Читать книгу Das Lamm und der Löwe - Mathilda Boehm - Страница 6
ОглавлениеAkt 1- Was vorher geschah
Aller Anfang ist schwer
Sieben Uhr.
Stimme 1: „Aufstehen, du musst zur Schule!“
Stimme 2: „Ich soll mir die Theorien irgendwelcher Leute anhören und anwenden, nur da diese Gehirngespenster sich in die Köpfe des Systems gefressen haben, bei der Suche nach Erklärung für alles und jeden? Ganz ehrlich, dann kann ich auch an Meerjungfrauen glauben, denn deren Existenz steht auch in irgendwelchen wirren Büchern und dies ganz ohne mathematische Formeln als Beleg.“
Stimme 1: „Anstatt dich mit Ach und Krach zu wehren in die Schule zu gehen, könntest du dich anziehen, denn deine einfallsreichen Sprüche werden dir nichts bringen ohne Abi.“
Ich stehe auf. Habe geträumt.
Geträumt von einer Krähe.
Die pechschwarze Krähe flog geradewegs in das offene Fenster eines zerfallenen Familienhauses. Sie prallte gegen die Wand, die blutverschmiert die Krähe zu Boden brachte, mit gebrochenem Flügel flog sie weiter. Sie knallte gegen die Decke, die ihr fast schon auf den Kopf fiel und erhielt eine Platzwunde, die sie ausknockte. Wie in einem Glashaus, sie rannte blind in jede Wand und ihr Schmerz stand Rot auf jeder.
Am Ende zersprang der Rabe und das Grauen verschwand, da flog ein goldener Schmetterling zur Fensterbank und ruhte sich beim Lauschen der kratzenden Gesänge der Raben aus. Der Albtraum des Hauses war nicht weg, doch das Geschöpf nicht mehr blind für den Ausweg.
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Spiegel
Mein Weg zum Badezimmer vollziehe ich bei gedämpftem Licht.
Die schwarzen Gardinen noch fest um die Fenster des Stockwerks geschlungen, beim Öffnen der Badezimmer Tür blickt mir der Spiegel entgegen. Mein Spiegelbild zeigt allerdings nicht mich, sondern all die vergangenen Geschehnisse.
Die Narben, diese tiefblauen Augenringe, die mich fast schon an einen der vielen Monde mit blauer Sphäre erinnern, meine kurzen Haare, alles hat Geschichte, alles hat Bedeutung.
Ich wohne bei meiner Schwester, eigentlich bei meiner Halbschwester, auch wenn sie die Einzige ist, die wohl ganz zu mir steht.
Ich stehe vor dem Spiegel und sehe die Zeit, bevor ich aufwachte, bevor ich sah, in welches Schicksal ich hinein geboren wurde, denn am Ende kann man dem Unausweichlichen nur die Hand reichen und dem eigenen Schicksal mit Würde entgegentreten.
„Spieglein, Spieglein an der Wand, verschon mich doch bitte kurzerhand, ich will nicht sehen, was du mir zeigst, da dieser Anblick nichts verschweigt und so die Wunden nur größer macht mithilfe der Zeit.“
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Katharina
Katharina und Mark. Bedeutungslose Namen, die den Anfang meiner Geschichte in Stein meißelten. Meine Eltern. Also immerhin bis zu meinem sechsten Lebensjahr. Meine Mutter mochte meine Schwester immer lieber, warum verstand ich leider erst später. Meine Mutter wurde vergewaltigt, sie schämte sich zutiefst und erzählte Mark nichts davon. Sie wurde schwanger, Mark freute sich so sehr auf seine zweite Tochter. Er freute sich so sehr auf mich. Katharina veränderte sich, färbte ihre langen schwarzen Haare rot und kleisterte ihr Gesicht jeden Morgen mit bunten Kunstwerken aus Schminke voll, ich glaube, sie tat es, um ihren Schmerz zu überdecken. Mark nahm es hin, er dachte sich nichts dabei. Sie ließ sich den Schmerz ja nicht anmerken.
Bloß nicht das perfekte Bild der kleinen Familie zerbrechen lassen, bloß nicht der Wahrheit ins Auge blicken.
Ich wurde krank, benötigte dringend eine neue Niere und bekam auch eine.
Jedoch nicht von meinen Eltern, denn keiner der beiden hatte meine Blutgruppe.
Die Welt meines Vaters brach zusammen, ich höre noch den Klang der Vase, die mit ihr zerbrach, denn er riss alles mit sich, als er mit meiner Schwester für immer dieses Haus verließ und mich in der Flut untergehen ließ, die nun auf mich zukommen sollte. Meine Mutter verfiel schnell der Gier nach dem flüssigen Rauschgift, sie war tot, auch wenn das Blut noch immer Sauerstoff in ihr Herz pumpte. Ich war dazu verdammt mich über Wasser zu halten, während sie uns beide nach unten zog. Ich konnte ihren Hass gegen mich jeden Tag fühlen und die blauen Flecken an meinem Körper ließen mich es auch wissen, wenn ich nicht bei ihr war.
Sie konnte mir nicht einmal mehr in die Augen schauen, sodass ich selbst zur Flasche griff, um wenigstens auf ihrer Augenhöhe zu sein.
In diesen Momenten, die am Ende nur auf einen einzigen Moment reduziert werden, wurde das Absurde, der Selbstmord zum ersten Mal ein Bauteil in der Welt meiner Gedanken.
Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste war, dass sich Gedanken über den Freitod nicht einfach wieder in Luft auflösen. Sie werden zu einem ständigen Begleiter und halten deine Hand bei jedem noch so winzigen Problem und auch in den schönsten Augenblicken. Sie sind wie ein Ohrwurm.
Jeder hat häufiger mal einen Ohrwurm. Nur, dass es sich in diesem Fall immer um denselben handelt und er ohne Hilfe so laut werden kann, dass es nicht mehr bloß ein Gedanke ist.
Am Tag meines Untergangs oder auch meiner Auferstehung schaute sie mich das erste Mal wieder an und es sollte auch das letzte Mal gewesen sein.
Ihre letzten Worte an mich „Du bist schuld an allem Leid, also verdienst du auch dein Leid.“
Ich lag in einer zwischen Phase von Tod und Leben, als wurde ich in einem Oxymoron liegen. Ich war elf und lag im Koma wegen flüssigem Gift. Als ich nach neun Stunden im Krankenhaus erwachte, wurde mir erklärt, dass ich nach meinem Krankenhaus Aufenthalt in ein Kinderheim gebracht werde.
Kinderheim hört sich irgendwie schöner an, als es ist.
Dort kam mir die Bedeutung eines Heims, eines Zuhauses, das erste Mal seltsam vor.
Dieser Ort, der das Wort Heim beinhaltet, ist eher wie eine Haltestelle, an der man sitzt und wartet, nur dass das, auf was man wartet, meist länger benötigt als die Deutsche Bahn und mit steigendem Alter, der dort Wartenden, die Wahrscheinlichkeit wächst, dass man sich auf einem verlassenen Bahnhof befindet und der Zug einen nicht mal mehr erreicht, wenn man auf die Gleise springt.
Ich entsinne mich nur noch vage an die Zeit im Krankenhaus.
Ich wurde für geräumte Zeit in psychische Behandlung gebracht und als ich im Heim ankam, war ich kein Diener des Prozentigen mehr.
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Zweiter Anlauf
Ich bekam eine neue Familie.
Sie nahmen mich aus dem Heim, als ich zwölf war. Fast wunderlich, dass sie sich mich aussuchten und keines der Kleinkinder, deren Augen noch so lieblich voller Hoffnung funkelten.
Sie hatten bereits 3 Kinder, sechzehn, vierzehn und elf. Es waren sehr liebevolle Eltern, beide berufstätig, sie Krankenschwester, er Buchhändler. Ich liebte sie und sie überhäuften auch mich mit Liebe. Allerdings wurde ich nicht von allen so Herz allerliebst empfangen. Ihre Kinder, Ihre leiblichen Kinder hassten mich, sie verachteten mich und terrorisierten mich. Sie trieben mich an die Spitze des Abgrundes und schafften es, dass ich springen wollte.
Dieser verflixte Ohrwurm.
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Krankenhaus Bett
Sie waren nicht Zuhause.
Ich versteckte das Messer bereits seit Tagen im Wandschrank, doch an diesem sonnigen Mai Tag sollte ich es nutzen. Ich schnitt mir in das Blau an meinem Innenarm und fiel zu Boden. Im Moment, als die Klinge fiel und mein Augenlicht mich so langsam verließ, hörte ich, wie die Türklinke heruntergezogen wurde.
Marta, meine Mutter, kam zu früh nach Hause. Sie sah mich und weinte. Sie machte mir einen Druckverband und fuhr mich mit glasigem Blick panisch ins Krankenhaus. Nun lag ich da, ohne Schmerz, jedoch immer noch voller Qual. Ich erwachte wieder einmal im Krankensaal.
Sie hatten meine Wunde genäht. Ich schaute auf meinen Arm, doch konnte die Nähte nicht sehen. Mein Arm umhüllt von einem Verband, so faszinierend, wie geschehene Dinge ganz einfach versteckt werden können.
Meine Eltern. Meine Adoptiv-Eltern saßen neben meinem Bett, mit Tränen in den Augen, fragend nach einem Warum. Was hätte ich ihnen sagen sollen? Hätte ich ihr Fleisch und Blut verraten sollen? Nein.
Ich schwieg und drehte mein Gesicht weg von ihnen.
Wie hätten sie es auch verstehen sollen und wenn sie es verstanden hätten, wäre es dann besser oder doch schlimmer geworden.
Ich glaube, im Nachhinein würde ich es wenigstens versuchen. Allerdings ist dies nicht meine Entscheidung gewesen, sondern die der Person, die ich Mal war.
Nach Tagen und Wochen war ich wieder Zuhause, also immerhin in einem Haus. Meine Eltern ließen mich keine Sekunde mehr aus den Augen und es schien alles endlich gut zu werden.
Auf jeden Fall schien es besser zu werden.
Doch dieser trügerische Schein war der Anfang allen Böses, fast so, als würde Etwas vollkommenes in deine Bahn geraten, sich jedoch vor deinen Augen in den Gleisen neben dir verheddern und dich niemals treffen können.
Das Gute und ich waren fast zu einer gemeinsamen Geraden geworden und wurden ohne Vorwarnung zu Parallelen.
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Allein
Ich erwachte in meinem großen roten Bett. Es war dunkel. Ich faste zu meiner Nachttischlampe, fühlte das kalte metallische Schwarz und drückte auf diesen kleinen hubbeligen Schalter auf dem Kopf des Lichtleins. Das kleine Licht erleuchtete den Raum und ich sah es. Haare! Meine Haare. Sie lagen auf dem Nachttisch. Ich Griff an meinen Kopf. Meine langen pechschwarzen Haare sind nun nicht einmal mehr schulterlang.
Unter meinen Haaren lag ein Zettel.
„Wenn du dir in die Haut schneiden kannst, können wir dir auch die Haare schneiden.“
Ich weinte nicht, ich schrie auch nicht, weder petzte ich, noch wehrte ich mich. Ich saß bloß regungslos dar. Fünf. Zehn. Zwanzig Minuten. Ich weiß nicht, was ich in diesen Momenten gedacht habe, allerdings waren dies meine letzten Augenblicke in meinem dritten Zuhause. Ich schnappte nach meiner leuchtend blauen Regenjacke und schloss zum letzten Mal die Vordertür des großen Familienhauses.
Nun lebte ich auf der Straße, sammelte Pfandflaschen und raubte gelegentlich etwas aus Kleinläden. Damen Hygiene Artikel zum Beispiel sind nicht gerade billig. Binden und Tampons, sieben Tage im Monat fühle ich mich wie ein Kleinkind mit undichter Blase, weshalb ich Windeln tragen müsse, nur dass es kein Urin ist, das durch mich hindurch läuft, sondern Blut.
Ich lebte in einem Heim für Obdachlose. Schon irgendwie lustig, dass ich nun freiwillig wieder auf einer Haltestelle gelandet war. Sechzehn und obdachlos.
Ich wusste, ich war nicht besser als jeder andere hier, denn ich hätte in der Haut von jedem stecken können, sogar in der Haut eines Mörders, denn die Frage ist nicht, ob jemand morden kann, sondern was passieren muss, damit er morden wird.
Wir sind alle nur tickende Zeitbomben in einem geschärften System und man kann sich mit allem Möglichen ablenken, versuchen die Zeit der Uhr zu stoppen, doch schlussendlich verlangsamt man das Ticken bloß oder macht es nur so leise, sodass man es nicht mehr hören kann.
Ich lag in der Gosse, in der Gosse, an der ich früher an Leuten wie mir vorbeiging, da ich ihnen ja kein Geld geben wollte, nicht dass sie sich davon noch Drogen kaufen würden. Sie haben dieses Leben ja gewählt.
Nein. Nein, haben sie nicht.
Sie wollten Bundeskanzler, Koch oder auch Arzt werden, waren Künstler, Draufgänger und Musikbegeisterte ohne Mittel zu ihrem Ziel zu gelangen, sodass es irgendwann leichter war, einfach unterzugehen.
Auch ich hatte nichts und suchte nach meiner Schwester. Nach all den Jahren hoffte ich immer noch auf ihre Liebe und auf ein Rettungsboot aus der Flut, in der mich Mark zurückließ und sie mit sich nahm. Nach einem Jahr fand ich sie und sie wurde zu meinem Zuhause.
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Cornflakes
Schaue ich in den Spiegel, sehe ich all das, jedoch eindeutig nicht mich. Ich wurde zu meiner Geschichte, zu etwas was aufgeschrieben werden kann, festgehalten werden kann und genau dies raubt meinem Leben gänzliche Vollkommenheit der Einmaligkeit. Als würde man unbedingt den perfekten Moment mit einer Linse festhalten wollen, um ihn für immer besitzen zu können, doch eigentlich möchte niemand einen Garten besitzen, in dem jeder versucht etwas anzupflanzen, jedoch alles bloß verrottet.
Halb acht.
Ich schmeiße die Glucose artige Kohlenhydrate in die Fette. Frühstück. Nährstoffreich. Nicht gesättigt, jedoch energiereicher, startet dieser weitere Tag in Gottes Gnade.
Larissa ist bereits zur Arbeit gefahren und hinterließ mir etwas Kleingeld für die Mittagspause.
Wie selbstverständlich das Besitzen von Geld bereits nach kürzester Zeit wird, ist angsteinflößend, denn es zeigt, wie groß die Macht der Gier ist, die den Kapitalismus füttert und bereits zu einem riesigen Monster, das nur aus einem Maul besteht und uns mit Freuden verschlingt, wachsen gelassen hat.
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Andenken
Zehn vor acht.
Der Schulbus hält an der Haltestelle an der Ecke. Ich steige ein. Der Fahrer schaut mir hinterher. Ein Wunder, dass er noch den Respekt hat, mir nicht nachzupfeifen. Der Reißverschluss meiner Jacke klemmt fest. Die Jacke, die bereits älter als ich ist. Diese schwarze Cordjacke, viel zu groß für mich, mit dem Namen meines Großvaters in der Innenseite mit rotem Faden eingenäht, die ich seit seinem Tod in meinem Besitz habe, ist wohl die einzige Erinnerung, die ich an mein anfängliches Glück habe.
In meinen Gedanken memoriert, bleibt der Tag der Räumung seines Hauses, die erst zwei Jahre nach seinem Tode stattfand, als ich acht war. Meine Mutter verkaufte alle Wertsachen, um Geld für die Vernichtung ihrer selbst zu ergattern.
Eine Woche haben wir in seinem Haus verbracht und ich sah zu, wie so langsam alle Spuren seiner Existenz verschwanden. Im Nachhinein verbinde ich dieses Haus immer mit der Leere in mir und dem Vorüberziehen aller Hoffnung.
Dieses Haus. Es ist leer. Jeder einzelne Raum, der früher so voll mit Leben war, ist leer. Die Schränke, leer. Elf ganze Zimmer voller Leere. Es ist leer.
Ich erwache, in mir dieselbe Leere wie in jedem dieser Räume, in meinem Kopf jedoch noch all das Chaos der mitgenommenen Jahre.
Es ist still. Still ist es im Haus geworden, still ist es um mich geworden, der ganze Trubel, all das, es ist weg. In meinem Kopf ist es still. Es ist still.
Es schalt. Jeder Klang prallt an den Wänden ab, wie jeder Schmerz auch an mir. Der Abschied schalt in meinen Ohren, doch nicht der Abschied von dir.
Es ist vorbei. Gut? Schlecht? Es ist vorbei und es schalt.
Auf Wiedersehen. Ich winke noch ein letztes Mal aus dem hinteren Fenster der Rücksitzbank. Auf Nimmerwiedersehen. Die stille Leere schalt.
Ich glaube, ich bin zu dem Haus geworden, ich bin zu der Leere geworden.
Diese Jacke, mein Glauben an die Rückkehr der Hoffnung.
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Bus
Kaugummi kauende Instagram Mädchen mit langen Pferdeschwänzen, Nike Schuhen und Proleten Aura in der Rücksitzbank.
„Nur noch ein funkelndes Täschchen mit einer kläffenden Ratte fehlt.“
Meine Gedanken bringen mich zum Schmunzeln, als ich beim Suchen nach einem Sitzplatz auf sie blicke.
Der wannabe Gangster, der noch mehr vor Anglizismen strotzt als meine Beschreibung für ihn, belegt den Platz neben einer dieser Mädchen. Die Vorderreihen vom Bus besetzt die soziale Schicht, die auch in jeder Klasse die erste Reihe ergreift. Angst erfühlte Bücherwürmer, Querdenker und Außenseiter. In der Mitte am Fenster, der einzige Ort, an dem die schwarzen Busgardinen zu gezogen wurden, ein bekanntes Gesicht.
Tony, gebürtig Antonia. Neben ihr der für ihren blauen Ranzen Dauer gebuchten Platz. Ich sitze mich nach reichlicher Überlegung in die Reihe hinter sie, neben den bereits mit dem Sitz eins gewordenen, nicht mehr klebrigen Kaugummi.
Ich mag sie, doch in der Reihe vor ihr wäre die Wahrscheinlichkeit zu hoch, dass sie mich im Laufe der kurzen Fahrt anspricht und dies, obwohl sie bloß eine Rauch-Kumpanin ist.
Mit neun habe ich das erste Mal an einer Zigarette gezogen. Raucher wurde ich allerdings erst mit sechzehn.
Ein Mann, den ich in der Stammkneipe meiner Mutter kennenlernte und damals in einer der Wohnungen oberhalb der Kneipe wohnte, machte mich zum Raucher. Also eigentlich gab er mir bloß die Möglichkeit, einer zu werden und ich entschied mich dafür.
Er hat im ganzen Gesicht Akne Narben und vollzog seinen Rauch meist mit einem dürren Mann mit zwei unterschiedlichen Augen. Er selbst ist eher stämmig.
Ich unterhielt mich als Kind des Öfteren mit ihnen als Zeit vertreib.
Sie waren nett. Er war nett. Als ich obdachlos wurde, sah ich ihn wieder.
Er lag auf einer Parkbank. Er sah aus wie immer. Er hatte immer schon diese zerzausten halblangen Haare. Nicht so, wie man halblang bei "Frauen Frisuren" definieren würde, eher wie ein Kurzhaarschnitt, der bereits seit längerem herausgewachsen war. Er selbst war nun auch obdachlos.
Er lebte nun bereits drei Jahre auf der Straße.
Ich fand heraus, dass sein dürrer Begleiter ihn wegen Missbrauch anzeigte und er somit seinen Wohnsitz verlor. Er missbrauchte den Mann bereits seit Jahren. Unbemerkt.
Niemals hätte ich dies vermutet, wenn ich die beiden in der Bar wie Buben herumtollen sah.
Vielleicht war ich auch bloß zu jung, um es zu erkennen oder bereits selbst zu geschädigt.
Sie waren nett.
Oskar, der nun obdachlos war, gab mir meine erste eigene Zigarettenpackung, als ich damals zu seinesgleichen wurde.
Der Bus hält und ich warte, bis jeder ausgestiegen ist, bevor ich aufstehe und den Bus verlasse.
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Schule
Acht Uhr.
Meine Hände lagere ich in den Tiefen meiner Jackentaschen, die mit Müll bis zum Rande vollgestopft sind.
Ich gehe in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. Als geschädigt, jedoch gebildet, würde ich mich beschreiben. Ich betrete das klassisch gehaltene Gebäude, das katholisch angehauchter Natur entspricht. Es liegt neben dem Kirchengebäude der Stadt. Die Flure wirken steril, jedoch alt, es ist kein sehr großes Gebäude, somit ist der Weg zu meinem Klassenraum nie sehr lang. Praktisch.
Einstein und Bohr begleiten mich in den ersten beiden Schulstunden.
Pause.
Die Klingel weckt mich aus meinen Träumereien.
Ich verlasse den Raum und schreite zu meinem Spind.
Die schreiend rote Farbe der Spinde ist das Auffälligste im ganzen Gebäude. Meiner hat einen kreisrunden schwarzen Fleck an der linken Seite in der Mitte. Ich stelle mir immer vor, dass es das Herz meines Spindes ist, auf jeden Fall hätte mein Spind ein Herz würde es wahrscheinlich genau dort liegen, wo dieser vollkommen runde Fleck ist.
Nein, nicht nur mein Spind hat irgendwelche Flecken, jedoch mag ich meinen Fleck am liebsten. Wahrscheinlich auch nur, da ich mich an ihn gewöhnt habe.
Das Innenleben meines Schrankes ist so trist wie auch praktisch. Zwei Abschnitte. Drei Hefte. Vier Bücher.
Notizbuch. Fliegende Blätter.
Das Innere des Schrankes hat ein dunkles und düsteres Blau, vielleicht sollte es auch ein schwarz sein, das jedoch über die Jahre eher wie ein im Winter mit der Kamera aufgenommenes Nacht himmelblau scheint.
Ich lege Einstein, Bohr und Co. hinein, nehme Goethe,
Schiller und auch Kafka hinaus.
Ich schließe die Spind-Tür.
Ein kleiner Junge, würde ich es nicht besser wissen, würde ich glauben, er hätte sich am Gebäude geirrt.
Er wirkt nicht so, als wäre er alt genug, um hier zu sein. Er ist noch sehr klein, ich habe ihn fast übersehen.
Er hat lockiges rotes Haar und Sommersprossen.
Nein, er sieht nicht aus, wie man sich solch einen Jungen erdenken vermag, er ist hübsch. Für einen wahrscheinlich erst zwölfjährigen Jungen, der die Aussicht zur Pubertät gerade erst erblickt, sieht er gut aus.
Er steht vor mir, was ich erst bemerke, als ich die Spind-Tür verschließe. Mit Welpen Augen und fragendem Blick schaut er mich an. Er hat eine Karte in der Hand, ich glaube, es ist der Geländeplan unserer Schule. Der Plan war voller Knickfalten, fast so als hätte er vor Aufregung immer wieder an den Kanten herumgespielt.
„Entschuldigung.“, murmelt er leise mit kindlicher Stimme in meine Richtung.
„Entschuldigung.“
Ein zweites Mal erklingt seine niedliche Stimme in meinen Ohren.
„Ich, ich finde mein Klassenzimmer nicht. Ich, ich bin neu“ stottert er verängstigt.
Ich schmunzele. Ich bringe ihn in sein Klassenzimmer, es ist die achte Klasse, die ihn belegt. Nun schaut er mit einem Lächeln auf mich, dies ist die erste nicht ängstlich unterdrückte Mimik, die er mir entgegenbringt.
„Danke!“, schreit er fast schon, als er in dem Klassenzimmer verschwindet.
10B mein nächster Aufenthaltsort.
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Einheit
Zur Überraschung aller steht der Rektor im Klassenzimmer.
Er steht dort mit einmaliger Aufrichtigkeit und seinen Händen vor sich ineinander gefaltet. Seine Fingernägel, als wären sie erst Gestern gefeilt und mit frischem Glanz bepinselt worden, perfekt an den Fingerkuppen abgerundet und glänzender als die Zukunft der meisten in diesem Gebäude.
Seine hellen Haare fein säuberlich nach hinten gegellt, sein Ordnungsfimmel sieht man ihm innerhalb von Sekunden an.
Er wartet mit gestresstem Blick, jedoch als wäre er die Ruhe in Person, darauf dass die ganze Klasse den Raum betritt.
„Ich bitte euch um eure Aufmerksamkeit“. Es wird still.
„Ich möchte euch mitteilen, dass entschieden wurde, ab der nächsten Woche auf Probe eine Schuluniform einzuführen.
Ich plädiere auf euren gesunden Menschenverstand und euer Verständnis für diese Entscheidung.“
Die Stille wurde aufgehoben. Wut und Nervosität überflutet den Raum. Es erheben sich Stimme aus der Menge des Tumultes.
„Wir haben bereits eine Kleiderordnung, ist dies nicht Genüge an Freiheitsberaubung.“
„Warum wurden wir nicht in diese Idee eingeweiht, bevor es entschlossen wurde.“
„Was ist mit unserer Individualität? Gibt es nun nur noch die Masse und nicht mehr den Einzelnen.“
Schon erquickend, dass dies gerade die Stimmen derer sind, die so überheblich sind, dass die Schwerkraft eigentlich keine Wirkung auf sie haben dürfe und sie trotz allem die am meisten an die Masse gebundenen „Individuen“ repräsentieren.
Ich befürworte die Einheitskleidung keineswegs, jedoch empfinde ich es als ungeeignet, im Tumult mit Wortgewandtheit den Standpunkt meiner selbst zu erläutern.
Der Rektor bittet um das wieder eintreten der Ruhe und erwähnt vor seinem Rücktritt in sein Büro, dass am kommenden Freitag eine Versammlung für Eltern, Schüler und Lehrer über dieses Thema gehalten wird und jede weitere Frage dort Antwort bekommt.
Der Unterricht beginnt.
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Schwarz
Das große Fressen.
Fast wie im Bann rennt jeder zweite, als ginge es um sein Leben, in die Schulkantine. Dies kann man sich bildlich ungefähr so vorstellen, als würden halb verhungerte Löwen eine Herde Gazellen erblicken und von allen Seiten mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf sie zu laufen. Ich, gehöre nicht dazu.
Ich gehe durch den Flur des zweiten Stockes, die Treppe runter, durch die Tür auf der linken Seite, die geradewegs zum Kirchenhof führt. Links neben mir die Kirche, etwas weiter rechts ein paar Parkplätze für die Besucher der Kirche. Meinen Körper allerdings parke ich hinter der Kirche, neben Tony.
Mittagspause ist Raucherpause. Ich fühle, wie der helle Rauch meine Lungen schwärzt.
Der aufsteigende Rauch ist wohl das entspannendste an der Glühstange, wie er langsam in Schlangen ähnlicher Form über die Dächer der Stadt schwebt und den Innenraum meines Mundes befühlt, während er jeden Winkel meines ach so sterblichen Körpers begeht, bis er durch meine Atemwege wieder nach außen findet.
Ich lehne mich an eine der Außenwände der Kirche.
Meine schwarzen Stiefel sehen sowohl neu wie auch genutzt aus, die Schnürsenkel wie unberührt, der Lack an keinem Ort abgenutzt, jedoch falten artige Knicke in der Mitte des Schwarz. Zigaretten Stummel umkreisen meine Füße.
Tony erzählt mir etwas, jedoch habe ich das Was nicht gerade mitbekommen, da meine eigenen Gedanken ihre Stimme übertönen,
sodass sich ihre Stimme nur noch anhört wie das Rauschen einer nicht ganz ausgeschalteten Flimmerkiste.
Es gibt viele Leute, die hier ihren Süchten nachgehen, Tony und ich stehen hier nicht allein.
Würde man der Schicht von Leuten, die hier ihre Zeit verbringt, einer Farbe zu ordnen, wäre es schwarz.
Wir sind die schwarzen Schafe, die Wilden der gebildeten Gymnasiasten, die untere Schicht der High Class.
Erfrischend, dass Suchtverhalten und Kriminalität, würde ich behaupten eher in einem Gymnasium Einhalt findet als in einer Realschule. Der ständige Druck von außen, Leistungsdruck, die ständigen Ängste von innen, Existenzängste, bringen so manch einer in die Tiefe seines verdorbenen Selbst und erwachen das schlummernde Monster des Ichs.
Bunt.
Bunte Blechdosen überall auf dem Boden verteilt, eine dünne Scheibe einer Tomate liegt auch dort. Man sieht dem Ort an, dass er ziemlich belebt ist. Das Ende der Pause naht, während ich mein Mittagessen am selben Ort verzehre.
Immer weniger Menschen stehen noch hier, auch Tony ist bereits wieder in die Schule zurückgekehrt.
Ich warte noch etwas und hebe Müll auf, um mich wird es ruhiger und ruhiger. Die Stille lässt mich in die Leben der Fremden in den Wohnungen der anderen Straßen Seite Einblick erlangen, ich höre das Bällen eines wahrscheinlich sehr kleinen Hundes, immerhin ist der Klang heller als die Stimme manch eines inmitten des Stimmbruches, so wie auch das Husten einer Frau, die ich auf der Terrasse des 3 Stockes eines Hochhauses entdecke.
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Rot
Eine Hand hält mir die rote Cola Buchse entgegen. Sie war groß. Nein, nicht die Dose, die Hand.
Die erhobenen Adern der Hand lassen mich das biologische Geschlecht meines Gegenübers binnen Sekunden feststellen.
Während meine Hand langsam nach dem Blech greift, gleitet mein Blick nach oben.
Dunkle Kreise, umhüllt von Haut, blicken mir entgegen, ein leichtes Schmunzeln des Sprechers in seinem Gesicht zaubert rot auf meine Wangen.
Eine Locke seiner schwarzen Haare baumelt vor seinem Auge und sein blaues Shirt lässt einen das Ende oder den Anfang eines Tattoos am rechten Oberarm erkennen.
Ich bedanke mich mit klanglos monotoner Stimme und bekomme den Satz „mein Name ist Milan.“ entgegen.
Milan steht auf und geht zu einem Motorrad, die Freiheit ist rot, es ist eine rote Harley Davidson electra glide FLH.
Er wirft einen Helm auf und fährt weg.
Zwei Dinge habe ich in diesem Moment über ihn herausgefunden, erstens das Motorrad gehört ihm, zweitens er geht nicht hier zur Schule.
Ich schaue ihm hinterher, bis ich den Klang der Freiheit nicht mehr in meinen Ohren schalen höre.
Ich gehe wieder in die Schule, Marie Curie, Dmitri Iwanowitsch und Lothar Meyer warten bereits auf mich.
Der positive Kern neutralisiert durch das Negative in der Kreisbahn nach der Vorstellung von Bohr.
Ich frage mich, wie viel Negatives in deine Bahn geraten muss, damit das Negative gewinnt und das Positive nicht bloß neutralisiert wird.
Kann die Frequenz eines Menschen negativ sein, sodass nur Negatives angezogen wird, ohne die Schwankungen von negativen und positiven Ladungen?
Der Kern ist unsere Anfangsladung, sie ist rein, sie ist positiv, die Menschheit ist unsere Bahn, in der negatives existiert und unsere Frequenz entscheidet, was auf uns zu kommt.
Nun ist die Frage berechtigt, ob wir selbst unsere Frequenz bestimmen und wir somit selbst die Schuldigen all Schlechtem oder Gutem sind.
Diese Frage hat keine eindeutige Antwort, da nicht nur wir Einfluss darauf haben, sondern auch die Außenwelt eine Rolle darin spielt, dies bedeutet, dass auch andere Dinge in unsere Bahn werfen können, die vorher nicht vorhanden gewesen sind.
Somit sind wir schuldig, wie wir mit dem Negativen auf unserer Bahn umgehen, jedoch nicht immer konsequent schuldig daran, wie viel Negatives auf unserer Bahn gelandet ist.
Ich schaue in Gedanken versunken das Periodensystem an und frage mich, was die Elemente zu ihren Namen sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Wer würde seinen Namen wohl am meisten hassen und ist Einsteinium eigentlich relativ?
Es klingelt. Man hört, wie jeder seinen Ranzen packt und dann kommt er, der Satz, den jeder mindestens ein Mal in seinem Leben gehört hat.
„Ich beende den Unterricht!“
Gequälte Gesichter an jeder Ecke des Klassenzimmers setzen sich wieder nieder. Meinen roten, halb gepackten Schulranzen lege ich mir auf den Schoß, während ich auf das Ende der Stunde nach dem Ende der Stunde warte.
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Blau
„Zuhause.“
Ich empfinde das Wort Zuhause, als ein unpassendes Wort, um einen Ort zu beschreiben, da ich glaube, Zuhause soll ein Gefühl vermitteln und Gefühle verbinde ich mit der Existenz einer Seele, eine Seele hat Natur, Tier und Mensch, jedoch kein Ort, somit verstehe ich nicht, wie ein Ort das Gefühl Zuhause einfangen kann.
Wie wohl muss man sich in einem Raum fühlen, dass man ihn als Zuhause wahrnimmt?
Wie viel seiner eigenen Seele muss man dafür in diesen Raum packen und gewinnt man damit an Seele oder verliert man ein Stück, da jede Art eines Zuhauses einem jeder Zeit wieder entrissen werden kann.
Ich sitze auf dem Fensterbrett in meinem Zimmer, schaue runter auf meine Füße, die in bunt bemalten Van Gogh Strümpfen umhüllt sind, schmunzelnd wackele ich mit meinen Füßen und frage mich, ob man sagen könnte, dass ich auf Kunst treten würde?
Es dunkelt um mich.
Sehe die Sterne immer klarer.
Der Mensch soll fast ausschließlich aus Sternenstaub bestehen, finde dies, hört sich etwas zu märchenhaft an und rede mir ein, dass es auch sein könnte, dass Sternenstaub hauptsächlich aus Mensch besteht.
Ich schaue hoch und sehe Menschen anstatt Sterne am Himmelszelt schweben.
Als ich erkenne, dass ich mir einen der Sterne als Milan vorstelle, reibe ich mir die Augen und die Menschen sind weg.
Warum denke ich jetzt an Milan?
Eine Gestalt, die ich noch nicht einmal kenne, soll sich also bereits in meinem Kopf einquartiert haben wie eine nicht los zu bekommende Zecke?
Ich schaue noch etwas in den Himmel. Das Kunstwerk vor mir hat verschiedene Blautöne und obwohl Mond und Sterne bereits an Ort und Stelle stehen, schimmert am Rand des Bildes noch das Rot der gerade untergegangenen Sonne.
Ich begebe mich in mein Bett und kremple mein kleines Notizbuch aus meinem Nachttisch.
„Vergötterung der Monde.
So lieblich, faszinierend.
Dieser mächtige Titan am Himmelsbild, verblendet mich mit der Farbe des Meeres, als würde ich dieses tiefe Blau spüren können und in ihm versinken.
Dieser kalte, gottgleicher Triton, einer von vielen am Himmelszelt, der dem Blau die Kraft gibt, das Spiel der Meere zu spielen.
Dieser von weit herkommende Deimos, der wie Luzifer als Schrecken bekannt ist und mich immer noch blicken lässt in diese dunkele Finsternis.
Doch der Schönste aller Sterblichen bist du Ganymed, den dein Strahlen hebt, jedes versinken in Finsternis auf.“
Zeichne die Szene