich habe aber die Adressen der Tiere, welche einen Tier-Chip an sich trugen, feinsäuberlich notiert. Möchten Sie diese Liste? Es sind nun schon zirka dreissig Hunde.»
«Und was soll ich damit?»
«Ich habe gehofft, Sie würden versuchen, einen Zusammenhang zwischen den toten Tieren herzustellen.»
«Ich habe ja nichts anderes zu tun. Ohne Anzeige kann ich sowieso nur schwer etwas unternehmen. Zumal die Tiere nicht mehr vorhanden sind. Sie können mir die Liste mitgeben. Melden Sie sich doch am besten wieder, wenn Sie das nächste Mal einen toten Hund haben», schlägt Fougasse vor, in der Hoffnung, die Tierarztpraxis baldig verlassen zu können.
«Ja, ich werde mich sofort bei Ihnen melden. Es ist mir bewusst, dass dies eine uninteressante Arbeit für Sie sein muss. Mir tun jedoch die armen Tiere leid. Ich hoffe, wir finden die Ursache. Besten Dank, Monsieur l’Inspecteur.»
Fougasse kommt die Sache irgendwie suspekt vor. Aber es ist nicht sein Ding, diesen Viechern nachzuforschen. Darum soll sich Plumetatz kümmern. Ihm geht Claudine Viret einfach nicht aus dem Kopf. Was die mit Gomez zu tun haben mochte? Und ihr Onkel, der unfähige Pizzaiolo? Hat der womöglich auch etwas damit zu tun? Fougasse beschliesst, heute bei Antonio, nahe der Arena in Arles, eine Pizza essen zu gehen. Er will sich ein Bild der dortigen Lage und des Pizzawagens verschaffen. Da es schon fünf Uhr nachmittags ist, macht er sich gleich auf den Weg nach Arles, wo er im Parking des Arènes parkt und sich zum Feierabend im gleichnamigen Hotel auf der Terrasse ein Bier gönnt. Er braucht eigentlich nur zu warten, bis der verbeulte Peugeot Lieferwagen von Antonio aufkreuzt. Er liess sich zuvor von Girault sagen, wo Antonio jeweils stationiert ist, um seine Pizzen in Arles zu verkaufen. Girault wohnt in Arles und hat den Pizzawagen schon einige Male bei der Arena gesehen.
Der Platz um die Arena ist voller Touristen, die sich für das historische Gebäude interessieren. Die Arena ist ein Amphitheater aus dem Zeitalter um Christus und eine der wenigen Sehenswürdigkeiten der Kleinstadt Arles. An Feiertagen werden hier Stierkämpfe ausgetragen.
Nebst der kleinen Altstadt hat Arles nicht viel zu bieten. Ein heruntergekommenes Vorortviertel reiht sich ans andere. Fougasse mag Arles nicht besonders. Es hat nichts mehr mit der Idylle der Provence zu tun. Er bestellt gerade das zweite Bier, als der Pizzawagen in Richtung Standplatz fährt.
«Piep, piep, piep», tönt es, als der Rückwärtsgang eingelegt wird, um den fahrenden Pizzaofen in die korrekte Position zu bringen. Beendet wird das Parkmanöver mit einem dumpfen Blechgeräusch. Das Amphitheater hat sich wohl nichts aus dem Rückfahrwarnton gemacht und dem Fahrer anderweitig ein Zeichen zum Anhalten gegeben. Nach einem kurzen Vorwärtshupf steht der Wagen still. Die Türe öffnet sich. Eine kleine rundliche Frau steigt aus. Sie trägt einfache Arbeitskleider und ein Kopftuch, welches die wenigen Haare zusammenhält. Sie wischt sich zuerst den Schweiss von der Stirn und schaut dann vorsichtig um sich, um herauszufinden, ob jemand ihr Parkmanöver beobachtet hat.
Viele Leute amüsieren sich über das unbeholfene Vorgehen der Frau. Sie öffnet die Klappjalousien und verlegt das Stromkabel zu einem Verteilerkasten. Danach steigt sie im Kochbereich des Fahrzeuges ein, nachdem sie den Plastikabfalleimer nach draussen spediert hat. Die ersten Kunden lassen nicht lange auf sich warten und bestellen direkt am Wagen oder per Telefon. Alles scheint korrekt abzulaufen. Aber wo ist Antonio? Wer ist diese Frau? Als Fougasse sicher ist, dass sie genug Aufträge hat, um sie in ein möglichst langes Gespräch zu verwickeln, stellt er sich an.
«Bonsoir Madame», grüsste Fougasse freundlich und bekommt ein knappes Bonsoir zurück. Da muss er wohl all seinen Charme einsetzen, um etwas herauszubekommen.
«Was möchten Sie, Monsieur?»
«Eine Pizza, bitte.»
«Ja, das wollen die meisten. Und welche darf es sein?»
«Haben Sie eine Pizza Reo?»
Die Frau zeigte mit dem Finger auf die Karte und gibt Fougasse klar zu verstehen, dass sie Pizzen backt, aber nicht beschreibt. Er tut so, als würde er die Karte studieren, dabei ist ihm längst klar, dass er eine Pizza Prosciutto nehmen wird. Der Wagen scheint auf den ersten Blick ordentlich geführt zu sein. Alles ist an seinem Platz, es sieht sauber und aufgeräumt aus.
«Eine Prosciutto bitte.»
«Gerne, dauert etwa eine Stunde.»
«Sie haben aber viel zu tun. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?»
«Mir egal, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben. Der Platz hier ist für alle da.»
«Verkaufen Sie auch Getränke?»
Der Finger der Frau zeigt auf die ausgestellten Getränkedosen, welche scheinbar die Getränkekarte darstellen.
«Ich hätte gerne ein Carlsberg.»
Die Frau bückt sich und öffnet eines der zahlreichen Kühlfächer, in dem die Getränke untergebracht sind. Fougasse kann alles schön beobachten. Ganz unten im Kühlfach erspäht er eine seltsame Pizzaschachtel, aus der etwas Seltsames herausragt. Es sieht aus wie ein behaarter Schlauch oder eine spanische Salami. Auf alle Fälle etwas, das dort nicht hingehört.
«Danke für das Bier. Wo ist denn Antonio heute?»
«Anton ist nie in Arles. Er ist nur für Maussane zuständig.»
«Ah so. Ich kenne Antonio von Maussane und bin nur ausnahmsweise hier in Arles. Ich wusste gar nicht, dass der Pizzawagen sonst auch in Betrieb ist. Ich bin übrigens Jean. Ich liebe die Pizzen von Antonio über alles.»
«Marine. Anton ist mein Bruder. Wir teilen uns den Pizzawagen. Meine sind aber besser!»
«Er hat aber die Hosen an. Oder wieso ist das Auto mit Pizza Antonio angeschrieben?»
«Würden Sie den bei Pizza Marine essen wollen? Klingt irgendwie nicht sehr italienisch.»
«Ja, da mögen Sie recht haben. Aber Antonio macht auf mich einen durch und durch französischen Eindruck, wenn ich ihn mir so vorstelle. Er ist doch nicht etwa Italiener?»
«Nein, wir sind Franzosen und wählen nur meine Namensvetterin des Front National», bekennt sich Marine und legt eine kugelförmige Portion Pizzateig in eine Maschine auf der Arbeitsfläche. Es rattert und unten kommt ein wunderbar dünn ausgewalzter Pizzateig heraus.
«Ah, das ist also das Geheimnis. Kein Wunder kriege ich dies zu Hause nie so hin», sagt Fougasse.
«Ja, bei den Mengen an Pizzen wollen wir nicht jede einzeln durch die Luft wirbeln. Die nächste ist dann Ihre.»
«Ah, das ist durstiges Wetter heute. Der Mistral hat mich regelrecht ausgetrocknet. Dürfte ich nochmals ein Carlsberg haben?»
Marine bückt sich, um das Getränk aus dem Kühlfach zu holen. Das Telefon klingelt. Marine greift mit einem Arm zum Hörer und mit dem anderen zum Bier. Ihre Haltung versperrt Fougasse die Sicht auf den Gegenstand, der beim ersten Bier seine Neugier geweckt hat. Tja, muss ich eben noch ein drittes haben, denkt er sich. Fougasse schaut zu, wie Marine den frisch ausgewalzten Pizzateig belegt und in den Ofen schiebt. Sie hat ihren Job wirklich im Griff.
«In dem Fall kenne ich auch Ihre Nichte, Claudine Viret aus Maussane. Eine wirklich nette Person», plaudert Fougasse weiter.
«Ich habe keine Nichte, die so heisst. Wie kommen Sie denn auf so was?»
«Sie hat sich als Antonios Nichte vorgestellt, als ich das letzte Mal in Maussane bei Antonio eine Pizza bestellt habe», schwindelt Fougasse.
«Da müssen Sie etwas verwechseln. Ich kenne keine Claudine Viret. Und mein Bruder und ich sind die einzigen Geschwister. Ich müsste ja wissen, wenn ich eine Tochter hätte.»
«Das ist aber komisch.»
Das Telefon klingelt erneut. Jemand weiteres bestellt eine Pizza.
«So, nun sind Sie an der Reihe», sagt Marine und legt eine neue Kugel Pizzateig in den Einzug des Pizzawalzers. Es rattert und knackt. Marine runzelt die Stirn.
«Nicht schon wieder! Diese Drecksmaschine streikt von Mal zu Mal mehr. Ich frage mich wirklich, was mit dem Teil los ist», jammert Marine und formt den Teig von Hand.
Wenige Minuten später ist die Pizza fertig und sie schmeckt göttlich.